DIE UNSICHTBARE HAND - EIN FALL FÜR SUGAR KANE - John Cassells - E-Book

DIE UNSICHTBARE HAND - EIN FALL FÜR SUGAR KANE E-Book

John Cassells

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Beschreibung

Von früh an war es feucht und kalt gewesen - ein typischer, grauer Novembertag mit Regen und schneidendem Ostwind. Kane stand am Fenster seines Büros, Proud Lane 44, und blickte in das Stückchen Hinterhof, das von dort aus zu sehen war. Nässe tropfte von allen Mauervorsprüngen, und trübe Dämmerung verwischte die Tageszeit.

Es war ungefähr ein Uhr mittags. Kane fröstelte ein wenig, worauf er sich wieder einmal klarmachte, wieviel glücklicher er sich preisen konnte als mancher andere. Er hatte immerhin sein eigenes, gemütliches kleines Büro, einen Kamin, an dem es sich gut sitzen und in die Flammen schauen ließ, und - so oft er wollte und konnte - ein ordentliches Essen in Johnny Antrades Restaurant...

 

Der Roman Die unsichtbare Hand - Band 2 der fünfbändigen Reihe um den Londoner Privatdetektiv Donny 'Sugar' Kane - des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym von Bestseller-Autor William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962 (unter dem Titel Warnung vor Toby Green).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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JOHN CASSELLS

 

 

Die unsichtbare Hand

Ein Fall für Sugar Kane

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE UNSICHTBARE HAND 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

 

Von früh an war es feucht und kalt gewesen - ein typischer, grauer Novembertag mit Regen und schneidendem Ostwind. Kane stand am Fenster seines Büros, Proud Lane 44, und blickte in das Stückchen Hinterhof, das von dort aus zu sehen war. Nässe tropfte von allen Mauervorsprüngen, und trübe Dämmerung verwischte die Tageszeit.

Es war ungefähr ein Uhr mittags. Kane fröstelte ein wenig, worauf er sich wieder einmal klarmachte, wieviel glücklicher er sich preisen konnte als mancher andere. Er hatte immerhin sein eigenes, gemütliches kleines Büro, einen Kamin, an dem es sich gut sitzen und in die Flammen schauen ließ, und - so oft er wollte und konnte - ein ordentliches Essen in Johnny Antrades Restaurant...

 

Der Roman Die unsichtbare Hand - Band 2 der fünfbändigen Reihe um den Londoner Privatdetektiv Donny 'Sugar' Kane - des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym von Bestseller-Autor William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962 (unter dem Titel Warnung vor Toby Green).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  DIE UNSICHTBARE HAND

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Von früh an war es feucht und kalt gewesen - ein typischer, grauer Novembertag mit Regen und schneidendem Ostwind. Kane stand am Fenster seines Büros, Proud Lane 44, und blickte in das Stückchen Hinterhof, das von dort aus zu sehen war. Nässe tropfte von allen Mauervorsprüngen, und trübe Dämmerung verwischte die Tageszeit.

Es war ungefähr ein Uhr mittags. Kane fröstelte ein wenig, worauf er sich wieder einmal klarmachte, wieviel glücklicher er sich preisen konnte als mancher andere. Er hatte immerhin sein eigenes, gemütliches kleines Büro, einen Kamin, an dem es sich gut sitzen und in die Flammen schauen ließ, und - so oft er wollte und konnte - ein ordentliches Essen in Johnny Antrades Restaurant.

Er zog seinen schäbigen alten Trenchcoat an, rückte den Hut auf den Hinterkopf und begab sich auf die Straße hinunter. Beim Gehen hielt er sich dicht an den Hauswänden, um sich nach Möglichkeit vor dem Regen zu schützen. Das Lokal war nur sechs oder sieben Minuten weit entfernt, und als Kane eintrat, sah er Johnny Antrade wie üblich hinter der Theke stehen und Gläser auf Hochglanz polieren. Johnny war ein gewichtiger Mann mit rosigem Vollmondgesicht. In dem blütenweißen Jackett, das er während der Geschäftsstunden zu tragen pflegte, wirkte er immer ungemein sauber und appetitlich. Kane sehen und ihm ein bereitstehendes Glas hinschieben, war ein und dasselbe.

