Die Straße der Sonne - Eike M. Falk - E-Book

Die Straße der Sonne E-Book

Eike M. Falk

4,9

Beschreibung

Dies ist ein Zeitroman, der die Jahre 1974-1981, einen wichtigen Zeitraum der (bundes-) deutschen Geschichte umspannt. Dies ist ein romantischer Roman, insofern er neben der Erzählung weitere literarische Formen wie Lyrik, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und fantastische Einsprengsel in sich aufnimmt. Dies ist ein Entwicklungsroman, der für eine Weile den Lebensweg einer Gruppe junger Menschen begleitet.

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Eike M. Falk, stammt aus der Pfalz, lebt in Hamburg. Studierte Theaterwissenschaft, später Altamerikanistik und Völkerkunde. Arbeitete u.a. bei der taz, meist aber als Selbständiger, zeitweilig in den abenteuerlichsten Jobs. Hat Spaß daran. Und am Leben. Und überhaupt.

Es gibt Augenblicke, man gelangt zu Augenblicken, und die Zeit bleibt plötzlich stehen und wird ewig. (Fjodor M. Dostojewskij)

Inhaltsverzeichnis

Ilsemännchens Käfer

Das Internat

Paule

Das Fußballspiel

Koma

Melia

Is doch nur'n Film

Abschiede

Eskapaden

Heimfahrtswochenende

Die Straße der Sonne

Der Kuss

Birke und ich (1)

Luppy

Michi

Im Zug

Frau Kolb

Paules Brief

Mainz

Pirmasens

Ingelheim (1)

Ingelheim (2)

Tristan und Isolde (1)

Durch die Nacht

Paule kommt

Ist nichts draus geworden

Tristan und Isolde (2)

Worms

Birke und ich (2)

Sommer

Hanna (1)

Dolomiten-Schnelldurchlauf

Hanna (2)

November

Hanna (3)

Bad Ems

Köln

Marlene

Die WG (1)

Spanien

Marienverehrungsundromeostrapazen

Sylvester

Norderney

Die WG (2)

Die WG (3)

Luppy kommt

Lehrstück

Berlin

Norderney (Sommer)

Marlene und ich

Der Plan (1)

Bei Luppy

Der Plan (2)

Abschied von Hanna

Wie ein Gedicht entsteht

London

Abflug

Quebec

Es geht los

Natashquan (1)

Der Fluss

Das Blockhaus

Ein Tag im Leben der Abenteurer

Wölfe

Zurück

Natashquan (2)

On the Road

Wolfville

Montreal

Homeward Bound

Marlenes Briefe (1)

Wieder bei Luppy

Marlene kommt

Marlenes Briefe (2)

Ein gutes Omen

Tage hängen wie Trauerfalten

Erinnerungen

Hamburg

Meine neue WG

Die Besetzergruppe

Alsterspaziergang

Unternehmungen

Marlene, Paule und ich

Amandastraße

Neue Männer braucht das Land

Elsa

Meenkwiese

Eppendorf

Nagel & Kamp

Winterhuder Spaßkontrolle

Zwischendrin

Elsa und ich

The End

Aus

Schluss

Epilog

1 Ilsemännchens Käfer

Ilsemännchens Käfer war komplett zugequalmt von unserem Pot. Richtig guter Stoff. Den bekamen wir aus Münster und die bekamen ihn aus Amsterdam.

Nach der Schule fuhren wir raus, bogen auf einen Feldweg ein. Da rauchten wir dann. Ein Pfeifchen nach dem anderen. Zwei Stunden lang, mindestens.

Auch vor der Schule machten wir das so. Nicht so ausgiebig. Aber ein Pfeifchen musste schon sein. Sonst war gar nichts zu ertragen.

Klar, dass die Lehrer was gemerkt haben. Aber nur einmal hat unser Deutschlehrer einen zaghaften Versuch gestartet, indem er Ilsemännchen und mich zielgenau fixierte: Meine Herren, haben sie was genommen? Nein, natürlich nicht.

Und nach der Schule dann die zwei Stunden. Mindestens. Danach war jeder Tag ein Fest.

Wir hörten die Musik vom eingebauten Kassettenrecorder. Was die Soundqualität angeht kann sich jeder seine Vorstellungen machen. Für uns war es überirdisch gut.

Ilsemännchen liebte Stücke wo Streicher mit im Spiel waren wie bei ´Sixty Years On´. Das schien sich Ewigkeiten hinzuziehen. Oder schöne langgezogene Riffs wie in ´Child In Time´ oder ´I Want You´. Auch das ging ewig. Ewig.

War nichts gegen einzuwenden. Und blieb noch genug Zeit für Jefferson Airplane, die Stones, und, und. Eine Ewigkeit ist eine Ewigkeit. Nach der dritten Pfeife ist sie siebenmal so groß wie nach der zweiten.

Die Farbe von Ilsemännchens Käfer war orange. Vorher und nachher.

2 Das Internat

Wir waren auf einem Internat, Ilsemännchen und ich. Dort waren wir sowas wie die Drogenbarone. Das hatte mit der Münster-Connection zu tun, die Ilsemännchen aufgetan hatte. Und das war eine gute Connection, der Nachschub floss reichlich.

Also versorgten wir auch alle anderen, die Interesse daran hatten, mit Stoff. Es war ein Non-Profit-Unternehmen, wir schlugen nichts drauf, zogen aber auch unsere eigenen Vorteile daraus.

Auf einem Internat gab es verständlicherweise jede Menge Ärztekinder. Und die Unternehmungslustigeren von denen, nun ja, die schleppten so einiges an. So einiges, womit man herrlich experimentieren konnte. Und Ilsemännchen und ich waren sehr experimentierfreudig. Ich will mal nur ein harmloses Beispiel geben: Schlaftabletten.

So ein Internat hat einen streng geregelten Tagesablauf. Morgens halb acht ist Frühstück, Schule von acht bis eins, dann Mittagessen, dann frei bis vier, von vier bis viertel vor sechs mussten alle Schüler auf ihren Zimmern sein und Hausaufgaben machen, das nannte sich Silentium. Um sechs gab es dann Abendessen. Und bevor wir uns dahin auf den Weg machten, warfen wir ne Runde Schlaftabletten ein.

Wenn du Schlaftabletten nimmst ohne Schlafen zu wollen, bekommst du eine formidable Wirkung. Es ist, wie wenn du auf Wolken schwebst.

Von unseren Unterkünften bis zu den Speisesälen war es ein gutes Stück. Und wir schwebten auf Wolken.

Das Internat war ziemlich weitläufig. Ursprünglich, der Kern, das Zentrum des Ganzen war ein altes Wasserschloss im östlichen Westfalen. Aber das Internat war gewachsen. Mittlerweile wohnten nur noch die ganz Kleinen, die Schüler der fünften und sechsten Klasse, im Schloss. Es gab einen Gebäudetrakt für die Mittelstufe, einen für die Oberstufe, ein streng bewachtes Mädcheninternat, das Wirtschaftsgebäude mit Küche und Speisesälen, nach Stufen und Geschlechtern getrennt, das Schulgebäude, eine Sporthalle und ein Hallenbad. Selbstredend gab es einen Fußballplatz und – ganz wichtig – zwei Cafeterias, eine im Bereich der Mittelstufengebäude und eine im Mädcheninternat, und – noch wichtiger – zwei Discos, eine für die Mittelstufe, die nur bis 20 Uhr geöffnet hatte, und seit kurzem eine schicke neue im Oberstufentrakt, die hatte bis 22 Uhr Betrieb. Und – was noch viel wichtiger war – es hatten überall sowohl Jungs als auch Mädchen Zutritt, es gab also auch bei schlechtem Wetter geeignete Orte, wo gekuschelt werden konnte.

Das Gebäude für die Oberstufe war als letztes fertig geworden, dort wohnten wir erst seit Mitte der zwölften Klasse. Nun gab es endlich die ersehnten Einzelzimmer. Und eine weitere Sensation: es lag dem Mädcheninternat direkt gegenüber.

Als wir einzogen herrschte große Aufregung. Wer würde wohl ein Zimmer mit Blick aufs Meer beziehen dürfen, wie wir die dem Mädcheninternat zugewandte Seite sofort getauft hatten.

Dass sich da auf der anderen Seite des Ufers ständig verführerisch schöne nackte Mädchenkörper präsentieren würden hat natürlich keiner von uns geglaubt, eine angenehme Vorstellung war es doch.

Auch die Internatsleitung wird wohl kaum von dieser Möglichkeit ausgegangen sein, auch nicht davon, dass es von Gebäude zu Gebäude geheime Absprachen geben würde, aber ein Zeichen setzten sie, indem sie die Jungs, die reichlich mit den Mädchen rummachten oder in dieser Hinsicht als potentiell gefährlich galten, auf die andere Seite verfrachteten. Sie lagen erstaunlich richtig in ihrer Wahl. Diese dem Meer abgewandte Seite bot eine überwältigende Sicht auf wogende Getreidefelder. Auch ich bekam da mein Zimmer zugewiesen. Direkt neben meinem Freund Paule.

3 Paule

Paul Baumeister. Paule gerufen. Paule war mein bester Freund. Vom ersten Tag an. Vom ersten Tag im Internat. Wir waren beide neu in der elften Klasse.

