Elsas Zauber - Eike M. Falk - E-Book

Elsas Zauber E-Book

Eike M. Falk

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Beschreibung

Ein magischer Roman. Ein Schelmenroman. Ein Liebesroman ist es auch. Und was für einer. Es ist ein Roman, der den zivilen Ungehorsam propagiert. Und es ist der größte, ja, der allergrößte Chinchillaroman.

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Ein magischer Roman. Ein Schelmenroman. Ein Liebesroman ist es auch. Und was für einer. Es ist ein Roman, der den zivilen Ungehorsam propagiert. Und es ist der größte, ja, der allergrößte Chinchillaroman.

Eike M. (Michael) Falk, 1955 geboren, stammt aus der Pfalz, lebt in Hamburg. Studierte Theaterwissenschaft, später Altamerikanistik und Völkerkunde. Arbeitete u.a. bei der taz, meist aber als Selbständiger, zeitweilig in den abenteuerlichsten Jobs. Hat Spaß daran. Und am Leben. Und überhaupt.

Denke daran, was Luke Skywalker sagte:

Turn off the computer and trust your feelings.

Es kann dein Leben retten.

Wenn nicht sogar schöner machen.

Inhaltsverzeichnis

Ackermann 1: Ackermann pennt

Dasha 1: Dasha träumt

Jens 1: Jens erwacht

Elsa 1: Zeit, Elsa vorzustellen ...

Ackermann 2: Ackermann tanzt ...

Dasha 2: Bei der Curandera

Jens 2: Bei der Arbeit

Elsa 2: Die Familie

Ackermann 3: Ackermann hat ...

Dasha 3: Der Heimweg

Jens 3: Auf dem Weg

Elsa 3: Elsa thront

Ackermann 4: Ackermann ist mir sympathisch …

Dasha 4: Dasha im Bad

Jens 4: Im Volkspark

Elsa 4: Einmal muss es ja raus ...

Ackermann 5: Ackermann ist ...

Rollenspieler 1: In Aventurien unterwegs

Ausblick: Tokelau

Rollenspieler 2: Von Aventurien ist zu berichten ...

Exkurs: Magie

Jens 5: Der Traum

Dasha 5: Auf dem Sofa

Exkurs: Esoterik

Ackermann 6: Ackermann hat ...

Elsa 5: Ich über Jens

Elsa 6: Ich über Dasha

Elsa 7: Beschluss Jens und Dasha zu verkuppeln

Ackermann 7: Ackermanns Gattin ...

Rollenspieler 3: Zum ersten Mal mit Jens und Dasha

Wie Coyote zum Wandbehang wurde

Die Geschichte von Coyote, Skunk und der

Rollenspieler 4: Astarte, rote Flora und der Zaun

Rollenspieler 5: Päkki schickt mich Wein holen

Rollenspieler 6: Jens & ich & die Wölfe

Requiem für Nummer 9

Ackermann 8: Ackermann sinniert

Dasha 6: Bei Hagenbeck

Jens 6: Bei Hagenbeck

Zwischenbemerkung: U. meint ...

Ackermann 9: Ackermanns Stern ...

Die Gefährten 1: Dasha rettet die Neuseeländer

Die Gefährten 2: Wir beraten

Die Gefährten 3: Hafen-City

Elsa 8: So ...

Die Gefährten 4: Die Fahrt

Die Gefährten 5: Im Camp

Elsa 9: Wir warten, Elsa und ich

Wenderoman

Die Gefährten 6: Zum Zaun

Ackermann 10: Eigentlich ...

Elsa 10: Wie ich es im Fernsehen erlebte

Schluß: Im Spätsommer

Ackermann 1: Ackermann pennt

Ackermann pennt mit der kleinen Praktikantin aus der N.E.P. Deren Vater, ein leitender Angestellter aus der B.f.S.a.T. darf auf Beförderung hoffen. Die Mutter beschäftigt derweil ein neues Rezept für Buchweizentorte, mit der sie die Familie zu beglücken hofft. Der jüngere Bruder tummelt sich im Kettcar-Club. Ihr fester Freund, ein Student im siebten Semester Jura, sitzt in der Bibliothek des Fachbereiches und gibt sich Tagträumereien zukünftiger Vergnügungen hin (sie sind äußerst profaner Natur und tun hier nichts weiter zur Sache). So – jetzt ist Ackermann fertig.

Dasha 1: Dasha träumt

Dasha träumt Rot. Dasha träumt Blut. Dasha träumt Deutsch. Seit fünf Jahren tut sie das. Neulich hat sie mal nachgerechnet. Seit fünf Jahren ungefähr.

Hat sie zuerst deutsch gedacht oder deutsch geträumt? Wahrscheinlich kam beides zusammen. Man denkt doch im Traum, oder? Oder ist der Traumgedanke etwas anderes als der Wachgedanke, oder wie sagt man das? Sie weiß gar nicht, wie sie das ausdrücken soll. Im Traum schon gleich gar nicht. Nicht mal im Traum.

Was denn jetzt? Und wo? Wo ist sie? Wo? Noch im Traum oder wach? Oder am Erwachen? Oder ist sie noch da ... da – in Tula. Es ist jedes Mal als würde es jetzt geschehen. In diesem Moment. In jedem Moment. Es ist da. Es ist greifbar. Es ist wahr. Es ist real. Es ist realer als real. Es ist so ... so unglaublich da ... Es ist ein Fluch. Es ist ein Traum, es ist ein Traum, es ist doch nur ein Traum …

Denkt man im Traum oder träumt man bloß? Denken ist schwer. Und Träumen ist Schmerz. Und Blut.

Hat sie damals begonnen weniger Blut zu träumen, weniger rot? Gehofft hat sie das. Sie hatte geglaubt, wenn sie erst deutsch träumen würde, dann wäre es überstanden. Dann hörte es auf. Aber es hörte nicht auf, da hatte sie sich getäuscht. Es stellte sich heraus, dass es keinen Unterschied machte ob sie krow‘ träumte oder Blut. Das machte keinen Unterschied. Nicht den mindesten. Der Schrecken blieb. Und der Schmerz. Und ihre Angst. Schrecken, Angst und Blut. Selbst wenn es weniger geworden sein sollte, es blieb immer noch genug Blut, genug Rot, viel zu viel.

Zuerst gedacht oder geträumt? Ihre Träume waren immer sehr stark. Sehr mächtig. Seit damals. Verfolgen sie. Seit damals. Beherrschen sie seit damals. Fressen sie auf. Das Blut. Der Fluch. Und das Blut. Das viele Blut ...

Es war das Blut ihres Vaters. Und es war Pawel, der auf ihn eingestochen hat. Zugestochen hat. Immer wieder. Er hat immer wieder zugestochen. Oh, und das Blut. Das viele Blut. Und Schmerz. Und Schrecken. Und Schrei. Ihr Schrei. Ihre Schreie. Sie hatte überhaupt nicht mehr aufhören können zu schreien.

Und sie hat ihn so sehr geliebt. Damals hatte sie noch lieben können. Damals hat sie aufgehört lieben zu können.

... Tula. Das war eine schöne Zeit. Das war eine wilde Zeit. Jelzin-Zeit. Alles ging. Sie hatten die Welt zu ihren Füßen. So hat es Pawel einmal gesagt: „Wir haben die Welt zu unseren Füßen.“ Jelzin. Als der die diplomatischen Parkettböden unsicher machte (vollkotzte?). Sie muss fast Lachen im Traum. Lacht man im Traum? Lacht man in einem Blut-Traum? Ihr ist nicht nach Lachen zumute. Jelzin. Sie klammert sich daran fest. Zweifach geschlagen. Ein Alkoholiker, der keinen Alkohol vertragen konnte.

Für einen Russen ist das sehr schlimm. Hat sie noch eine russische Seele? Und was ist überhaupt eine russische Seele? Das viele Blut und der Schrecken und die Angst? Wenn das die russische Seele ist, will sie gerne darauf verzichten. Aber das ist alles Quatsch. So oder so. Sie kann auf Russisch darauf verzichten und auf Deutsch. Aber es hört nie auf. Träumt sie noch? Wacht sie bereits?

... Tula. Alles ging. Alles war möglich. Es reißt sie zurück. Blut. Warum nur hatte sie in die alte Fabrikhalle gehen müssen, damals, mitten in der Nacht? Gehen? Gerannt ist sie. Sie ist gerannt! Geflogen! Man hatte ihr erzählt, dass Pawel wieder in der Stadt sei. Einen Monat, einen ganzen langen Monat war er weg geblieben. Und sie ist gerannt. Sie war so glücklich und sie ist gerannt. Sie hatte ihn so sehr geliebt.

Oh, warum nur, warum? Eine Viertelstunde früher, und, wer weiß, nichts wäre geschehen. Eine Viertelstunde später, und, ja – was dann? Sie hätte nichts gewusst, sie hätte es nicht einmal geahnt…

So richtig gewusst hat sie gar nichts. Ihr Vater und Pawel, sie haben gehandelt, das war alles, was man ihr sagte. „Wir handeln“, haben sie gesagt. Siebzehn ist sie gewesen. Alles geht. Jelzin-Zeit. Wir haben die Welt zu unseren Füßen. Womit werden sie schon gehandelt haben? Mit allem wahrscheinlich. Mit allem, was geht. Und es ging viel. Autos. Und Mädchen. Waffen. Drogen. Zigaretten. Alles ging. Eine Viertelstunde nur. Nur eine Viertelstunde ...

