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In Indien kam Bauingenieur Abe Tanner zu Reichtum. Als alter Mann hat er im idyllischen englischen Landstädtchen St.-Basil-in-the-Wold den burgähnlichen Landsitz Kurer Keep erworben, auf dem er als Pensionär stilvoll residiert.
Abe ist ein Querkopf, der niemandem traut. Deshalb hat er sich einen gepanzerten Tresorraum einbauen lassen, in dem er seinen liebsten Schatz lagert: die Schwarzen Tränen, eine Sammlung auserlesener Juwelen und Rubine, deren Wert mindestens eine Million Pfund beträgt. Oft - aber vergeblich - haben Joe Batty, Tanners Leibwächter, jetzt Butler und bester Freund, und seine Stieftochter Catherine Dalgleish ihn gewarnt, dass dieser Schatz Räuber anlocken könnte...
Der Roman Die Schwarzen Tränen des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym des Bestseller-Autors William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1950; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1957.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
JOHN CASSELLS
Die Schwarzen Tränen
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE SCHWARZEN TRÄNEN
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
In Indien kam Bauingenieur Abe Tanner zu Reichtum. Als alter Mann hat er im idyllischen englischen Landstädtchen St.-Basil-in-the-Wold den burgähnlichen Landsitz Kurer Keep erworben, auf dem er als Pensionär stilvoll residiert.
Abe ist ein Querkopf, der niemandem traut. Deshalb hat er sich einen gepanzerten Tresorraum einbauen lassen, in dem er seinen liebsten Schatz lagert: die Schwarzen Tränen, eine Sammlung auserlesener Juwelen und Rubine, deren Wert mindestens eine Million Pfund beträgt. Oft - aber vergeblich - haben Joe Batty, Tanners Leibwächter, jetzt Butler und bester Freund, und seine Stieftochter Catherine Dalgleish ihn gewarnt, dass dieser Schatz Räuber anlocken könnte...
Der Roman Die Schwarzen Tränen des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym des Bestseller-Autors William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1950; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1957.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Erstes Kapitel
Die überraschende Nachricht, dass die Schwanen-Bande außerhalb Londons wieder aufgetaucht sein sollte, war der Grund, weshalb John Maturin eines schönen Frühlingstages eine Fahrt nach Kent unternahm. Die Wiesen leuchteten grün und saftig, an den Wegrändern blühten die ersten Primeln, Lerchen stiegen in die klare blaue Luft, und Amseln zwitscherten in den Hecken. Der Winter war vorbei, und überall kündete sich schon der Sommer an. Auch Sergeant Maturins Herz war erfüllt von Ruhe und glücklicher Zufriedenheit, denn erst vor zwei Tagen, hatte er Ed Russell, einen von Scotland Yard lange vergeblich gesuchten Verbrecher, zur Strecke bringen können. Das war allerdings nicht ganz kampflos vonstattengegangen, denn Ed – als leicht erregbarer Mensch bekannt – hatte sich mit der Pistole zur Wehr gesetzt, und nur eine Schramme an Maturins breiten Schultern zeugte noch davon, dass sein Gegner fein ausgesprochener Meisterschütze gewesen war. Solche Narben galten in seinem gefahrvollen Beruf als ehrenvolle Andenken und waren als Beweis seiner Einsatzfreudigkeit keinesfalls von Nachteil, sagte sich John mit wohlbegründetem Stolz. Die lobende Erwähnung, die ihm dafür zuteil geworden war, bewies es – trotz der kalten Dusche, die Chefinspektor Flagg ihm heute Morgen verabreicht hatte.
»Na, Sergeant, ein Hexenschuss?«, hatte er bissig gefragt.
Johnny war mit Recht empört gewesen.
»Nein, eine Schulterverletzung«, hatte er seinen Vorgesetzten erinnert, aber Flagg war völlig ungerührt geblieben.
»Das kommt davon – in zugigen Kneipen herumsitzen und Bier trinken«, hatte er verächtlich geantwortet. »Aber einen halben Invaliden kann ich hier im Dienst nicht brauchen, deshalb werden Sie für mich einen anderen Auftrag ausführen. Sie haben doch einen Wagen, nicht wahr?«
»Ja, den habe ich«, erwiderte Johnny.
»Gut, dann fahren Sie jetzt nach St. Basil und suchen in meinem Namen einen gewissen Mr. Abe Tanner auf, der dort in der Nähe auf dem Landsitz Kurer Keep wohnt. Sie werden es leicht finden.«
»Worum handelt es sich?«, fragte Johnny interessiert, und Flagg klärte ihn in großen Zügen auf.
»Er ist ein steinreicher alter Knabe und besitzt die kostbarste Diamanten- und Rubinensammlung, die jemals ein Mensch aus Indien mitgebracht hat.« Die Schwanen-Bande ist neuerdings in Kent aufgetaucht, und wenn ich Schwanen-Bande sage, dann meine ich in erster Linie Big Arthur Kelby und Ricky Trotter. Sie residieren augenblicklich sehr vornehm in Tunbridge Wells, während Li Randall und Tilly Bellman ihre Zelte in Tenterden aufgeschlagen haben und Sir Jimmy als Verbindungsmann zwischen beiden Orten hin- und herpendelt. Der einzige lohnende Anziehungspunkt für diese Burschen kann aber nur Kurer Keep sein, und deshalb möchte ich, dass Sie ein Wörtchen mit Tauner reden, ehe wir gezwungen sind, uns mit einem neuen Raubüberfäll zu befassen.«
Mit diesen Worten war er von Flagg verabschiedet worden und hatte sich bei herrlichstem Frühlingswetter vergnügt auf den Weg gemacht. Zwei Stunden rollte er gemächlich mit seinem Wagen durch die hüglige Landschaft, und als die Uhr am Armaturenbrett die elfte Stunde anzeigte, erblickte er von einer Anhöhe aus das Dörfchen St. Basil-in-the-Wold mit seinem hohen, spitzen Kirchturm, der mitten daraus hervorragte. Er hielt kurze Zeit später vor einem niedrigen Backsteingebäude, dessen Fassade ein rundes Schild mit der Aufschrift Polizeiwache trug.
