Die vergessene Sonate - Constanze Wilken - E-Book
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Die vergessene Sonate E-Book

Constanze Wilken

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Beschreibung

Ein altes Geheimnis, der Zauber von Musik und die Macht der Liebe: „Die vergessene Sonate“ von Constanze Wilken jetzt als eBook bei dotbooks. „Alles schienen die Töne auszudrücken: ein sehnsuchtsvolles Verlangen, die Hoffnung auf Erfüllung des scheinbar Unerreichbaren, Zärtlichkeit und immer wieder die wehmütige Erkenntnis, dass mehr als Hoffnung nicht möglich ist.“ Als Viviane von ihrer Großtante ein geheimnisvolles Musikstück erbt, ist sie sofort fasziniert von der ungewöhnlichen Intensität der Melodie. Sie will herausfinden, woher die Noten stammen und wie die antike Partitur in den Besitz ihrer Familie gelangt ist. Ihre Suche führt sie nach Prag, wo sie zu ihrer eigenen Überraschung schon bald auf die Spuren einer fast vergessenen Liebe stößt … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die vergessene Sonate“ von Erfolgsautorin Constanze Wilken. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 466

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Über dieses Buch:

»Alles schienen die Töne auszudrücken: ein sehnsuchtsvolles Verlangen, die Hoffnung auf Erfüllung des scheinbar Unerreichbaren, Zärtlichkeit und immer wieder die wehmütige Erkenntnis, dass mehr als Hoffnung nicht möglich ist.«Als Viviane von ihrer Großtante ein geheimnisvolles Musikstück erbt, ist sie sofort fasziniert von der ungewöhnlichen Intensität der Melodie. Sie will herausfinden, woher die Noten stammen und wie die antike Partitur in den Besitz ihrer Familie gelangt ist. Ihre Suche führt sie nach Prag, wo sie zu ihrer eigenen Überraschung schon bald auf die Spuren einer fast vergessenen Liebe stößt …

Über die Autorin:

Geboren an der norddeutschen Küste zog es Constanze Wilken nach einem Studium der Kunstgeschichte, Politologie und Literaturwissenschaft für einige Jahre nach England. Im wildromantischen Wales entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Schreiben, aber auch für Antiquitäten. Die Forschungen zur Herkunft seltener Stücke und ausgedehnte Reisen der Autorin sind Inspiration und Grundlage für ihre Romane.

Constanze Wilken veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Romane »Die Frau aus Martinique«, »Was von einem Sommer blieb« und »Das Geheimnis des Schmetterlings«.

Die Autorin im Internet: constanze-wilken.de

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eBook-Neuausgabe Januar 2017

Copyright © der Originalausgabe 2004 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin, Marion von Schröder

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Patrick Wang

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-776-5

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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blog.dotbooks.de/

Constanze Wilken

Die vergessene Sonate

Roman

dotbooks.

Für meinen Bruder Alexander

Der Wert, den Ehrbarkeit bewegen sollte,

ist Liebe, der Bogen der Liebe;

und lieben kann der Förster so

wie der mächtige Edelmann:

süßer Heiliger, du bist wahrhaft ehrenwert,

doch ohne Liebe bedeutest du mir nichts.

Fulke (Greville), Lord Brooke

Prolog

Böhmen, 1748

Die Kerze war fast vollständig heruntergebrannt und erhellte den Schreibtisch nur spärlich. Mit schnellen sicheren Bewegungen setzte der Mann, dem das wenige Licht auszureichen schien, mit einer Feder schwarze Punkte auf die vor ihm liegenden Papierbögen. In seinem Kopf verbanden sich die Punkte, die er mit kaum lesbaren Strichen in Viertelnoten, Kapriolen oder Triolen umwandelte, zu Musik. Er konnte kaum so schnell schreiben, wie die Melodie in seinem Inneren spielte, und er wollte nicht eine Note überhören, denn er war sich nicht sicher, ob er die Töne in genau dieser Anordnung ein zweites Mal erschaffen konnte. Wann er einer Eingebung Folge leisten musste, hatte er im Laufe seines noch jungen Komponistenlebens bereits gelernt. Diese Musik, das spürte er, war das Beste, was er je geschrieben hatte und vielleicht je schreiben würde. Sie klang süß, leidenschaftlich, voller Sehnsucht, und gleichzeitig erfüllte ihn eine Traurigkeit, die ihm die Tränen über die Wangen laufen ließ, ohne dass er davon Notiz nahm. Er seufzte tief, setzte mit schwungvoller Bewegung einen letzten Strich und ließ die Feder aus der Hand gleiten.