Zu spät, zu früh, zu früh, zu spät. Alles zu spät. Alles, alles zu spät ...

Diese Wut, diese tobende Wut, und das Messer und das Blut, das viele, viele Blut ... Der schmutzige Hallenboden. Beton. Flecken von Motoröl. Zäh das Blut. Die Blutlache. Zäh. Zerfließt sie. Zäh. Breitet sich aus. Zäh. Das Blut dampfte. Und sie hatte geschrien, sie hatte nur noch geschrien.

Ihr Vater und Pawel, sie mussten sich gestritten haben. Über irgendetwas bei ihrem Handel. Irgendetwas Böses musste da passiert sein, irgendetwas sehr, sehr böses. Und Pawel? Warum hatte er sie nicht auch gleich erstochen? Warum denn nicht? Mit dem Messer in der Hand und dem vielen Blut. Hätte er doch nur. Wo sie so geschrien hat. Aber er hat nur dagestanden und hat sie angesehen. Seine Augen waren so traurig gewesen, da, in dem Moment. Aber nur in diesem einen, kurzen Moment. Wenn er sie bei der Hand genommen hätte, wenn er sie da gleich bei der Hand genommen hätte, bei der blutigen Hand, es wäre ihr egal gewesen, sie wäre mit ihm geflohen, sie wäre ihm gefolgt, überallhin.

Doch dann sind all die anderen Menschen gekommen, woher nur, all die vielen Menschen, in dieser Gegend, mitten in der Nacht. Und sein Blick war hart geworden. Sie hatte geschrien. Ihre Schreie waren es. Ihre Schreie sind es gewesen. Und es war zu spät. Es war vorbei. Und es war vorbei und zu spät und Blut. Und sein Blick, da, da war er ein ganz anderer geworden. Sein Blick, der sie durchbohrte.

Aufspießte. Seine Augen – hart und schwarz und todverheißend. Seine Augen – hart und scharf und tödlich wie geschliffener Obsidian. Hass, ja, Hass ist da gewesen, in diesem Blick: Hass. Und da, mit einem Male, da war es ihr, als ob die Welt sich auf den Kopf stellte. Vor ihren Augen ganz trübe. Als ob mit einem Ruck plötzlich alles verkehrt herum aufgestellt wäre. Ihr war, als ob die Stahlverstrebung der Hallendecke auf sie zugerast käme. Da ist sie dann weggetreten. Ihr drehte sich alles. Auch ihr Magen drehte sich um. Da musste sie dann kotzen.

... Kotzen? Jelzin. Deswegen war ihr Jelzin eingefallen. Oder? Es ist schon merkwürdig, was einem in Träumen passiert. Die Welt lag nicht mehr zu ihren Füßen. Die Welt stand Kopf und sie kotzte alles aus sich heraus und sein Blick und alles verschwamm vor ihren Augen.

Die Miliz kam, und wie er sich hat abführen lassen ohne weiteres und seine Augen immer auf sie gerichtet, hart und schwarz und todverheißend, und sie ist immer tiefer in sich hineingekrochen in ihrer Furcht, hineingekrochen in ihren Schrecken. Wie ein Lamm hat er sich abführen lassen und nur für sie blickten seine Augen. Todverheißend. Nur für sie. Hart und scharf wie Obsidian.

Sie hat auf das Ende des Prozesses nicht gewartet. Sie hat ihre Aussage gemacht, wie im Nebel, im Dämmer, im Traum. Doch dann ist sie geflohen. Sie ist gerannt, so kommt es ihr vor. Wie im Nebel. Sie ist nur noch gerannt. Wie im Dämmer. Nach Westen. Immer weiter und weiter nach Westen. Wie im Traum. In Trance. Ja, wie in Trance ist sie gewesen. Nach Westen ...

Auch sie wurde nun zu einer Händlerin. Sie handelte mit ihrem Körper. Etwas anderes hatte sie nicht. Es fiel ihr nicht schwer. Sie war jung und schön (sie ist immer noch jung und schön). Und es fiel ihr nicht schwer. Sie spürte nichts, sie hatte keine Gefühle mehr, auch keine Gefühle mehr für ihren Körper. Alles geriet ihr abhanden. Auch das Gefühl für die Zeit. Und die Orte. Wo sie war. Alles weg. So viele Orte. Im Nebel. In Trance. Sie erinnert sich, dass sie in Prag gewesen ist. Da erst wieder setzt ihre Erinnerung ein. Vorher: nichts. Prag. Dann Italien. Schließlich Spanien. Auf einer der Inseln, zuletzt, welcher, auch das hat sie vergessen.

Dort, auf der Insel, haben die Jungs sie angesprochen. Sie haben ihr ein Geschäft vorgeschlagen und sie hat angenommen. Sie waren fair. Sie sind immer fair gewesen und sind es noch. Sie haben ihr die Wohnung besorgt. Für Kundschaft gesorgt. Handelspartner. Sie ist gut. Sie hat sich einen Namen gemacht. Sie ist sehr gut. Sie hat sehr gute Kundschaft. Die Jungs sind zufrieden. Sie vertraut den Jungs. Sie haben ihr auch sonst immer geholfen, sind für sie da, wenn sie Hilfe braucht.

Aber ist sie zufrieden? Sie – sie – sie? Wie ist es mit ihr? Sie ist gut. Die Jungs sind gut. Die Jungs sind zufrieden. Aber sie? Ein Zwiespalt ist es, oder wie sagt man das – ein zwiespältiges Gefühl. Denn die Jungs, das sind auch Russen. Wie sie. Wie sie eine war, eine Russin. Denn eigentlich möchte sie mit nichts mehr zu tun haben, was an Russland erinnert.

Aber es hört nicht auf. Sie wird es nicht los. Nein. Ja – die Jungs sind gut, die sind in Ordnung. Aber diese russischen Feten zum Beispiel, sie kann das einfach nicht ertragen. Russische Musik. Und Wodka und Blini und Borschtsch und Krimsekt und Kaviar. Diese lärmende, diese überschäumende Fröhlichkeit, auf den Tischen tanzen, Typen, die aus ihren Pumps Sekt schlürfen wollen, ja, ja, das gibt es, das gibt es wirklich, so endet das immer bei diesen Feten, und all die sentimentalen Lieder, da kann man sich einfach nur schütteln, wenn man daran denkt. Sie will das einfach nicht. Sie will nicht diese Erinnerungen. Will nicht erinnert sein. Sie will das nicht, sie will das nicht. Aber es lässt sich nicht immer vermeiden. Die Jungs. Die Jungs sind doch so nett und sie kann ihnen nicht immer absagen. Aber es quält sie. Auch das quält sie.

Die Jungs ... Die Jungs werden sie vor Pawel beschützen. Das weiß sie, und sie weiß, dass er irgendwo da draußen ist, irgendwo da, irgendwo, sie weiß, dass er nach ihr sucht, seine Rache sucht, sie, nach ihr tastet, suchend, nach ihr greift, ganz nah, ganz nah manchmal, manchmal schon kann sie ihn spüren, als ob sein Atem ihr bereits im Nacken säße, und das ist ein erregendes Gefühl, das ist ein süßes Gefühl von Verlangen und von Furcht und von Schrecken, das alles zusammen.

Oh, wie sie ihn geliebt hat und wie sie ihn hasst. Nein, er ist es, der sie hasst, sie ist es, die ihn fürchtet, die allen Grund hat ihn zu fürchten, ihn, diese Angst, sie fürchtet ihn so sehr. Ihr Kopf. Dieser Schmerz. Die Schläfen pochen. Es frisst sie auf. Die Augen brennen.

Es erstickt sie. Schweiß. Nass. Blut. Sie schreit auf.

Kerzengerade sitzt sie im Bett. Ein Blick nach der Uhr.

Elf. Trostlos. Draußen ist heller Sonnenschein.

Sie wird etwas tun müssen. Sie muss. Sie muss. Machen. Das muss weg. Das muss verschwinden. Tränen schießen ihr in die Augen. Eine ganze Tränenflut. Es ist nicht aufzuhalten. Sie vergräbt ihr Gesicht im Kissen. Lautes Schluchzen. Das muss weg. Das muss weg. Sie wird Lupe anrufen. Ihre Mutter, die Curandera. Die weiß es. Die wird es wissen. Die wird ihr helfen. Schon zweimal ist sie bei ihr gewesen. Die ist gut. Die wird ihr helfen. Es muss. Machen. Das muss weg. Das muss verschwinden. Schluchzen. Schwach. Schwächer. Sie muss kämpfen. Kämpfen.