Als er langsam auf das Haus zuging, tat sich die Tür auf, und heraus trat ein stämmiger Polizeibeamter in blauer Uniform, der ihn fragend musterte.
»Bitte, Sir? Wünschen Sie etwas?«
»Jawohl«, antwortete Johnny und erklärte sein Anliegen. Polizeiwachtmeister Webb stellte sich eilends vor und gab bereitwillig Auskunft. »Mr. Tanner suchen Sie? Ein sehr feiner Herr ist das. Kurer Keep liegt rechter Hand, Sergeant, ungefähr einen halben Kilometer von hier entfernt. Sie können das Parktor gar nicht verfehlen, denn Sie stoßen direkt darauf.« Er betrachtete den jungen Mann mit neugierigem Respekt. »Es kommt selten vor, dass sich jemand von Scotland Yard zu uns verirrt, Sergeant – ehrlich gesagt, ich erlebe es zum ersten Mal. Hoffentlich gibt es keinen besonderen Anlass dafür?«
Johnny zerstreute seine Bedenken. »Nicht den geringsten, und wir sind brennend daran interessiert, dass es auch in Zukunft keinen geben wird.«
Webb war sichtlich erleichtert.
»Es würde mir sehr leid tun, wenn der alte Herr irgendwelche Unannehmlichkeiten hätte, denn er ist wirklich einer der anständigsten Menschen, die ich kenne. Er wohnt ja noch nicht lange hier, aber...«
»Ein Neuling hier im Distrikt?«, fragte Johnny überrascht.
»Ja, er kam erst vor einem Jahr aus Indien«, erwiderte Webb. »Aber seitdem ist das Dorf richtiggehend aufgelebt, denn er hat eine sehr offene Hand und für alles Interesse. Vielleicht eine etwas raue Schale, wenn man so sagen will, Sergeant, und ich kenne auch viele, die über ihn lachen – aber er wiegt bestimmt ein Dutzend von denen auf.«
Johnny warf einen Blick auf seine Uhr. Es war genau 11.15 Uhr.
»Vielen Dank, Wachtmeister, ich muss mich beeilen und meinen Auftrag erledigen.« Er verabschiedete sich und stieg wieder in seinen Wagen.
Bald hatte er das Dorf hinter sich gelassen und erklomm den leicht ansteigenden, an beiden Seiten von langen Steinwällen begrenzten Weg zum Kurer Keep. Dann fuhr er durch das hohe Parktor, folgte der gewundenen Allee, durch deren Bäume ab und zu graues Gemäuer schimmerte, und gelangte am Ende auf einen kiesbestreuten Platz. Vor ihm erhob sich die düstere Silhouette des alten Bauwerks, das drohend auf ihn herabschaute. Kurer Keep war eine historische Burg aus Englands frühesten Tagen, von den Angelsachsen erbaut, doch nur die Ruinen der Befestigungsmauern zeugten noch von dieser blutigen Vergangenheit. Das Wohnhaus dagegen hatte unter den verschiedenen aufeinanderfolgenden Besitzern immer wieder Renovierungen und Anbauten erfahren. Gelber Cotswold-Kalkstein und roter Ziegel wechselten in buntem Durcheinander ab, waren aber im Laufe der Zeit von Schlinggewächsen und Efeu so überwuchert worden, dass man nicht mehr genau feststellen konnte, wo der alte Bau aufhörte und die angeflickten Teile begannen.
John Maturin blickte mit beinahe ehrfürchtigem Schauer zu den rauchgeschwärzten Zinnen empor, ehe er sich umwandte und auf das offenstehende wuchtige Eichenportal zuschritt, in das ein schwerer, handgeschmiedeter Türklopfer eingelassen war. Er schlug ihn zweimal an und vernahm gleich darauf, wie sich oben im Haus eine Tür öffnete und eine wütende Stimme erscholl.
»Scher dich raus, Batty, mitsamt deiner verdammten Flasche! Und wenn du dich unterstehst, mir noch einmal damit unter die Augen zu kommen, kippe ich das Zeug eigenhändig in deinen Rachen.«
Durch das Halbdunkel der Halle spähend erkannte Maturin einen spindeldürren, kleinen Mann auf der Treppe, der in der einen Hand eine Medizinflasche, in der anderen einen Löffel hielt.
»Der Doktor hat’s aber angeordnet, Abe«, widersprach er nörgelnd. »Zweimal täglich zwei Esslöffel voll, hat er gesagt. Hier kannst du’s selbst lesen.«
Die Tür knallte zu, und Batty kam brummelnd herunter.
»Von allen verrückten Querschädeln, die mir jemals begegnet sind, Abe Tanner, bist du der...« Er wurde sich plötzlich des interessierten Zuschauers bewusst und sah misstrauisch auf. »Hallo, Sie da, suchen Sie jemanden?«
Johnny bestätigte es. »Ja, Mr. Tanner.«
Batty beguckte ihn neugierig. »Abe ist oben. Wahrscheinlich haben Sie eben gehört, wie er mich angeschrien hat.« Er schüttelte die Flasche und betrachtete trübsinnig das Etikett. »Eisen-Tonikum. Das soll er einnehmen, aber glauben Sie, er tut es? Da kennen Sie ihn schlecht, der rührt keine Medizin an. Alles habe ich versucht, hab’s in Pudding und in Whiskey gemischt, nichts nützt. In welcher Angelegenheit wollen Sie ihn sprechen?«
»Privat«, erwiderte John Maturin und erhöhte dadurch Battys Interesse nur noch mehr.
