Die Unvollendeten - Detlef Schumacher - kostenlos E-Book

Die Unvollendeten E-Book

Detlef Schumacher

0,0
0,00 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Umfangreiche Texte, denen das Ende fehlt,weil den Verfasser die Lust bzw. die Eingebung verließ. Lesenswert sind sie dennoch, da die Phantasie des Lesers gefordet ist, den Schluss aus seiner Sicht zu finden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2018

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Detlef Schumacher

Die Unvollendeten

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Rüpel Rudi - Rudis frühe Jahre

Er sollte ein Sonntagskind werden. Fast hätte es geklappt. Er kam jedoch 5 vor 12 zur Welt.

5 nach 12 erhielt er den Vornamen Rudi. Der stand bereits zum Zeitpunkt der Zeugung fest. Die geschah jedoch nur unter dieser Bedingung. Wäre er ein Mädchen geworden, hätten ihn die Eltern nicht Rudi benannt. Eine weibliche Geburt schlossen sie allerdings aus. Da man damals den schwangeren Leib noch nicht einsehen konnte, bestanden einige Zweifel. Die wurden durch das heftige Strampeln des Embryos etwas verringert. Nur künftige Fußballerbeine strampeln heftig, meinte man.

Rudis Vorgänger waren alle Rudis. Nachweislich seit 150 Jahren. Weshalb sollte es nun anders sein? Vater Rudi war stolz auf seinen Sohn. In der Kneipe taufte er dessen Erscheinen mit Bier und Schnaps. Im Vollrausch verkündete er, dass ein weiteres Rudiment der Familienfortpflanzung dienen werde.

Auf dem Weg zur geschlechtlichen Reife entwickelte sich Rudi zunächst zur schulischen Reife. Er war der Eltern wahre Freude. Ihnen war eine Geburt geglückt, die im Verwandtenkreis Wogen der Begeisterung auslöste. Seine kleinen Missetaten wurden verständnisvoll belächelt. Er war ja noch klein und Kind.

Als er eines Tages die Wohnzimmertapete mit seinem Windelinhalt bestrichen hatte, löste das Heiterkeit aus. Noch nie zuvor hatte ein Rudi solches getan. So sagte die Überlieferung. Flugs wurde die Verwandtschaft informiert. Die sagte dem Kind eine große Zukunft voraus. Welche das sein würde, wusste nur einer. Onkel Erwin, beruflich Malermeister und nebenberuflich Hellseher, deutete Rudis Tapetenzier. Er werde Karikaturist, orakelte er. Die Strichführung seiner Kacke verdeutliche einen tiefen Sinn. Man fragte welchen. Das Leben sei Scheiße, sagte der Onkel. Die Eltern überkam ein Hochgefühl. Ihr Sohn ein künftiger Kackturist.

Rudis schulische Entwicklung nahm einen anderen Verlauf. Einen, den sich weder die Eltern noch die Lehrer wünschten. Er war hingebungsvoll faul und desinteressiert am Lehrstoff. Der Vater erkannte seine Gene wieder. Die verschwieg er jedoch. Auch die Mutter ließ ihre Vergangenheit ruhen. Ihr Schulabbruch nach Ende der 8. Klasse hatte einen beschämenden Grund. Ein Mitschüler hatte sie geschwängert. Der Zeugungsakt fand während einer kurzen Schulpause in der Schultoilette statt. Ein Quickie also. Aufgrund dieser Hast hatten die Spermien wenig Gelegenheit, intensiv zu fruchten. Die Folge war eine Frühgeburt.

In der Pubertät übertraf Rudi seine Altersgenossen. Er hatte mehr Pickel im Gesicht und einen stärkeren Geschlechtstrieb. Das Fernsehen hatte ihm die zusätzliche Bedeutung seines Geschlechtsteils bewusst gemacht. Das veranlasste ihn, seine zwanzig Jahre ältere Klassenlehrerin zu begehren, obwohl sie wenig hübsch war. Deshalb auch ledig. Das störte Rudi nicht. Er wollte sie unbedingt einmal nackt sehen. Dieses Verlangen sei unzüchtig, zürnte sie. Sie solle sich auch nicht im Unterricht entblößen, sagte Rudi. Am Abend hinter dem Weidengebüsch am Dorfteich sei es günstig. Die Dunkelheit werde den Entkleidungsakt verhüllen.

Für die Lehrerin hob sich ‘Akt‘ aus Entkleidungsakt hervor. Ob er sich nicht schäme, solches von einer erwachsenen Frau zu wollen. Außerdem sei sie Lehrerin und zur Nichtverführung Minderjähriger verpflichtet.

Er wolle sie verführen, besänftigte Rudi. Die Verführung einer alten Frau verstoße nicht gegen das Gesetz.

Das brachte die Pädagogin noch mehr in Rage. Was ihm einfalle, sie als alte Frau hinzustellen. Sie sei zarte 34 Jahre jung. Noch längst nicht Vierzig. Also würzig. Um Rudi von der Blüte ihrer Jahren zu überzeugen, entblößte sie die linke Brust. Niemand außer ihm sah das. Im Unterrichtsraum befanden sich nur sie und Rudi.

Rudi erkannte, dass diese Brustseite hübscher war als ihr Gesicht. Ob auch die rechte Brust von ihrer Jugend zeuge. Um das zu beweisen, lüpfte die Lehrerin auch diese Blusenseite.

Rudis Augen fielen fast aus den Augenhöhlen. So etwas Schönes habe er noch nie gesehen. Nicht mal seine Mutter weise solche prallen Rundungen auf. Sicherlich seien sie nicht echt, stellte er in Zweifel. Das ging der Jungfrau gegen die Ehre. Sie hasse Silikon und ähnliche Schönheitsverstärker. Vom Scheitel bis zur Sohle sei sie unverfälschte Natur.

Rudi ließ seinen Blick bis zu ihren Sohlen gleiten. Sodann meinte er, dass das wegen ihrer Bekleidung bloße Behauptung sei.

Dem unverschämten Lümmel werde ich’s beweisen, gärte es in ihr.

“Heute Abend, 20 Uhr, hinter dem Weidengebüsch am Dorfteich werde ich deine Zweifel beheben”, entschied sie und fügte hinzu: “Bring’ eine Taschenlampe mit! Die Dunkelheit könnte meine Konturen undeutlich machen.”

Die von der Taschenlampe spärlich beleuchtete Entkleidung kam ans Licht. Gerhard G. hatte sie mitgesehen. Unbeobachtet natürlich. Als passionierter Angler fischte er Abends aus dem Dorfteich Wasserflöhe. Die können in der Dunkelheit schlecht sehen, weshalb sie Gerhard ins Netz gingen.

Gerhard war aber nicht nur Angler, sondern auch Lügenbaron. Wenn sich im Dorf unwahre Gerüchte verbreiteten, war er deren Urheber. 30% der Ortsbevölkerung glaubten sie. Das waren die klatschsüchtigen Weiber.

Die Gerüchteküche begann kräftig zu brodeln, als bekannt wurde, dass der 14jährige Rudi von seiner 34jährigen Lehrerin sexuell missbraucht worden sei. Ein Novum. Sonst geschehen sexuelle Missbräuche anders herum.

Dieses Gerhard-Gerücht wurde nun auch von den restlichen 70% der Dorfbewohner geglaubt. Jeder zeigte sich entsetzt. Das Entsetzen setzte sich über die lokalen Medien bis zu den nationalen fort.

Als es das Bildungsministerium erreichte, hatte Rudi den wahren Sachverhalt erklärt. Die entkleidete Lehrerin habe ihn lediglich gefragt, ob er ihren Körper schön finde. Er habe das nur teilweise bejahen können, weil der Taschenlampenbatterie plötzlich der Saft ausging. Mehr sei nicht passiert. So wahr ihm Gott helfe.

Die suspendierte Lehrerin wurde daraufhin rehabilitiert, aber auch gerügt. Das grämte sie nicht. Denn kaum war Rudis Geständnis durch die Medien geeilt, fielen Journalisten aller Journaille über die Lehrerin her. Vor allem der ungesehene Teil ihres Körpers reizte die Paparazzi.

Innerhalb weniger Tage avancierte die Pädagogin zu einer gut bezahlten Berühmtheit.