Das kann sie. Sie muss stark sein. Sie ist stark. Ein Frühstück. Nein, sie hat überhaupt nichts da, frühstücken wird sie später, unterwegs. Aber einen Kaffee braucht sie jetzt gleich. Einen Kaffee. Und etwas zum Vergessen. Drachenblut. Rot. Rotes Pulver. Gleiches mit Gleichem bekämpfen. Rot. Stark. Das muss weg. Und Erdrauch verbrennen. Das wird das Kopfweh vertreiben. Das betäubt. Betäubt alles.

Erdrauch – Elfenrauch. Soll auch gut für die Haut sein.

Und Damiana. Auch Damiana wird sie räuchern.

Irgendjemand hat ihr mal gesagt, oder sie hat es irgendwo gelesen, dass es die kleinen Geister weckt, die Hilfreichen, die sich auf den großen Bösen stürzen, um ihn dorthin zu bannen, woher er gekommen ist ...

Lupe ... Die Curandera ... Die wohnt in Harburg. Wahrscheinlich wird ihr nichts anderes übrig bleiben, als nachher noch da hinzufahren. Aber erst mal wird sie Lupe anrufen. Und mit Björn muss sie raus. Und Emma und Emily wollen beschmust werden, sonst zerpflücken sie etwas, das sie nicht zerpflücken sollten, aber eigentlich ist ihr das egal. Hauptsache es geht ihnen gut. Emmas eines Nasenloch war wieder verstopft, das wird sie sich nochmal ansehen müssen, vielleicht muss sie bald wieder zum Tierarzt mit ihr.

Und nach Jim und Jack wird sie auch nochmal sehen, die schlafen längst, aber nach ihnen sehen muss sie schon. Heute Nacht waren sie ganz lieb. Die sind so süß, die beiden. Aber dagegen kommen sie nicht an. Niemand kommt dagegen an. Doch. Die Curandera. Mama ... Mama ... Adalgisa, ja, Adalgisa, so heißt sie. Selbst ihre Tochter nennt sie so. Mama Adalgisa. Dabei ist sie noch gar nicht so alt. Vielleicht so Anfang, Mitte Vierzig. Mama Adalgisa. Und kugelrund. Die Curandera. Ja. Sie wird es wissen.

Jens 1: Jens erwacht

Jens hat schlecht geschlafen. Ganz zum Schluss hat er von den Mollies geträumt. Und davon, wie sie den Haydens auflauern. Einen richtig ausgeklügelten Hinterhalt haben sie gelegt. Und als er dann vor Schreck erwachte, wurde ihm klar, dass das gar nicht mal eine so unwahrscheinliche Geschichte war. Die Haydens sind ein kleines schwaches Rudel und die Mollies sind groß und stark. Ihre Territorien grenzen aneinander und die Mollies sind schon seit langem scharf darauf das Gebiet der Haydens zu besetzen.

Die Haydens habens schwer. Die sind nur zu fünft und die Mollies sind 16. So die letzte Schätzung, die ihm bekannt ist. Große kräftige Wölfe, die Mollies. Bisonjäger.

Und wenn die Haydens nach Norden hin ausweichen, wird das ihre Lage nicht verbessern. Dahin sind sie nämlich unterwegs. Gestern Abend hat er die Mails aus Amerika durchgesehen und dann noch eine ganze Weile im Netz rumgewühlt, um womöglich noch mehr zu erfahren. Ja, eindeutig, die sind in Richtung Norden unterwegs. Er macht sich Sorgen um sie, daher auch der Traum, ja, klar, wenn er jetzt so darüber nachdenkt: kein Wunder, dass er so geträumt hat.

Dort im Norden werden sie erst recht in Schwierigkeiten geraten. Dort gibt es keinen Platz für sie. Dort sitzen die Leopolds und die Oxbows und die Sloughs, die Druids und die Agates. Allesamt große Rudel. Und große Kämpfer obendrein. Die sind es gewohnt um ihre Territorien zu streiten, so eng aneinander, wie die sich dort eingerichtet haben, es sind gute Jagdgründe, da geht es drunter und drüber, die Grenzen verschieben sich ständig, je nachdem, welches Rudel das Stärkere ist zur Zeit. Dort wird es für die Haydens kein Durchkommen geben. Er macht sich wirklich große Sorgen um sie. Mit den Haydens, das wird kein gutes Ende nehmen, das fühlt er ganz deutlich. Furchtbar traurig. Aber das sind so menschliche Sentimentalitäten, die die Wölfe sich nicht leisten können. So ein Wolfsleben, das ist kein Zuckerschlecken. Puh! Nein, er hat kein gutes Gefühl.

Es gibt aber auch gute Nachricht. Der alte 113, der Chef von den Agates, lebt noch und zieht mit seinem Rudel umher. Ex-Chef müsste man korrekterweise sagen, denn die Alphas, das sind nun sein Sohn, der 383M und die 472F. Aber der alte 113 scheint immer noch hohes Ansehen zu genießen. Darf sogar mit erhobenem Bein pinkeln, was eigentlich nur den Alphas erlaubt ist. Eine erstaunliche Geschichte ist das. Bei Wölfen erlebt man eben immer wieder Überraschendes. Der alte 113 ... ist schon eine tolle Sache ... Vor ein paar Monaten, im Winter noch, waren ihm beim Kampf mit einem anderen Rudel die Hoden zerfetzt worden. Das ist nicht ungewöhnlich, sondern durchaus üblich, wenn Rüden aneinandergeraten. Da gehen sie sich gerne an die Eier, die wissen schon wos wehtut. Eine üble Sache. Und das bei der Kälte. Der Winter im Yellowstone ist hart und alle haben gedacht, dass ers nicht überstehen würde. Aber Pustekuchen. Er ist wieder voll mit dabei.

Vor ein paar Tagen hat jemand beobachtet, wie sein Rudel einen Grizzly von einem Hirschkadaver vertrieben hat. Und der alte 113 vorneweg mit hoch erhobenem Schwanz. Wenn er so weitermacht, wird er noch den Altersrekord brechen. Der älteste Wolf sein, der nach Wiedereinführung der Wölfe im Park gelebt hat. Zehn ist er mittlerweile schon. Ein ziemliches Alter für einen Wolf. Das kommt nur ganz, ganz selten vor. Und noch seltener wäre es, wenn er demnächst als alter grauer Wolf sanft entschlummerte.

Das mit dem alten 113 ist wirklich ungewöhnlich.

Normalerweise, wenn ein Wolf zu alt wird, um für das Rudel noch was zu taugen, wenn er die Arthritis in den Knochen hat und kaum noch Zähne im Maul, dann gute Nacht Marie, dann muss er gehen, da gibt es kein Erbarmen. Und so ein alter einsamer Wolf, der hat keine Chance. Früher oder später, meist früher als später, taucht ein Jäger auf, der stärker ist als er. Ein anderes Rudel, das ihn in seinem Revier nicht dulden mag, ein Puma, ein Grizzly – batsch, aus, das wars. Furchtbar traurig. Vor allem, wenn man sie von klein auf gekannt hat. Als Jungtiere, wie sie sich mit den Geschwistern rumgebalgt haben auf der Prärie. Die Pups. Ja. Unbeschwerte Zeiten gehören auch dazu. Aber das Ende ist fast immer traurig. Im Grunde läuft es bei uns Menschen genauso ab. Man denkt nur nicht darüber nach. Weil man nicht will. Weil mans verdrängt. Bei den Wölfen zwingt er sich dazu. Mit den Einzelschicksalen muss man lernen fertig zu werden. Hauptsache, es gibt sie wieder. Im Yellowstone. Und drum herum. Er ist von Anfang an dabei gewesen. Seit 1995. Weil er mit dem Studium fertig war, hatte er sich in dem Jahr sowieso eine Reise in die Staaten gönnen wollen. Und durch Zufall dann von den Wölfen erfahren. Und das hatte ihm ein Ziel gegeben.

Damals waren es 14 Wölfe gewesen, die man im Yellowstone wieder angesiedelt hatte. Die kamen aus Kanada. 14 Wölfe. Drei Rudel. Und 15 Wölfe, die man in den Wäldern von Idaho aussetzte. Und heute ... heute, da sind es so an die 1500 Wölfe vielleicht in Wyoming und Idaho und Montana. 170 Rudel. So um den Dreh. Das grenzt schon an ein Wunder, das alles. Das alles trotz George Bush und seiner schießwütigen Kamarilla. Aber die schlagen zurück. Auf seine alten Tage wills der Bush nun doch noch wissen. Den Status der bedrohten Tierart nach dem Endangered Species Act haben die Wölfe schon verloren. Jetzt gelten sie als ‘gefährdet‘. Aber auch das wollen sie streichen, und das heißt in der Konsequenz – sie werden zum Abschuss freigegeben. Da werden dann nicht viele übrigbleiben. Die Arschlöcher könnens kaum erwarten. In Idaho hat man den Preis schon festgesetzt. 24.50 $ soll der Abschuss kosten. Der Gouverneur von Idaho hat schon mal verkündet, dass er sich gleich als Erster eine Abschusslizenz holen würde. ‘Butch‘ Otter heißt der Mann. Braucht man gar nichts weiter zu sagen. Braucht man auch gar nicht zu fragen, von welcher Partei der ist. Immer fröhlich mit dabei, wenns ums Abschlachten geht. Für eine Handvoll Dollar tun die alles. Denen ist es egal, was aus der Welt wird. Wütend kann einen das machen. All die Jahre umsonst. All die Mühe. Nicht seine, natürlich, was hat er schon groß getan. Aber all die Leute dort in den Staaten, die sich abgerackert haben, um die Wölfe wieder anzusiedeln. Aber es ist nicht zu spät. Es kann immer noch werden. Noch ist nichts verloren. Nur, dass die Menschen nicht klüger werden, das geht ihm einfach nicht in den Kopf. Sie werdens nicht. Sie werdens nicht und werdens nicht und werdens nicht. Zwölf Jahre jetzt, dass die Wölfe wieder da sind. Freuen sollten sie sich. Stolz sollten sie drauf sein. Aber sie werden nicht klüger. Ob sie die Wölfe wirklich wieder ausrotten würden? Ja, sie würdens tun. Wenn sies irgendwie populär machen könnten. Ohne Zögern. Das ist nicht zu verstehen. Irrational ist das. Was die Wölfe in all den Jahren an Rindern gerissen haben ist kaum der Rede wert. Das kanns nicht sein. Daran allein kanns nicht liegen. Es ist Hass. Hass ist immer irrational. Menschen sind schlimm.