Viele Eltern schickten ihre Kinder in der Oberstufe auf unser Internat. Es galt als liberal und seine Schule als reformfreudig. Das stimmte auch irgendwie. Zu dieser Zeit steckte die Oberstufenreform noch in der Planungsphase. Auf unserer Schule wurde sie bereits in Ansätzen praktiziert. Man konnte zum Beispiel statt Latein oder Französisch Spanisch als zweite Fremdsprache wählen, wie ich es dann tat, und man konnte bestimmte Fächer abwählen und andere dafür stärken. So habe ich ab der zwölften Klasse Chemie drangegeben und meine Stunden in Kunst und Musik verdoppelt. Das war es aber auch schon. Nur, dass da noch allerhand AG´s waren, die außerhalb des Unterrichts stattfanden, aber das gabs auf jedem Internat, das auf sich hielt.

Von den neuen Schülern kamen die meisten von anderen Internaten, für Paule und mich war es eine gänzlich neue Erfahrung. Da das neue Internat mit den Einzelzimmern noch nicht fertig war, wurden wir, wie das bisher üblich war, in Dreierzimmern untergebracht. Paule, wie sich dann herausstellen sollte, ich und ein alter Hase, der schon von der fünften Klasse an auf dem Internat war. Dessen Aufgabe sollte darin bestehen die Integration zu fördern und Gemeinschaftsgefühl herzustellen. So wars vom Internat geplant und so haben wir es eifrig in die Tat umgesetzt. Nicht immer zur Freude des Internates.

Als ich eintrudelte war der große Integrator bereits da und machte sich an einer riesigen und richtig teuer aussehenden Anlage zu schaffen. Ein langhaariger Schlacks: Ilsemann. Wir mochten uns gleich. Ilsemann kam aus einer Diplomatenfamilie. Bonn. Und da seine Eltern ständig auf Achse waren, war er schon von jeher auf dem Internat.

Die Anlage war denn auch bald in Gange, wir lümmelten uns behaglich auf den Betten unserer neuen Behausung und zogen uns die Doors rein, als die Tür aufging und Familie Oberadrett hereinspazierte. Vater Baumeister, Mutter Baumeister und unser Freund Paule. Ordentlich gebügelte Hose, ordentlich gebügeltes Hemd, schickes Sakko. Alles in schreienden Farben natürlich, den Sitten der Zeit entsprechend. Ilsemännchen und ich zogen die Augenbrauen hoch und sahen uns an. Das konnte ja heiter werden! Nun, Familie Baumeister machte es kurz und verschwand bald wieder. Paule verwandelte sich augenblicklich. Riss sich die schnieken Klamotten runter und warf sich in ein etwas praktikableres Outfit. Zum Vorzeigehippie machte ihn das zwar nicht und mit Popmusik hatte er auch nix am Hut, wie sich zu unserem Leidwesen herausstellte, aber er entpuppte sich als der beste Kumpel, den man sich vorstellen konnte. Zu jedem Schabernack zu haben. Und zu Hochform lief er auf, wenns darum ging irgendwelchen Autoritäten eins auszuwischen.

Zunächst einmal schleppte er uns in die einzige Kneipe am Ort. Die hatte ich noch nicht einmal wahrgenommen, Paules spähendem Auge war sie nicht entgangen.

Die Kneipe lag direkt neben den Schlossgebäuden. Wahrscheinlich von alters her, wie sie aussah. Alt und irgendwie abgewirtschaftet, reichlich marode. Aber trotzdem immer vollgestopft mit Schülern, die sich einen soffen. Farke hieß die Kneipe. Nach dem Besitzer wohl. Na, der verdiente sich ganz sicher dumm und dämlich. Aber okee, wir waren durchaus willens unser Scherflein dazu beizutragen.

Paule war ein untersetzter, kräftiger Junge. Einssiebzig groß. Nur - wie er meinte, und worunter er zeitlebens litt, woran sich aber niemand außer ihm jemals störte. Aber so ist das nun mal. Eine Sportskanone. Hervorragender Turner. Aber auch in allen anderen Disziplinen ein Crack. Selbst im Basketball. Und er war der erste von uns, der eine Freundin fand. Das ging ratz-fatz. Schon in der ersten Woche, glaube ich. Und die Beziehung hielt die ganzen drei Jahre bis zum Abitur. Tanja. Die war nun wirklich klein. So einssechzig, schätze ich mal. Und eine von der Sorte, die die kürzesten Miniröcke trug, in der ersten Reihe saß und die Lehrer bezirzte. Wir fanden das zwar nicht so prickelnd, aber sie war halt Paules Freundin und so haben wir sie denn weitestgehend akzeptiert.

Paule vollbrachte während unserer Schulzeit viele denkwürdige Taten. Aber eine Sache wurde legendär. Überschrift: Paule und die Adidas-Tasche. Er hatte nämlich so eine Sporttasche. Und in der Sporttasche war eine Decke. Während nun strebsame Schüler wie ich die freie Zeit nach dem Mittagessen dazu nutzten an den Proben der Theatergruppe teilzunehmen, schnappte sich Paule seine Adidas-Tasche, ging rüber zum Mädcheninternat und holte Tanja ab. Und dann gingen die beiden in den Wald ... Tag für Tag. Drei Jahre lang. Legendär.

4 Das Fußballspiel

Wir waren richtig gut. Wir waren unschlagbar. Wir waren die Größten. An mir lag das nicht. Wir hatten ein paar richtig Gute und zwei Cracks. Der eine, das war Walter Hülsmeyer, der war einige Jahre älter als wir anderen alle, hatte drei Jahre in der ersten Mannschaft von Hannover 96 gespielt, bis ihm eingefallen war die Fußballerkarriere an den Nagel zu hängen und ganz von vorne anzufangen. Der erste Schritt war, das Abitur nachzuholen. So war er aufs Internat gekommen. Walterchen, wie wir ihn zärtlich nannten, Walterchen alleine hätte schon gereicht. Aber da war noch Kiki Kowronnek. Der war in der Jugend von Arminia Bielefeld groß geworden. Walterchen dirigierte die Abwehr, Kiki das Mittelfeld. Neben Kiki standen Dirk Richter und Stefan Weigerding. Das waren die beiden bestaussehenden Jungs der Schule, die von allen Mädchen angehimmelt wurden, und natürlich waren sie auch hervorragende Fußballer.

Im Sturm wirbelten Ilsemännchen auf links, Paule auf rechts. Paule war schnell, quirlig und kaum vom Ball zu trennen. Ilsemännchen war, zugedröhnt oder nicht, ein zweiter Garrincha. Mittelstürmer war Joe Fueß, ein Österreicher, von der Statur wie Gerd Müller, und wie Gerd Müller machte er seine Tore.

In der Abwehr standen Dominik von Hunyadi, alter ungarischer Adel, Robert von Arnim, nein, nicht d e r Zweig der Familie, sondern der mit den vielen Generälen, und ich.

Ich sollte mich vielleicht mal vorstellen. Das ist jetzt hier bestimmt nicht die beste, aber immerhin eine Gelegenheit. Mein Name ist Nikolaus von Brausfels, Niko gerufen. Die Brausfels sind ein altes, etwas herunter gekommenes Geschlecht. Unsere besten Tage hatten wir während der Reformationszeit, als wir mit den Huttens, den Berlichingens und Sickingens versippt und verschwägert waren. Danach gings bergab. Nicht zuletzt wohl wegen dieser Verwandtschaft. Aber egal. Wir haben uns immer irgendwie durchgeschlagen. Darin wurden wir groß, und das hat ja doch was, wie ich meine. Und es ist ein guter Name, wie ich finde, ja.

Walterchen hatte also eine hübsche adelige Abwehrreihe beisammen. Als Fußballer taugten wir alle nicht viel. Ich war eindeutig der Schlimmste. Meine Devise in Sachen gegnerischer Angreifer lautete: gibst du mir den Ball nicht, niete ich dich um. Die beiden anderen trieben es nicht ganz so arg. So hielt Walterchen ein wachsames Auge auf die linke Außenbahn, wo ich mich tummelte, und damit hatte es sich für ihn. Wir standen uns nämlich sehr gut miteinander.

Im Tor langweilte sich Rüdiger Eichkorn, eigentlich ein Handballtorhüter, der bestimmt auch als Fußballtorwart was taugte, seine Kunst allerdings höchst selten unter Beweis stellen durfte, weil Walterchen es so gut wie nie darauf ankommen ließ.

Unsere Mannschaft bildete auch den Stamm der Internatsauswahl (müßig zu erwähnen, dass ich da nicht mehr dabei war), die, solange wir auf der Schule waren, den alljährlich unter den deutschsprachigen Internaten ausgespielten Pokal gewann. Wir gewannen auch alle Freundschaftsspiele, die wir gegen französische und englische Internatsmannschaften austrugen. Wir waren total langweilig. Wir waren das absolute Gähnprogramm.

Heute ging es um die interne Internatsmeisterschaft, die wir sowieso gewinnen würden.

Wir waren damals in der zwölften Klasse, es ging gegen eine Gruppe von Elftklässlern. Im Internat waren wir in Gruppen eingeteilt. Eine Gruppe bestand in der Regel aus dreißig Jungs, die von einem Erzieher beaufsichtigt wurden. Mit Erziehung war eher nichts, Beaufsichtigung ist das richtige Wort. Der Erzieher hatte darauf zu achten, dass seine Leute vollzählig und pünktlich zum Silentium erschienen, auch abends wieder rechtzeitig auf ihren Zimmern waren und nachts nicht ausbüchsten, oder – jedenfalls – nicht allzu oft und vor allem nicht allzu auffällig.