Das Titelbild des ‘Nice-Boy’ zeigte sie von Hals bis Fuß im Eva-Kostüm. Ihr Kopf war wegen fehlender Schönheit weggelassen. Der Redakteur begründete das mit Personenschutz.

Dieser Schutz wurde von der ’Guck’-Zeitung geknackt. So erfuhren die meisten Deutschen, wer die Frau ohne Kopf sei. Auch in Rudis Wohnort erfuhr man es auf diese Weise.

Der ’Nice-Boy’, der aus sittlichen Gründen in diesem Dorf nie gekauft wurde, erlebte eine Verkaufs-Hochkonjunktur. Selbst der Pfarrer erstand eine Ausgabe. Doch nur, um einen Blick auf willfähriges und deshalb gottloses Fleisch zu werfen. Im nächsten Gottesdienst werde er das unzüchtige Foto näher erläutern und anhand weiterer verdammungswürdiger Bilder die Gefahr für den christlichen Glauben aufzeigen.

Die zahlreich zum Gottesdienst erschienenen Christen und Nichtchristen - überwiegend Männer - sahen und hörten, was an diesem Ort noch nie gesehen und gehört worden war.

Den Pfarrer freute die gefüllte Kirche. Er werde in Zukunft noch mehr abscheulich Erotisches zum Besten geben, ließ er wissen.

Rudi war noch zu jung, den ‘Nice-Boy’ begucken zu dürfen. Deshalb entging ihm, was ihm die erloschene Taschenlampe vorenthalten hatte. Vernünftig wäre gewesen, dass sich die Lehrerin bei ihm für dessen Ehrlichkeit bedankt hätte. Vielleicht auch in finanzieller Form. Ausreichend Geld hatte sie ja nun. Doch nichts dergleichen tat sie.

Nicht Rudi, sondern dessen Mutter empörte diese Undankbarkeit. Dieser Empörung schlossen sich die Frauen und Mädchen des Dorfes an. Sie konnten nicht verstehen, dass eine so hässliche Frau Karriere machte. Auch ihr Körper sei von unschöner Gestalt, behaupteten die Weiber.

Die Männer sahen das anders. Sie waren von den Ausmaßen der Lehrerin entzückt. Der Pfarrer und der ’Nice-Boy’ hatte ihren Verstand verwirrt.

Die Ehefrauen rückten ihn wieder zurecht. Die Nichtehemänner erfuhren solche Härte nicht. Sie durften ihren erotischen Sinnen freien Lauf lassen, mussten diese aber bei der Verlobten oder Geliebten in die Tat umsetzen.

Einen, der weder verheiratet, geschieden, verlobt oder verliebt war, traf Amors Pfeil. Und zwar so schmerzlich, dass er der hässlichen Lehrerin Avancen machte. Sie sei die schönste Jungfrau unter Gottes Nachthimmel, röhrte er, um Nachts an ihren Körper zu gelangen. Als ihn ein zweiter Amor-Pfeil getroffen hatte, machte er von seinem Mannes-Pfeil Gebrauch. Daraufhin war die Lehrerin keine Jungfrau mehr.

 

 

Rudi als Halbstarker

Ältere Frauen interessierten Rudi nicht mehr. Er war halt noch kein Mann. Er befand sich in der Übergangsphase dorthin. Sein momentanes Entwicklungsstadium hieß Halbstarker.

Im Begriff ‘Halbstarker’ verbirgt sich Unausgereiftes, Nichtgefestigtes. Aber auch Widersetzliches, Angriffslustiges und Freches. Rudi besaß also die besten Voraussetzungen, ein vollwertiger Halbstarker zu sein. Die Grundfähigkeiten musste er nur auf ein höheres Niveau bringen.

Das wusste er aber nicht. Das hatte ihm noch niemand gesagt. Es galt also abzuwarten, wie die weitere Entwicklung verlaufen würde. Noch musste er sich auf sein halbfertiges Halbstarkenkönnen verlassen. Die Gleichaltrigen seines Wohnorts waren entweder zu dumm oder zu träge, sich außerhalb der gesellschaftlichen Normen zu bewegen.

Rudi wagte diesen Schritt. Sehr entschlossen sogar. Spontan brach er den Schulbesuch ab. Ein Besuch ist schließlich kein Daueraufenthalt. Das wusste er aus Erfahrung, wenn sein Vater der Schwiegermutter vorwarf, sie fresse der Familie den Kuchen weg.

Rudi war der Überzeugung, dass er die Schule und ihre Lehrer viel zu lange besucht hatte. Diese freundliche Geste hatte ihm nur Undank eingebracht. Nach acht erfolglosen Schuljahren legte ihm der Schuldirektor nahe, sich nach einem anderen Betätigungsfeld umzusehen. Dieser Empfehlung folgte Rudi.

„Halbe Kraft voraus!” sagte er den Eltern, als er ihnen seinen Entschluss mitteilte.

Die Mutter weinte. Der Vater zog ihn an die Brust.

„Endlich, mein Junge!” sprach er mit fester väterlicher Stimme. „Du musst ins Leben treten. So wie ich’s gemacht habe. Weshalb aber nur mit halber Kraft?”

“Weil er ein Halbstarker ist”, schluchzte die Mutter.

“Weibergeschwätz”, raunzte Papa gefühllos. Dann wollte er wissen, welchen Weg Rudi gehen wolle.

“Zunächst den aus dieser Bruchbude und dann aus dem Dorf. Hier ist alles Scheiße!”

“Bravo!” lobte der Vater. “Siehst du Mutter, nun bewahrheitet sich, was der Junge als Baby an die Tapete geschmiert hatte.”

Mutters Kummertränen flossen nun als Freudentränen. Sie herzte ihren 1,78 m großen, noch pickelbesäten Jungen und gab ihm einen Kuss auf den Mund. Der wischte ihn von den Lippen. Für solche Zärtlichkeit war er zu alt.

“Richtig, mein Junge”, meinte der Vater, der den Wisch gesehen hatte. “Halte dich im weiteren Leben von knutschenden Weibern fern. Die bringen nur Unglück. Stimmt’s Mutter?”

Mutter nickte, um ihrem Sohn die Zukunft nicht zu versauen.

Als Wegzehrung nahm Rudi nur eine Gurke mit. Die könne er auch anderweitig verwenden, grinste der Vater.

“Ich will nicht verhungern”, war Rudis verständliche Antwort.

Festen Schrittes verließ er das Elternhaus. Das Schluchzen der Mutter folgte ihm. Doch rührte es sein Herz nicht. Forsch schritt er voran und erreichte nach etwa zweihundert Metern das verhasste Schulgebäude. Es war gerade Pause. Ausgelassen tummelten sich die Schüler auf dem Schulhof. Rudi war froh, nicht mehr dabei zu sein. Die Lehrer auch.

Als ihn der aufsichtführende Lehrer K. erblickte, rief er Rudi zu: “Glück auf deinen Wegen heißt klüger sich bewegen!” Dabei lachte er pädagogisch bedeutungsvoll. Er war Deutschlehrer und Hobbylyriker.

Rudi zeigte ihm den Stinkefinger. K. erwiderte ihn. Er war ja nicht mehr Rudis Lehrer. Diese Geste sah auch eine zwischen Beiden befindliche Schülerin mit blonden Zöpfen. Sie glaubte, des Lehrers erhobener Mittelfinger habe ihr gegolten.

“Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht, Herr K.”, erboste sie sich. “Das werde ich meinem Papa berichten. Der wird Sie zur Rede stellen.”

Herr K. wirkte nun gar nicht mehr fröhlich. Er schnellte auf die Blondine zu und beteuerte, dass der Stinkefinger nicht ihr, sondern Rüpel Rudi gegolten habe. Mit gestrecktem Zeigefinger wies er auf den Halbstarken jenseits des Schulhofzaunes.

Die Erregung des Mädchens schwoll an. Empört rief sie Rudi zu: “Du Tunichtgut hast meine Zöpfe hin und wieder ins Tintenfass getaucht.”

In dieser Dorfschule befanden sich noch Tintenfässer auf den Tischen und Zöpfe an manchen Mädchenköpfen.

Rudi zeigte ihr die Zunge. Mehr hatte er für diese dumme Gans nicht übrig.