Die Cowboys und die Rancher. Die sind eigentlich auch so eine aussterbende Rasse. Immer weiter fallende Fleischpreise. Die Wölfe sind da bestimmt nicht dran schuld. Da können sie sich bei ihren Anti-Wolf-Freunden in Washington bedanken. Aber das begreifen die natürlich nicht. Der Wolf ist der naheliegende Sündenbock. Leicht zu haben. Einfach mit der Knarre draufhalten und fertig. Von wegen Helden des Westens. Feige Säue sind das und sonst nichts. Aber er darf sich nicht hinreißen lassen. Die Cowboys sind ja nicht nur feige Säue, arme Schweine sind sie auch, schlecht bezahlt, wenn sie überhaupt mal Arbeit finden, harte Arbeit, und verkorkst. So ist es leider. Verkorkst sind sie eben auch. Und es hilft nichts zu schimpfen. Begreifen muss mans. Und es ist ja nirgendwo auf der Welt anders, letztendlich. Die Leute, die den Regenwald in Borneo abholzen, die verdienen auch nur n´ Appel und n´ Ei, die Kohle machen andere. Die Holzfirmen. Und wenn man das weiterverfolgte, dann würde man wahrscheinlich feststellen können, dass eine Bank dahintersteckt, oder eine Versicherung, oder ein Energieriese. Und die stiften dann großzügigerweise einen Umweltpreis, und den bekommen dann Greenpeace oder der WWF, und alle denken, au fein, was ist die Bank aber großzügig, oder die Versicherung, oder der Energieriese. Und hinterher ist der Wald verschwunden und die Wölfe sind tot. Und die Orangs in Borneo. Auch so eine Schweinerei.

Und weil das so ist wie das ist, hat er auch Angst um die Wölfe in Deutschland. Dort in der Lausitz, in der Muskauer Heide. So ein zartes Pflänzchen. Er hat sich schon oft gefragt, warum er sich um die nicht kümmert, nicht versucht da irgendwie einzusteigen, anstatt jedes Jahr nach dem Yellowstone zu fahren. Aber er will sich da nicht einmischen. Was sollte er da auch schon großartig machen? Na ja, großartig machen tut er im Yellowstone auch nichts. Da gibt es ja auch genug andere, die das professionell in die Hand nehmen. Und überhaupt – Wölfe in Deutschland? Das wird nichts. Wo sollen die denn hin?

Da braucht man nur an den armen Bären Bruno in Bayern zu denken, um zu wissen, dass das nichts wird.

Solange sich die Wölfe weit fort in Sachsen rumtreiben, ist ja alles in Ordnung, da finden auch die Leute im Westen das ganz toll. Aber nehmen wir mal an, da gibt es einen Weitwanderer, so einen einsamen Wolf, und der taucht im Duvenstedter Brook auf, oder im Wittmoor. Da wird die Birkenstock-Mama und Art-Directors-Gattin aus Bergstedt, die eben noch so ganz romantisch schwärmerisch war und dem NaBu eine großzügige Spende hat zukommen lassen, dann doch von Unruhe gepackt werden. So vor der Haustür, im Vorgarten gewissermaßen, das geht denn doch zu weit, da muss man sich doch Sorgen um die Kinderchen machen. Und steht nicht auch zu befürchten, dass der Wolf beim nächsten Spazierengehen womöglich das niedliche kleine Jack-Russell-Hündchen verspeisen wird, als kleinen Snack für zwischendurch? Da kann der Wolf dann ganz schnell wieder zum bösen Wolf werden.

Nee, nee, das in Sachsen, das ist eine Ausnahme. Wo sonst in Deutschland soll sich denn auch ein Wolfsrudel ernähren können, übersiedelt wie das Land ist? Das wird nichts. Andererseits, in Italien geht das doch auch irgendwie. Da gibt es mittlerweile dreimal so viele Wölfe, wie es im 19. Jahrhundert gegeben hat. Und die werden auch verfolgt wie nichts, auch heute noch, obwohl sie streng geschützt sind.

Sie werden verfolgt, aber nicht ausgerottet. Das ist der springende Punkt. Er erinnert sich. In einem Buch von einem der Wolfsforscher hat er mal gelesen, dass das möglicherweise auf das Laissez-faire-Denken der Menschen dort im Süden zurückzuführen wäre. Ja, da könnte was dran sein. Sie hassen die Wölfe nicht. Sie verfolgen sie, aber sie werden nicht ausgerottet wie in Mittel- und Nordeuropa – und in Nordamerika.

Die Leute, die den Westen der USA besiedelten, die stammten von den britischen Inseln – Schotten, Waliser, Engländer, Iren – die kamen aus Deutschland und aus Skandinavien. Wolfshasser. Und Indianerhasser übrigens auch. Ja, da gibt es auch einen Zusammenhang, müsste man mal drüber nachdenken bei Gelegenheit. Indianer massakrieren.

Und Wölfe. Ja, da ist was dran. McKittrick und Steinmasel. Die beiden, die den ersten der neuen Yellowstone-Wölfe umgebracht haben, die Nummer 10. Ein Schotte und ein Deutscher. Eine Bestätigung der Theorie. Und ‘Butch‘ Otter natürlich.

‘Butch‘ Otter nicht zu vergessen. Aber das ist natürlich kompletter Unsinn. Die Leute, die sich für die Wölfe einsetzen sind ja auch nordeuropäischer Abstammung. Menschen können sich ändern. Dazulernen. Klüger werden. Geht schon. Wölfe übrigens auch. Mit den Wölfen in Italien ... ja, wie war das noch, das hat er auch irgendwo gelesen, ja, die sind nicht auf so große Rudel angewiesen, wie die Wölfe im Norden. Aber auch die Wölfe im Norden können sich ändern, anpassen, warum denn nicht, warum denn also nicht, warum denn keine Wölfe in Deutschland, warum nicht? ...

Jetzt, wo er mit dem Duschen fertig ist, ist auch Euphemia aufgetaucht. Wasserscheue, die. Die wartet immer, bis er mit dem Duschen fertig ist. Genau abgezirkelt. Zum Frühstück leistet sie ihm dann Gesellschaft. Dafür steht sie extra nochmal auf. Ist ja süß von ihr. Essen mag sie nichts mehr. Sie kuschelt sich auf seinen Schoß und ist lieb. Zusammen sein. Zusammen gehören. Das ist schön. Das gibt ihm auch immer ein gutes Gefühl für den Tag. Euphemia schläft auch auf seinem Schoß weiter. Sie schnarcht.

Auch nachts schnarcht sie ihm die meiste Zeit was vor. Ob er auch schnarcht? Er hat schon so lange, oh, so lange niemanden mehr gehabt, der ihm da hätte Auskunft geben können ... so lange schon nicht ... eine Ewigkeit ... Erschreckt schiebt er den Gedanken beiseite. Euphemia ... Euphemia verrät ihm da nichts ... Diesbezügliches ... die schnorchelt selbstvergessen und zufrieden vor sich hin.

Bevor Euphemia zu ihm gekommen war, hatte er ebenerdig auf einem Ausziehsofa geschlafen, für sie, extra, hat er sich dann ein Bett angeschafft, damit sie sich darunter ihre Höhle einrichten konnte. Gründlich wie er ist, hatte er alles an Literatur verschlungen, was zum Thema Skunk als Haustier zu bekommen war. Und das war eine ganze Menge. Hauptsächlich aus den Staaten natürlich. Dort kam das zwar auch nicht so häufig vor, dass jemand einen Skunk zu Hause hatte, aber es war auch wieder nicht so selten, dass es als superexotisch gelten würde.