Erschöpft lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Einige Strähnen hatten sich aus seinen schulterlangen schwarzen Haaren gelöst, die im Nacken zu einem Zopf gebunden waren. Mit den Händen fuhr sich der Musiker über das blasse Gesicht, so als wolle er die dunklen Schatten unter seinen Augen, die von angestrengt durcharbeiteten Nächten zeugten, fortwischen. Aus den feingeschnittenen Gesichtszügen sprach Müdigkeit, wohingegen seine wachen dunklen Augen diesen Eindruck Lügen straften. Ein Blick auf das Rotweinglas erinnerte ihn daran, dass sein Weinvorrat aufgebracht war, doch er benötigte jetzt keinen Wein, seine Sinne waren berauscht von seiner Musik. Abrupt stand er auf, stieß dabei fast den Stuhl um, zog den langen Rock aus, unter dem er Weste und Hemd trug, und warf sich auf das schmale Bett, das an der Wand stand. Sein Gönner mochte ein Förderer der Künste sein, ein großzügiger Mäzen war er nicht. Es war so kalt in seinem Zimmer, dass der Musiker den prächtigen Gehrock auch beim Arbeiten anbehielt. Das Feuer im Kamin war schon vor Stunden erloschen. Neues Feuerholz würde man ihm erst am nächsten Morgen zuteilen, doch Klagen und Beschwerden prallten am kaltherzigen Panzer seines Mäzens ab wie Hagelkörner von einer Steinmauer. Auch ein so hochrangiger Adliger wie er hätte es nicht leicht unter den Habsburgern, dozierte der geizige Aristokrat ständig vor seiner Familie und den Bittstellern, die sich regelmäßig bei ihm einfanden. Der Musiker schnaubte verächtlich bei dem Gedanken an den geldgierigen Adligen, der seinen Untergebenen jeden Taler mit Hilfe immer neuer Steuern aus der Tasche zog, um seinen aufwendigen Lebensstil finanzieren zu können. Seine Frau verbrachte die meiste Zeit am Hof im fernen Wien, weit genug weg, um ihren Gatten seinen zahlreichen Geliebten zu überlassen.

Der Komponist erschauerte und zog die schwere Bettdecke über sich. Es war jedoch nicht nur die eisige Kälte in dem spärlich möblierten Raum, die ihm zu schaffen machte. Seine Miene verfinsterte sich, als er an die Gerüchte dachte, die man ihm jüngst zugetragen hatte. Es konnte einfach nicht der Wahrheit entsprechen, dass dieser Laffe sich nun auch noch seiner Angebeteten zugewandt hatte. Der Musiker hielt inne. Natürlich konnte das stimmen, denn Lida war nicht nur eine schöne Frau, sondern dazu noch eine überaus talentierte Geigerin, die Konzertmeisterin seines Orchesters. Es erfüllte ihn mit Stolz, wenn er daran dachte, wie sie seine Musiker für seine Kompositionen begeisterte und mit welch großem Einfühlungsvermögen sie bisher jeden ihrer Soloparts interpretiert hatte. Nur ihrem künstlerischen Können und ihrer Fürsprache bei »Seiner Hoheit« hatte er es zu verdanken, dass er seine Stelle als Hofkomponist noch nicht verloren hatte. Seit Wochen rang er mit sich, ihr seine Gefühle zu offenbaren, doch bis heute hatte er keine Möglichkeit gesehen, sich ihr in angemessenen Worten zu erklären. Seine Sprache war die Musik, und diese Sonate, die er nur für sie geschrieben hatte, würde ihr endlich zu verstehen geben, was er für sie empfand.