»Hallo, Donny. Wie geht’s?«

Kane schüttelte die Nässe aus seinem Trenchcoat. »Mies. Ich habe mich den ganzen Vormittag mit Buchführung geplagt. Das kommt davon, wenn man sich einen Aktenschrank anschafft.«

»Das Geschäft scheint aber zu blühen, was?«

Kane grinste. Er lächelte oft mit den Augen und selten mit dem Mund. Jetzt aber strahlte er unverhohlen. »Es macht sich, Johnny. Ich habe gerade einen netten kleinen Fall aufgedröselt. Sechshundert sind dabei für mich herausgesprungen. Nicht schlecht.«

»Darauf müssen wir einen heben«, erklärte Antrade. Er schenkte sich selbst ein Glas ein, was bei ihm eine ungewöhnliche, bedeutsame Geste war. »Auf den nächsten, Donny!« Er leerte das Glas zur Hälfte und stellte es wieder hin. »Was Sie jetzt am dringendsten brauchen, ist ein bisschen Hilfe. Suchen Sie sich endlich einen zuverlässigen Kompagnon für den Außendienst. Die viele Herumlauferei nimmt Ihnen doch zu viel Zeit weg.«

»Stimmt. Ich habe auch schon daran gedacht.«

Antrade nickte mehrmals zur Bekräftigung. »Ist das einzig Richtige. Ohne Hilfskräfte kommt man auf die Dauer nicht weiter. Zuerst hat man natürlich etwas weniger Reingewinn, aber dann zahlt es sich aus, doppelt und dreifach, weil man mehr erledigen kann. Ich spreche aus Erfahrung. Bei mir ist es ja dasselbe. Ich könnte Bert und Len entlassen und den Laden allein mit Cibber schmeißen. Aber für wie lange?« Sein Nicken ging in ausdrucksvolles Kopfschütteln über.

»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte Kane. »Danke schön, Johnny.«

Er ging an seinen Stammtisch, wo Cipper, der langjährige Oberkellner, eben einen Teller Tomatensuppe hinstellte, dazu einen halben Meter Roggenbrot und eine große Portion Käse.

Kane klopfte ihm auf die Schulter. »Zuvorkommend wie immer, Cibber. Wie geht’s?«

»So lala, Mr. Kane. Dieser Rheumatismus... Sie wissen ja. Was soll man bei dem ewigen Regen anderes erwarten. Biskuits?«

»Danke, nein. Eine Flasche Bier, weiter nichts.«

Cibber entfernte sich, und Kane begann seine Suppe zu löffeln. Er war noch nicht damit fertig, als Vickery in der Tür erschien und suchend umherblickte. Als er Kane entdeckte, kam er zum ihm hinüber. 

Vickery war Kriminalinspektor, ein etwas zu magerer Mann mittlerer Größe, der so gescheit und tüchtig aussah, wie er war. Er stand einen Moment am Tisch und sah auf Kane nieder, bevor er sich bemerkbar machte.

»Hallo, Donny.«

Kane blickte auf. »Setz dich und iss mit.«

»Leider keine Zeit.«

»Dann setz dich und trinke etwas.«

Vickery grinste flüchtig, setzte sich, ohne erst den Regenmantel abzulegen, stellte seinen verbeulten alten Hut neben sich auf den Fußboden und rief dem vorbeieilenden Cibber zu: »Ein Helles, bitte.«

Cibber brachte es, und Vickery nahm andächtig den ersten Schluck. »Bier ist doch ein Labsal, Donny. Sollte man sich viel öfter gönnen. Das Dumme ist nur, dass es Geld kostet, und du weißt ja, welche Reichtümer man bei der Polizei scheffelt.«

»Ist mir hinlänglich bekannt.«

Vickerys dunkle Augen glitzerten. »Wie ich höre, hast du dich in letzter Zeit ganz gut herausgemacht.«