Sie war aber keine dumme Gans, sondern die gebildete und eingebildete Tochter des amtierenden Bürgermeisters. Der hielt sehr auf ihre züchtige Erziehung, die ausschließlich die Mutter vornahm. Wenn sie erhobenen Hauptes und strengen Blicks die Dorfgassen durchschritt, Töchterchen Agnes an ihrer Seite, verließen nicht nur Hühner, Enten und Gänse fluchtartig das Pflaster.

‘Gnädige Frau’, wie sie anzusprechen war, verlangte zu ihrer Begrüßung eine männliche Verbeugung oder einen weiblichen Knicks. Da das Gassengeflügel nicht knickste, wurde es von Töchterchen Agnes mittels Stock vertrieben. Diese Brutalität hatte sich von Stall zu Stall herumgesprochen, weshalb sich das Geflügel rechtzeitig aus dem Staub machte.

Rudi hegte für Hühner, Enten und Gänse keine besondere Sympathie. Noch viel weniger aber für die Gnädige Frau und ihre biedere Tochter. In einer Anwandlung von Rachsucht oder Gerechtigkeit - wie man’s nimmt - spannte er eines Tages über den Bürgersteig der Hauptgasse eine Schnur. Hinter diese streute er Ofenruß. Im Dorf wurde noch mit Kohle geheizt.

Einwohner, die an diesem Tag den Bürgersteig begingen, bat Rudi auf die andere Gassenseite. Auf dieser hier führe er im Auftrag des Roten Kreuzes einen Luftzirkulationstest durch. Vibriere die von ihm gespannte Schnur und wirble dabei den hinter ihr befindlichen Ofenruß auf, sei das ein Zeichen dafür, dass es an dieser Stelle recht zugig sei. Damit beweise sich also, dass von dieser Stelle die meisten Erkältungen ausgehen.

Die Passanten wunderten sich, dass Rudi im Auftrag des Roten Kreuzes tätig war. Als sie den Zweck dieses Tests verinnerlicht hatten, lobten sie ihn. Endlich vollbringe er etwas Gescheites.

Rudi gab sich bescheiden und sagte: “Man tut, was man kann.”

Die Neugier veranlasste die Bürger, auf der anderen Straßenseite zu verharren. Sie wollten sehen, wann und wie heftig ein Luftzug die Schnur in Bewegung bringen werde.

Rudi erwartete keinen Luftzug, sondern die Gnädige Frau nebst Agnes. Beide durchschritten zu immer gleicher nachmittäglicher Zeit das Dorf. Stets auch mit gehobener Nase und nach oben gerichteten Blicken.

Als sie sich auf der Teststrecke der Schnur näherten, rief eine Frau auf der anderen Gassenseite: “Gnädige Frau, halten sie ein! Sie werden sich erkälten!”

Die Gnädige stutzte und verhielt im Schritt. Agnes auch. Beide überlegten, weshalb sie sich bei sommerlichen 25 Grad plus erkälten könnten. Und an dieser windgeschützten Stelle.

“Mama”, sprach Agnes, “hier haben wir uns noch nie erkältet. Die Frau will uns zum Narren halten.”

“Du hast recht, mein Kind. Die Dorfweiber sind auch zu niederträchtig. Lass’ uns weitergehen.”

Sie gingen weiter, hoch die Nase, hoch den Blick.

Die warnende Frau sagte zur Nebenstehenden: “Gleich wird sie husten.”

“Wieso? Die Schnur hat doch nicht gewackelt.”

Und doch hustete die Gnädige, und zwar sehr heftig, als sie sich aus dem Ofenruß erhob. Tochter Agnes ebenfalls.

“Da hörst du’s”, sagte die warnende Frau glücklich, dass sich ihre Prophezeiung bewahrheitet hatte. “Und sie hustet doch!”

“Die Schnur hat aber nicht gewackelt”, stellte die andere fest.

Es war nicht nur der Husten, der die Bürger auf der anderen Seite in Staunen versetzte. Es war auch das Aussehen der Hustenden.

“Die sehen aus wie mein Mann, wenn er von der Arbeit heimkehrt”, meinte die Frau des Schornsteinfegers.

Die Zuschauer überlegten, ob sie lachen sollten oder nicht. Lachen hätte unerfreuliche Folgen. Der Bürgermeister würde die Lacher bei der Vergabe von Bezugsberechtigungen für zwei farbige Gummistiefel benachteiligen.

Also lachte man nicht. Nur einer lachte. Rudi. Er lachte so schallend, dass ihn die rußumrandeten Augen der rußgeschwärzten Agnes wahrnahmen.

“Mama”, prustete sie, Rußpartikel aushustend, “Rüpel Rudi trägt die Schuld an unserer Verunreinigung.”

“Bist du sicher?” fragte Mama, ebenfalls Partikel ausstoßend.

“Ganz sicher, Mama. Er ist ein Frechdachs, der in der Schule nur durch Ungezogenheiten auffällt. Auch diese ungebührliche Tat geht auf sein Konto. Ich verabscheue ihn.”

“Der Lümmel wird keine Bezugsberechtigung für zwei farbige Gummistiefel erhalten”, hustete die Gnädige.

 

Rudis weitere Verdammnis

 Weil Agnes auch ihm die Zunge gezeigt hatte, nahm sich Rudi die Zeit, in einer weiteren schlechten Erinnerung an sie zu kramen. Um seinem Nachsinnen Druck zu machen, entnahm er seiner Jackentasche eine Zigarette und eine Streichholzschachtel. Die Zigarette stammte aus dem Besitz seines Vaters. Während er den Rauch der entzündeten Zigarette inhalierte und wieder ausblies, erregte Agnes auch dies.

“Sehen Sie, Herr K.”, empörte sie sich, “Rüpel Rudi raucht eine Marihuana.”

“Eine Marihuana?” fragte K. ungläubig.

“Eine Marihuana! Das erkenne ich an der Rauchbildung.”

“An der Rauchbildung?”

“Jawohl! Und nicht minder auch am Geruch, den sie bis hierher trägt.”

“Am Geruch?”

“So ist’s! Sie sollten diesen Drogenmissbrauch unverzüglich unterbinden, Herr K.!”

“Ich kann ihn nicht unterbinden, da Rudi der Schulgemeinschaft nicht mehr angehört.”

Agnes stampfte wütend mit einem Fuß auf.

“Sie müssen das unterbinden! Rudi ist ein Drogensüchtiger.”

Herr K. dachte abfällig: Die spinnt. Das verschwieg er jedoch, weil es pädagogisch unklug gewesen wäre und weil er die Tochter des Bürgermeisters und seiner strengen Gattin beleidigt hätte.

Deshalb sprach er: “Wenn Rudi die Marihuana aufgeraucht hat, ist sein Drogenmissbrauch beendet.”

Diese lasche Bemerkung missfiel Agnes besonders. Sie stampfte mit dem anderen Fuß auf und verlangte, dass sich Herr K. direkt an den Unhold Rudi wende. Er solle erfragen, wie er in den Besitz der Marihuana gekommen sei.

Um das lästige Mädchen los zu werden, fragte er Rudi dies.

Der antwortete zunächst nicht, weil ihn heftiger Husten schüttelte.

“Na bitte”, frohlockte Agnes, “typischer Marihuana-Husten.”

Jetzt dachte Herr K.: Die weiß aber Bescheid.

Als Rudis Hustenanfall beendet war, sandte er ihm die gesundheitlich richtige Feststellung: “Das kommt vom Rauchen, Rudi!”

“Vom Marihuana-Rauchen”, ergänzte Agnes.

“Vom Marihuana-Rauchen”, wiederholte Herr. K., um Agnes’ Beifall zu finden.

Rudi zertrat die Kippe der aufgerauchten Zigarette und schickte die Bemerkung zurück, dass es keine Marihuana gewesen sei.

“Fragen Sie ihn, welches Gift er denn geraucht hat”, bohrte Agnes weiter.

O Gott, dachte Herr K. gequält, die geht mir aber auf den Sack. Wegen der Minderjährigkeit des Mädchens korrigierte er sich auf den ‘Senkel’.

“Würdest du mir bitte sagen, welchen schädlichen Rauch du deiner Lunge tatsächlich zugeführt hast”, folgte Herr. K. der Forderung der Minderjährigen.