Unser Erzieher war Titte Witt. Der war ziemlich korpulent und auch oben rum waberte es bei ihm wie, nun ja, wie Titten eben. Daher sein Name. Titte Witt war ein totaler Fußballnarr und er war es, der den ganzen Fußballhype losgetreten hatte, wobei er in uns eifrige Mitstreiter fand. Er war der Trainer unserer Gruppe, er war der Trainer unserer Internatsmannschaft, und in diesem Spiel war er der Schiedsrichter, das ließ sich alles miteinander vereinbaren.

Das Spiel war keine fünf Minuten alt, da führten wir mit 1:0. Über Walterchen lief ein neuer Angriff zu Kiki, der flankte auf Paule, der zum Dribbling ansetzte, aber von seinem Gegenspieler, meinem Pendant auf der anderen Seite, der sichtlich eine ähnliche Philosophie verfolgte wie ich, ziemlich übel gegrätscht wurde. Paule segelte über den Rasen und blieb liegen, schmerzgekrümmt. Das erboste mich. Na warte, dachte ich, dir werd ich mal die Meinung geigen. Und sprintete los. Das war sonst nicht meine Art. Ich war zwar ein guter Mittelstreckler, aber beim Fußball hielt ich mich lieber hinten auf um niemandem im Weg zu stehen. Aber jetzt … meinem besten Freund dermaßen übel mitzuspielen … der konnte was erleben … und ich nahm Tempo auf, und ich hatte eine solche Fahrt drauf, dass ich, wie ich den Ort des Geschehens erreichte, den armen Kerl einfach umhaute. Nicht, dass er sich hätte fallen lassen oder so, nein, ich haute ihn voll um. Das hatte ich nicht gewollt. Da stand ich da. Und Titte Witt sah mich traurig an. Und dann hob er den Arm und sein ausgestreckter Zeigefinger wies mir den Weg zum Spielfeldrand. Die Mühe, mit einer roten Karte zu hantieren, wahrscheinlich hatte er gar keine, sparte er sich. Die Geste war eindeutig genug. Ich war raus. Joe Fueß, der im Begriff stand Paule auf die Füße zu helfen, warf mir feindselige Blicke zu. Und als Paule sich dann aufgerappelt hatte, hätte sein Blick mich beinahe umgebracht. Ich sah zu, dass ich zur Seitenlinie trabte, hielt aber, wohlwissend, dass mich dort keine freundlichere Behandlung erwartete, nicht auf unsere Ersatzbank, sondern gleich auf die Tribüne zu.

Dort saßen die Freundinnen der Spieler, die ihrerseits noch ein paar Freundinnen mitgebracht hatten, weil es sonst zu langweilig geworden wäre, und diejenigen Jungs der beiden Gruppen, denen der Fußball schnurz, die aber aus Solidarität erschienen waren.

Unter ihnen saß Koma. Der strahlte übers ganze Gesicht. Ich setzte mich zu ihm hin. Er klopfte mir auf die Schulter. Hast du gut gemacht, sagte er, jetzt müssen sie sich wenigstens ein bisschen anstrengen. Aber er wusste so gut wie ich, dass es damit nicht weit her sein würde. Die haben auch ohne mich haushoch gewonnen. Das Gute daran war nur, dass das Spiel noch so lange dauerte. So hatten sich am Ende die Gemüter wieder beruhigt. Selbst Paule zeigte sich fast gerührt, als ich ihm erklärte, dass es sich um eine Affekthandlung, einzig in Sorge um seine Gesundheit, gehandelt habe.

5 Koma

Koma war unser Häuptling. Koma hieß eigentlich Falk Komarowski. Daraus ein Koma zu machen hatte sich von selbst ergeben. Wir fanden uns wahrscheinlich sogar noch besonders witzig dabei. Und das bei unserem Häuptling! Seinem Nimbus hat das nicht geschadet. Da gab es nichts, das daran hätte kratzen können.

Koma war groß, breitschultrig, gutaussehend, charismatisch. Er hatte diese Aura, dieses Etwas, das nur wenige haben. Und er hatte es mehr als alle. Mir ist nie wieder ein Mensch begegnet, der ein solches Charisma besaß. Er brauchte nur seinen Blick zu heben, und jeder hat gespurt. Der kleinste Stöpsel aus der sechsten Klasse oder der Schuldirektor. Das war so. ich schwörs. Koma wirkte ungeheuer überzeugend.

Um ihn korrekt zu definieren, würde ich sagen, er war so eine Mischung aus Steerforth und Nikolaj Stawrogin. Das Ganze nochmal potenziert. Falls sich das jemand vorstellen möchte.

Wie Paule war Koma ein großer Sportsmann, ausgezeichneter Judoka und Schwimmer. Und auch wenn ihm Fußball egal war, hätte er ganz sicher eine Bereicherung für die Mannschaft dargestellt, mehr als ich allemal, aber er zog es vor uns von der Tribüne aus zu begleiten und süffisante Bemerkungen zu machen. Warum wir denn nur 9:0 gewonnen hätten ohne das zehnte Tor auch noch gemacht zu haben. Solche Späßchen.

Gut zu ihm passte eine Anekdote, eine Geschichte, die in Umlauf kam und sich über die Herkunft seines Nachnamens ausließ. Demzufolge wäre Komas Familie ursprünglich von hohem, ja höchstem Adel gewesen, sein Urgroßvater aber habe den Namen beim Spiel eingebüßt, habe eines Abends am Spieltisch gesessen und nichts anderes mehr einzusetzen gehabt. So habe er seinem Gegenüber, einem russischen Kaufmann, angeboten die Namen zu tauschen, falls er erneut verlieren sollte. Und natürlich hat er verloren und aus den Grafen … wurden die Komarowskis.

Ich weiß nicht, ob an der Geschichte was dran war. Soweit ich mich entsinne, hat Koma selbst sich nie dazu geäußert, ich kann mir aber vorstellen, dass ihm eine solche Art der Mystifizierung durchaus entgegen kam. Auch das passt zu seinem Bild.

Koma war Teil einer Clique von sieben Jungs, die Titte Witt in Anlehnung an die ´Glorreichen Sieben´ die Goldenen Sieben getauft hatte. Die stammten alle aus der Gegend Bad Oeynhausen, Herford, Bad Salzuflen, kannten sich von verschieden Internaten, die sie gemeinsam besucht hatten, stammten aus reichem Elternhaus, waren allesamt gutaussehend, kurz, die perfekten Nachwuchsplayboys. Stefan Weigerding und Dirk Richter gehörten natürlich auch dazu. Ich kam mit allen gut zurecht, fand sie aber auch alle eher langweilig, bis auf Koma natürlich, der von jeher das Haupt dieser Gruppe gewesen war, wie er bald unser aller Häuptling werden sollte. Unausgesprochen und informell, versteht sich, Koma hielt mehr auf indirekte Herrschaft. Es war mehr so, dass er an den Strippen zog.

Da er aber unser aller Häuptling war, musste er uns auch auf den Kriegspfad führen. Das gehörte sich so. in seinen, wie wohl auch in unseren Augen.

Eine Aktion, die Koma und ich im Alleingang durchführten, sollte zu einem langfristig schönen Zeitvertreib führen. Wir wussten uns Zugang zum Büro der Sportlehrer zu verschaffen, setzten uns in Besitz des Schlüssels zum Hallenbad, fuhren in die nächste Stadt und ließen ihn nachmachen.

Von nun an bekamen nächtliche Ausstiege eine neue Dimension.

Unser Internat lag tief im nirgendwo und noch weiter weg. Um einen anständigen Musikschuppen zu finden, hätten wir bis Dortmund fahren müssen, das war nicht drin, also blieben uns nur so zwei, drei obskure Dorfdiscos, deren Unterhaltungswert zweifelsfrei unterirdisch war.

Da hatten wir uns nun ein echtes Alternativprogramm geschaffen. Das Geheimnis des Schlüssels blieb in unserer Gruppe und wer wollte konnte sich bedienen.

Manchmal nahmen auch welche von unseren Freundinnen an den Ausflügen teil, das geschah aber sehr selten, denn aus dem Mädcheninternat auszusteigen bedeutete sowohl höchste Kunst als auch höchstes Risiko. Die Mädchen wurden viel schärfer bewacht als wir, denn sie wurden vor uns bewacht.

Doch in welcher Konstellation auch immer, das nächtliche Hallenbad war sensationell. Licht konnten wir ja keines machen, also wars immer stockfinster wenn wir da rumplantschten, und aus jeder Ecke hörte man es gurgeln und gluckern. Ach – es war herrlich zum Gruseln!

Und es ist nie aufgeflogen. Wir haben es bis zum Ende unserer Schulzeit so fortgeführt und den Schlüssel dann höchst feierlich an unsere Nachfolger übergeben.

Eine andere Aktion war von anderem Kaliber. Da hatte Koma den großen Einstieg ins Mädcheninternat angeordnet. Ich war natürlich mit dabei, obwohl mir die Sache nicht schmeckte.