»Richtig. Ich hatte einen netten kleinen Auftrag von Wayne und Selby. Eine kommerzielle Sache. Derlei bringt immer was ein. Der Prokurist sagte mir, sie wollen mich für weitere Fälle im Auge behalten; sie brauchen ja alle naselang irgendwelche Auskünfte. Sehr angenehm für mich, Vick.« Kane sah seinen Freund gerade an. »Übrigens hat mir Collins noch etwas anderes gesagt. Der Mann, der ihm die Detektiv-Agentur Kane empfohlen hätte, wäre ein Kriminalinspektor namens Vickery gewesen. Das war nett von dir, Vick. Danke.«

»Keine Ursache. Er ist gekommen und hat uns gefragt. Wir haben keine Vetternwirtschaft getrieben. Du warst einfach der beste Privatdetektiv, den wir wussten. Folglich hast du den Job gekriegt.«

»Trotzdem danke«, sagte Kane. »Wenn du mal eines Tages selber Hilfe brauchst, lass es mich wissen.«

Vickery trank sein Bier aus, bestellte noch eins und grinste dann über das ganze dunkle, hohlwangige Gesicht. »Du wirst lachen, - dein freundliches Angebot kommt mir gerade recht. Ich bin im Moment ein einziger Hilfeschrei, wie ich hier sitze.«

»Im Ernst?«

»Ernst genug.«

»Um wen oder was handelt es sich?«

Vickery sah sich kurz nach allen Seiten um. »Joe Kyloe«, sagte er dann gedämpft.

»Ach nein! Ich habe Kyloe seit sechs oder sieben Monaten nicht mehr gesehen. Als ich zuletzt von ihm hörte, soll er in Manchester gewesen sein. Aber vielleicht stimmte das nicht.«

»War schon richtig. Jetzt ist er wieder da.« Vickery knetete fröstelnd seine langen, knochigen Hände. »Wir suchen ihn wegen eines Einbruchs in Esher. Das Verzwickte daran ist, dass Toby Green ihn gerade ebenfalls zu suchen scheint.«

»Mit Toby Green ist schlecht Kirschen essen.«

»Wissen wir, wissen wir«, erwiderte Vickery achselzuckend. »Kyloe weiß es auch, und das bedeutet, dass er in einer verdammten Klemme steckt. Beim ersten falschen Schritt streckt Green seinen langen Arm aus, und eines Tages lesen wir Kyloe mausetot von der Straße auf. Das wäre schlimm. Erstens gäbe es für uns grässlich viel Mehrarbeit, und zweitens ist Kyloe einer der nettesten kleinen Gauner, die ich kenne. Ich möchte ihn nicht abgemurkst sehen.«

»Ich auch nicht«, stimmte Kane zu. »Was soll ich nun dabei tun?«

»Du könntest ihn warnen. Du hast die Möglichkeit, dich privat mit ihm zu unterhalten, was wir eben leider nicht können.«

»Hast du schon einen Haftbefehl?«

»Nein. Nicht mal einen Zeugen. Aber wir wissen, dass er das Ding in Esher gedreht hat. Wenn er sich freiwillig stellt, wird er für höchstens zwei Jahre verknackt. Tut er es nicht, lebt er vielleicht nur noch zwei Wochen. Irgendwer sollte ihm das sagen.«

»Irgendwer - das heißt also, ich?«

»Es wäre eine große Hilfe«, sagte Vickery nüchtern. »Wenn er wüsste, was wir wissen, käme er im Galopp. Aber unsereiner würde ihn nur verscheuchen. Er ist allergisch gegen alles, was nach Polizei riecht. Darum müssen wir einen anderen Weg zu seinem Heil finden.«

Kane holte seine Pfeife aus der Tasche, stopfte sie und zündete sie an. »Demnach soll ich ihn suchen und ihm gut zureden, damit er sich einsperren lässt?«

»Ganz richtig. Auf dich hört er vielleicht. Bei einem Polizisten würde er nur eine Falle vermuten.«