»Abe Tanner hat keine Geheimnisse vor mir, ich kenne den alten Knaben jetzt seit dreißig Jahren.« Er fixierte ihn scharf. »Da Silva hat Sie doch nicht etwa geschickt?«
»Nein«, antwortete Maturin und hielt ihm seinen Ausweis hin. Batty studierte ihn aufmerksam.
»Ach, von der Polizei sind Sie, hm? Sehen Sie mal an, darauf hatte ich nicht getippt. Sie wirken eher wie ein Gentleman. Warten Sie, ich sage Abe Bescheid.« Er stapfte wieder hinauf, und Johnny hörte durch die geschlossene Tür seine eindringlichen Ermahnungen. Dann erschien er an der Treppe. »Sie sollen kommen, Sergeant, der Alte wird Sie empfangen.«
Johnny stieg die breiten Stufen hinauf und betrat einen weiten, niedrigen Raum, in dessen offenem Kamin dicke Holzscheite knisterten. Davor stand die knorrigste Gestalt, die er jemals in seinem Leben, erblicht hatte, ein baumlanger Greis mit einem Kopf, der kahl war wie eine Billardkugel, aber mit Augen, aus denen eine unverwüstliche jugendliche Kraft leuchtete. Seine Schultern waren breit und muskulös, und die Hand, die er John Maturin entgegenstreckte, fühlte sich an, als sei sie aus Granit gehauen.
»Kommen Sie, mein Junge, und setzen Sie sich«, begrüßte er ihn und schwang einen schweren Sessel herum wie einen Henkelkorb. »Bring Whiskey, Batty!«
»Der steht hinter Ihrem Rücken«, antwortete Batty. »Sie werden auch, immer vergesslicher, Abe. Wenn ich da an früher denke...«
Er griff kopfschüttelnd nach der Karaffe, füllte daraus drei Gläser randvoll und führte sich mit größter Seelenruhe eins davon salbst zu Gemüte. »Das Leben hier bekommt Ihnen nicht, Abe, das ist es. Sie sind ein völlig anderer Mensch geworden.«
Abe Tanners Miene verfinsterte sich. »Jetzt scher dich aber zum Teufel, Batty! Anstatt dich hier aufzuspielen und Maulaffen feilzuhalten, kümmere dich lieber um den Haushalt und um die Leute. Dafür bezahle ich dich. Was hier gesprochen wird, geht dich gar nichts an. Seit dreißig Jahren nähre und kleide ich dich – von dem Whiskey ganz zu schweigen, den du in dieser Zeit konsumiert hast. Ein Vermögen habe ich schon für dich abgegeben, Batty, aber ein, vernünftiger Butler wird, wohl nie aus dir werden – nicht in hundert Jahren!«
Batty setzte gekränkt sein Glas ab. »Nun höre sich das einer an«, entrüstete er sich, nicht ohne einen gewissen Unterton von Hochachtung in der Stimme. »Ich habe ihn ein Vermögen gekostet – ich, der ich mir für ihn die Finger krumm arbeite, ich, der den einträglichsten Job aufgab, um ihm zu folgen ihm und seinen rostigen Eisenbahnschienen, gar nicht zu reden von seinem Hang, sich mit einem Haufen dreckiger Kylis einzulassen und was weiß ich noch alles.« Leise vor sich hin brummelnd verschwand er, während Abe Tanner ihm missbilligend nachschaute.
»Das nennt man Dankbarkeit, junger Mann. Diesen Menschen habe ich sozusagen aus der Gosse gefischt, und damals besaß er nichts als ein paar elende Kupfermünzen und sein Glasauge, das ihn heute noch ziert.«
Maturin hatte das Geplänkel belustigt verfolgt. »Seit dreißig Jahren steht er in Ihren Diensten, Mr. Tanner?«
Mr. Tanner kratzte sich den kahlen Kopf. »Seit dreißig Jahren«, bestätigte er, »und einen treueren Burschen hat es nie gegeben. Dieser kleine Kerl könnte Ihnen die Gurgel durchschneiden, während Sie da sitzen, und Sie würden es erst merken, wenn Ihnen der Whiskey aus dem Hals läuft, so geschickt ist er. Wie man mit dem Messer umgeht, hat er von den Gurkhas gelernt, die Kunststücke mit ihren Kukris vollbringen, dass einem Engländer übel wird, wenn er nur darin denkt. Ich weiß ein Lied davon zu singen, denn ich habe es selbst gesehen.« Ehrliche Bewunderung klang aus seinen Worten. »Aber zu einem Butler wird er niemals taugen, das habe ich ihm tausendmal gesagt, diesem störrischen Maulesel.« Er öffnete eine Kiste, die auf dem Schreibtisch stand. »Rauchen Sie Zigarren?«
Johnny lächelte. »Nicht von vierhundert Pfund im Jahr«, bemerkte er trocken.