Von irgendwoher hatte Koma sich schon wieder einen Schlüssel organisiert. Es war der zum Haupteingang des Mädcheninternates. Und genau da wollte er durch, da wollte er rein. Und wir sollten mittun. Wir waren dann so sieben oder acht – Stefan und Dirk und Paule und ich und ich weiß nicht wer noch alles.

Nun, wir sind rein, wir sind unbemerkt rein, aber dann … Da ich damals keine feste Freundin hatte, wusste ich nicht so recht wohin, auf dem Flur jedenfalls konnte ich nicht bleiben, also besuchte ich ein Mädchen, das ich kannte, gut leiden mochte. Sie mich wohl auch, denn ich wurde gnädig aufgenommen.

Da sie noch in der Mittelstufe war, bewohnte sie ein Dreierzimmer, also hatte ich einiges zu tun, um nicht nur sie, sondern auch ihre beiden Mitbewohnerinnen zu beruhigen und zu unterhalten.

Wir sind auch wieder unbemerkt rausgekommen, allesamt, und Koma war zufrieden. Das zeigte ihn von seiner nächtlichen Seite. Er hatte es einfach wissen wollen, denke ich, beweisen wollen, dass es geht. Ich aber war stinksauer, schimpfte mit ihm, für sich selbst das Risiko einzugehen, das wär ja okee, sagte ich, aber die armen Mädchen da mit rein zu ziehen … ich war echt sauer, dabei – hätte ich ja nicht mitmachen brauchen, hätt ja keiner was gesagt, aber auf die Idee bin ich gar nicht erst gekommen, ich schimpfte einfach los …

Ich galt als ausgemachter Sturkopf. Ich war dafür berüchtigt. Ich konnte mich hinstellen und gegen alle sein. Und wenn die ganze Klasse einschließlich des Lehrers einer Meinung war, teilte ich sie nicht, ging ich dagegen an. Und ließ nicht locker. Und je mehr sie zeterten, umso verbitterter verteidigte ich meinen Schützengraben. Ich konnte sie zur Weißglut treiben. Paule litt Höllenqualen dabei. Auch Koma war nicht immer begeistert. Andererseits nötigte ihm so viel Beharrlichkeit Respekt ab. Aber da war noch mehr. Ich denke, dass er mich genauso gut leiden mochte wie ich ihn. Und wenn es so etwas wie einen Vertrauten für ihn geben konnte, bin ich das geworden. Und soweit er jemanden an sich rankommen ließ, hat er mich an sich rankommen lassen.

Nicht, dass mir das damals bewusst gewesen wäre, es ist mir erst im Nachhinein klar geworden.

Es begann mit ´Billard um halb zehn´. Eines Tages stellte sich heraus, dass wir es beide gleichzeitig lasen. Koma lud mich zu sich ein. Das war schon zu der Zeit, wo wir Einzelzimmer hatten. Koma wohnte nur zwei Türen weiter. Gleich auf der anderen Seite von Paule.

Unsere Zimmer waren sehr spartanisch eingerichtet. Ein Bett, ein Nachtschränkchen, ein Schrank, ein Schreibtisch, ein Stuhl. Ich hatte es dabei belassen, aber es war uns gestattet zusätzliche Möbel mitzubringen. Bei Koma war es ein geräumiger und äußerst behaglicher Sessel. Der war für die Gäste. Koma selbst fläzte sich im Bett. Und wie üblich trug er nur seinen dicken, flauschigen Bademantel. Sobald er auf dem Zimmer war trug er seinen Bademantel. Darin wirkte er ungeheuer imposant. Es war schon eigenartig. Die meisten Menschen kommen einem im Bademantel ja eher etwas lächerlich vor. Unbedeutend. Angreifbar. Nicht so Koma. Da war etwas Animalisches an ihm. Etwas Unberechenbares. Und diese Ausstrahlung, dieses Gefühl der Unbezwingbarkeit, das ihn erstaunlicherweise gerade in dieser Aufmachung mehr denn je umgab. Und sein Fläzen war königlich. Dazu muss man sich vorstellen, dass sein Zimmer stets abgedunkelt war, in einem steten Dämmerzustand schwelte. Die Deckenbeleuchtung war nie in Betrieb, eine Stehlampe verbreitete ein mattes Leuchten. So hielt er Hof, wenn es etwas zu besprechen, auszuhecken galt, so empfing er mich zu unseren Unterhaltungen, die bald Gewohnheit werden sollten. Auf ´Billard um halb zehn´ folgten die ´Ansichten eines Clowns´, ´Gruppenbild mit Dame´, die ´Katharina Blum´. Über alles Mögliche sprachen, diskutierten wir. Das war Komas andere, die lichte Seite.

Wir waren auch gemeinsam in der Theatergruppe des Internates. Und wir gehörten beide zu der kleinen Gruppe von Schülern, die sich einmal wöchentlich zum Tee bei unserem Musiklehrer einfanden.

Mit unserem Musiklehrer hatte es eine besondere Bewandtnis. Er war schon einiges über achtzig, nicht mehr sehr gut auf den Beinen, gezwungen am Stock zu gehen. Daher hatte er auch seinen Beruf aufgeben müssen, er war nämlich Dirigent gewesen, ein sehr bekannter.

Unser Nachbardorf hatte er zu seinem Altersruhesitz erwählt und irgendjemand Schlaues in der Internatsverwaltung hatte ihm die Musiklehrerstelle angetragen. Er war alleinstehend, seine Frau war vor nicht allzu langer Zeit verstorben, und so dachte er, dass es gut sein würde, wieder unter Menschen, noch dazu junge Menschen, zu kommen. Also hat er angenommen. Und damit hat er Gutes getan. Für sich und für uns.

Mit Ausnahme des guten Zeitblom vielleicht, habe ich niemals jemanden mit solcher Kenntnis, solcher Hingabe und solchem Einfühlungsvermögen über Musik sprechen hören. Damit hat er uns mitgerissen.

Auch in der Schule saßen Falk und ich – ich war, glaub ich, der einzige, der ihn grundsätzlich bei seinem Vornamen ansprach – nebeneinander. Hinten, in der letzten Reihe. Auf meiner anderen Seite saß Stefan, übrigens. Ich sah mich also flankiert von zwei Goldenen.

Paule, der arme Hund, musste die ganzen drei Jahre in der ersten Reihe zubringen, bei seiner geliebten Tanja, der Strebsamen.

6 Melia

Als ich mich damals bei dem Fußballspiel, als Titte Witt mich vom Platz schickte, zu Koma setzte, hatte das noch einen anderen Grund: Melia. Die saß nämlich auch dichtbei.

Sie war vierzehn Jahre alt, sie war Brasilianerin, sie hatte langes, dunkles, wuscheliges Haar, sie war klein, zierlich, wunderschön.

Sie war eine von Ilsemännchens Klub. So nannte ich all diejenigen, die wie er von der ersten Klasse an auf dem Internat waren. Die steckten auch dann noch zusammen, wenn sie zwei, drei Klassen auseinander waren.

Ohne das hätte ich Melia nie kennengelernt. Wir waren damals um die 900 Schüler. Wahrscheinlich wäre ich an ihr vorbeigegangen ohne … nein, das nun doch nicht, dazu war sie einfach zu schön, aber ich hätte nie ein Wort mit ihr gewechselt.

So – waren es immerhin schon vier bis fünf Sätze geworden. Bis dahin.

7 Is doch nur'n Film

Wie es unsere Theatergruppe gab, gab es auch eine Film AG. Und die veranstalteten einmal die Woche einen großen Filmabend. Der fand im größten Aufenthaltsraum des Mittelstufengebäudes statt, der zu diesem Zweck komplett leergeräumt wurde. Das wussten alle, und alle brachten haufenweise Kissen und Decken mit.

Hitchcocks Vögel standen auf dem Programm. Das war so die Art von Film, wo ich von vorne herein Bauchschmerzen kriege. Eigentlich wollte ich nicht hin, aber Paule und Ilsemännchen haben mich überredet. Die wollten, und die waren völlig unerschrocken.

Melia war auch da. Und wie durch Zufall packten wir unsere Kissen und Decken zusammen. Irgendwo ganz hinten an der Wand. Und gesprochen haben werden wir wohl auch miteinander. Die Sätze sechs bis acht. Schätzungsweise.

Dann begann der Film, und es wurde immer unheimlicher. Ich glaube, die Segel strichen wir bei der Szene in der Telefonzelle. Melia und ich verschwanden unter der Decke. Wir hörten noch Maus Müller sagen: ´Is doch nur´n Film´. Das glaubten wir nicht. Wir klammerten uns aneinander. Dann küssten wir uns. Das wirkte beruhigend. Also blieben wir unter der Decke bis der Film aus war. Uns küssend.

So kam das zustande mit Melia und mir.

Ich brachte sie zum Mädcheninternat zurück. Wir küssten uns auf dem Weg. Wir küssten uns zum Abschied.

Am nächsten Tag küssten wir uns vor dem Frühstück. In der großen Pause küssten wir uns. In den kleinen Pausen küssten wir uns. Wir küssten uns vor dem Mittagessen und nach dem Mittagessen. Wir küssten uns den ganzen Tag.

Am nächsten Tag küssten wir uns vor dem Frühstück. In der großen Pause küssten wir uns. In den kleinen Pausen küssten wir uns. Wir küssten uns vor dem Mittagessen und nach dem Mittagessen. Wir küssten uns den ganzen Tag.