»Bei dir aber doch nicht.«

Vickery schüttelte resigniert den Kopf. »Aussichtslos. Ich finde überall nur verschlossene Türen und verkniffene Münder. Keiner will je was gesehen, gehört oder gewusst haben. Ich bin eben das Auge des Gesetzes. Das lieben die wenigsten. Wir werden herumgeschubst, verkohlt, bewitzelt, bis auf einmal Not am Mann ist. Dann werden wir geholt und dürfen die Püffe einstecken weil wir ja dafür bezahlt werden.« Vickery sagte das alles ohne besondere Bitterkeit, nur mit einem gewissen leidgeprüften Zynismus. »Na, da hilft nichts, Donny, man muss sich damit abfinden. Tust du mir den Gefallen?«

»Ich will tun, was ich kann. Weißt du etwas Neues über Kyloe?«

Vickery nippte brütend an seinem Glas. »Er soll in Feldmans Laden in der Lent Row gesehen worden sein. Wäre schon möglich. Ich habe mich da nicht selber umgesehen, um ihn nicht kopfscheu zu machen. Du könntest ja mal nachfragen.«

Kane nickte. »Ich kenne den Laden. Wie soll ich mich verhalten, wenn ich Kyloe finde?«

»Erzähle ihm einfach, was ich dir gesagt habe. Warne ihn vor Toby Green.«

»Und du glaubst wirklich, dass gutes Zureden hilft?«

»Ich hoffe es«, seufzte Vickery. »Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es. Kyloe kennt dich, Donny, wie alle diese Typen dich kennen. Er weiß, du bist in Ordnung. Dir wird er glauben. Was er dann tut, ist seine Sache. Vielleicht hat er nicht solche Angst vor Toby Green, wie ich an seiner Stelle hätte. Vielleicht kennt er Leute, die ihm den Rücken stützen. Glaube ich aber nicht. Jedenfalls sollte er wissen, was ihm von Green aus blühen kann. Wir haben dann wenigstens das Menschenmögliche für ihn getan.«

»Das ist wahr.«

Vickery beugte sich vor und tupfte mit dem Zeigefinger zwei Käsekrümel von der Tischdecke auf. »Gut«, sagte er kostend. »Ich hab’s gern, wenn Käse ein bisschen scharf ist. Also nun weißt du, was du zu tun und zu sagen hast, Donny.« Er grinste wieder. »Und nebenbei fällt natürlich der Ruhm für mich ab, den Esher-Fall schnell gelöst zu haben. Ich stehe vor meinen Vorgesetzten als gewissenhafter und strebsamer Nachwuchs da.« Er stand auf.

»Ich werde mich bemühen, Vick«, versicherte Kane. »Sobald was zu berichten ist, rufe ich dich an. Ich werde all meine Beredsamkeit aufwenden, damit er sich selbst stellt. Wenn nicht...«

Vickery fuhr sich vielsagend mit dem Zeigefinger quer über den Hals.

»Aber was wird mit ihm, wenn er aus dem Gefängnis kommt?«, fragte Kane.

»Bis dahin vergehen mindestens anderthalb Jahre. In anderthalb Jahren kann viel passieren, besonders mit einem Verbrecher vom Schlage Greens. Sollte Kyloe nach meiner Meinung fragen, so sage ihm, ich an seiner Stelle würde es darauf ankommen lassen.« Vickery schob seinen Wollschal zurecht, knöpfte den oberen Mantelknopf zu und versenkte die Hände in die Taschen. »Schönen Dank für das Bier, Donny«, sagte er und ging hinaus.

Kane sah ihm nach und sinnierte ein Weilchen. Vickery war ein vorzüglicher Kriminalbeamter, nach Kanes Überzeugung einer der besten von ganz London, wenn nicht Englands. Sicher würde er über kurz oder lang nach Scotland Yard berufen werden und dort steil emporsteigen. Es sah Vickery ähnlich, für einen gefährdeten kleinen Gauner ein gutes Wort einzulegen, um ihn zu retten. Kyloe verdiente kein zu arges Schicksal. Er war zwar sein Leben lang krumme Wege gegangen; aber davon abgesehen war er ein gutmütiger und netter Kerl.

Kane stand auf, zog seinen Trenchcoat an und ging zur Theke, wo er Johnny Antrade eine Pfundnote hinlegte.