Rudi wollte nicht sagen, dass es eine Marlboro aus seines Vaters Besitz war. Deshalb sann er auf die Widerspiegelung einer falschen Tatsache. Bloß welche? Sinnend sah er zu Boden. Das sah aus, als schäme er sich. Tatsächlich erblickte er einen reifen Kürbis. Rudi hob den Blick. Über dem Kürbis breitete ein Kastanienbaum sein schattiges Geäst aus. Hoch über dem schattigen Geäst sauste ein kerosinbetanktes Flugzeug dahin. Rasch stellte Rudi aus den Anfangsbuchstaben der Substantive Kürbis, Kastanie, Kerosin ein neues Substantiv her.

“Ich rauchte Kükake”, ließ er Herrn K. wissen.

“Aha”, triumphierte Agnes, “Kuhkacke!”

“Kükake”, verbesserte Herr K.

Agnes: “Das ist die Mehrzahl, Herr K. Das müssten Sie als Deutschlehrer doch wissen.”

Das Läuten der Pausenklingel beendete die Pause und befreite Herrn K. von weiterer Aufdringlichkeit der Bürgermeistertochter. Sein Denken über sie beendete er mit: Wer die mal zur Frau bekommt, kann sich freuen!

Agnes eilte zum Schuldirektor. Den ließ sie wissen, dass eine neue Droge im Umlauf sei. Sie heiße Kuhkacke. Mehrere Drogen Kühkacke. Er solle sofort veranlassen, dass die Inhalation dieses Gifts unterbunden werde. Der berüchtigte Rüpel Rudi vertreibe dieses gesundheitsschädigende Produkt.

“Wenn er es vertreibt, dann ist es doch gut”, stellte der Direktor fest.

“Er vertreibt es nicht, er reicht es weiter”, wurde Agnes deutlicher.

Der Direktor noch immer überrascht: “Rudis Kacke liegt nicht mehr in meiner Hand. Ich habe ihn der Schule verwiesen.”

Rudis innere Einkehr

 

Die Ruhe, die sich nun über Schulhof und Nichtschulhof gelegt hatte, empfand Rudi als wohltuend. Als Schüler hatte er Ruhe stets gehasst. Sie war für ihn gleichbedeutend mit Friede, Freude, Eierkuchen und Omas Schaukelstuhl.

Er ließ sich am Schulhofzaun nieder und gab sich der Betrachtung des reifen Kürbis hin. Der war wild und unbeachtet gediehen. In Rudi stieg die Lust, ihn mittels Taschenmesser zu beschnitzen. So wie er es im vorigen Jahr mit einem aus dem Familiengarten getan hatte. Richtig ausgehöhlt, mit Augenlöchern und einer Mundöffnung versehen. Das war kurz vor Halloween. Dem Tag, an dem man furchtsamen Menschen noch mehr Angst einjagt.

Rudis Halloween-Kürbis sollte aber seine Rachegelüste stillen. Die galten der Zopfzicke Agnes, die ihm die 50 versprochen D-Mark nicht gegeben hatte.

Beim Anblick des Schulhofzaunkürbis’ kehrten in Rudi die bösen Erinnerungen an das vergangene Jahr zurück. In besonderer Heftigkeit, da Agnes erneut seine Ehre befleckt hatte.

Entschlossen trennte er den Kürbis von seinem Stiel, zog das Taschenmesser und begann sein Schnitzwerk. Er bemühte sich, ihn wie Agnes aussehen zu lassen - in entstellter Form versteht sich. Mit jedem Schnitt schnitt er in ihre Fratze.

Rudis Schulschwäche

 

Es war Frühling. Der heiß ersehnte. Der, der nicht nur die Natur in Lust und Laune versetzt, sondern auch die Menschen. Aber auch der, der sehr müde macht. Von der Frühjahrsmüdigkeit werden fast alle Menschen erfasst. Auch Rudi wurde erfasst.

Ihm fiel es schwerer als seinen Mitschülern, sich der Müdigkeit zu erwehren. Meist entschlief er schon in der ersten Unterrichtsstunde. Die Lehrer störten seinen Schlummer nicht. Um ihm eine noch angenehmere Ruhe zu gönnen, wiesen sie ihm einen stillen Platz in der letzten Reihe des Unterrichtsraumes zu.

Die Lehrer erkannten den Nutzen dieser pädagogisch richtigen Entscheidung. Rudi störte fortan den Unterricht nicht mehr. Hin und wieder schnarchte er etwas, aber bei weitem nicht so störend wie ein Erwachsener.

Eines lauen Frühjahrstages bewirkte sein Tiefschlaf, dass er auch sämtliche Pausen durchschlief. Niemand weckte ihn. Nur eine Person näherte sich ihm auf Zehenspitzen und legte einen handgeschriebenen Zettel auf seine Schulbank. Als Rudi nach Schluss der letzten Unterrichtsstunde erwachte und sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, entdeckte er den Zettel. Zunächst glaubte er, ein Lehrer habe ihm den Bruchteil einer Hausaufgabe notiert. Das wäre unüblich gewesen, weil man ihn mit solchen Belanglosigkeiten nie behelligte. Man ließ Rudi das tun, was er am liebsten tat. Nämlich nichts.

So wunderte ihn die Vermessenheit des handgeschriebenen Zettels. Von Lehrerhand war er nicht geschrieben, dass erkannte er sofort. Die Schriftzüge hatten etwas Weiches, fast Weibliches an sich. Sie waren in schöner Regelmäßigkeit aufs Papier gebracht. Solcher Ebenmäßigkeit war kein Mitschüler fähig. Vor allem keiner fehlerlosen.

Diese Worte waren von einem Mädchen geschrieben, wie sich am Zettelende auch herausstellte. Aber nicht von irgend einem Mädchen. Die Worte zeugten von seltenem Sprachstil, aber auch unmissverständlicher Absicht. Denn so las Rudi: Der du diese Zeilen hoffentlich wachen Auges siehst, wisse, dass es Schöneres gibt als nur den Schlaf. Schöneres bin ich. Willst du mich schauen, finde dich am kommenden Sonnabend Abend, wenn die Kirchturmuhr die neunzehnte Stunde schlägt, unter der Kriegereiche ein.

Gez.: Eine Maid aus dem Volk, lieblichen Angesichts, himmelblauer Augen und Haaren, die wie Gold glänzen.

Rudi gähnte. Das Deutsch war ihm zu hoch. Den Zettel warf er dennoch nicht weg, weil ihn das Schönere reizte. Er steckte das Papier in die linke Hosentasche. In ihr war noch etwas Platz.

Dann begab er sich auf den Heimweg. Fast wäre der Zettel in Vergessenheit geraten, wenn Rudis Mutter am nächsten Tag nicht große Wäsche gehabt hätte. Um die Wertsachen ihres Sohnes nicht mitzuwaschen, entleerte sie dessen Hosentaschen. Wie immer vor großer Wäsche.

Dieses Mal fiel ihr mehr in die Hände, nämlich besagter Zettel. Als sie ihn gelesen hatte, wusste sie, ihr Sohn wird geliebt. Das war neu. Für sie als Mutter. Ihn liebte eine Maid. Eine aus dem Volk. Warum keine Höhere? Egal! Ein Anfang war gemacht. Noch nie hatte ein Mädchen Rudi geliebt. Er war halt zu anständig für die dummen Gören.

Sie eilte zu ihrem Gatten in den Garten und reichte ihm den Zettel. Die Zettelübergabe begleitete sie mit der Bemerkung, dass vielleicht eine hübsche Schwiegertochter ins Haus stünde. Rudi war zwar erst 15, aber sie selbst war in diesem Alter ja schon begehrt worden. Sogar geschwängert.

Der Gatte las den Zettel sehr gründlich. Seine Vorstellungskraft schuf ihm das Bild der künftigen Schwiegertochter. An einer von diesem Format war er natürlich sehr interessiert. Auch ihm könnte ihr liebliches Angesicht, ihre himmelblauen Augen und die goldenen Haare gefallen. Sicherlich war sie auch klug. Das bewies die sprachliche Fassung ihrer Worte. Endlich käme mal eine schlaue Frau in die Familie. Seine Gattin nickte zustimmend. Sie sah das auch so.