Am Abend gingen wir in die Mittelstufendisco. Dort wurde geküsst und getanzt. Ich kann mich an Jimi Hendrix erinnern. ´Johnny B. Goode´. Ich weiß nicht warum. Dass wir dazu besonders intensiv tanzten, küssten? Muss ja wohl. Irgend so was. Oder, dass es das letzte war worauf wir tanzten. Bevor sie mich beiseite zog. Bevor sie es mir sagte. Bevor sie mir das Ende mitteilte. Dass Schluss war. Jetzt. Oh, ich Ahnungsloser.

Sie machte Schluss und es wurde keine Träne vergossen. Das war das Überraschende. Sie war verständnisvoll. Ich war verständnisvoll. Wir waren voller Verständnis.

Sie hatte einen Freund. Der war in der dreizehnten Klasse, also eine Klasse höher als ich damals. Christian hieß er, und er hatte, als er einmal betrunken Auto fuhr, jemanden überfahren und der war gestorben. Das hatte ihn, versteht sich, völlig aus der Bahn geworfen. Er war von der Schule abgegangen und nach Hause zurückgekehrt, er kam, wie Melia, aus Düsseldorf.

Das alles erklärte sie mir. Und dass es nicht ginge mit uns.

Nein. Nein.

Sie hatte Gewissensbisse. Wegen ihm, wegen mir, und überhaupt. Nein, nein, und nochmals nein. Ich verstand das. Ja, völlig klar. Entsagung war angesagt.

Ich habe sie noch zum Mädcheninternat zurückgebracht und wir haben uns nicht mehr geküsst.

Ich war völlig geknickt, wie ich rüber zu unserem Internat bin, die Treppe hoch zu unserem Flur und gleich zu Koma ins Zimmer. Der war zum Glück da. Ich erzählte ihm was geschehen war, dass ich von Melias Freund nichts geahnt hätte, mal wieder typisch in meiner Dusseligkeit, mit meinem zugedröhnten Kopp, nicht links und nicht rechts schauend.

Koma wusste natürlich von der Geschichte. Er schüttelte den Kopf, sah mich an, mit so einem halben diabolischen Grinsen. Typisch Koma. Da kam mal wieder seine nächtliche Seite durch. Scheißkerl! Aber der eigentliche Scheißkerl war ich. Verdammte Kiste. Ich fühlte mich hundsmiserabel. Da hatte ich mal wieder ganz schön was verbockt.

Ein paar Tage später war auch Melia nicht mehr da. Auch sie war zurück nach Düsseldorf. Ilsemännchen hat mir die Nachricht überbracht.

8 Abschiede

Ich überlegte hin und her, ob ich nicht zu ihr hin fahren sollte, nochmal mit ihr sprechen, ihr sagen, dass alles okay ist. Ich habs dann nicht getan. Das war wohl auch besser so. Aber manchmal denke ich doch …

Ach, Scheiße. War überhaupt ne blöde Zeit jetzt. Eine Woche später, oder zwei, war dann auch Susanne weg.

Das war das Mädchen, das ich bei unserem Einbruch ins Mädcheninternat besucht hatte. Sie drohte sitzen zu bleiben, also haben ihre Eltern sie kurzerhand auf ein anderes Internat verfrachtet.

Sie war furchtbar traurig, dass sie uns verlassen musste. Auch sie hatte zu Ilsemännchens Klub gehört. Ilsemännchen und ich begleiteten sie zur Bahn nach Geseke. Da war gerade Kirmes. Das wusste wir, also sind wir früher hin, noch was rumschlendern, Abschied feiern, so gut es ging, es ging nicht gut, wir waren schwer melancholisch. Wir schleckten Zuckerwatte und sangen ´Seasons in the Sun´. Das war der große Hit damals. Und was für ein Schöner. Und so schwer melancholisch. Es war nicht einfach und wir mussten alle drei mit den Tränen kämpfen. Und sangen trotzdem tapfer alle Strophen durch. Ich krieg noch heute eine Gänsehaut wenn ich daran denke. Dann war es an der Zeit. Wie wir auf dem Bahnsteig standen, kurz bevor Susanne einstieg, hat sie mir noch einen Zettel in die Hand gedrückt. Da stand ein kurzes Gedicht drauf:

´Wenn du die kleine Hand mir gibst,

die so viel Ungesagtes sagt,

hab ich dich jemals dann gefragt,

ob du mich liebst?

Ich will ja nicht, daß du mich liebst,

will nur, daß ich dich nahe weiß

und daß du manchmal stumm und leis

die Hand mir gibst.´

Das war von Hermann Hesse, wie ich später rausgefunden habe. Sie war schon drin im Zug, wie ich das gelesen hatte. Ich hätte ihr eigentlich sofort hinterherstürzen müssen. Aber schon wieder habe ich falsch reagiert, schon wieder habe ich was verpasst. Ich tat es nicht, wohl auch, weil Ilsemännchen dabei stand, aber ich hätte es tun müssen, unbedingt. Und habe es verpasst. Habe sie einfach so davonfahren lassen. Es gibt wohl kaum etwas, das ich mehr bereue.

Noch schlimmer – ich habe auch später keinen Versuch unternommen sie ausfindig zu machen, ihr neues Internat zu erfragen, sie dort zu besuchen, was ja alles machbar gewesen wäre. Unverzeihlich. Nur den Zettel habe ich aufbewahrt, den habe ich immer noch. Er liegt in meinem Band von Hesses Gedichten auf der betreffenden Seite. Eine Mahnung. Für immer. Eine Wunde.

Und dann war da die Sache mit Frank Garbers. Der war mein anderer Zimmernachbar. Und darum ging das Drama nicht an mir vorbei. Darum, und weil – aber das kommt später …

Also, Frank hatte eine Freundin gehabt. Die waren unzertrennlich gewesen, die beiden, das wusste ich noch aus dem letzten Schuljahr, das wussten alle, das war nicht zu übersehen gewesen.

Aber auch sie war von der Schule abgegangen, das war im Herbst, jedenfalls noch vor den Weihnachtsferien, und mittlerweile hatten wir Juni.

Und wie sie gegangen ist, da hat sie wohl Schluss gemacht. Hat wohl gedacht, dass die Beziehung nicht halten würde, wenn sie erstmal auf einer anderen Schule wäre.

Nun, wie auch immer, für Frank begann die große Leidenszeit. Er ist da nicht drüber weggekommen. Es war ein Elend, ihn so leiden zu sehen. Er ging auch noch in unsere Klasse. Wir hatten das den ganzen Tag vor Augen, monatelang, und es wurde immer schlimmer mit ihm.

Und es gab nur noch eines, worüber er sprechen konnte: Barbara. Das war sie. Barbara. Barbara, Barbara. Koma, wenn er zufällig dabei stand, hat jedes Mal ein böses Wortspiel daraus gedreht: ´BarbaRhabarbaRhabarba-Rhabarber …´

Das war grausam. Das war nächtlicher als nächtlich. Das was Stawrogin hoch zehn. Aber ich will nicht ungerecht sein. Vielleicht war es nur Ausdruck seiner Hilflosigkeit. Er wollte einen Strich ziehen. Er wusste, dass dem Jungen nicht zu helfen sein würde.

Ihm war nicht zu helfen. Er wurde immer weniger ansprechbar. Er zog sich ganz in sich zurück. In der Schule saß er nur noch da – eine leere Hülle.

In der freien Zeit nach dem Mittagessen ging er auf sein Zimmer. Während des Silentiums kapselte er sich ab auf seinem Zimmer. Abends verkroch er sich auf sein Zimmer. Und er hörte immer die gleiche Musik. Immerfort. Das Harvest-Album von Neil Young und zwischendurch immer wieder ´Sad Lisa´. Das war seine Verbindung zu ihr, das war, was ihn aufrechterhielt. Sofern davon überhaupt die Rede sein konnte. Es war zum Verzweifeln.

Und ich, als sein direkter Zimmernachbar, musste mir das mit anhören, mit leiden, mit erleben. Auf Franks anderer Seite wohnte Stefan. Der wird sich wohl kaum darum bekümmert haben.

Und dann, von einem Tag auf den anderen, war Frank verschwunden.

Und wenn mich jemand nach meinem Lieblingspopsong fragt, werde ich stets mit ´Sad Lisa´ antworten. Auch das eine ständige Mahnung.

9 Eskapaden

Dass Ilsemännchen und ich die zwölfte Klasse überstanden, grenzt an ein Wunder.

Jedenfalls – gelernt haben wir nichts. Außer für das Leben. Aber – hmm – das Leben hält immer neue Überraschungen bereit, das bringt also nichts.

In Halbjahreszeugnissen hatte ich ständig so zwei bis drei Fünfen. In den unterschiedlichsten Fächern, manchmal auch solchen, wo man sich ernsthaft die Frage stellen muss, wie man da jemals auf eine Fünf kommen konnte. Das zeigt, dass ich mir einfach keine Mühe gab. Dann riss ich mich am Riemen. Und im Abschlusszeugnis hatte sich das dann erledigt. So auch in diesem Schuljahr. Denn ich erinnere mich genau, dass weder Ilsemännchen noch ich auch nur eine Fünf noch auf dem Konto hatten. Ein Wunder.

Das sah erst gar nicht danach aus. Eigentlich hätten wir sowieso vom Internat fliegen müssen. Wir hatten es eindeutig übertrieben.