»Kommen Sie heute Abend wieder?«, fragte Antrade, indem er das Wechselgeld aus der Kasse nahm. »Es gibt Rumpsteak mit Pilzen.«

»Möglich«, sagte Kane, nahm sein Kleingeld und verließ das Lokal.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Kane stieg an der Station Notting Hill aus der Untergrundbahn. Er vergrub die Hände in den Manteltaschen und nahm aufs Neue den Kampf mit dem durchdringenden Nieselregen auf. Nach einem Weg von etwa zehn Minuten blieb er vor einem düsteren, heruntergekommenen Laden stehen und musterte durch das einzige schmutzige Schaufenster das Durcheinander von Werkzeugen, Teekannen und anderen Haushaltartikeln, das hier ausgestellt war. Auf einem Pappschild standen, mit ungelenker Hand gemalt, die Worte Hier werden Schlüssel angefertigt, auf einem anderen Scheren-, Messer-, Sägen-Schleiferei.

Kane ging hinein. Ein langer, hagerer Mann, der ein schwarzes Hemd und eine rote Krawatte trug, stand hinter dem Ladentisch und wischte den Staub von einer großen weißen Terrine.

»Ein Gelegenheitskauf, Mrs. Richler«, sagte er zu der Kun- din, mit der er gerade verhandelte. »Nur weil Sie es sind... Normal kostet sie mindestens zwölf-sechs.«

»Sagen Sie«, erwiderte Mrs. Richler ungerührt. »Na, ich nehme sie trotzdem. Bei dem nassen Wetter ist mir der Weg zu Tempton zu weit. Sie können mir die Terrine ein wickeln, Mr. Feldman.«

Feldman holte einen Bogen zerknittertes braunes Packpapier, das offenbar schon öfters benutzt worden war, und machte ein kunstloses Paket.

»Bitte sehr, Madam. Jederzeit gern zu Diensten. Auf Wiedersehen.« Er komplimentierte die Kundin hinaus und wandte sich dann Kane zu. Er erkannte ihn auf den ersten Blick, und Kane wusste, dass er erkannt worden war; aber alles, was Feldman sagte, war ein unverbindliches: »Sie wünschen, Mister?«

»Etwas Spezielles, Feldman. Ich wünsche Joe Kyloe zu sprechen.«

Feldman starrte Kane einen Moment stumm mit dunklen Augen an. Endlich fragte er: »Müsste ich Sie kennen, Mister?«

»Sie müssten nicht nur, Sie tun es.«

»Ich weiß nicht recht...«

»Mein Name ist Kane. ,Donny‘ Kane. Nun erzählen Sie mir bloß nicht, Sie hätten ihn vergessen.«

Die dunklen Augen wanderten forschend über Kanes Züge. »Nein. Jetzt erinnere ich mich. Sie sind so ein Herumhorcher. Ich brauche keinen Privatdetektiv.«

»Sie nicht. Aber Kyloe.«

»Ich weiß nichts von Kyloe. Hab den Burschen mindestens vier Monate nicht gesehen. Kann auch ein halbes Jahr sein.«

»Nun hören Sie mal zu, Feldman«, sagte Kane geduldig. »Sie kennen mich. Ich kenne Sie. Wir beide kennen Joe Kyloe. Joe ist ein kleiner Gauner, aber im Übrigen eine Seele von Mensch.««

»Und?«

»Ich möchte ihm eine Nachricht übermitteln.«

Feldman dachte nach. »Warum kommen Sie damit gerade zu mir?«

»Weil ich annehme, dass Sie ihn nicht unnötigen Gefahren aussetzen wollen.«

»Polizei?«

Kane zuckte die Achseln. »Nein, nicht die Polizei. Benachrichtigen Sie ihn, aber schnell. Wenn es nicht schnell geht, garantiere ich für nichts. Wie lange brauchen Sie, um die Verbindung mit ihm herzustellen?«

Feldman spielte geistesabwesend mit einem Bleistift. »Donny«, sagte er, »wenn Sie es nicht wären, würde ich mich nicht rühren, verstehen Sie? Aber ich will’s versuchen. Gehen Sie ein bisschen spazieren und kommen Sie in einer Stunde wieder. Versprechen kann ich nichts, aber...«

Sie lächelten einander in stillem Einverständnis an.