»So schäbig bezahlt man Sie? Da habe ich ja einer Hinduwitwe mehr gegeben.« Abe Tanner ließ sich schwer in, einen Sessel fallen und schob seinem Besucher die Kiste zu. »Nehmen Sie sich eine Handvoll heraus, Sergeant. Wie war doch Ihr Name? Maturin? Nicht sehr häufig. Nur einmal bin ich einem Burschen begegnet, der so hieß – drüben in Kahan, wo ich eine Brücke baute. Aber solche Dinge interessieren Sie wahrscheinlich weniger.«
Johnnys Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Ich war drei Jahre in Indien – und es hat mir ausgezeichnet gefallen.«
Tanners Augen leuchteten auf. »Was soll ich dann erst sagen! Fünfzig Jahre habe ich dort verbracht. Jaja, dass ich über Sechzig bin, würden Sie mir wohl kaum zutrauen, was? Keiner glaubte anfangs, dass ich es so lange aushalten würde, aber ich habe es ihnen bewiesen. Und ich wäre jetzt noch drüben, hätte es sich nicht damals um das Mädchen gehandelt – aber das gehört nicht hierher. Schenken Sie sich noch ein Glas ein, und erzählen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben.«
Johnny lehnte jedoch eine weitere Erfrischung dankend ab. »Ich bin Whiskey am Vormittag nicht gewohnt, Mr. Tanner, und wenn man mich auf dem Rückweg womöglich in angeheitertem Zustand erwischt, ist es aus mit meiner Karriere«, sagte er lachend. »Und nun, Sir, will ich zur Sache kommen. Wir haben beim Yard läuten hören, dass Sie hier eine Menge wertvoller Juwelen aufbewahren.«
Abe Tanners blaue Augen verengten sich. »Das stimmt. Aber wie erhielten Sie davon Kenntnis?«
»Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, denn ich weiß es nicht. Mein Chef schickt mich zu Ihnen, und woher er seine Informationen bezieht, das verrät er nicht. Aber Mr. Flagg ist ein sehr erfahrener und schlauer Mann, der seine Augen und Ohren überall hat, und neuerdings hegt er den Verdacht, dass die Schwanen-Bande etwas gegen Sie im Schilde führt.«
Abe Tanner nahm diese Eröffnung gleichmütig auf. »Wer ist das?«
»Eine der gerissensten Gangster-Cliquen, mit der wir seit langer Zeit zu tun hatten. Ihre Spezialität sind Juwelen, und ihre Technik ist hervorragend. Sie schrecken auch vor Gewalt nicht zurück – zumindest Ricky Trotter nicht, der ist sofort mit der Waffe bei der Hand.«
»So ein Halunke ist das?«, meinte Abe Tanner nachdenklich. »Berichten Sie mir mehr davon.«
Über eine Stunde sprach John Maturin über die Schwanen-Bande, ihre einzelnen Mitglieder, ihre Erfolge und Annäherungsmethoden, und der Alte lauschte aufmerksam seinen Worten.
»Freut mich, das zu hören«, sagte er zum Schluss und rieb sich die großen, knochigen Hände. »Das Leben hier ist nämlich auf die Dauer recht öde und langweilig geworden. Wenn man einmal in Indien war, geht einem das ruhige England verflucht auf die Nerven. Jedenfalls will ich mir alles gut merken, denn ich habe tatsächlich einen Haufen kostbares Zeug hier, aber wie die Nachricht davon durchsickern konnte, verstehe ich wirklich nicht.«
»Die Dienerschaft vielleicht?«, deutete Maturin vorsichtig an.
Abe Tanner überlegte.
»Möglich. Das ist Battys Ressort. Wir haben vier oder fünf Hausangestellte, lauter Männer, außer der Wirtschafterin, die wir wegen Kit brauchen. Das ist meine Tochter, das heißt, wenn ich sage: Meine Tochter, so meine ich eigentlich meine Pflegetochter. Dalgleish, ihr Vater, galt als der beste Ingenieur in Indien, und das will etwas bedeuten. Er war mein treuester Freund, solange ich denken kann.« Er schüttelte in trauriger Erinnerung den Kopf. »Aber ich will sofort mit Batty reden, und wenn diese Schwanen-Gangster bei uns aufkreuzen sollten, dann werden wir ihnen einen heißen Empfang bereiten. Ich besitze noch ein altes Lee-Enfield-Gewehr, damit knalle ich sie einen nach dem anderen ab wie...«
Johnny unterbrach ihn lachend: »Wenn Sie das tun, Mr. Tanner, wird man Sie dafür aufknüpfen.«
Mr. Tanner war erstaunt. »Wird das hier so streng bestraft?«
»Wenn auch nicht ganz so streng, so ist es immerhin eine ziemlich zweischneidige Sache«, erwiderte Johnny. »Sollten Sie irgendwelche Schwierigkeiten haben, verständigen Sie sofort telefonisch die Polizei, aber versuchen Sie nicht, auf eigene Faust zu handeln, Mr. Tanner. Diese Verbrecher sind gefährlich, und wir bemühen uns bereits seit geraumer Zeit, sie zu fassen, leider bisher ohne Erfolg. Arthur Kelby ist der einzige unter ihnen, der jemals ein Gefängnis von innen gesehen hat – und das ist so lange her, dass er sich möglicherweise überhaupt nicht mehr daran erinnern kann. Wir möchten sie gern alle miteinander erwischen, und dazu bietet sich vielleicht jetzt eine Chance. Andererseits mag das Gerücht völlig aus der Luft gegriffen sein, denn wir besitzen keinerlei Beweise, dass sie tatsächlich etwas planen.«
Abe Tanner nickte. » Jedenfalls danke ich Ihnen.«
»Und wenn Sie klug sind, Mr. Tanner«, fuhr Johnny fort, »dann bringen Sie alles, was Sie an Wertgegenständen im Haus haben, zur Bank, dort ist es am sichersten aufgehoben.«
Der alte Mann wies diesen Vorschlag weit von sich. »Ich denke gar nicht daran, etwas auf die Bank zu bringen«, erklärte er entschieden. »Ich bin doch nicht von gestern, Sergeant. Hier, in der Burg gibt es einen Tresorraum, den ich selbst habe einbauen lassen, als ich Kurer Keep kaufte. Entworfen und ausgeführt von der Firma Spicer und Mortensen, und das sind bekanntlich Experten auf diesem Gebiet.«
»Ist es ein Safe?«, erkundigte sich Johnny.