Ich glaube, es gab Wochen, da sind wir jede Nacht ausgestiegen. Und in eine dieser dubiosen Dorfdiscos gefahren. Da haben wir dann unser Dope großzügig mit der Dorfjugend geteilt und hatten eine geile Zeit. Nur, dass wir ein paar Mal zu viel erwischt worden sind dabei.

Es gab neuralgische Punkte, wenn man zurück wollte. Allein die Autoscheinwerfer konnten einem das Genick brechen. Da war kein Verkehr sonst in der Nacht. Und irgendwie musste man auch wieder rein.

Das neue Internat für die Oberstufe war ziemlich weitläufig, mit mehreren Flügeln, dreigeschossig. Jeder Flügel beherbergte drei lange Flure mit je 16 Zimmern. Zwei solcher Flure bildeten für gewöhnlich eine Gruppe. Neben den Zimmern gab es auf jedem Flur Toiletten und Duschen und einen großen Aufenthaltsraum mit Balkon.

Der Balkon war das entscheidende Element. Interessant für nächtliche Aus- und Wiedereinstige war der Balkon im Erdgeschoss. Kletterkünstler wie Paule und ich schafften es, sich ganz nach oben durchzuhangeln, mir allerdings gelang das nur, solange ich noch einigermaßen klar im Kopf war, Paule hingegen war noch in volltrunkenem Zustand dazu in der Lage. Aber wie auch immer, rein musste man.

Und irgendwo lauerte ein Erzieher. Es hatte immer nur einer Nachtdienst, und es war natürlich nicht immer der von deiner Gruppe. Ich meine, wenn Titte Witt uns erwischte, der sah uns höchstens traurig an, so wie er mich bei dem Fußballspiel angesehen hatte, und winkte resigniert ab. Vielleicht, dass er sich noch ein ´Marsch, auf eure Zimmer´ abrang. War es aber einer von einer anderen Gruppe, wurde es brenzlig. Denen war es womöglich ein Genuss uns eins reinzuwürgen. Und das taten sie.

Ich weiß nicht mehr, wie oft sie uns drangekriegt haben, aber es waren andere schon für weitaus weniger geflogen. Wir flogen nicht.

Sei es wegen Ilsemännchens langjähriger Zugehörigkeit zum Internat, sei es, weil Titte Witt (der sich zweifellos mehr um seinen genialen Linksaußen als den linken Verteidiger sorgte) und Koma sich für uns ins Zeug legten – wir flogen nicht.

Aber bestraft mussten wir werden.

Nur, was daraus wurde, war eine Farce, oder wie soll ich das nennen – ein pädagogischer Supergau. Man muss das doch realistisch sehen. Wir waren sensibel, labil, gefährdet, hilfebedürftig. Und was taten sie? Sie nahmen uns aus der Gruppe raus und steckten uns gemeinsam auf ein Zimmer. Fernab in einem Turm des Schlosses, wo keine Sau sich um uns kümmerte, kein Erzieher sich jemals blicken ließ. Wir hatten sturmfreie Bude, Teufel nochmal, das hätte uns den Rest geben können.

Aber wir rissen uns am Riemen. Wir stiegen nicht mehr aus, keine nächtlichen Touren mehr, obwohl es uns ein leichtes gewesen wäre, wir verordneten uns nur noch halb so viel Dope, und es ging, das ging hervorragend. Wir genossen den Sound von Ilsemännchens genialer Anlage, die er natürlich auch hatte mitnehmen dürfen, und begannen eine der Wände unserer hochherrschaftlichen Unterkunft mit dem Silberpapier unserer Schokoladentafeln zu tapezieren, wir fühlten uns wohl.

Und bedauerten es sehr, dass wir unser Werk nicht vollenden durften. Denn ich glaube schon nach zwei kurzen Wochen ließ man uns wieder zurück.

Und das Größte kommt ja noch. Frank war zu dem Zeitpunkt bereits weg. Und Ilsemännchen, der bisher ein Stockwerk tiefer gewohnt hatte, durfte dessen freigewordenes Zimmer beziehen. Da waren wir wieder beisammen. Paule, Ilsemännchen und ich.

Eine pädagogische Meisterleistung.

Aber wir hatten uns ja am Riemen gerissen. Und dass ich mich dermaßen am Riemen gerissen hatte, hatte einen sehr konkreten Grund. Und es mag sein, dass ich Ilsemännchen mit meinem Drang nach mehr Solidität mitgerissen, uns beide gerettet habe.

Dieser Grund hatte einen Namen: Birke.

10 Heimfahrtswochenende

Es gab im Internat eine Einrichtung, die nannte sich Heimfahrtswochenende.

Alle zwei Wochen war Freitags schon um 12 Uhr Schulschluss. Und wer wollte, konnte nach Hause fahren. Und wer wollte das nicht?

Ins Ruhrgebiet, wo die meisten Schüler herstammten, machte sich gleich eine ganze Busflottille auf den Weg.

Wer allerdings von weiter her kam, hatte ein Problem. Jemand wie Joe, der Österreicher, konnte das von vorne herein vergessen.

Aber auch für mich machte es wenig Sinn. Es wäre eine lange Bahnfahrt geworden und meinen Zielbahnhof hätte ich erst weit nach Mitternacht erreicht. Und auch das wäre noch nicht das Ende gewesen, es hätte mich jemand mit dem Auto abholen müssen, noch mehr Fahrerei, lästig für alle Beteiligten, vom Samstag wäre nicht viel übrig geblieben und Sonntag hätte ich bereits in aller Herrgottsfrühe wieder los gemusst.

So habe ich diese Fahrt höchstens einmal pro Halbjahr auf mich genommen, es gab ja genügend Ferien um die Familie zu sehen.

Manchmal fuhr ich mit Ilsemännchen nach Bonn, der hatte da freie Hand, weil seine Eltern nie da waren, das war ganz fein, mal fuhr ich mit Paule nach Bochum, seine Eltern hatten ein Riesenhaus und er eine eigene Wohnung darin, das war auch ganz prima, aber am liebsten blieb ich doch im Internat.

Heimfahrtswochenenden im Internat waren pure Gemütlichkeit. Diejenigen, die da blieben, es waren ja immer dieselben, bildeten eine verschworene Gemeinschaft.

An Heimfahrtswochenenden war alles möglich. Es waren nur ein Erzieher und eine Erzieherin da. Der Erzieher drehte Freitagnachmittags eine Runde, zählte seine Schäfchen – und das wars. Und auch die jeweils diensthabenden Erzieherinnen ließen es locker angehen. An Heimfahrtswochenenden waren sogar Besuche im Mädcheninternat drin, ansonsten eine Unmöglichkeit.

Wir Zurückgebliebenen unternahmen lange Spaziergänge, das Internat lag inmitten von Wald und Feld, spielten, führten lange Gespräche in kleiner Runde, machten uns eine schöne Zeit.

Für eine Weile hatte ich eine Freundin, die war eine Externe. Das heißt, sie wohnte nahebei und besuchte nur unsere Schule. An den Heimfahrtswochenenden kam sie mich immer besuchen. Sie stammte von einem Bauernhof und brachte jedes Mal einen ihrer großen Hunde mit. Sie war etwas exzentrischer Natur …

Das war aber schon eine Weile her.

In diesem Frühjahr lernte ich Birke kennen. Die kam aus Worms, besser erreichbar als mein Heimatstädtchen, aber immer noch weit genug weg. Also blieb auch sie meistens da.

Wir stellten bald fest, dass wir einen gemeinsamen Berührungspunkt hatten: Frank. In den war sie nämlich unsterblich verliebt.

Ich wunderte mich, wie das hatte zustande kommen können, so abgekapselt wie der lebte, fand es aber bald heraus.

Birke war mit Franks Ex-Freundin in dieselbe Klasse gegangen. Und Frank hatte wohl doch von Zeit zu Zeit seine Klause verlassen, um den Kontakt zu früheren Freundinnen oder Schulkameradinnen seiner Barbara zu suchen. Mit ihnen Erinnerungen auszutauschen, denn nur darum wird es ihm gegangen sein. Doch Birke hatte sich in ihn verliebt. Er war ein hübscher Junge. Und dann die Melancholie, die ihn umwehte … das war durchaus verständlich.

Doch für Frank hat es immer nur ein Thema gegeben: Barbara, Barbara, Barbara … (ich will hier nicht den Koma machen). Für Birke hatte er keinen Blick übrig. Und sie litt darunter. Und an den Heimfahrtswochenenden heulte sie sich bei mir aus.

Sonst sah ich sie nie. Sie gehörte weder zu Ilsemännchens Klub noch zu sonst einer Clique, mit der ich zu tun hatte. Aber an den Heimfahrtswochenenden wurden wir bald unzertrennlich.

Wir gingen spazieren und sie heulte sich bei mir aus, wir saßen in der Cafeteria und sie heulte sich bei mir aus, und ich versuchte sie zu trösten so gut mir möglich war, sehr charmant soll ich dabei gewesen sein, wie mir später versichert wurde, aber, na ja, es blieb halt ein Dilemma und wurde nicht besser als Frank schließlich die Schule verließ, im Gegenteil, da ging das heulende Elend erst richtig los, und ich versuchte mein Bestes, mein Allermöglichstes … Und es kam, was kommen musste … Oder? Ja …

11 Die Straße der Sonne

Ich lieb sie nicht, sie liebt mich nicht. Es kann aber auch umgekehrt gewesen sein.