Die Variante mit der Höhle unterm Bett hatte ihm als Möglichkeit eingeleuchtet und Euphemia hatte sie ohne Zögern angenommen. Er hatte aus leicht verrückbaren Holzkästen ein Höhlensystem angeordnet, das sie nur leicht modifiziert hatte. Ihre Schlafhöhle befand sich nun direkt unterhalb der Stelle, wo sein Kopfkissen lag. Das hatte er ursprünglich anders geplant gehabt, aber diese von Euphemia getroffene Regelung schmeichelte ihm durchaus, zeigte es doch, dass ihr an seiner Nähe gelegen war. Da schnorchelte sie nun vor sich hin. So 18 – 20 Stunden sind da gar nichts. Und wenn sie in ihrer Winterschlafzeit ist, von November bis März, dann sind es 23 Stunden. Ein Haustier-Skunk macht zwar nicht den totalen Winterschlaf, aber 23 Stunden, ja, locker. Und fasten tun sie dann auch. Da denkt man erst, oh Gott, oh Gott, was mach ich bloß, das Tier frisst ja nichts mehr. Später gewöhnt man sich dran.

Auch daran, dass man im Herbst ein ziemlich pummeliges Ding da rumzulaufen hat. Die müssen sich natürlich ordentlich was anfuttern. Hauptsache, Euphemia kommt damit klar, und das tut sie. Die Sache mit dem Winterschlaf steckt nun mal so in ihnen drin. Na – Euphemia strampelt. Die hat genug und will zurück in ihre Höhle. Weiterschnorcheln. Da wollen wir dich mal runter setzen, was? Wie sie kokett ihr Schwänzchen in die Höhe reckt und davonhüpft. Das haben sie unnachahmlich gut drauf. Skunks. Skunks und Wölfe ...

Im Yellowstone gibt es keine Skunks. Zu hoch gelegen und zu kalt. Skunks sind mehr so für gemäßigtere Klimazonen zu haben. Eine Gegend, wo man Maisfelder plündern kann und Obstgärten, das ist ihr Ideal. Die haben sich prima der Menschenwelt anpassen können. Clevere Opportunisten. Die Wölfe habens da ungleich schwerer.

Er muss an die 9 denken. Wie oft die in ihrem Wolfsleben neu angefangen hat, neu hat anfangen müssen. Er persönlich glaubt ja, dass sie immer noch lebt. Klar, die Logik sagt, dass sie längst tot ist. Aber sein Gefühl sagt, dass sie noch lebt ... sein Gefühl ... du gute Güte, er hats wohl ziemlich mit dem Gefühl heute Morgen. Das kann ja heiter werden ... ein heiterer Tag ... so viel Gefühl. Aber was solls. Und er bleibt dabei, Nummer 9 lebt.

Ihren Körper hat man nie gefunden. Und er glaubt auch nicht, dass ihr Fell über dem Kamin von irgend so einem schießwütigen Arschloch hängt. Wenn sie erschossen worden wäre, das wäre rausgekommen.

Der das getan hätte, der hätte in irgendeiner Bar damit angegeben. Diese Art von Typen, die können doch nicht anders. Warum sollten sies tun, wenn sie hinterher nicht damit angeben könnten. Nein, Nummer 9 lebt. Für immer.

Elsa 1: Zeit, Elsa vorzustellen ...

Allerhöchste Zeit. Schließlich führt diese Geschichte ja ihren Namen im Titel.

Elsa ist eine Mondschamanin. Nein – Elsa ist die Mondschamanin. Elsa ist ein Chinchilla. Sie ist die schönste Chinchilla-Frau, die je gelebt hat.

Indem ich dies in kühnem Schwung zu Papier bringe, gerate ich in arge Verlegenheit. Ich muss erst mal verschnaufen. Eine Auszeit nehmen. Einen Becher Kaffee. Eine Zigarette ...

Solchermaßen gewappnet sollte es mir doch gelingen. Also: Indem ich Elsa einführe, habe auch ich mich einzuführen. Ich – das ist das Autor-Ich, das man keinesfalls mit dem Ich-Ich verwechseln sollte. Man kann sich das vorstellen, wie in einem Traum ...

Und prompt sehe ich mich in einer ähnlichen Bredouille wie Dasha vorhin (eigentlich wäre jetzt wieder eine Zigarette fällig). Träumen, Wachen oder Wachträumen? Wo bin ich? Und wer? Welches Ich? Ich, ich oder ich? Dieses, das oder jenes ich? Gibt es mehrere davon? Kann es überhaupt mehrere geben? Was für ein Schlamassel. Eine vertrackte Geschichte, auf die ich mich da eingelassen habe. Aber jetzt ist es zu spät. Jetzt habe ich mich festgebissen. Da gibt es kein Zurück mehr.

So sitze ich denn im Schneidersitz auf meinen diversen Decken, umgeben von meinen diversen Kissen, und hadere mit dem Schicksal. Das ist kein besonders amüsanter Zeitvertreib. Außerdem habe ich es ja nicht anders gewollt. Oder? Na also ... Also nehme ich noch einen Schluck Kaffee und mümmele ein Oreo-Cookie. Ekliges Zeug. Sowas gewöhnt man sich an, wenn man zu oft und zu lange in Amerika unterwegs war. Ich nehme gleich noch einen ...

Erdnussbutter. Auch so ein amerikanischer Traum. Oder Coors-Beer (one mile high). Und Cadbury-Schokolade. Die hab ich auch zufälligerweise da rumliegen. Wirklich zufälligerweise. Die gibts ja hierzulande nicht an jeder Straßenecke. Stammt zwar aus England (by appointment to her Majesty the Queeen), aber in Amerika sind die auch ganz dicke im Geschäft. Ob die Queen jemals davon probiert hat?

Na, mir kanns egal sein. Ich mag das Zeug. Und nehm auch davon ein Stück. Gemessen an den Kunstwerken mitteleuropäischer Chocolatiers ist das natürlich der reinste Schund. Aber irgendwas packen die da rein, das ist unverwechselbar. Und wahrscheinlich suchterregend. Jedenfalls psychedelisierend. Da hebt man voll ab. Quer durch Raum und Zeit. Schon seh ich mich auf einem einsamen Highway, weit unten im Süden von Arizona. Sonora Desert. Papago Indian Reservation. Außer mir ist da niemand unterwegs. Sind alle auf dem Interstate weiter nördlich. In meinem Rücken, im Westen, irgendwo hinter Why (der Name sagt schon alles, was man über den Ort zu wissen braucht), die untergehende Sonne. Rosarot.

Wie auf einer Postkarte. Links und rechts die großen Saguaros, Prickly Pears, dazwischen sicherlich ein paar Ground Squirrels, die da rumhüpfen, die man aber nicht sieht, ein paar Rattlesnakes, Coyoten, einige Chipmunks, irgendwo da draußen. Und ganz hoch droben, fast schon in einer anderen Sphäre, oder bilde ich mir das bloß ein, ziehen die Zopilotes ihre Kreise.

Vor mir tobt ein Dust Devil über die Straße. Noch hundert Meilen bis Tucson. Hundert Meilen herzschmerzendes Tex-Mex-Geplärre von irgendeinem Sender drüben in Sinaloa oder Chihuahua. Dazwischen immer wieder Werbung und platte Zoten, mit einer Stimme, abgefeuert wie ein Maschinengewehr. Noch ist es heiß, die Cadbury zerrinnt mir zwischen den Fingern, weil der alte Toyota, in dem ich mich da unterwegs sehe, natürlich keine Klimaanlage hat. Aber dagegen ist auch gar nichts einzuwenden – ich mag die Wüste so wie sie ist. Und ich habe hundert Meilen Zeit, mir die Schokolade von den Fingern zu schlecken. Hundert wundervolle Meilen ...

Merkt man was? Ich versuche abzulenken. Das lass ich mir aber nicht durchgehen. Ich nehm den letzten Schluck Kaffee und ein weiteres Oreo-Cookie (verdammt ekliges Zeug) und versuche zu entziffern, was ich bisher geschrieben habe. Bedenklich. Aber ich will es stehen lassen. Es kam spontan, also soll es so sein.

Wie zufällig streift mein Blick das Buch, in dem ich vorhin noch gelesen habe. Zollbrods Version der Schöpfungsgeschichte der Navajo. Sehr poetisch und einfühlsam. Genau das richtige Maß, das er da gefunden hat. Maa’íí, Coyote, der Trickser, der alte Schelm. Der hatte reichlich Ichs und keine Probleme. Da sollte es mir doch auch gelingen. Aber ich bin natürlich nicht Coyote. Schade eigentlich. Oder auch nicht. Besser nicht. Na, wer weiß…

Die vielen Ichs haben mich ganz durcheinander gebracht. Wo waren wir denn stehen geblieben? Beim Träumen natürlich. Immer noch beim Träumen. Hundert Meilen bis Tucson. Hundert Meilen von Elsa entfernt. Hilft aber nichts. Vorläufig. Muss erst mal mit den Ichs klarkommen. Und mit den Träumen ...