Er konnte nicht bis morgen warten, und es war ihm egal, welche Konsequenzen ihn erwarteten, wenn er die Interessen seines Brotherrn durchkreuzte. Schließlich war er kein Feigling! Vielleicht würde er nicht sofort eine neue Stellung finden, doch Qualität setzte sich letztendlich immer durch. Auf keinen Fall würde er Lida aufgeben. Für eine Sekunde überkam ihn eine Welle ohnmächtiger Angst, denn die Rachsucht und unkontrollierten Wutausbrüche seines Gönners waren ihm allzu gegenwärtig. Mit einem entschlossenen Griff warf der Komponist die Decke von sich, streifte den Rock wieder über und verließ mit den Notenblättern den Raum. Angst war etwas für den Zögerlichen und nichts für den Entschlossenen. An einem eisernen Haken hing eine Öllampe von der Decke herunter und tauchte den vor ihm liegenden Gang in diffuses Licht. Einen Moment horchte der Komponist in die nächtliche Stille, doch nichts regte sich. Leise klopfte er schließlich an eine der Türen in dem langen Flur.

»Lida, ich bin es!«

Es dauerte einen Moment, dann raschelten seidene Stoffe, und ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Langsam wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet.

»Jetzt lass mich hinein, bitte, bevor noch jemand vorbeikommt.« Er drängte sich an der blonden Frau vorbei in das Zimmer, aus dem ihm angenehme Wärme entgegenschlug.

»Du hast Feuerholz. Er ist großzügiger zu einem Mitglied des Orchesters als zu seinem Komponisten.« Seine Stimme klang bitter.

»Hör auf. Warum kommst du um diese Zeit?« Die schlanke Frau sah blass aus. Mit fahrigen Bewegungen zog sie den dünnen Seidenmantel enger um den zerbrechlich wirkenden Körper.

Unentschlossen nestelte er an den Blättern in seiner Hand.

»Na, zeig schon her!« Sie lächelte, nahm ihm die soeben vollendete Sonate aus den Händen und begann, die Noten zu studieren.

Gebannt beobachtete er ihre Züge und schien beruhigt, als er sah, wie sich ihr Körper anspannte und ihre Lippen leise und konzentriert die Töne mitsummten. Sie sah ihn auch nicht an, als sie ihre Violine, auf deren rostroter Lackierung das Kaminfeuer dunkle Schatten tanzen ließ, aufnahm und den Bogen ansetzte. Erst als der Klangkörper ihres Instruments die Noten hörbar machte und die Melodie sie beide zu umschlingen begann, hob sie den Blick. Ihre blauen Augen schimmerten feucht, während ihre Finger sicher die Töne griffen und der Bogen geschmeidig über die Saiten flog. Nachdem die letzte Note verklungen war, standen sie regungslos für Sekunden.

»Lida«, durchbrach er die Stille als Erster.

Sie legte Violine und Bogen auf einen neben ihr stehenden Sessel und trat auf ihn zu.

Kaum hörbar flüsterte sie: »Ich habe es nicht gewusst. Ich habe es doch nicht gewusst. Verzeih mir!«

1. Kapitel

Dorset, 2002

Erschöpft warf Viviane Byrne die Schlüssel in die Schale auf der Ablage. Die Haustür fiel hinter ihr ins Schloss. Für den heutigen Tag hatte sie genug gesehen und gehört. Trotz des schönen Wetters waren die Gäste in »Jo’s Coffeeshop« schlecht gelaunt gewesen. Normalerweise freute sich Viviane auf die Tage, an denen sie ihrer Freundin aushalf. Heute jedoch schien sich alles gegen sie verschworen zu haben. Zuerst war die Espressomaschine kaputtgegangen, dann hatte sie ein volles Tablett zu Boden fallen lassen, und zu guter Letzt beschwerten sich mehrere Gäste über die begrenzte Kuchenauswahl. Jo war bekannt für ihre hausgemachten Kuchen, nur waren ihr am Morgen zwei Bleche verbrannt, und das Backen brauchte eben seine Zeit.