Beide beschlossen, den Familienrat einzuberufen. Der tagte immer dann, wenn wichtige Angelegenheiten zu entscheiden waren. Seine Beschlüsse wurden den Verwandten mitgeteilt, damit sie erkannten, wie ernst auch von dieser Seite her an der Ahnengalerie mitgearbeitet wurde.

Der Familienrat

 

Am Abend trat der Familienrat zusammen. Anwesend waren Rudis Eltern und die Großmutter. Der Großvater war wegen eines bleibenden Kopfschadens, den Rudi zu verantworten hatte, nicht zugegen. Großmutter war nur pro forma dabei, damit Stimmenmehrheit erzielt wurde. Rudi sollte über den positiven Beschluss anschließend informiert werden. Er war ja nicht volljährig. Also nicht stimmberechtigt.

Der Schwiegertochter-Zettel lag auf dem Wohnzimmertisch. Sein Inhalt war allen Anwesenden bekannt, nur der Großmutter nicht. Da sie stark sehbehindert war, las ihr der Sohn, Rudis Vater, das Schreiben vor. Da sie auch schwerhörig war, verstand sie bei der ersten Vorlesung nur Bahnhof. Eine zweite brachte auch nicht mehr Licht in ihren Verstand. Das sei nicht so wichtig, entschied ihr Sohn. Wichtig sei, dass sie die rechte Hand hebe, wenn es zur Abstimmung komme.

“Die rechte Hand soll ich heben?” krächzte sie. “Ist der Führer wieder da?”

Ihr Sohn winkte ab und fragte seine Gattin, ob sie damit einverstanden sei, die Verfasserin des Zettels als künftige Schwiegertochter anzuerkennen. Sie fragte, ob es möglich wäre, mit ‘Nein!’ zu stimmen.

“Nein!” erwiderte der Gatte.

“Dann stimme ich mit ’Ja!’”

“Oma, bist du einverstanden, dass Rudi eine Schwiegertochter ins Haus führt? Wenn ja, lässt du die Hand oben, wenn nein auch. Wir brauchen Stimmenmehrheit.”

“Was? Rudi ist jetzt der Führer?”

Er zog ihre Hand nach unten.

“Eindeutige Stimmenmehrheit!” stellte er fest.

Seine Gattin wagte den Hinweis, dass Sohn Rudi erst am kommenden Sonnabend die Maid zu Gesicht bekomme und sich dann erst erweise, ob sie die Schwiegertochter werde. So stehe es auf dem Zettel.

“Blödsinn!” schalt der Gatte. “Sie ist verliebt. Das sieht man. Genau wie du damals in mich. Stimmt’s?”

“Wenn du meinst”, kam ihre Antwort.

Das Wahlergebnis stand also fest und sollte Rudi sofort kundgetan werden. Es war bereits 22 Uhr. Der Junge befand sich aber weder vor dem Fernsehgerät noch im Bett. Nicht ungewöhnlich übrigens. Deshalb schrieb die Mutter auf einen zweiten Zettel, was ihr der Gatte diktierte. Den legte sie neben den Schwiegertochter-Zettel auf Rudis Nachtschrank.

Verzettelt

 

Am nächsten Morgen, einem Freitagmorgen, fand Rudi zwei Zettel auf seinem Nachtschrank. Damit er sie nicht übersah, hatte ihm die Mutter eine Tüte Haribo dazu gelegt und dabei vergnügt geträllert: “Haribo macht Kinder froh und die Eltern ebenso!”

Er warf die Haribos aus dem Fenster und knurrte, dass ihm eine Schachtel Zigaretten lieber gewesen wäre. Den zweiten Zettel warf er morgenmufflig hinterher. Der flatterte, vom Wind getrieben, ins Geäst eines Apfelbaums. In dem blieb er hängen. Wäre der Wind stärker gewesen, hätte er einen Kirschbaum erreicht. Das wäre aufs Gleiche herausgekommen, nämlich, dass Rudi ihn nicht lesen konnte. Wir übrigens auch nicht, was natürlich ärgerlich ist.

Den ersten Zettel, den Schwiegertochter-Zettel, wollte er hinterher schicken. Doch hielt er ihn zurück. Ihm fiel ein, dass ihn jemand auf die Schulbank gelegt hatte, als er fest schlief. Denjenigen müsste er ausfindig machen. Um einen näheren Hinweis zu erhalten, las er den Text. Er erinnerte sich, dass er ihn gestern schon einmal gelesen und dabei festgestellt hatte, dass derjenige eine diejenige war. Nur welche?

Schön sei sie. Welches Mädchen der Schule war schön? Bisher hatte er bei keiner Schönheit festgestellt. Eine Maid! Was ist das denn für eine Person? Eine Außerirdische vielleicht. Außerirdische können aber nicht schreiben, jedenfalls nicht deutsch. Sie schreiben science-fictionistisch Amerikanisch. Also ist die so genannte Maid eine innerdeutsche. Eine aus dem Volk, wie sie schrieb. Morgen Abend, 19 Uhr, werde sie sich sehen lassen. Morgen Abend bin ich nicht da. Da bin ich im Nachbardorf zur Disco. Wie jeden Sonnabend Abend. Rudi bekam Terminschwierigkeiten. Sie sei schön. Vielleicht ist sie in mich verliebt. Das wäre ja mal ganz was Neues. Weshalb kenne ich sie nicht? Vielleicht darf ich sie küssen. Mal sehen, was ich dann noch darf.

In Rudi regte es sich frühlingshaft. Begünstigt durch die vorherrschende Jahreszeit.

Er werde sich in der Schülerinnenschar umsehen, entschied er. Vielleicht hatte sich die Schöne unkenntlich gemacht. Hinter einer dämlichen Visage versteckt. Das sollte ihr an dieser Schule nicht schwerfallen. Was hatte ihm der Vater einst geraten? Er solle die Katze nicht im Sack kaufen. Das hatte Rudi auch nicht vor. Wer würde die altersschwache Katze Mimi kaufen wollen. Sie litt unter Verfolgungswahn, wenn sie Mäuse sah. Damals zweifelte Rudi am Verstand seines Vaters. Nun nicht mehr.

Angetan mit dieser Schläue nahm er den Zettel an sich. Sodann begab er sich zur Morgentoilette und dann an den Frühstückstisch. Mit ihm saß der Wellensittich Beppo. Der allerdings auf dem Tisch. Die Eltern waren wegen beruflicher Verpflichtungen nicht zugegen.

Schulischer Aufenthalt

In der Schule erschien er wie üblich 15 Minuten zu spät. Er nannte das akademisches Viertel. Während der agierende Geschichtslehrer die Schüler an einer Schlacht teilnehmen ließ, betrachtete Rudi die beiden nebensitzenden Schülerinnen. Die hielten sich vom Schlachtgetümmel fern und schminkten sich die Lippen. Kriegsbemalung, konstatierte Rudi. Keine wurde dadurch hübscher. Blaue Augen hatten sie auch nicht. Und Gold auf dem Kopf ohnehin nicht.

“Was glotzt du uns so an?” beschwerte sich die eine. “Guck aus dem Fenster, da fliegt ein Rollmops!”

“Neiiiin! Ist das die Möglichkeit”, rief er nach der Rollmops-Sicht, “da guckt Bob Dylan herein!”

Die Mädchen ließen den Lippenstift sinken und stierten aus dem Fenster. Dem Lehrer glitt die Schlacht aus der Befehlsgewalt. Seine Soldaten interessierten sich auch für Bob Dylan.

“Wo?” fragten sie im Chor.

“Da draußen vor dem Fenster!” bekräftigte Rudi.

“Wie kommt er dorthin?” fragte jemand.

Rudi, mit den Schultern zuckend: “Weiß ich. Vielleicht ist er auf der Durchreise von Amerika nach Russland.”

Die Schüler, vor allem die weiblichen, waren nun sehr aufgeregt. Aufgeregter als im Schlachtgeschehen.

“Herr L.”, fragte eine Schülerin, “darf ich Bob Dylan hereinbitten?”

Das Mädchen war Susanne S. Die schied als Erste wegen völliger Verblödung aus.

Rudi laut: “Ich habe mich geirrt. Das war nicht Bob Dylan, sondern John Lennon!”