Vielleicht kennt der ein- oder andere ja dieses Gefühl, diese Situation, wo man zum Ende eines Traumes hin in einen Zustand gerät, der einen in solchem Maße zum Bewusstsein gelangen lässt, dass man versucht ist lenkend einzugreifen. Häufig klappt das dann nicht und der Traum bricht abrupt ab – das ist sehr frustrierend. Manchmal schafft man es die Geschichte noch eine Weile fortzuspinnen, doch so recht wird es nicht mehr, und auch das ist frustrierend, muss man sich doch eingestehen, dass man im Unterbewussten ein besserer Geschichtenerzähler war, als man es im nunmehr erwachten Halbbewusstsein ist.

Wir wollen aber trotzdem unser Bestes geben, denn genau an der Stelle geraten wir in die Nähe des Autor-Ichs, das ein bewusst geträumtes Ich ist, oder anders ausgedrückt – ein belebter Traum. Jedenfalls: das Autor-Ich ist ein höchst fantastisches Konstrukt und hat mit der Realität des Ich-Ichs nicht allzu viel, aber doch einige Grundzüge gemeinsam. So leben sowohl das Autor-Ich als auch das Ich-Ich mit Elsa zusammen. Und bevor wir dem Auftreten des Ich-Ich ein vorzeitiges Ende bereiten, sei noch angemerkt, dass auch das Ich-Ich Elsa für eine Mondschamanin hält und der festen Überzeugung ist, dass ihre Schönheit jedes Maß übersteigt.

Das Ich-Ich verabschiedet sich nun. Wir klinken es aus. Mit dem Ich-Ich funktioniert das nicht. Das hat zu viele Skrupel. Das behauptet sogar, es mit der Wahrheit zu halten, wohl wissend, dass es dabei flunkert. Und wir wollen es ihm auch nicht verdenken, denn mit der Wahrheit ist das halt so eine Sache. Die Wahrheit ist wie Kaugummi, das sich in alle Richtungen zieht, sich spreizt und ziert und verdünnisiert ganz nach Belieben. Die Wahrheit können wir komplett vergessen.

Und was dieses Ich-Ich sich unter der Wirklichkeit vorstellt, ist sowieso das Allerletzte. Das ist solch eine öde, langweilige Gegend, angefüllt mit tausenderlei Nöten und Alltagssorgen, nein, auch damit mögen wir uns nicht belasten, die mögen wir uns nicht aufbürden, wiewohl auch wir sie nicht verleugnen wollen, nicht verleugnen können, die Erde ist nun mal ein Jammertal ... Nein! Nein, nein, und nochmals nein! So sollte das nicht laufen. So war das nicht vorgesehen. Wir wollen keine Trübsal blasen. Fort mit solchen Gedanken. Ab. Weg. Fort. Und überhaupt: Was sind denn das für Wirs, die sich da eingeschlichen haben? Erst diese vielen Ichs und nun die Wirs. Wo sind denn diese ganzen Wirs hergekommen? Ein übler, ein unsäglicher Haufen. Blöde Konventionen. Sprachkonventionen. Konventionalisten. Ab dafür. Und zurück zum Ich. Zum Autor-Ich. Und zurück zu Elsa.

Dass ich sie so benannte liegt an meinem allerersten Schullesebuch, erste Klasse Volksschule, Ostern 1962, Ausgabe für den Bezirk Pfalz des Bundeslandes Rheinland-Pfalz.

Die Protagonisten dieses Lesebuches, die mich mit ihren Abenteuern durch das erste Schuljahr geleiten sollten, hießen Hans, Heiner und Elsa. Elsa hatte wunderschöne blonde Zöpfchen, trug ein kurzes rotes Kleidchen und war wunderhübsch anzuschauen. Das klingt vielleicht, was? Nein, nein – damals noch erwies ich mich solch verführerischen (und alles andere als jugendfreien – wer kommt eigentlich auf die Idee solche Schulbücher zu kreieren?) weiblichen Reizen gegenüber als unempfänglich. Ich steckte mit zwei Bengels aus der Nachbarschaft (Hans und Uwe geheißen) zusammen. Wir waren damit beschäftigt Maikäfer zu sammeln, Mäuse zu fangen und auf der Straße Fußball zu spielen. Das bescherte uns ein erfülltes Leben. Mädchen kamen darin nur am Rande, etwa in Form kleiner Schwestern, vor, die man notgedrungen mit sich rumzuschleppen hatte, wenn die Mutter mal keine Zeit hatte auf sie aufzupassen.

Der Name Elsa hätte mir trotzdem etwas bedeutet, solch erster, selbst angeeigneter Lesestoff prägt ja ungemein, aber so richtig verliebt habe ich mich in Elsa erst später. Viele, viele Jahre später. Da war ich bei meinen Eltern zu Besuch. Eines Abends saßen meine Mutter und ich beisammen und tauschten Schulerinnerungen aus. Irgendwie sind wir darüber auf unsere alten Schulbücher zu sprechen gekommen und dabei wird es meiner Mutter dann wohl eingefallen sein. Mitten im Satz sprang sie auf, lief ins Nebenzimmer und kam kurz darauf mit dem Buch in der Hand zurück. Das hatte sie all die Jahre über aufbewahrt. Damit hatte ich natürlich nicht gerechnet.

Ich war hin und weg. Umso mehr, als ich es dann aufschlug und Elsa, wieder, nach all den Jahren, Elsa erblickte. Da wars um mich geschehen.

Und so kam Elsa zu ihrem Namen. Den hatte sie auch verdient. Obwohl sie mehr so der dunkle Typ ist. Aber schön. Um nicht zu sagen: göttlich.

Elsas Körper ist rundlich und wohlproportioniert. Das Fell ist von klassischem Chinchilla-Grau. Wenn sie will, kann sie es erheblich ins Schwarze changieren lassen.

Ihre Ohren sind klein, nahezu rund, das ist ungewöhnlich für Chinchillas, wiewohl Chinchillaohren grundsätzlich nicht so löffelig sind, wie die von Kaninchen oder gar Hasen.

Der Nasenrücken ist sanft gebogen und wäre römisch zu nennen. Die Nase kann sie herrlich krausziehen. Sie bekommt dann so eine Falte, die ihr quer über den Nasenrücken läuft, mit den Schnurrhaaren eine Linie bildet und ihr den Ausdruck äußerster Missbilligung verleiht. Was voll und ganz ihrem Empfinden entspricht. Wenn man sie so erlebte, hatte mans nicht anders verdient. Da musste man was ganz was Scheußliches verbrochen haben. Das war schnell geschehen, Elsa legt sehr strenge Maßstäbe an. So was macht mich nervös. Und wenn ich nervös bin, passe ich nicht auf und mache alles verkehrt. Da kommt dann die Falte: Schluss mit lustig.

Und ihre Augen! Elsa hat unglaubliche Augen. Ich hatte mir erst überlegt, ob ich sie nicht mit schwarzem Obsidian vergleichen sollte. Aber da ist mir Dasha mit ihrer Beschreibung von Pawels Augen zuvorgekommen. Und wenn es stimmt, wie sie es in Erinnerung hat, dass Pawels Augen, damals, ihr den Tod verhießen, hart und bedrohlich, so hat das ja auch etwas auf sich, denn Obsidian ist ein harter Stein. Hart und scharf. Bei Vulkanausbrüchen entstanden, wenn kieselsäurereiche Lava rasch erkaltet. Keine kristallinen Strukturen. Amorph. Vulkanisches Gesteinsglas. Hart, spitz, scharf. Die Schwerter der Azteken waren mit scharf geschliffenen Obsidianklingen besetzt. Und aus schwarzem Obsidian stellten sie Spiegel her, die eine schmerzliche Tiefe vermitteln. Ich habe so einen, ich weiß wovon ich rede.

Nein, so waren Elsas Augen nicht. Aber wie – wie? Ich begann zu grübeln und begab mich auf die Suche. Und wurde fündig. Elsas Augen sind jet-black. Wenn man sie in einem Wort beschreiben wollte, dann mit diesem Ausdruck, den es nur im Englischen gibt. Der allein passt.

Auch Jet ist ein Stein. Hierzulande ist er meist unter dem Namen Gagat bekannt. Und das ist ein weicher Stein. Bituminöse Braunkohle. Mohshärte 2,5 - 4. Soweit die fachliche Bestimmung. In polierter Form kann er von einer zauberhaften Unergründlichkeit sein. Nicht diese scharfen Linien wie beim Obsidian. Weich und sanft. So wie Elsas Augen. Und mit diesen Augen blickt sie durch dich hindurch. Das macht mich immer ganz fassungslos, das zu erleben. Dabei erlebe ich das jeden Tag.

Elsas Augen haben noch niemals versucht jemanden in sich aufzusaugen oder zu durchbohren. Sie sind in die Ferne gerichtet. In eine ziemliche Ferne. Das allein zählt. Was zwischen ihr und der Ferne liegt wird ignoriert. Daher würde Elsa auch jedes Blickduell gewinnen. Falls sich jemand darauf einlassen sollte. Oder wollte. Keine Chance. Weil Elsa sich nicht darauf einlässt und einfach nur in die Ferne schaut. Dagegen kommt man nicht an. Entweder schläft man darüber ein und sinkt zu Boden oder taumelt in hypnotische Trance. Schöne Aussichten, was? Und sie bleibt stoisch auf ihrem Platz. Unverwandt. Konzentriert. Ein höchst ungewöhnliches Verhalten. Schließlich sind Chinchillas Fluchttiere. Von Augen fixiert zu werden bedeutet für sie normalerweise nur eines: Gefahr! Achtung! Vorsicht! Ein Raubtier hat es auf dich abgesehen. Nichts wie weg. So würden unsere anderen Chinchillas reagieren. Wenn ich die so anstarren würde, wie ich Elsa anstarren könnte ohne eine Reaktion hervorzurufen, die wären im Nu verschwunden. Abgetaucht. In die nächste Höhle geflüchtet. Das wäre die normale Reaktion. Aber Elsa ist natürlich nicht normal.