Viviane hob die Post vom Fußboden auf und ging in den Wohnraum. Dort öffnete sie die Terrassentüren, damit die warmen Strahlen der Abendsonne in die Wohnung scheinen konnten. Mit einem Krug Eistee in der einen und einer Schale Erdbeeren in der anderen Hand setzte sie sich in einen knarrenden Gartenstuhl. Briefe und Werbesendungen legte sie auf den Tisch und betrachtete die sommerliche Blumenpracht des wild wuchernden Bauerngartens.

Die Besitzer des Reetdachhauses, in dem sie seit einigen Monaten eine Wohnung gemietet hatte, waren in die Ferien gefahren. So hatte sie den Garten für sich allein, was ein unerhörter Luxus war, den sie zu genießen wusste. Viviane streifte die Sandalen von den Füßen und streckte die Beine aus. Welcher Teufel hatte sie nur geritten, als sie sich entschlossen hatte, nach Shaftesbury in Dorset zu ziehen? Die Landschaft war romantisch. Sanfte grüne Hügel wurden unterbrochen von Ackern und Wiesen und malerischen kleinen Dörfern. Als sie das erste Mal nach Dorset in Südengland gekommen war, hatte sie die liebliche Umgebung als perfekte Postkartenidylle empfunden. Sie hatte Thomas Hardys Romane gelesen und war von einem Entzücken in das nächste verfallen, während ihre Freundin Jo Geschichten über die alten Häuser in den verträumten Gassen erzählte.

Viviane seufzte. Sie war hierher geflohen, doch sie hatte übersehen, dass ihre Probleme ein Teil ihres Gepäcks geblieben waren. Ihre Mutter, Christine, hatte ihr prophezeit, dass sie ihr Leben nicht in den Griff bekommen würde. Viviane verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln. Christine hatte das in dem für sie typischen vorwurfsvollen Ton gesagt. Sie strich sich die glatten weizenblonden Haare aus der Stirn und wickelte sie im Nacken zu einem losen Knoten. Wie gern hätte sie mit ihrem Vater gesprochen, der es immer verstand, sie aufzumuntern. Aber er befand sich irgendwo auf dem Indischen Ozean. Arno Kronauer war leidenschaftlicher Segler und erfüllte sich den Traum einer Weltumseglung.

Viviane trank den kühlen Eistee. Ihr Vater war Gregory von Anfang an mit Skepsis gegenübergetreten. Kaum jemand konnte sich Gregory Charles Byrnes Charme entziehen, doch Arno hatte hinter die blendende Fassade aus gutem Aussehen, erstklassiger Ausbildung und riesigem ererbtem Vermögen geblickt und seiner Tochter von einer Heirat abgeraten. Christine, der sehr viel an gesellschaftlichem Ansehen und materieller Sicherheit gelegen war, hatte ihrer Tochter sofort zu dieser Verbindung geraten. Ein Zitronenfalter setzte sich auf eine der aufgeblühten Hortensien. Seine durchscheinenden Flügel vibrierten in der stillen Luft. Viviane sog den Duft der Blumen ein und fragte sich, warum immer alles so kompliziert sein musste.

Sie hatte Gregory auf der Universität in München kennengelernt. Obwohl sie um seinen Ruf als Herzensbrecher wusste, hatte sie sich Hals über Kopf in den attraktiven blonden Engländer verliebt. Sie glaubte ihm, wenn er davon sprach, nicht zu tun, was seine Familie von ihm erwartete, nämlich in die Firma einzusteigen. Das hieße, einen Vorstandsposten in der größten Baufirma in Bristol zu besetzen und die Kontakte im Countryclub zu pflegen. Gregory jedoch hatte andere Pläne, war voller Idealismus und wollte, dass Viviane ein Teil seines Lebens würde. Er träumte davon, selbst etwas aufzubauen und Hilfsprojekte in bedürftigen Ländern zu fördern. Sie heirateten noch während des Studiums. Der erste Rückschlag erfolgte, als Gregory die Zulassung zum Vordiplom wiederholen musste. Die Semesterferien nutzte er nicht, um sich auf die Nachprüfung vorzubereiten, sondern begleitete Freunde auf einem Segeltörn durch die Ägäis. Nach seiner Rückkehr war er übellaunig und trank schon am Nachmittag das erste Glas Champagner. Seine Eltern, die über die Heirat nicht erfreut gewesen waren, trugen ihren Teil zu den Streitigkeiten der jungen Eheleute bei. Sie verfolgten eine kluge Strategie, indem sie den Geldhahn nicht ab-, sondern richtig aufdrehten. Gregory war es nicht gewohnt, ohne Geld dazustehen oder darüber nachdenken zu müssen, wie viel etwas kostete, er kaufte es einfach. Viviane versuchte ständig, ihn daran zu erinnern, dass sie auf eigenen Füßen stehen wollten, und dazu gehöre eben auch, anfangs auf gewisse Dinge zu verzichten.