Gerda Z. sank mit einem tiefen Seufzer in Ohnmacht. Die auch nicht, stellte Rudi fest.

Herr L. bemühte sich, die Schüler wieder schlachtreif zu machen. Das tat er mit dem Hinweis, dass Rudi der siegreich vorrückenden Truppe in den Rücken gefallen sei. Ein typisches Beispiel für Vaterlandsverrat und Wehrkraftzersetzung.

Die Schüler kehrten in die Schlacht zurück. Die beiden Nachbarinnen setzten die Färbung ihrer Lippen fort. Zuvor zeigten sie Rudi den Vogel.

“Ihr auch nicht”, sagte er ihnen, was sie natürlich nicht kapierten.

Während Herr L. die Schlacht zum siegreichen Ende führte, schlief Rudi pazifistisch.

 

Pausengespräch

 

Doch schon mit dem Läuten der Schulglocke zur ersten Pause war er wieder hellwach. Heute durfte er sich keinen Dauerschlaf gönnen. Es galt, die Schöne zu entdecken oder auch nicht.

Gezielt steuerte er auf ein Mädchen zu, dass mit etwas mehr Intelligenz behaftet schien. Sie hielt sich vom blöden Geschnatter der dummen Gänse fern.

“Hallo!” sprach er sie an. “Schau mir in die Augen, Kleines!”

Sie tat es mit der Frage, ob er sich in sie verlieben wolle. Durchs Fernsehen war ihr die Fragestellung bereits bekannt.

“Das wird sich herausstellen”, erwiderte Rudi. “Wie ich sehe, hast du braune Augen. Waren die vorher mal blau?”

Sie überlegte. Sollte sie Rudis Verstand anzweifeln? Die Mühe wollte sie sich sparen und sagte deshalb: “Früher, als ich noch ein Baby war, waren sie blau.”

“Warst du als Baby mal vom Töpfchen gefallen?”

“Wieso?”

“Wegen der blauen Augen.”

“Du Depp, die haben sich im Laufe der Jahre verfärbt. Das geschieht bei manchen Menschen.”

“Du hast also tatsächlich braune Augen? Belüge mich nicht, sonst hast du gleich wieder blaue.”

Sie begann zu heulen und lief zur Gruppe der blöde schnatternden Gänse. Der teilte sie mit, dass Rudi sie schlagen wolle.

Die Gänse formierten sich zu einem Haufen entschlossener Amazonen. Die kräftige, gefürchtete Elisabeth schritt voran. Die Gänse-Amazonen folgten ihr. Vor Rudi baute sich Elisabeth mit leicht gespreizten Beinen und in die Hüfte gestemmten Fäusten auf.

“Willst du eine in die Fresse haben?” fragte sie barsch.

Rudi wusste Elisabeths Stärke zu schätzen, weshalb er konterte: “Schätzchen, wer wird denn gleich so grob sein?”

Während der Frage fiel ihm Elisabeths Haarfarbe auf. Ihr blonder Wuschelkopf funkelte im Licht der Morgensonne wie Gold. Sofort senkte er den Blick in Richtung ihres Augenpaares. Donnerwetter, durchfuhr es ihn, es war blau. Zwar nicht himmelblau, aber blau wie ihre verwaschene Jeans.

“Du bist es also!”

Die Feststellung klang enttäuscht, denn Elisabeths Angesicht war alles andere als lieblich. Sie hatte die gleiche Visage wie ihr Vater. Der war ein Trinker und Raufbold. Aus dem Volk war sie jedenfalls. Aus dem gewöhnlichsten. Rudi schüttelte es.

“Hast wohl Schiss, du Scheißer?” deutete Elisabeth Rudis Schütteln falsch. “Gleich wirst du Zwei in der Fresse haben, wenn du nicht sofort sagst, weshalb du Inge hauen wolltest!”

“Wer ist Inge?” stellte sich Rudi ein bisschen unwissend, um Zeit für eine Gesamtbetrachtung Elisabeths zu haben. Nicht nur ihr Gesicht war abstoßend, sondern auch ihre Statur. Die ähnelte der des Zuchtbullen Axel des Bauern R.

Sein Fazit fasste Rudi in die Worte: “Auf mich kannst du morgen Abend warten, bis du schwarz bist.”

Elisabeth guckte dümmlich.

“Du hast sie wohl nicht mehr Alle!” schnauzte sie Rudi an. “Ich auf dich warten? Das hast du bestimmt geträumt, du Affe!”

“Das stimmt”, pflichtete Inge bei, “Rudi ist ein Affe.”

Die engste Freundin Elisabeths, die wohl klügere, stellte ihm die Frage, ob er wirklich geträumt habe, Elisabeth werde ihn morgen Abend erwarten. Und wenn ja, warum.

Dann muss ich wohl deutlich werden, sagte sich Rudi.

“Das habe ich nicht geträumt. Das ist mir mit einigen Sätzen auf einem Zettel mitgeteilt worden.”

“Einigen Sätzen?”

Elisabeth zeigte sich verblüfft und nahm die Fäuste aus den Hüften.

“Waren die Sätze fehlerfrei?”

“Die waren super fehlerfrei.”

Ihr Zorn wandelte sich in grunzendes Lachen.

“Dann ist der Zettel nicht von mir.”

Die Amazonen-Gänse lachten pflichtgetreu mit.

Rudi blieb ernst. Als das Lachen verklungen war, wollte er wissen, weshalb Elisabeths Haare in der Morgensonne wie Gold glänzten.

“Weil ich sie mit Gold-Haarlack besprayt habe, du Dämlack”, erwiderte sie und belachte Rudis Einfältigkeit erneut. Die Gänse lachten mit.

Elisabeths engste Freundin machte darauf aufmerksam, dass es interessant wäre, den genauen Wortlaut des Zettels zu erfahren. In den Amazonen erwachte die weibliche Neugier.

“Lies vor!” verlangte Elisabeth. Sie stemmte die Fäuste wieder in die Hüften.

Rudi zog den Zettel aus der Hosentasche, glättete ihn kurz zwischen beiden Handflächen und … -

Die Schulglocke läutete. Die Pause war beendet.

“Die Sätze hören wir in der nächsten Pause”, gab Elisabeth unmissverständlich zu verstehen.

“Selbstverständlich”, bejahte Rudi und verschwand ebenfalls im Schulgebäude.

Unterrichtsverlauf

In der folgenden Unterrichtsstunde, einer Mathematikstunde, gab er sich anfangs nicht dem Schlaf hin. Er fasste die bisherigen Ergebnisse seiner Erkundung zusammen und rekapitulierte, dass auch keines der Mädchen aus Elisabeths Kampftruppe Anzeichen von Liebreiz aufweise. Wer konnte die Schöne dann aber sein? Mit Bedauern stellte er fest, dass er den Mädchen des Dorfes bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Das erwies sich nun als hinderlich.

In plötzlicher Erleuchtung klatschte er sich an die Stirn. Na klar, die Schöne war keine Hiesige, sondern eine Nichthiesige. Sicher eine aus dem Nachbardorf, in dem man ihn als Discogänger und Komasäufer gut kannte.

Rudis Klatschen war von den Schülern gehört und von Herrn B., dem unterrichtenden Mathematiklehrer, gesehen worden. Ihn erfasste unbändige Freude. Ausgerechnet Rudi, dieses denkfaule Subjekt, hatte sich an die Stirn geschlagen. Ebenso wie der geniale Mathematiker Paul Plus, der sich infolge eines Geistesblitzes an die Stirn geschlagen und dabei zwei Fliegen auf einen Schlag erschlagen hatte. Dieser Schlag fand Niederschlag im Guinness-Buch der Rekorde und blieb bislang ungeschlagen.

Rudi hatte zwar nicht zwei Fliegen ins Jenseits befördert, doch wusste er sicherlich die Lösung der komplizierten Rechenaufgabe, die an der Tafel stand. So glaubte B.

“Mein lieber, lieber Rudi”, verließ er die sonst übliche Anrede ‘Du zweifach gehörnter Ochse’, “lasse bitte das Ergebnis wissen!”