»Ein Tresorraum, wie ich schon sagte«, brummte der Alte. »Drei mal zwei Meter groß, und die Wände sind gepanzert. Um sie durchzuschweißen, würde eine ganze Bande mindestens zwei Tage brauchen, es sei denn, sie wären auf das raffinierteste ausgerüstet, was hier in St. Basil wiederum kaum anzunehmen ist. Nein, mein Lieber, diese Stahlkammer ist das Sicherste vom Sicheren. Hat mich auch fünftausend gekostet – und dafür war es noch billig. Spottbillig sogar!«
»Mir kommt das nicht so außerordentlich billig vor«, bemerkte Johnny sarkastisch, und der Alte lachte laut auf.
»Wenn man einen Tresor kauft, darf man nicht die Kosten der Anschaffung berücksichtigen, sondern nur den Wert dessen, was darin verwahrt werden soll. Ein Panzerraum, der eine Viertelmillion in Diamanten sichern soll, muss stabil und...«
Maturin starrte ihn entgeistert an. »Eine Viertelmillion!«
»Und keinen Penny weniger«, bekräftigte Abe Tanner mit übertriebenem Stolz »So viel habe ich dafür bezahlt, aber sie sind einen ganzen Batzen mehr wert. Eine Viertelmillion gab ich damals Ali Baksh, dem reichsten Mann Indiens, und das war noch ein besonders günstiger Kauf, denn die Schwarzen Tränen sind
John Maturin blieb vor Staunen der Mund offenstehen. »Die Schwarzen Tränen!«
Der Alte nickte mit listigem Schmunzeln. »Von denen haben Sie schon gehört, was? Natürlich, sie sind ja weltberühmt, aber...«
John Maturin sah plötzlich, wie sein Blick sich starr auf die Tür heftete. Mit einem Satz sprang er darauf zu und riss sie auf.
Jemand huschte mit leichten Schritten den dunklen Korridor hinunter, und Maturin konnte nur noch einen flüchtigen Schatten um die Ecke verschwinden sehen, dann war alles still.
Zweites Kapitel
Sekundenlang stand Abe Tanner wie angewurzelt. Dann brüllte er: »Batty!«
Seine Stentorstimme prallte von den steinernen Wänden zurück, bis die weite Halle von ihrem Echo widerklang.
Im nächsten Moment kam Batty mit griesgrämigem Gesicht, einen Bierkrug in der Hand, herangeschlurft. »Was soll denn der Spektakel, Abe?«
»Hierher!«, befahl der riesige Mann, und Batty gehorchte missmutig.
»Hundertmal am Tag jagen Sie mich die Treppen rauf und runter. Kein Wunder, dass ich Plattfüße habe. Sie wissen doch, was der Doktor sagt, Abe.«
»Quatsch, Doktor«, schnitt ihm Abe Tanner das Wort ab. »Komm herein.« Er schloss die Tür hinter dem kleinen Mann. »Hast du jemanden in der Halle gesehen, Batty?«
»Nur den Hausdiener – Guild.«
Tanner schnaufte. »Komisch – verdammt komisch. Irgendjemand war im Korridor und hat mich belauscht! Aber das passiert heute nicht zum ersten Mal. Ich habe es bereits zweimal beobachtet.«
Batty wurde plötzlich hellhörig. »Was Sie nicht sagen, Abe! An der Tür, hm? Guild war es nicht, denn der hielt sich unten in der Halle auf. Aber ebenso wenig können es Fenner oder Coyle gewesen sein. Was hat er denn belauscht?«
Abe Tanner räusperte sich. »Ich erzählte gerade diesem Herrn von den Schwarzen Tränen«, erwiderte er in einem Ton, als müsse er sich verteidigen. »Da er doch Polizeibeamter ist, dachte ich...«
Batty stemmte die Atme in die Seiten und pustete sich auf. »Sie gottverlassener alter Narr!«, rief er. »Abe, Sie sind wohl vollkommen vertrottelt. Gehirnerweichung haben Sie, das ist es! Na ja, wenn ein Mensch erst über Achtzig ist...«
»Zweiundsechzig«, knurrte Tanner wütend dazwischen.
Batty zeigte mit dem Finger auf ihn. »Sie waren schon zweiundsechzig, als wir damals nach Patiāla kamen, und das ist so lange her, dass ich es schon bald vergessen habe. Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, Sie sollen nicht über dieses Zeug reden? Es ist gefährlich – sogar lebensgefährlich! Diese Unglückssteine...«
»Reiner Aberglaube«, fertigte Abe Tanner ihn kurz ab. »Ein gebildeter Mensch wie du oder ich gibt nichts auf solch heidnische Ammenmärchen, Batty. Ich muss mich über dich wundern, wirklich.« Battys Entrüstung hatte sich wieder gelegt. »Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Das eine weiß ich jedenfalls: Die Steine bringen Unglück, und danach tragen wir kein Verlangen. Wenn erst bekannt wird, dass sie hier sind, Abe, dann dauert es nicht lange, und sämtliche Verbrecher Europas schleichen draußen im Wald herum, um eine günstige Gelegenheit auszukundschaften. Tausend und aber tausendmal habe ich Sie beschworen: Schwatzen Sie nicht darüber! Stimmt, oder stimmt’s nicht?«
»Stimmt«, gab der Alte widerwillig zu.
»Na also«, trumpfte Batty auf. »Wenn sich das herumspricht, was glauben Sie, was dann geschieht?« Er wandte sich an den jungen Mann. »Sie werden doch kein Sterbenswörtchen davon verraten, Sir?«
»Ganz gewiss nicht«, versicherte Johnny.
Abe Tanner warf sich in die Brust. »Da hörst du’s, Batty! Was habe ich dir gesagt? Der Herr ist von der Polizei, und daher kann es nichts schaden, wenn er davon erfährt.«
»Solange er der einzige ist«, fügte Batty einschränkend hinzu.