Nicht, nicht so tief sollst du lieben: fest und gut.

Wer hat angefangen? Liebe. Mit Liebe fängt es an und hört es auf. Hört niemals auf.

Du warst der Dieb nicht die Erfüllung unserer jungen Jahre. Jeder kann ein Komma setzen nach den jeweiligen Befindlichkeiten.

Es war trotz allem. Oder gerade deswegen. Unbedingt.

Die Sonne weiß nichts. Ich weiß auch nichts.

Weißt du was Kunst ist? Ich weiß auch nicht was Kunst ist. Ich weiß auch nicht was Liebe ist. Alles gehört zusammen. Wie ein schlapper Kürbis hängt der Mond über dem Horizont.

Es tut mir leid. Tut mir echt leid.

Man darf sich nicht ablenken lassen. Es hängt alles zusammen.

Wir saufen Sprit und Aquavit – wir sind fit.

Das war Paule. Paule muss jetzt draußen bleiben. Oder, halt – nein.

Paule ist immer dabei. Also steigen wir ein. Steigen wir gleich ein.

Der Kuss. So soll es genannt sein. Eine Geschichte. Mit der alles begann.

Gibt es hier Pommes? Bin ich hier in Bremen?

Die Sonne ist ein beständiges Heute. Der Kuss. Mit dem alles begann.

Das Leben. Wir beschreiten die Straße der Sonne.

12 Der Kuss

Schön flog der Regen. So schräg gegen uns. Immer schräg. An den Scheinwerfern der Autos konnte man es erkennen. Immer schräg gegen uns.

Jahre später behauptete Paule, er hätte mich verkuppelt. Weiß ich aber besser. Wer hat denn hier wen auf die Autobahn gescheucht? Nach Mitternacht. Von Bochum nach Dortmund. Von Dortmund nach Olpe. Und dort standen wir dann. Ganz schön finster. Eine Nacht ohne Mond. Und der Regen immer schräg gegen uns. Die Autobahnabfahrt toter als tot. Und so liefen wir denn. Immer nach Süden. Kilometer um Kilometer. Bis ein LKW-Fahrer anhielt und uns Kümmergestalten auflas. Fuhr bis Wetterau. Setzte uns dort am Rasthof ab. Und es war schon wieder und in jeder Hinsicht zappenduster. Kein Weiterkommen. Immerhin hatten wir uns zwei Decken mitgenommen und legten uns unter den nächsten Apfelbaum. Oder Birnbaum. Oder Pflaumenbaum. Egal. Jedenfalls nur halb so nass.

Der Grund für all das war natürlich Birke. ... Birke... Ich war so richtig romantischen Gefühls:

´I was one as you were one – and we were two so much in love forever´ (Elton John: First Episode at Hienton).

Aber Love war nicht. Nein. Verliebt war ich nicht in sie. Aber ich wollte sie trösten. Und irgendwie hatte ich wohl auch den Eindruck, dass ich nicht schon wieder was verpassen, was falsch machen sollte. Nein, keine Liebe. Ich hatte den alten Paule nur loseisen wollen. Losfahren. Einfach mal nach ihr schauen. In Worms. ... Worms ...

Sie war zum Heimfahrtswochenende nach Hause gefahren. Ich war mit Paule zu seinen Eltern nach Bochum mitgekommen. Es wurde ein netter Abend und wir hatten einiges getrunken. Und eh ich michs versah, hatte ich mich reingeritten. Immer noch romantischen Gefühls. So von wegen großer Tröster und so. ´So´, habe ich, indem ich sachte durchschimmern ließ, dass wir seit kurzem ein Paar seien, zu Paule gesagt, ´wir fahren jetzt zu Birke nach Worms!´ Wumms! Da hatte ich mir ja was Schönes eingebrockt. So hatte ich das nicht gewollt. Was ich wollte, war doch nur den Kerl hochzubringen, loszubringen. Ich wollte doch einfach nur nach ihr schauen. Ob sie immer noch heulte. Ich Idiot. Dabei hätte es ja nichts ausgemacht die Sache wieder klarzurichten. Es wäre ihm egal gewesen. Wenn er einmal unterwegs war, war er unterwegs. Aber Stolz. Nur nichts zugeben. Charmant. Romantisch. Stolz. Und ein Idiot. Vor allen Dingen ein Idiot.

Am nächsten Morgen kamen wir bis Frankfurt. Flughafen. Nicht weiter. Absolut nicht.

Wir riefen dann meinen Großvater an. Meine Großeltern lebten nämlich auch in Worms. Und der holte uns natürlich ab.

Endlich in Worms rief ich gleich bei Birke an. Die freute sich. Wir verabredeten uns in einem Café in der Innenstadt. Dort saßen wir dann recht geziert um einen Tisch herum. Und als Birke mal einen Moment auf die Toilette ging, fragte mich Paule, warum ich sie nicht in den Arm nähme. Könnte ich ruhig. Würde ihm nichts ausmachen. Komisch! Wirklich sehr komisch! Na, das würde sich schon ändern. Würde ich schon ändern.

Schließlich verließen wir das Café. Es regnete wieder. Ich bekam einen Regenschirm zusammen mit Birke. Wir hatten nur zwei. Ha! Ich fühlte mich unwiderstehlich. Küsste sie. Unterm Regenschirm. Sehr romantisch. Ob sie mir eine hätte runterhauen sollen. Hätte sie sich überlegt. Sagte sie später. Hat sie aber nicht. Was für ein Glück.

Das wird sich zeigen.

13 Birke und ich (1)

Kann so etwas gut gehen? Ja, warum denn nicht.

Und es ging gut. Im nächsten Schuljahr waren wir das klassische Liebespaar. Wir waren es so sehr, dass Paule uns bald als Ideal hinstellte. Und irgendwie stimmte das auch.

Ich war nicht nur solide geworden, ich war bald so stinklangweilig wie unsere Fußballmannschaft (die nach wie vor von Sieg zu Sieg eilte). Nur mit Koma unternahm ich noch manchmal was. Ansonsten war Birke angesagt. Birke. Birke. Birke. Wenn Koma dazu was eingefallen wäre, hätte er bestimmt was draus gedreht. Aber, nein. So extrem war es nicht. Im Gegenteil – Entspannung, Harmonie. Ein schönes Jahr, ein wunderschönes Jahr. Freude und Liebe.

Dann machte ich Abitur und fing bald mit dem Zivildienst an. Birke hatte noch ein Jahr. Trennung also. Doch besaßen wir bald jeder ein Auto. Beides Käfer. Meiner war der Ältere. Baujahr ´58. Der hatte sogar noch diese Klappen an der Seite, die man ausfuhr, wenn man einen Richtungswechsel anzeigen wollte. Nachträglich waren natürlich Blinklichter angebaut worden. Seine Farbe war ein sattes Anthrazit. Ich hatte ihn auf den Namen ´Ex-Mufti´ getauft.

Birkes Käfer war jünger, von einem lichteren Grau. Und außerdem natürlich weiblich. Ihr Name war ´Jemima Masseltoff geborene Wonderland´. Ein schöner Name, nicht wahr?

Und es ging immer noch gut mit uns. Ja, fast noch besser. Die Trennung machte uns gar nichts aus, obwohl wir uns ganz selten sahen. Das war schon erstaunlich. Wir waren nahe an Paules Ideal.

Den Zivildienst machte ich beim ASB in Pirmasens. Bald gehörte ich zur Besatzung eines Rettungswagens. Blut und Knochensplitter. Man gewöhnt sich sehr schnell daran.

Wenn Birke zum Heimfahrtswochenende nach Worms kam, besuchte ich sie dort. Einmal begleitete sie mich auf eine Fete in den Pfälzer Wald. Alles sehr sporadisch.

Aber wir machten Urlaub zusammen. Im Sommer waren wir in Cap d´Agde gewesen, wir fuhren ins Elsass, an die Loire. Immer mit der Jemima. Der Ex-Mufti war etwas eigensinnig. Im Winter sprang er fast niemals an. In der Westpfalz war das kein Problem. Wenn ich ihn mit der Schnauze bergab parkte, konnte ich ihn anrollen lassen. Aber finde mal einer einen Berg in der Rheinebene.

Manchmal half beten.

Dann hatte auch Birke ihr Abi, mein Zivildienst war beendet. Wir machten eine große Spanien- und Portugal-Tour. Mit der Jemima, klar. Alles ganz prima. Grande Amore.

Dann sind wir zusammen gezogen. In einer kleinen Wohnung in Worms. In einer großen kleinen Wohnung. Altbau. Die Wände geschätzte zehn Meter hoch.

Wir kamen uns klein darin vor und verloren. Es war so leer. Viel Mobiliar hatten wir nicht. Aber eine große Matratze. Wir klammerten uns aneinander.

Birke würde in Mannheim studieren, ich in Mainz. Worms lag so ziemlich in der Mitte, und weil Birke da her stammte, meine Großeltern dort wohnten, also, das war schon ganz praktisch.

Birke frischte alte Freundschaften wieder auf, ich schloss neue, vielmehr – hatte bereits damit begonnen. Luppy zum Beispiel. Der zuerst. Dann kam Michi dazu.