Die Schülerköpfe drehten sich nach hinten in Rudis Richtung. Der war von der Freundlichkeit des Herrn B. überrascht. Von den Lehrern hatte er das erste und letzte Mal Freundlichkeit erfahren, als er ihnen aus seiner Schultüte Bonbons geschenkt hatte. Jedem Lehrer ein Bonbon. Dazu hatte ihm Tante Erna geraten. Diese gute Tat werde seine schulische Entwicklung ungemein günstig beeinflussen. Aus dem ungemein günstig wurde dann gemein ungünstig.

So lässt sich denken, dass Rudi nach acht verblichenen Schuljahren - eines durchlebte er noch einmal -, der urplötzlichen pädagogischen Liebenswürdigkeit misstraute. Irgend eine Boshaftigkeit steckte dahinter, glaubte er aus seinem durchaus verständlichen Argwohn.

Herr B. deutete Rudis Zögern als Bescheidenheit. Falsche Bescheidenheit, weil dieser Vollidiot noch nie etwas zum Besten gegeben hatte. Im positiven Sinne.

“So schäme dich deines Wissens nicht, kluger Rudi”, säuselte er. An dieser Stelle sagte er sonst, wenn Rudis Wissen wieder scheiterte: “Du Schwachkopf, aus dir wird nie ein brauchbarer Mensch!”

Rudi überwand sein Misstrauen und entschloss sich zur Kundgabe seiner vorläufigen Überlegungen.

“Mein Ergebnis lautet: Alle bisher getesteten Personen weiblichen Geschlechts entsprechen nicht dem Inhalt des Zettels. Sie haben kein liebliches Angesicht und nur teilweise blaue Augen. Die mit dem goldenen Haar, die doofe Elisabeth, hat nur goldenes Haarspray in den Borsten.”

Für Rudi war es in diesem Moment günstig, dass Elisabeth dieser Klasse nicht angehörte. Von dieser seiner Bemerkung würde sie natürlich erfahren. Das war sicher.

“Aaaach!” - Herr B. dehnte dieses Wort verblüfft und enttäuscht zugleich -, “dir Hohlkopf ist es also nicht um die Lösung der Mathematikaufgabe getan, sondern um die Darstellung der doofen Elisabeth!”

Die Schüler feixten und dachten: Der kriegt auch sein Fett.

“Wie sehr bin ich wieder einmal enttäuscht von dir. Meine Liebenswürdigkeit hast du benutzt, um Elisabeth, die ebenso doof ist wie du, einzuschätzen. Einschätzungen gehören in den Deutschunterricht und nicht in einen Unterricht, der kluges Denken verlangt.”

B. schnaufte. Die Schüler setzten ihr Feixen fort. Als sich sein Schnaufen gelegt hatte, verlangte er die Herausgabe des ominösen Zettels. Sicherlich wieder eine der gängigen Schweinereien in Schriftform. Vielleicht sogar mit pornographischem Hintergrund. Im schlimmsten Fall sogar mit einer aufreizenden Zeichnung versehen.

Er trat an Rudi heran und streckte ihm verlangend die rechte Hand entgegen. Rudi dachte gar nicht daran, ihm dieses private Schreiben auszuhändigen. Um B. aber für seine versehentliche Liebenswürdigkeit zu danken, schlug er in die gereichte Rechte ein.

Herr B. litt für Sekunden an Atemnot. Demzufolge fehlten ihm auch die passenden Worte. Als sich seine Lungenflügel pfeifend mit Sauerstoff gefüllt hatten, riss er seine Hand aus der Rudis.

“Infamer Bengel!” schnaubte er und hob die entzogene Hand schlagbereit über Rudis Haupt.

“Wenn sie mich schlagen, wird das unangenehme Folgen für sie haben, Herr B.”

Die Schüler stellten das Feixen ein und warteten gespannt auf den Fortgang des Geschehens.

Herr B. ließ die Hand sinken - sehr ungern zwar -, doch dachte er in diesem Augenblick daran, dass er eine Frau und drei Kinder zu ernähren hatte.

“Wir fahren in der Lösung der an der Tafel stehenden Aufgabe fort”, sagte er beherrscht und wandte sich von Rudi ab und den Schülern wieder zu.

Bis zur nächsten Pause gönnte sich Rudi noch ein kleines Nickerchen.

Beim Schuldirektor

 

Als diese eingeläutet wurde, eilte er schnellen Schrittes zum Schulsekretariat, dem Vorzimmer des Schuldirektors. Als er nach höflichem Anklopfen eingelassen wurde, fragte ihn die Sekretärin wirsch, was er wolle.

“Ich wolle zum Direktor!”

“Das heißt will, du …”

Den Satzabbruch verschuldete der Schuldirektor, der in diesem Moment aus dem Direktorat trat und die Sekretärin fragte, ob seine Frühstücksmilch schon eingetroffen sei. Die Sekretärin verneinte und wies auf Rudi. “Der da will sie sprechen!”

“Das heißt nicht der da, Fräulein Wachtel, sondern der Schüler … - Wie ist doch dein Name?”

“Rudi.”

“Zuname?”

“Meine Zunahme beträgt seit voriger Woche etwa 250 Gramm, Herr Direktor.”

Der Direktor überlegte, wie er pädagogisch richtig reagieren sollte. Er entschied sich für: “Du bist und bleibst ein Schelm, Rudi 250 Gramm.”

Er lächelte, was Rudi hoffen ließ, dass er auch im Weiteren des Direktors Verständnis finden werde. Dem schien so zu werden, denn der bat ihn in sein Allerheiligstes.

“Nimm Platz!” sagte er und wies Rudi als Sitzgelegenheit einen der beiden großen Ledersessel zu, die einen eichenen Tisch säumten.

Rudi ließ sich ins weiche braune Leder fallen. Der Direktor belegte den anderen Sessel. Er schob Rudi die güldene Zigarrenkiste zu und sagte: “Bedien’ dich!”

Dieser Zugriff war Rudi nun doch etwas peinlich. Wollte ihn der Direktor testen? Zuzutrauen wäre es ihm. Schließlich war er der Boss aller Lehrer und Schüler.

“Danke ergebenst”, bediente sich Rudi einer filmreifen Floskel. Er wollte noch hinzufügen: “Ich rauche keine Zigarren, sondern nur geklaute Zigaretten”, unterließ das aber, weil er keinen vorzeitigen Rauswurf riskieren wollte. Der Direktor war zwar ein überwiegend gütiger Mensch, fuhr aber heftig aus der Haut, wenn er seine Frühstücksmilch nicht rechtzeitig erhielt.

Das war im Moment der Fall, denn des Direktors knurrender Magen vermeldete dieses Versäumnis.

“Fräulein Wachtel!” rief er zur Tür, die ihn von der Wachtel trennte, “wo bleibt meine Milch?”

Die Wachtel riss die Tür auf und ließ wissen, das dieselbe immer noch nicht eingetroffen sei.

Der Direktor knurrte böse und wollte wissen, wer für die Zustellung der heutigen Milch zuständig sei.

Die Wachtel: “Die Zuständigkeit obliegt am heutigen Tage Friedrich.”

“Friedrich?” schnob der Direktor. “Der ist doch seit fünf Jahren tot.”

“Ich meinte doch seinen Enkel.” Die Wachtel lächelte verkniffen. Sie lächelte immer verkniffen, wenn der betagte und deshalb schon recht vergessliche Direktor die Zubringer der Frühstücksmilch nicht zuordnen konnte. Ihr faltenreicher Mund sah dann aus wie der Arsch einer Ziege, wenn die ihre Notdurft verrichtete.

Sie entschwand wieder.

Der Direktor fasste Rudi näher ins Auge und fragte ihn, ob er nicht die ausstehende Milch herbeischaffen könne. Der Friedrich sei ein Trottel. Genau so einer wie sein verstorbener Großvater einer war.

Zu gern hätte Rudi des Direktors knurrenden Magen beruhigt, doch war er aus anderem Grunde hier. Der Aufenthalt bei ihm sollte als Pausenüberbrückung dienen. Weil er der sicherlich erbosten Elisabeth in die Hände fallen würde, hätte er hier an höchster Stelle sicheren Schutz. Die Milchholung würde dieser seiner Absicht aber entgegenstehen.

“Darf ich Herrn Direktor auf den Grund meines Hierseins aufmerksam machen”, lenkte Rudi seinen Gegenüber von der Frühstücksmilch ab.