Maturin runzelte die Stirn. »Es war tatsächlich jemand an der Tür«, meinte er bedächtig. »Ob er etwas aufgeschnappt hat und wieviel, weiß man nicht, aber Sie haben eine durchdringende Stimme, Mr. Tanner.«
Abe Tanner fasste das als Kompliment auf. »Klar wie eine Glocke«, betonte er stolz. »Wenn ich oben von den Bergen einen Mann gerufen habe, der einen Kilometer von mir entfernt war, hat er mich unten hören können.« Er wandte sich wieder an seinen Gefolgsmann. »Geh jetzt, Batty, aber sperr die Augen auf!«
Der Kleine nickte mit saurer Miene. »Das tue ich schon. Sollte ich einen hier im Korridor herumlungern sehen, dann schneide ich ihm die Ohren ab wie diesem Burschen damals in Amritsar...«
»Schluss damit«, unterbrach ihn Abe Tanner schroff, und Batty verzog sich.
Johnny schaute ihm einen Moment schweigend nach, dann sagte er: »Batty hat recht, Mr. Tanner, es ist eine zu riskante Sache. Folgen Sie meinem Rat und setzen Sie sich mit Ihrer Bank in Verbindung – und zwar sofort.«
Der Alte schüttelte trotzig den Kopf. »Zehn Jahre lang trage ich die Schwarzen Tränen mit mir herum, mein Sohn, und besitze sie immer noch. Unglück? Glauben Sie doch so etwas nicht! Als ich sie kaufte, war ich knapp eine Million schwer, und jetzt bin ich schätzungsweise zwölffacher Millionär. Alles innerhalb der letzten zehn Jahre. Ist das nun Glück oder Pech?«
»Darauf gibt es keine Antwort«, gab Johnny grinsend zu.
»Elf Millionen in dieser Zeit«, prahlte der Alte. »Nein, nein, die Schwarzen Tränen mögen vielen Menschen Unglück gebracht haben, mir jedenfalls nicht, und deshalb hake ich sie fest. Später wird Kit sie einmal erben. Da wird aber jeder Augen machen, Mister – eine halbe Million in Diamanten und Rubinen! Es gibt im ganzen Land keine zweite Frau, die auch nur annähernd soviel vorzeigen könnte.«
John Maturin stieß einen Seufzer aus. »Das glaube ich gern, Sir, aber riskant ist es trotzdem.«
Abe Tanner lachte selbstgefällig.
»Was ist nicht riskant? Mein ganzes Leben lang habe ich stets die höchsten Einsätze gewagt, und schauen Sie mich jetzt an. Ich könnte halb England aufkaufen, wenn ich wollte. Außerdem habe ich ausgezeichnete Alarmvorrichtungen, die gepanzerte Stahlkammer und nicht zuletzt das Lee-Enfield-Gewehr, von dem ich Ihnen schon erzählte. Nein, mir ist nicht bange.« Er schlug sich mit der flachen Hand aufs Knie, dass es wie ein Schuss knallte. »Aber da Sie gerade hier sind, müssen Sie auch zum Essen bleiben. Ich wünschte nur, Kit wäre da, um Ihnen Gesellschaft zu leisten. Über das Mädchen würden Sie Bauklötze staunen – sie hat vornehme Schulen im Ausland besucht, Frankreich und Italien, von England ganz zu schweigen. Eine richtige Dame, sage ich Ihnen! Wenn Dalgleish sie jetzt sehen könnte...« Er wiegte bedauernd den Kopf. »Malcolm Dalgleish war ein Gentleman durch und durch, hatte studiert und wusste sich überall zu benehmen – das Gegenteil von mir. Ich bin schon immer ein grober Klotz gewesen, trotz meines vielen Geldes.«
Im gleichen Augenblick ertönte dröhnend ein Gong, und er nickte befriedigt.
»Na also, das Zeichen zum Lunch. Wir haben übrigens einen erstklassigen Küchenchef. Der Junge kann kochen, versichere ich Ihnen! Einen Curry, so delikat, wie er ihn zubereitet, haben Sie bestimmt noch nie in Ihrem Leben gegessen.« Damit ging er voran die Treppe hinunter und öffnete die Tür zum Speisezimmer. Auf dem Tisch lagen bereits zwei Gedecke, was Abe Tanner ein anerkennendes Schmunzeln über die Umsicht seines Butlers entlockte. Er trat an eins der breiten Fenster und winkte John Maturin mit gekrümmtem Zeigefinger herbei.
»Kommen Sie, Sergeant, und sehen Sie sich das an«, sagte er voll Stolz.
Johnny folgte seinem auffordernden Wink und erblickte vor sich die leuchtendgrüne Rasenfläche, die in sanftem Schwung zu einem Bach hinabfiel, an dessen Ufer in dichten Büscheln Anemonen und Narzissen blühten. Zur Rechten erhoben sich die schattigen Tannenwälder von Kurer und davor lag in einer flachen Mulde das Dorf eingebettet. Soweit das Auge reichte, erstreckten sich ringsum fruchtbare Felder und Wiesen, zwischen denen man die sauberen weißen Bauerngehöfte mir ihren roten Dächern und kleinen blauen Rauchwölkchen sah. Er war noch ganz in diesen lieblichen Anblick versunken, als sich Abe Tanners schwere Hand auf seine Schulter legte.
»Wie gefällt Ihnen das? Können Sie verstehen, dass ich all die Jahre davon geträumt habe? Ich kam aus Newcastle, und als ich nach Indien ging, besaß ich nichts als die Kleider, die ich am Leib trug, aber ich hatte mir geschworen, dass ich eines Tages nach England zurückkehren, mir einen Landsitz kaufen und das Leben eines Gutsbesitzers führen wollte. Und das habe ich gehalten, siebenundzwanzigtausend Morgen besitze ich jetzt, und Sie können von hier aus kein Stückchen Erde sehen, das nicht mir gehört.«
Maturin schwieg tief beeindruckt.