Kane sah auf die Uhr. »In einer Stunde also. Passt mir gut, Feldman.« Er ging auf die Straße zurück, stand einen Moment unentschlossen im Regen und wählte dann die Richtung, in der er einen Zeitungskiosk sah. Er kaufte eine Zeitung, sah sich nach einem Lokal in der Nähe um und trat in das erstbeste ein, das er fand.

Es war klein, aber sauber. Kane bestellte ein Kännchen Tee, und während er darauf wartete, sah er einen Gast am Neben tisch eine leckere walisische Pastete verspeisen. Das Wasser lief Kane derartig im Munde zusammen, dass er nicht umhin konnte, sich ebenfalls eine bringen zu lassen. Er bereute es nicht. Als er mit diesem Extragenuss fertig war, zündete er sich ein Pfeifchen an, nahm die Zeitung vor und verbrachte eine gemütliche halbe Stunde. Dann begann er wieder an Vickery zu denken.

Es war gut, einen Freund wie Vick zu haben. Kane fragte sich nur, was Kyloe zu seinem Vorschlag sagen würde. Möglicherweise sträubte er sich, aber er, Kane, musste nun jedenfalls nach besten Kräften das Seinige tun. Er stand auf, zahlte, ließ die Zeitung zum Wohl der Allgemeinheit zurück und ging wieder zu Feldman.

Diesmal waren keine Kunden da. Feldman stand allein hinter dem Ladentisch, von Waschbrettern, Schraubenziehern und Werkzeugkästen stimmungsvoll umrahmt. Er rauchte eine Zigarette, die er bei Kanes Erscheinen gar nicht erst aus dem Mund nahm. Offenbar lohnte es sich nicht für das wenige, was er zu sagen hatte.

»Okay, Donny. Er erwartet Sie. Ich hoffe, Sie meinen es wirklich gut mit ihm.«

»Worauf Sie sich verlassen können. Wo?«

»Twist Court 24. Kyloe hat da ein möbliertes Zimmer bei einer alten Dame, Mrs. Tasker. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen«, fügte er mit besorgter Miene hinzu.

»Genügt schon«, sagte Kane. »Machen Sie sich keine Kopfschmerzen deswegen. Ich habe Kyloe einen wichtigen Tip zu geben. Er wird sich nachher bei Ihnen bedanken. Ich tue desgleichen.«

Er grüßte und ging.

Twist Court war, wie er wusste, höchstens eine Viertelstunde entfernt - ein enges Gäßchen, das aus einem Dutzend Häusern und zwei Läden bestand und an der Bahnunterführung endete. Kane fand mühelos Nummer 24, stieg eine ausgetretene Treppe empor und stockte vor der ersten Tür links, an der ein Messingschildchen den Namen H. Tasker trug. Bedachtsam drückte er den Klingelknopf. Nach wenigen Sekunden näherten sich schlurfende Schritte, innen wurde ein Schlüssel umgedreht, und die Tür öffnete sich.

Eine dicke alte Dame beäugte Kane misstrauisch von oben bis unten. »Bitte?«

»Ich möchte Joe besuchen.« Da die Alte ihn nur wortlos anstarrte, stellte er sich vor: »Kane ist mein Name. Joe erwartet mich.«

»Ist schon recht, Mrs. Tasker«, rief eine Stimme aus der Wohnung. »Lassen Sie ihn rein.«

Mrs. Tasker trat vom Türspalt zurück und ließ Kane vorbei. Von der winzigen Diele zweigten rechts und links Türen ab. Eine war offen, und Kane sah, gegen das Licht abgezeichnet, Kyloes unverkennbare Silhouette im Türrahmen.

Joe Kyloe war kurzbeinig, untersetzt und freundlich. »Nur hereinspaziert, Donny.« Er schloss die Tür hinter seinem Gast und wies auf einen alten Lehnstuhl. »Nehmen Sie Platz. Ich setze mich solange auf die Bettkante.«

Die Gesamteinrichtung des kleinen Zimmers bestand aus einem Bett, dem bereits erwähnten schadhaften Sessel, einem Kohlenkasten neben dem Kamin, einem Sperrholz-Kleiderspind und einem altersschwachen Radio. Kyloe stocherte im Kamin herum, worauf jedoch nichts als ein schwärzliches Rauchwölkchen erschien. »Was die einem für Kohlen andrehen, Donny«, bemerkte er traurig. »Das nennt sich soziale Verantwortung. Und dann stecken sie Leute wie mich ins Kittchen.« Er gab seine Bemühungen auf, kramte stattdessen im Spind und förderte eine Packung Zigaretten zutage, von der er Kane anbot.