14 Luppy

Heiner. Heiner Luppé. Luppy. Kommt aus Alsheim. Winzerfamilie. Ging nach der elften Klasse von der Schule ab und absolvierte eine Banklehre, die allerdings nur von kurzer Dauer war. Schon beim ersten Besuch meinte man, er könne sich wohl ein bisschen besser anziehen (Anzug und so), und dabei hatte er doch schon eine neue Hose, einen neuen Pulli an. Wozu nur dieser Aufwand. ´In der Bank geht es um Geld und nicht um Kleidung´ (O-Ton Luppy). Die Freunde in der Bahn waren jedenfalls über seine neue Aufmachung bass erstaunt.

Heiner war ZBV. Überall, wo es brenzlig wurde, kam er zum Einsatz. So zu Ostern bei der Uni-Bank in Mainz (die Menschen standen bis auf die Straße).

Im Sommer dann Ruhe in einer Filiale Bretzenheim-Süd – Lehrer- und Beamtenviertel. Bankführer war ein junger cooler Typ, frisch von der Uni. Heiner kam morgens immer ´zu´ zum Dienst und konnte sich gleich im Tischtennisraum hinlegen. Um 15 Uhr dann Mittagessen mit Gehacktem aus der Metzgerei gegenüber, sonst nichts. Es waren Ferien – etwa 10 Bearbeitungen pro Tag. Eines Tages hatte er keine Lust mehr und kündigte.

Danach: Wirtschaftsgymnasium in Mainz.

Als er am ersten Tag – zu spät – zum Unterricht erschien, bekam er die Tür der Schule nicht auf. Sie öffnete nach außen, Heiner drückte nach innen. Nach einigen vergeblichen Versuchen ging er dann zum Hausmeister und beschwerte sich, dass die Tür nicht aufging. ´Die anderen sind doch schon drin!´ Blamage. Als es rauskam. Einmal drin, bestaunt wie ein bunter Hund. Keine coolen Typen.

Am nächsten Tag – letzte Reihe – neben zwei Milchbubis: ´Was hast du vorher gemacht?´ Heiner: ´Nichts.´ ´Warst du trampen?´ Das reichte ihm.

Als er in zwei Monaten kaum eine Woche in der Schule war, nun, da hatte es keinen Sinn mehr. Dann: Faulenzen zu Hause. Dann: ASB, Zivildienst.

Seitdem kenne ich ihn.

April letzten Jahres fing er an. Im August hörte ich auf. Wir hatten eine herrliche Zeit miteinander. Luppy – weißt du noch? ´To Susan on the Westcoast waiting´. Das war unten in Thaleischweiler. Dort, in einem tiefen Tal am Westrand des Pfälzer Waldes, gab es eine Außenstelle unserer Pirmasenser Rettungswache. 12-Stunden-Schichten. Und es war so gut wie nix los. Gleich als Luppy anfing hatten wir da mal eine Woche zusammen Dienst und badeten in Musik. ´White Rabbit´ – konnten wir uns stundenlang die Köpfe drüber heißreden. Nik Cohn´s ´Awopbopaloobop Alopbamboom´ war sein Brevier. Luppy war ein wandelndes Pop-Lexikon. Aber da war nichts Schematisches an ihm. Er lebte die Musik. Und er mochte auch Free-Jazz, Coleman, Coltrane - solche Sachen. Und er war der erste Mensch, von dem ich wusste, dass er wie ich Rimbaud las.

Luppy. Auch so ein untersetzter Typ wie Paule. Aber sonst ganz anders. Lange Haare, so bis hier ... ganz dünn, wie Spinnenhaare – Spiderhair. Und sein Bart. Hier unter der Nase und am Kinn, so dschingismäßig. Der Heiner. So – Jeah! Ein Bein vorgestellt, Arm und Oberkörper schief nach vorne, Faust geballt – einfach cool. Und: ´Hey Mann – bleib cool! Das war cool – hey Mann!´ Das waren die Sprüche, die man immer wieder von ihm zu hören bekam. Und er brachte das unnachahmlich. Genial. Gigantisch. Cool. So war Luppy. Luppy war Luppy.

Zu Beginn unserer Erzählung ist er immer noch in Pirmasens. Im Juni ist seine Dienstzeit beendet. Wir sehen uns. Mittlerweile auch hier, wenn er frei hat. Er kommt ja auch aus der Wormser Ecke.

15 Michi

Michi.

´Hmm!?´ machte ich. Ich hatte nicht richtig zugehört.

´N´Bär!´ sagte er.

´Ja!´ sagte ich.

Das war der Beginn einer unverbrüchlichen Freundschaft. Wer sich so auszudrücken vermag, sagte ich mir, der muss eine große Seele haben.

Das ist gar nicht so lange her, dass dieser gnadenlose Dialog geführt wurde. Ende Januar wars. Auf einer Fastnachtsparty (gabs da irgendjemanden in einem Bärenkostüm?).

Im Herbst letzten Jahres hatte er seine Forstarbeiterlehre im Pfälzer Wald abgeschlossen und war nach Hause zurückgekommen. Seitdem hing er rum. Würde Luppy sagen. Aber bei Michi wirkte es durchaus nicht so. Er wirkte immer frisch und ausgeglichen. Ein in sich ruhender Mensch. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass … ja, ich wusste es nicht so genau.

Er war ein Adonis. Groß. Gutaussehend. Strotzend vor Kraft und Gesundheit. Und äußerst wortkarg. Gleich als ich sie miteinander bekannt gemacht hatte, hatten er und Luppy sich befreundet. Ganz dicke sogar. Die beiden ergänzten sich, gerade weil man sich einen größeren Gegensatz kaum vorstellen konnte. Der kleine, quirlige Luppy, wie er wild am Reden und Gestikulieren war, und der große, besonnen dreinblickende Michi, der dabeistand und höchstens mal so etwas wie ´n´Bär´ einwarf (gab es im Pfälzer Wald Bären?).

Eine ganze Weile wurde ich nicht recht schlau daraus, was sein Verhältnis zu Frauen betraf. Dass er nicht schwul war, war klar. Aber Frauen? Er war beliebt und wohlgelitten beim anderen Geschlecht. Alle mochten ihn. Aber er war ja nun mal auch ein lieber Kerl. Doch weiter geschah nichts. Nun, ich würde mich später noch ganz schön zu wundern haben …

16 Im Zug

Im Zug: Winterende. Aus den Bergen schält sich der Wein. Die Eisenbahn zersägt die Landschaft. Schneidet Kerben in die kleinen Dörfchen am Rhein, solche Kerben, wie sie die alte Frau trägt, im Gesicht, mir gegenüber. Die Sonne hat sich den Himmel erobert, noch etwas blass. Schmutz spuckt aus dem Zementwerk in Weisenau. Der Rhein ist über die Ufer getreten. Ja, es ist Winterende. Aus den Bergen schält sich der Wein.

Ich fahre von Worms nach Mainz und von Mainz nach Worms. Heute bin ich nur nach Mainz gekommen um meine Seminare für das nächste Semester zusammenzustellen. In der Mensa ist niemand, den ich kenne. Also fahre ich gleich wieder nach Worms zurück. Wenn ich zurück bin, ich denke, ich werde mich aufs Rad schwingen und runter an den Rhein fahren. Zur Frau Kolb …

Doch noch liegt eine halbe Stunde Fahrt vor mir. Und ich denke nach. Das bekommt mir nicht.

Birke studiert Sonderschulpädagogik, ich Literatur- und Theaterwissenschaft. In Mainz allerdings konnte man die Theaterwissenschaft nur bis zum Abschluss des Grundstudiums betreiben, danach musste man auf eine andere Universität wechseln. Das bekümmerte mich. Obwohl ich gerade erst mit dem zweiten Semester anfing. Eigentlich war Zeit genug. Genug Zeit, bis eine Entscheidung zu treffen war.

Und selbst dann … Ich würde an eine andere Uni gehen, das würde eine erneute Trennung bedeuten, es hatte einmal funktioniert, es würde wieder funktionieren. Ich wusste das.

Doch ich will es nicht wissen. Ich will ein Drama daraus machen. Warum?

Ich will fort. Ich will ganz fort. Da ist eine Unrast in mir, die ich mir selbst nicht erklären kann. Sie liegt in mir. Wie ein Embryo. Manchmal bewegt sie sich, boxt und stößt. Sie will aufstehen, sich erheben, sie will aus mir heraus. Und ich ahne, dass sie mich dabei zerstören wird. Oder will.

Das ist es. Das ist, was ich mir eingestehen sollte und wogegen ich anzukämpfen hätte. Doch ich tue es nicht. Vielleicht kann ich es auch nicht. Das sind dumme Ausreden. Worauf warte ich? Dass die Unrast mich zerstört? Ist es das? Lust am Untergang, an der Selbstzerstörung? Wo kommt die her? Das war etwas völlig neues für mich. Das mit Ilsemännchen und mir damals, das war etwas gänzlich anderes gewesen, Selbstzerstörerisch, ja, aber unbewusst, wir hatten es nicht darauf ankommen lassen, wir hatten einfach nur Spaß haben wollen. Aber das jetzt, das kam von ganz innen heraus, aus mir selbst …

Alles, was ich zustande bringe ist, mir eine Batterie von Fragen vorzulegen. Das ist nichts als Quälerei. Möglichkeiten abzuwägen. Was geschähe, wenn …

Quälerei. Worms. Ich bin da. Nach Hause. Das Fahrrad holen. Runter an den Rhein. Zur Frau Kolb …

17 Frau Kolb