»Sie sind ein beneidenswerter-Mann, Mr. Tanner«, murmelte er dann.
»Ja, das bin ich«, bestätigte der Alte. »Aber das Glück war mir nicht von Anfang an hold. Erst nachdem ich die Schwarzen Tränen erwarb, gingen alle meine Wünsche in Erfüllung. Nein, Batty kann sie verfluchen, soviel er will, mir haben sie sich freundlich gezeigt.« Er wandte sich nm. »Aber nun kommen Sie zum Essen.«
Während des Essens war er recht einsilbig und widmete sich mit großem Appetit den ausgezeichnet zubereiteten Speisen, doch kaum hatten sie die Mahlzeit beendet, da erschien Batty mit der ominösen Flasche in der Hand.
»Zwei Esslöffel«, mahnte er in. strengem Ton. »Abe, es hilft nichts! Keine Ausreden und kein Geschimpfe, auch kein Bitten und Betteln. Entweder nehmen Sie es, oder ich sage es Kit.«
Der alte Mann war sprachlos vor Entsetzen.
»Das würdest du doch nicht im Ernst tun, Batty?«
»Und ob! Sorg dafür, dass er seine Medizin nimmt, Batty, sagte sie zu mir, und ich habe ihr mein Wort darauf gegeben. Es sind seine Nerven, sagte sie noch. Er leidet an zu hohem Blutdruck, und Dr. Markham macht sich Sorgen. Das hat sie mir auf die Seele gebunden.« Er goss eine schwarze Flüssigkeit auf den Löffel. »Es ist nur zu Ihrem eigenen Besten, Abe, und wenn Sie klug wären, würden Sie sich nicht immer sträuben.«
»Einen Schluck«, willigte der Alte endlich mit einer Grimasse ein. »Einen einzigen und keinen Tropfen mehr!« Er nahm den Löffel entgegen und verschüttete dabei die Hälfte der Medizin. »Ein ekelhaftes Zeug! Medizin in meinem Alter ist überhaupt lächerlich. In meinem ganzen Leben habe ich keine gebraucht, höchstens einmal Karlsbader Salz.«
Batty betrachtete ihn missbilligend. »Aber jetzt sind Sie alt, und es geht rapide bergab mit Ihnen, Abe. Ein Jammer, wenn ich an früher denke!« Er schüttelte traurig den Kopf. »Na ja, wir können nicht alle jung bleiben.«
Tanner warf ihm einen bitterbösen Blick nach. »Dabei ist er genauso alt wie ich«, brummte er. »Da sieht man wieder einmal...« Was man sah, unterließ er, des Näheren zu erklären, stattdessen wandte er sich wieder seinem Gast zu. »Kommen Sie mit hinüber, wir trinken noch ein Gläschen, bevor Sie aufbrechen müssen. Ich habe so selten Besuch.«
Sie begaben sich in die Bibliothek zurück, und Mr. Tanner griff zur Karaffe. »Sagen Sie, wenn es genug ist.«
Johnny, musste es dreimal wiederholen, bevor er mit dem Einschenken innehielt. Tiefsinnig erklärte Tanner dann: »Schade, dass Sie so weit fort sind, junger Mann, denn ich kann Sie gut leiden. Vielleicht, weil Sie auch in Indien gewesen sind. Und wenn mir einer sympathisch ist, dann stehe ich zu ihm. Ich habe vielen geholfen in meinem Leben – aber auch ebenso viele haben mich fürchten gelernt.« Er trank sein Glas mit einem Zug aus und stellte es heftig auf den Tisch. »Und niemandem ist es jemals gelungen, mich in die Knie zu zwingen. Keinem Mann – und nur einer einzigen Frau.« Er lachte in sich hinein »Manchmal frage ich mich, ob sie wirklich die Oberhand über mich gewann.« Er schwieg eine Sekunde. »Sie war Witwe – aber jetzt ist sie tot, und ich bin froh darüber, denn sie war ein Satan.« Seine Augen verschleierten sich, als blickten sie in die Vergangenheit zurück, und dass die Bilder, die sie sahen, nicht zu den angenehmsten zählten, konnte man leicht in ihnen lesen.
»Wir alle machen unsere Fehler, Mr. Tanner«, sagte Johnny tröstend und setzte sein Glas ab. »Aber jetzt muss ich mich leider empfehlen, denn der Weg nach London ist weit, und ich muss noch Bericht erstatten. Lassen Sie sich den Rat noch einmal durch den Kopf gehen, und sollten Sie auch nur die kleinste verdächtige Beobachtung machen, wendet Sie sich bitte unverzüglich an die hiesige Polizei. Wir werden ebenfalls den Polizeichef verständigen und wenn wir Glück haben, erwischen wir vielleicht die ganze Bande.«
Abe Tanner erwog diesen Vorschlag. »Also gut – ich verspreche es Ihnen. Aber falls sich irgendein naseweiser Stadtfatzke einfallen lassen sollte, hier herumzuspionieren, wird ihn das teuer zu stehen kommen.« Er bückte sich und hob mit spielerischer Leichtigkeit einen schweren eisernen Kaminständer auf, den er mit gestrecktem Arm von sich hielt.
»Nerven!« Grenzenlose Verachtung lag in diesem einen Wort. »Medizin! Wenn man sie reden hört, könnte man denken, ich sei ein altes Weib, mit einem Fuß bereits im Grab. Das Eisen hier wiegt gut und gerne einen halben Zentner, und ich könnte es eine Stunde lang so hochheben – einen ganzen Tag, wenn ich wollte.« Und John Maturin konstatierte mit staunender Bewunderung, dass seine Hand auch nicht das leiseste Zittern verriet. Ruhig und fest wie ein Fels stand sein Arm waagerecht vom Körper ab.