»Danke«, lehnte Kane ab und zückte seine Pfeife. »Ich bin an mein eigenes Gift gewöhnt, Joe.«

Kyloe zündete sich selbst eine Zigarette an und beobachtete Kane einen Moment, bevor er anfing: »Feldman sagt, es ist wichtig.«

»Ich glaube schon«, erwiderte Kane.

»Schießen Sie los.«

Kane sagte ihm, was er zu sagen hatte. Er fügte nichts hinzu und ließ nichts weg, und der Kleine hörte ruhig und sachlich bis zum Schluss zu. Dann paffte er einen graublauen Rauchring und starrte ihm nach, bis das Gebilde sich auflöste. Endlich, nach langem Schweigen, fragte er: »Haben Sie das von Inspektor Vickery?«

»Richtig. Und was er sagt, stimmt meistens.«

Kyloe spuckte in den Kamin. »Green ist wahrhaftig eine Pest. Wäre besser, die Polizei knöpfte sich den mal vor, statt immer nur auf so armen Würstchen wie mir rumzureiten.«

»Das wird sie gerne tun, sobald Sie als Zeuge auftreten.«

Kyloes Blick wurde argwöhnisch. »Vickery hält mich wohl für einen Angeber?«

»Nein. Er hält Sie für einen ganz anständigen Kerl, Joe. Darum möchte er verhindern, dass Sie um die Ecke gebracht werden. Ich unterstütze ihn in diesem Bestreben.«

»Green...«, begann Kyloe schaudernd und hielt inne.

»Nur weiter, Joe«, sagte Kane ruhig. »Erzählen Sie mir die ganze Geschichte.«

Der Kleine dachte angestrengt nach. »Da ist nichts zu erzählen. Außerdem verpfeife ich niemanden, Donny. Soweit sollten Sie mich kennen.«

Kane nahm die Pfeife aus dem Mund. »Kennen Sie ihn überhaupt persönlich, Joe?«

»Einmal hab ich ihn gesehen«, gab Kyloe zu.

»Wie sieht er aus?«

Kyloe schüttelte entschieden den Kopf. »So kriegen Sie mich nicht, Donny. Es war sowieso bloß ein Zufall. Ich war in ein Motorboot geraten, wo er drin war, und...«

»Ein Boot?«, wiederholte Kane überrascht.

»Na ja«, grinste Kyloe. »Es war schon mehr eine Art Luxusjacht, mit einer Kajüte so groß wie ein Autobus. Es lag bei Marlow auf der Themse vor Anker. Ich hatte mich ein bisschen in der Gegend umgesehen und war zufällig da reingekommen. Soweit können Sie’s ja ruhig wissen, aber mehr erzähle ich nicht. Zuerst war die Kajüte leer, und dann habe ich Stimmen gehört und mich in so einem Ding, so einer Art Ankleidekabine versteckt, und da kam er rein.«

»Green?«

»Green«, bestätigte Kyloe. »Mit einem Mädchen. Erst dachte ich, das gibt eine Knutscherei, aber Green hatte ganz was anderes im Sinn. Erpressung.«

»Woher wissen Sie denn das?«

»Ich habe sie doch reden gehört«, erklärte Kyloe ernst und bieder. »Sie hieß Kent, Mrs. Kent. Es drehte sich dauernd um Briefe und Fotos und was ihr Mann dazu sagen würde. Und um ein Halsband, das sie ihm gegeben hatte und zurückhaben wollte.« Joe zögerte einen Moment. »Sie hat es aber nicht gekriegt.«

»Ist sonst noch was passiert?«

»Nein. Sie haben etwa eine halbe Stunde hin und her geredet, und dann sind sie wieder an Land gegangen. Ich ließ ihnen einen Vorsprung und verkrümelte mich schleunigst. An der Landestelle war ein großer Garten mit viel Gebüsch. Sie haben mich nicht gesehen.«

»Mitgenommen haben Sie diesmal gar nichts, Joe?«, erkundigte Kane sich sanft.