“Du hast einen Grund, Rudi? Welcher ist es?” tapste der Direktor in die Falle. Doch war er auch ein langjähriger und erfahrener Pädagoge, was seine Zusatzfrage bewies.

“Weshalb wohnst du nicht dem Unterricht bei?”

“Es ist gerade Pause, Herr Direktor. Und die wollte ich nutzen, um Sie mit einer Ungebührlichkeit bekannt zu machen.”

“Ach was”, sagte der Direktor, vergaß die Milch und freute sich auf die Kundgabe einer aktuellen Basis-Begebenheit. Er kam in letzter Zeit so selten unters Schulvolk. Das letzte Mal war dies kurz vor den Weihnachtsferien geschehen. Da sprach er vor allen versammelten Schülern und Lehrern die bewegenden Worte: “Euch, liebe Kampfgefährten, ein gesegnetes und fettarmes Weihnachtsfest!”

Der Herr Direktor trank nur Magermilch.

“Herr Direktor”, begab sich Rudi nun auf den Weg der Unwahrheit, “Sie erinnern sich, dass im Treppenaufgang zu Ihrem Direktorat das Porträt unseres Bundespräsidenten hängt.”

Soweit war es noch Wahrheit. Der Direktor erinnerte sich und nickte wissend.

”Nun zu dem Ungebührlichen, das mich mit größter Abscheu erfüllt”, so Rudi weiter, jetzt den Pfad der Lüge betretend.

“Die Ungebührliche heißt Elisabeth. Sie hat sich benommen wie ein Staatsverbrecher.”

Weil er ahnte, dass der Direx fragen werde, wer Elisabeth sei, schickte er voraus, dass sie ein Mädchen mit vielen Muskeln, doch wenig Gehirn sei.

“Die kenn’ ich, die kenn’ ich”, kicherte der Schulchef, “die habe ich gestern Abend im Fernsehen gesehen. Da wurde eine neue Sportart vorgeführt. Sie heißt, wenn ich mich nicht irre, Dressing. Da hauen sich Männer und Frauen Stühle um die Ohren, dass es nur so kracht. Die muskulöse Elisabeth war auch dabei.”

Er kicherte wieder.

Der hat aber auch null Ahnung, stellte Rudi fest. Weil er ihn aber mochte, brachte er sein Wissen auf den neuesten Stand.

“Herr Direktor”, korrigierte er, “die neue Sportart heißt Wrestling.”

“Sag’ ich ja, sag’ ich ja”, gab der sich wissend.

“Und die Elisabeth, die ich meine, war nicht bei dem Sportwettkampf anwesend, den Sie gesehen haben, Herr Direktor.”

“So? Wieso denn nicht?”

“Weil sie Schülerin der 10. Klasse unserer Schule ist. Sie ist doof, faul, frech und will alle verhauen. Sie ist das ganze Gegenteil von mir, Herr Direktor.”

“Ja, ja, ich erinnere mich”, kam der auf der Höhe des neuen Wissens an. “Und mit dieser Elisabeth willst du dich trauen lassen? Ist das nicht ein bisschen früh?”

Als sein Magen das Wörtchen ’früh’ vernahm, begann er wieder zu knurren. Sein Besitzer verstand diese Laute und rief zur Tür: ”Fräulein Wachtel, wo bleibt meine Frühstücksmilch?”

Die Wachtel steckte ihren zerknitterten Kopf ins Zimmer und vermeldete, dass die Milch noch immer nicht eingetroffen sei. Sie lächelte wieder wie ein Ziegenarsch und nahm den Kopf zurück.

“Das ist mir rätselhaft”, grübelte der Direktor, “bisher war die Milch immer pünktlich zur Stelle.”

“Vielleicht wird sie noch gemolken oder das Kuheuter ist ausgetrocknet”, tröstete Rudi und setzte seine Mär fort.

“Besagte Elisabeth hat das Bild des Bundespräsidenten bespien”, bemühte er sich um eine dem Direktor gefällige Sprache.

“Was hat sie? Geschrien?”

“Bespien! Bespuckt, Herr Direktor!”

“Das darf sie doch nicht.”

“Eben. Deshalb bin ich hier, um Sie von diesem Frevel in Kenntnis zu setzen.”

Um des Direktors Empfinden in Rage zu bringen, fügte er hinzu: “Stellen Sie sich mal vor, Herr Direktor, man hätte nicht den Bundespräsidenten, sondern Sie aufgehängt.”

“Dann hätte Elisabeth mich bespien”, wurde dem Chef die Widerwärtigkeit bewusst.

“So ist es”, freute Rudi dessen Verständnis.

“Das muss doch geahndet werden”, meinte der Chef, “und zwar mit aller Härte des Gesetzes.”

Die Tür flog auf, herein schwebte die Wachtel und jubelte: “Herr Direktor, die Milch!”

Sie stellte die Magermilchpappe auf den eichenen Tisch.

“Wie glücklich und zufrieden ich jetzt bin”, freute sich der gealterte Pädagoge.

Er schraubte den Pappbehälter auf, füllte ein Glas mit Milch und trank es in drei großen Zügen leer. Sein Magen dankte es ihm mit hörbarem Blubbern.

Der Direx rülpste verhalten und fragte, ob Rudi auch einige Tropfen probieren wolle. Milch sei sehr gesund.

Rudi dankte und erinnerte an die harte Bestrafung Elisabeths.

“Wie gehen wir da am besten vor?”, stellte der Direktor in den Raum.

Rudi erfüllte es mit Stolz, in die Straffindung einbezogen zu werden.

“Meine Meinung ist”, legte er dar, “dass Elisabeth in keiner Hofpause den Schulhof betreten sollte. Stubenarrest sozusagen. Zwei bis drei Wochen lang. Vielleicht auch noch länger.”

“Wer klingelt denn da?” fragte der Direktor, die Pausenklingel vernehmend.

“Die Pause ist zu Ende, Herr Direktor. Ich muss wieder zum Unterricht, um mein Wissen zu erweitern.”

“Du bist ein braver Junge”, lobte der Chef. “An dir sollten sich die Mitschüler ein Beispiel nehmen. Nun geh‘!”

“Was wird mit der ungezogenen Elisabeth?” erinnerte ihn Rudi.

“Die schickst du umgehend zu mir. Sie wird sechs Wochen lang den Schulhof nicht betreten dürfen.”

“Während der Pausen, Herr Direktor, während der Pausen. Nicht vergessen!”

Rudi hüpfte beschwingt die Treppen des Treppenaufgangs hinunter. Am Bundespräsidenten vorbeispringend rief er dem zu: “Da staunst du, was?”

In der Schultoilette

Rudi strebte nicht sofort dem Ort seiner Wissenserweiterung zu, sondern dem Unterrichtsraum der 10. Klasse. Auf dem Wege dorthin traf er auf die Schülerin Veronika, die eben die Schultoilette verlassen hatte. Er wollte nicht wissen, was sie in dieser gemacht hatte, sondern, ob sie eine Maid aus dem Volk sei. Sie war eine derjenigen, die er noch nicht befragt hatte. Da auch sie kein liebliches Angesicht, keine blauen Augen und keine goldenen Haare hatte, blieb also die Frage nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit.

“Ich bin eine Volksdeutsche”, sagte sie nicht ohne Stolz.

Den Begriff wollte Rudi genauer erklärt wissen.

“Na ja”, schränkte sie ein, “ich bin nur ein bisschen volksdeutsch. Aber meine Großeltern waren es vollständig. Die waren nämlich nach dem Krieg aus dem Warthegau gekommen.”

“Wo liegt das denn?”

“Das lag in Polen.”

“Was heißt lag? Liegt es da nicht mehr?”

“Das weiß ich nicht. Meine Großeltern liegen jedenfalls in Deutschland.”

“Wo?”

“Auf dem Friedhof.”

Veronika wurde plötzlich weinerlich zumute. Sie hatte die Großeltern so gemocht.

“Heule nicht”, beschwichtigte Rudi. “Du bist also nur ein bisschen eine Volksdeutsche, ansonsten eine richtige Deutsche?”

“Ich glaube schon.”

“Wie eine richtige Deutsche siehst du aber nicht aus.”

Jetzt heulte Veronika laut los. “Denkst du vielleicht, ich bin die Königin von England?”

Dann rannte sie flennend davon.