»Ich glaube es Ihnen, Sir«, lachte er. »Leben Sie wohl!«
Tanner stellte den Kaminständer wieder an seinen Platz.
»Leben Sie wohl, mein Junge.« Er nahm Johnnys Hand in seine riesige Pranke. »Wenn Sie das nächste Mal wieder in dieser Gegend sind, besuchen Sie mich. Sie finden mich immer hier, denn für die Stadtluft habe ich nichts übrig. Vielleicht wird Kit dann auch zu Hause sein.« »Er blickte ihm nach, als er zur Tür ging. »Sie kennen sicher eine Menge Menschen in London«, fügte er plötzlich hinzu. »Alle möglichen Verbrecher und dergleichen.«
Johnny drehte sich wieder um. »Ein paar schon«, gab er zu. »Und ich mache täglich neue Bekanntschaften und sammle neue Erfahrungen.«
Abe Tanner nickte. »Das kann nie schaden. Haben Sie übrigens mal einen mit Namen da Silva getroffen? Einen aalglatten, gelben Kerl wie ein...« Er brach abrupt ab.
»Nein«, erwiderte Johnny nachdenklich. »Was ist er denn?«
»Rechtsanwalt«, sagte Abe Tanner verächtlich. »Trauen Sie diesen Burschen nie über den Weg, es sind alles Gauner, und dieser da Silva ist einer der ausgekochtesten, das weiß ich. Eines schönen Tages werde ich ihn die Treppe hinunterschmeißen, und er wird mich auf eine Million Pfund verklagen. Warten Sie es nur ab.«
»Das tue ich«, antwortete Johnny vergnügt grinsend und verabschiedete sich endgültig.
Drittes Kapitel
Wie ein geduckter Raubvogel stand Abe Tanner da und beobachtete von der luftigen Höhe seines Horstes aus, wie der kleine Wagen die Allee hinunterkroch, sich hinter den Bäumen verlor, einen Moment später auf der Chaussee wieder zum Vorschein kam und seine Fahrt beschleunigte. Nach einer Weile wendete er sich um und betätigte einen altmodischen Klingelzug, der in der Ecke hing. Gleich darauf erschien Batty.
»Was ist denn nun schon wieder los, Abe?«, beschwerte er sich. »Diese Treppen sind noch mein Tod.«
Abe Tanner wies statt einer Antwort auf einen Sessel. »Setz dich, Batty.«
Batty gehorchte. Er hob das Gesicht, dessen Haut wie altes, zerknittertes Pergament wirkte, und blickte mit einem schwarzen, glänzenden Auge und einem in der Farbe leicht abweichenden forschend zu Tanner auf. »Was haben Sie im Sinn, Abe?«
Abe Tanner warf sich in Positur. »Du weißt, weshalb dieser Maturin hier war?«
»Ich kann es erraten«, erwiderte Batty mürrisch. »Es hat wahrscheinlich etwas mit dem Zeug zu tun, das Sie hier aufbewahren. Sie sind ein eigensinniger alter Narr, Abe! Wie oft habe ich Ihnen zugeredet, Sie sollen es in einer Bank deponieren, aber Sie hören ja nicht.«
Abe Tanner lächelte überlegen. »Eigensinnig, hm? Ja, das bin ich nun mal. Ich streite es gar nicht ab, Batty, und in meinem Alter werde ich mich auch nicht mehr ändern. Aber ich habe dir etwas zu erzählen.«
»Was denn?«, fragte der kleine Mann misstrauisch.
»Eine Bande von Juwelendieben soll sich in Kent herumtreiben«, sagte Abe Tanner mit bedeutungsvoller Miene. »Maturin hat mir einige Hinweise gegeben. Jetzt pass gut auf.« Er sprach eine Viertelstunde lang auf Batty ein, der vor ihm saß und aufmerksam seinen Worten lauschte.
»Und Sie wollen es auch jetzt nicht in eine Bank bringen?«
Tanner fuhr entrüstet auf. »Seit zehn Jahren habe ich mich keine Minute von den Schwarzen Tränen getrennt, Batty, und jeden Tag, den Gott werden lässt, sehe ich sie mir an, das weißt du ebenso gut wie ich. Sie haben mir Glück und Erfolg gebracht, und jetzt drängst du mich, sie aus den Händen zu geben. Ich verstehe dich nicht, Joe Batty.«
Der kleine Mann hatte sich erhoben und trat ans Fenster, das er einen Moment mit scharfem Blick untersuchte. Ein kaum sichtbarer feiner Draht zog sich innerhalb des Metallrahmens an der Scheibe entlang. Er berührte ihn prüfend mit dem Finger.
»Also gut, Abe, ich habe. Sie jedenfalls gewarnt. Sie setzen ein geradezu blindes Vertrauen in alle möglichen Alarmvorrichtungen; ich will deren Wert gar nicht abstreiten, aber auch Alarmklingeln können einmal versagen. Warten Sie ab, ob ich recht behalte.« Er nahm sich aus der Kiste, die neben ihm auf derb Rauchtisch stand, eine Zigarre und zündete sie an. »Sie haben bisher stets Ihren Kopf durchgesetzt, aber eines Tages werden Sie eine peinliche Überraschung erleben.«
Er verließ seinen Herrn und begab sich in den rückwärtigen Teil des Hauses, in dem sich sein eigenes Zimmer befand. Unmittelbar vor seinem Fenster erhob sich die düstere Silhouette der alten Burg, und wie so oft, blieb er auch jetzt einen Moment davor stehen und starrte zu der Ruine hinauf, die eine eigenartige Anziehungskraft auf ihn ausübte. In seiner Phantasie bevölkerte er sie manchmal mit den geharnischten Kriegern, die dort in früheren Zeiten gehaust hatten, und er fragte sich, ob es wohl jemals unter ihnen einen so seltsamen Kauz gegeben haben mochte, wie Abe Tanner war.