Der Kleine lachte verlegen. »Na, Ihnen will ich nichts vormachen, Donny. Ich habe ein Holzkästchen eingesteckt, mit ein paar Ringen und so Sächelchen. War nicht viel wert. Ich habe knapp zweihundert dafür herausgeschlagen.«

»Von wem?«

»Sage ich nicht.«

Kane überlegte. »Schön, das ist Ihre Sache. Nur eine Frage noch: Wieso sind Sie so sicher, dass es Green selber war?«

»Es war Green«, sagte Kyloe bestimmt. »Sie hat ihn zwar Mr. Meister genannt, aber ich weiß, dass es Green war.«

»Möglich. Aber Sie wissen doch, was Green für einen Ruf hat. Niemand kann mit dem Finger auf ihn zeigen, weil niemand ihn kennt.«

»Ein oder zwei Leute doch«, meinte Kyloe gedämpft. »Einer davon ist Lew Dicey. Kennen Sie den? Na, den kennt ja jeder. Dicey und Braddon. Und als ich aus dem Boot kam und hintenrum durch den Garten an der Villa vorbeiging, habe ich aus reiner Neugier ein bisschen in die Fenster geguckt, soweit ich ran konnte. Da saßen Dicey und Braddon in der Küche und tranken Bier. Zehn Minuten später sind sie in ein Auto gestiegen und weggefahren, zusammen mit dem Kerl, den ich mit der Frau gesehen hatte. Es kann also gar kein anderer gewesen sein als Toby Green. Braddon und Dicey sind seine Leibwache. Das weiß doch jeder.«

»Sogar ich weiß das«, nickte Kane.

Kyloe zündete sich eine neue Zigarette an und kam auf das Thema zurück, das ihm jetzt am meisten am Herzen lag. »Wie lange, sagte Inspektor Vickery, würde ich für die Esher-Sache sitzen müssen?«

»Etwa zwei Jahre.«

Kyloe rauchte gedankenvoll vor sich hin. »Dazu muss er mich erst erwischen, Donny. Ich fühle mich hier ganz gut aufgehoben.«

»Aber vor Green sind Sie hier nicht sicher. Darum geht es jetzt, und nicht um die zwei Jahre Knast.«

»Wer hat Vickery eigentlich davon erzählt?«

Kane schüttelte verweisend den Kopf. »So dumme Fragen dürften Sie nicht mehr stellen, Joe. Auch Polizisten haben ihre eigenen Informationsquellen, das ist doch klar. Sie hören und wissen fast immer, was vorgeht. Nur sind Wissen und Beweisen zweierlei.«

»Und ob«, bekräftigte Kyloe. »Vickery denkt also, Green ist hinter mir her?«

»Das sagt er. Und ich für mein Teil glaube ihm.« Kane stand abrupt auf. »So, das wär’s, Joe. Meine Aufgabe ist erledigt. Mehr kann ich nicht tun. Nehmen Sie guten Rat an und stellen Sie sich freiwillig für die Esher-Sache. Bis Sie wiederrauskommen, ist Green vielleicht unschädlich gemacht.«

Ein kurzes Schweigen entstand. Dann murmelte Kyloe: »Ist schon was dran an dem, was Sie sagen. Ist unbedingt was dran. Ich kann es mir noch überlegen, ja?«

»Bitteschön. Nur überlegen Sie nicht zu lange. An Ihrer Stelle würde ich mich ziemlich schnell entschließen, Joe. Guten Tag.«

Kyloe ließ ihn hinaus. Sie wechselten kein Wort mehr. Kane ging nachdenklich bis zur nächsten Untergrundstation. Er saß ganz still auf seinem Platz, bis er sein Fahrtziel erreicht hatte. Vickery und Kyloe beschäftigten ihn vollauf und nicht zum wenigsten der geheimnisvolle Toby Green.