So! Jetzt habe ich mir in einem kurzen Satz doppelten Erklärungsbedarf geschaffen (Klasse! Super! Toll gemacht! Sehr elegant!). Ich glaube, ich brauche erst mal wieder einen Becher Kaffee und eine Zigarettenpause ...

Also: Elsa lebt nicht alleine. Sie hat eine große Familie, einen Ehgemal, Töchter und Söhne. Wir werden sie alle kennenlernen. Und wenn ich von ‘unseren‘ Chinchillas gesprochen habe, so impliziert das mindestens einen, wenn nicht gar mehrere weitere Beteiligte.

Das könnten zum Beispiel ein süßes kleines Hundchen sein, ein Chinchilla-Hütehund vielleicht, oder ein Katerchen, das gerade seine Krallen spitzt (nur Vorsicht, Katerchen, Elsa wird dich hypnotisieren und fährt dann ihrerseits die Krallen aus – das können Chinchillas nämlich auch). Aber nein. Es handelt sich um eine einzige menschliche Person. Es ist die Gefährtin des Autor-Ichs, das sei nur gleich gesagt, denn die Gefährtin des Ich-Ichs hat es sich strengstens verbeten in eine Geschichte verstrickt zu werden, wie ich mich anschicke sie hier zu erzählen. Selbstredend wird dies respektiert werden.

Also die Gefährtin des Autor-Ichs. Wir werden sie im Folgenden kurzerhand als U. (U.Punkt) bezeichnen. U. wie Ursula oder Ulrike oder Ute. Das kann sich dann jeder aussuchen. Ganz nach Belieben.

Mich selbst, das Autor-Ich könnte ich etwa als E2 vorstellen, wobei zu überlegen wäre ob man die 2 vielleicht hoch oder niedrig stellen sollte. E2. E2. Nun ja ... Das sieht doch sehr nach einer Formel aus. Chemischphysikalischmathematisch. Allerdings, in materieller Hinsicht ließe sich unsere Existenz durchaus auf eine solche Formel bringen. Aber das schmeckt mir nicht. Das schmeckt mir so nicht. Ich glaube, ich sollte mir besser Mühe geben einen solchen Bezeichnungsnotstand gänzlich zu vermeiden. Das sollte doch wohl machbar sein. E2 ... also irgendwie ... irgendwie nicht schlecht. Irgendwie nun aber doch nicht schlecht. Das erscheint einfach und übersichtlich. Was bist du, Mensch? E2. So einfach ist das. Wenn das mal so einfach wäre ...

Wo waren wir stehengeblieben? Bei Elsa natürlich. Nein, normal ist sie nicht. Aber das mit den Augen führen wir darauf zurück, dass sie eine Sehschwäche hat und ihre Umgebung nicht besonders gut, vielleicht sogar nur schemenhaft wahrzunehmen vermag.

So bewegt sie sich auch. Sehr sparsam. Und sehr konzentriert. Von Punkt A über Punkt B nach Punkt C nach Punkt D. Plop. Plop. Plop. Nicht zu überhören. Artikulierte Sprünge. Bei jedem anderen Chinchilla wäre das eine einzige fließende Bewegung. Der flöge nur so dahin und es wäre kein Hauch zu spüren.

Auch ansonsten verhält sich Elsa möglichst ökonomisch. So ein paar Spaßrunden durchs Zimmer, wie sie die anderen gerne absolvieren, sieht man von ihr nie.

Ich glaube, dass Elsas Sehschwäche, vielleicht ist es ja so eine Art von Weitsichtigkeit, mit ihrem Wirken, ihrer Berufung als Mondschamanin zusammenhängt. Ihr Blick ist in die Ferne gerichtet. In eine ziemliche Ferne. Darum auch blickt sie durch alles hindurch. Unerschütterlich. Sich ihrer Rolle bewusst.

Und wer jetzt meint, dass ich ein bisschen viel Aufwand betrieben, ein bisschen arg viel herumgerödelt hätte, und dass ihm Elsas Augen egal sein können, der irrt. Elsas Augen bestimmen unser Leben.

Außerdem geht es jetzt erst richtig los!

Es folgen ein Becher Kaffee und eine Zigarette. Dazu ein Schluck Whisky (es ist mittlerweile Abend geworden), den habe ich mir verdient. Dalwhinnie. Das ist die höchst gelegene Distillery Schottlands, auf halbem Wege zwischen Perth und Inverness. Dalwhinnie ist Gälisch und heißt so viel wie meetingplace, Treffpunkt also, weil sich hier in alten Zeiten die Highlander zu versammeln pflegten. Und was auch immer sie dabei ausgeheckt haben mögen, dem Whisky werden sie in rauen Mengen zugesprochen haben. Der ist aber auch fabelhaft. Den hat Patty mir mal mitgebracht, ich bezweifle, dass der hierzulande zu bekommen wäre. Noch einen Schluck aus der Pulle (bloß kein Brimborium mit Glas und Eis!). Einfach fabelhaft.

Ackermann 2: Ackermann tanzt ...

auf mehreren Hochzeiten, versteht sich.

Er packt alles in trockene Tücher

und hat seine Hausaufgaben gemacht.

Die Karawane zieht weiter

während er

die Zügel im Griff

mit ruhiger Hand

die Reihen fest zusammenhält.

Er denkt gar nicht daran kleine Brötchen zu backen.

Das ist alles Peanutbutter.

Dasha 2: Bei der Curandera

Dasha kann Harburg nicht ausstehen. Eigentlich ist es ihr egal. Total langweilig. Aber sie kann es nicht ausstehen. Das liegt daran, dass sie nur dorthin fährt, wenn sie die Curandera besucht. Und wenn sie die Curandera besucht, geht es ihr schlecht. Also ist auch alles andere mies.

Immerhin ist Lupe mitgekommen. Die hatte gemeint, dass sie ihre Mutter seit einer Ewigkeit nicht gesehen hätte. Wäre mal wieder Zeit. Außerdem verspricht sie sich wohl einen Riesenspaß dabei. Lupe ist so. Schrill und oberflächlich. Aber sie ist in Ordnung. Und wahrscheinlich mag sie sie gerade deshalb so gerne leiden. Das steckt an und lenkt ab und tut ihr gut. Lenkt ab von der Grübelei. Grü - beln. Schwieriges Wort. Über solche Worte stolpert sie noch immer.

Sie hatten sich in dem kleinen spanischen Café getroffen. Caféchen. Viel Platz hat der Laden nicht. Drei winzige runde Tischchen mit jeweils zwei wackligen Stühlchen dabei. Ein klitzekleiner Tresen. Darauf die Vitrine mit den Leckereien. Sie kommt gerne hierher. Der spanische Kaffee ist gut. Lupe hat gleich vier von diesen Natas verschlungen. Vier! Vanillecremetörtchen. Die reinsten Kalorienbomben. Sie selbst hat sich ein Stück von einer Gemüsequiche warm machen lassen. Das reicht erst mal. Für unterwegs wird sie sich dann noch eine Tüte mit Obst besorgen.

Lupe sieht ganz danach aus, als könnte sie noch vier von diesen Törtchen vertragen. Sie selbst hat den Süßkram noch nie leiden mögen. Obst – ja. Erdbeeren mag sie besonders gerne. Vielleicht gibt es ja schon welche. Aus Griechenland oder Spanien. Hiesige werden es wohl noch nicht sein. Egal. Schmecken trotzdem. Schmecken allemal.

Jetzt sitzen sie in der Bahn. Lupe trägt ein schreiend pinkfarbenes Sportdress, oder was auch immer das vorstellen soll. Dazu passende Sportschuhe. Eigentlich unmöglich, dieses Outfit. Aber ihr steht es. Passt gut zu ihrer dunklen Haut. Hübsch ist sie ja. Aber mit ihrer Futterei, das wird kein gutes Ende nehmen. Vier Natas! Das macht die immer so. Lauter solche Sachen. Süße, klebrige Törtchen. Je bunter und je mehr Zuckerguss, desto besser. Und Fritten und Burger. Haufenweise Ketchup und Mayonnaise. Dick und fett wird sie werden. Wie ihre Mutter. Kugelrund. Die war bestimmt auch mal so hübsch wie ihre Tochter, das kann man noch sehen. Was wird Lupe tun, wenn sie auch so kugelrund geworden ist? Curandera werden? Nutte sein, solange man jung und schön und schlank ist, und dann – Curandera? Eine Hexe. Das ist ja nichts anderes als eine Hexe. Für sie wäre das nichts. Ihr würde das nicht gefallen. Am liebsten würde sie genug verdienen, um dann gar nichts mehr tun zu müssen. Am besten ganz weit weg. Noch weiter als weit.

Hammerbrook. Scheußlich. Lupe hat ihre Stöpsel im Ohr und schnippt und schnalzt mit den Fingerspitzen, wippt mit den Füßen, bewegt ihren ganzen Körper zur Musik. Salsa. Nicht zu überhören. Sie hat voll aufgedreht, natürlich. Oder Merengue, wenns aus der DomRep ist. So genau kann sie das nicht unterscheiden. Das sind so die Feinheiten, die die da in der Karibik machen. Aber die Musik ist immer gut. Nur darauf kommt es an. Salsa, Merengue ... mag sie auch. Nach Cuba könnte man gehen, vielleicht ... wenn da nicht ... ach, egal ... ja, die Karibik würde ihr schon gefallen.

Die Stöpsel und ihr Wippen und Schnippen halten Lupe nicht davon ab pausenlos zu plappern. Von ihrem ganz süßen neuen Freund erzählt sie – natürlich, die sind immer ganz süß – dem es überhaupt nichts ausmacht, dass sie eine Nutte ist – natürlich, das macht ihnen nie etwas aus – bis irgendwann das Chaos losbricht, das ist bei Lupe immer so, immer endet das im totalen Chaos, das erlebt sie jetzt schon zum x-ten Male, da braucht man gar nicht mitzuzählen, wozu auch, das geht immer wieder von vorne los, zwei Tage lang ist sie das heulende Elend und stopft sich mit Pralinen voll und dann zieht sie wieder los in die Clubs als ob nichts gewesen wäre.

Sie kann sich nicht vorstellen, dass das alles spurlos an Lupe vorbeigeht, aber die lässt sich nichts anmerken. Die muss ein ganz schön dickes Fell haben.

Eigentlich beneidet sie Lupe. Die alles so leicht nimmt. Oder doch nicht? Wer kann da schon rein sehen? Wenn sie an sich selbst denkt, jemand, der sie auf der Straße sähe, oder hier in der S-Bahn, mit der fröhlich plappernden Lupe zusammen, und wie sie sich die Erdbeeren munden lässt, nein, da käme auch niemand auf die Idee, da würde auch niemand vermuten wie es in ihrem Kopf aussieht, mit was für Problemen sie sich rumzuschlagen hat. Es war alles so unsagbar beschissen. Sie hätte schon wieder losheulen können. Die Curandera. Sie musste helfen.

Das Geplapper tut ihr gut. Das lenkt sie ab. Dieser ewige Liebeskummer, wenn es überhaupt Liebeskummer ist, sie hat da so ihre Zweifel, davon wenigstens bleibt sie verschont, seit damals jedenfalls hat sie sich nicht mehr verliebt, nicht mehr verlieben können, eine ganze Weile hat sie sogar darauf geachtet, dass sie sich nur ja nicht mehr verliebt, aber es wäre sowieso nichts, da war sowieso nichts mehr in ihr, wahrscheinlich könnte sies gar nicht mehr, irgendwie schade und irgendwie gut, so recht weiß sie es nicht, sie hat auch keine Erinnerung, auch daran hat sie keine Erinnerung mehr, alles weg, alles im Nebel ... War es schön? Schön muss es gewesen sein, damals ... davor ... ja, es war eine schöne Zeit, eine wilde Zeit ... nein, sie will nicht ...

Sie schüttelt den Kopf. Lupe bezieht das auf sich.

„Doch, doch“ sagt sie, „bei dem Wetter macht Beach-Club richtig Fun“. Die ist schon ganz woanders. Nein, einen Freund braucht sie nicht. Nicht in ihrem Zustand. Ballast. Würde alles nur komplizierter machen. Noch komplizierter. Kann sie nicht gebrauchen.

Veddel. Und Sex? Ihre Kunden sind durchaus brauchbar, was den Sex betrifft. Und wenn sie nicht brauchbar sind, sind sie wenigstens erträglich. Schlimmer als erträglich wird es nie. Ausgewählte Kundschaft. Genauso betucht, wie sie teuer ist. So hat es Penelope mal gesagt. Die kommt auch aus der Karibik. Woher? Grenada ... genau, von Grenada kommt sie. „Unsere Kunden sind so betucht, wie wir teuer sind“ hat sie gesagt. So soll es auch sein. Das alles ist gut so. Das wenigstens. Nein, keinen Freund. Sie hat ja die Tiere. Das ist besser. Das ist viel, viel besser. Unkompliziert. Die werden immer zu ihr stehen. Das hilft. Manchmal hilft das schon. Sie muss lächeln. Ja, mit den Tieren, das ist schön.

Lupe hat sie lächeln sehen. Sie sagt was. „Was?“, „Geht dir doch schon besser, oder?“, „Ja, ja – schon ...“, „Mamita kriegt das hin, wirst schon sehen.“ Mamita. Lupe weiß Bescheid. Natürlich weiß sie Bescheid. Sie kommt sich richtig dämlich vor. Was die wohl untereinander über sie reden werden? Ach, Blödsinn. Gar nichts, wahrscheinlich. Lupe ist nicht so. Nicht, was das betrifft. Darüber redet sie nicht. Das würde sie nicht tun. Es interessiert sie wohl auch gar nicht. Nein, eine Curandera wird Lupe wohl doch nicht werden ... keine Hexe ...

Wo sind sie denn jetzt? Wilhelmsburg. Grässlich. Hammerbrook – Veddel – Wilhelmsburg. Allein schon die Fahrt nach Harburg ist abartig. Diese ganzen Bürohäuser und Lagerschuppen. Diese ganzen Kanäle und der Hafen dahinter. Ein Labyrinth. Das kam ihr alles zu unbestimmt vor. Undurchsichtig. Sie überkommt da immer so ein Gefühl der Beklommenheit. Enge. Ja. Ihr wird ganz eng zumute. Das Herz schnürt sich zusammen. Irgendwo da konnte Pawel lauern, irgendwo da mochte er sich versteckt halten, auf seine Rache lauern, eine günstige Gelegenheit abpassen. In diesem Gewimmel von Containern, Speicherschuppen und Kais. Das ist alles nur chaotisch. Bekommt ihr gar nicht. Sie kriegt wieder so ein Down-Gefühl. Sie merkt schon, wie es in ihr hochkriecht ...

Harburg. Endlich. Aber sie müssen noch bis Harburg Rathaus weiter. Fürchterlich. Die ganzen Erdbeeren hat sie aufgegessen während der Fahrt. Sie faltet die Pappschachtel zusammen und stopft sie in den Müllbehälter. Sie denkt gar nichts mehr. Sie will auch gar nichts mehr denken. Die Bahn rattert und quietscht jetzt unterirdisch weiter. Sie will nichts mehr denken ...

Sie sind da. Lupe stürmt zur Tür. Die wird sich bestimmt gleich eine anstecken wollen. Das kommt ja noch obendrauf. Der Süßkram und dann auch noch rauchen. Nicht gut für den Teint. Na, Lupe scheint es nichts auszumachen. Die steckt sich tatsächlich gleich auf dem Bahnsteig eine an. Der ist natürlich rauchfrei, wie jetzt überall. Lupe dampft. Wirft ein seliges Lächeln in die Runde. Die Jungs sehen sich nach ihnen um. Sie beide wiegen sich noch ein bisschen mehr in den Hüften. Es soll ihnen doch was geboten werden. Ganz einfache Wirkung. Routine. Strahlendes Lächeln. Raus aus dem Bahnhof. Nur noch ein paar Straßenzüge.

Wann ist sie denn das letzte Mal hier gewesen? Das wird auch schon ein paar Monate her sein. Letztes Jahr jedenfalls. Lupe erzählt wieder von ihrem süßen Freund. Sie nimmt sie in den Arm. Lupe ist schon in Ordnung. Es geht ihr jetzt auch wieder etwas besser. Sie hat sich gefangen. Die frische Luft tut ihr gut. Die Curandera ... sie wird helfen ...

Lupe erzählt und sie denkt so vor sich hin ... denkt an nichts ... denkt an Luft ... denkt ... Oh, mein Gott, was ist denn das? Am Straßenrand liegt eine Schwinge. Der komplette Flügel eines Vogels. Mit dem Gelenk herausgerissen. Da klebt noch ganz frisches Blut dran.

Ganz frisches Blut. Sie getraut sich nicht noch einmal da hinzusehen. Aber jetzt steckt es natürlich fest im Kopf. Das war ganz eindeutig. Eine komplette Schwinge. Von einer Taube wahrscheinlich. Ihr wird schwindelig. Schweiß bricht aus, ihr dreht sich der Magen um. Das ist schlimm. Das ist fürchterlich. Was ist mit der Taube geschehen? Wie kam es dazu? Ist das nun ein gutes Vorzeichen oder ein schlechtes? Wie kann sie so etwas nur denken? Das arme Tier. Wie sollte so etwas ein gutes Vorzeichen sein? Ihr ist so schlecht. Lupe hat natürlich nichts mitbekommen.