Sie arbeitete stundenweise als Hilfskraft im Historischen Institut. Gregory ging auf Partys im Golfclub. Viviane schrieb an ihrer Magisterarbeit oder lernte für die Examen. Sie entschuldigte seinen Lebensstil damit, dass er sich nicht von den alten Freunden trennen konnte, die ihn immer wieder anriefen und einluden. Er wollte nicht zum Außenseiter und Spießer werden, nur weil er jetzt verheiratet war. Es gab Anzeichen, aber sie war zu beschäftigt gewesen, sie zu erkennen. Seufzend betrachtete sie die untergehende Sonne. Der Blumengarten wurde in einen goldenen Schimmer getaucht. Genauso hatte sie die Ehe gesehen, in einem verklärten Licht. Die Wirklichkeit hatte sie rasch und schmerzhaft ernüchtert.

Eines Abends, sie steckte mitten in der Endphase für die Examensvorbereitungen, kam sie zurück in die Wohnung, um sich Unterlagen für die Arbeitsgruppe abzuholen. Gregorys Wagen und ein rotes Sportcoupé standen unten an der Straße, und sie nahm an, dass er Freunde mitgebracht hatte. Weder in der Küche noch im Wohnzimmer traf sie jemanden an. Auf dem Küchentisch standen zwei Weingläser und die Reste eines Essens aus dem Feinkostladen. Entschlossenen Schrittes ging sie auf die angelehnte Schlafzimmertür zu und stieß sie schwungvoll auf. Die Szene bedurfte keiner Erklärungen. Eine wohlproportionierte Brünette saß rittlings auf Gregory, der die Schenkel seiner Gefährtin entsetzt losließ, als Viviane in der Tür erschien. Provozierend langsam drehte die Brünette ihren Kopf und lächelte sie süffisant an: »Du hättest dich mehr um ihn kümmern sollen. Ich habe nur getan, worum er mich gebeten hat.«

Saskia Mettenbach war eine attraktive Frau und Viviane von festlichen Veranstaltungen her bekannt. Sie war unverheiratet und Inhaberin einer erfolgreichen Werbeagentur. Ausgerechnet mit dieser arroganten Ziege musste er sie betrügen.

Trocken sagte Viviane: »Stimmt das, Greg?«

Ihr Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn und schob Saskia zur Seite. »Oh, Darling, irgendwie hat sie ja sogar recht«, verteidigte er sich. »Du kommst auf keine Party mehr mit und hast auch sonst kaum Zeit für uns.«

»Ich arbeite, und in drei Wochen sind die Abschlussprüfungen! Da du dein Studium seit Langem nur noch als Alibi betreibst, ist dir so was natürlich fremd. Aber jetzt ist verdammt noch mal nicht der Moment, mich zu beschuldigen! Ich wünsche euch noch viel Spaß!«

Wütend und zutiefst verletzt verließ Viviane die Wohnung. Am liebsten wäre sie gerannt, sie bemühte sich jedoch um einen würdevollen Abgang. Ihr Leben war nur noch ein Scherbenhaufen, und das ausgerechnet jetzt! Wie sollte sie sich unter diesen Umständen auf die Prüfungen konzentrieren? Zwei Stunden wanderte sie ziellos durch den Englischen Garten. Ihre Augen waren so verweint, dass die Leute sie mitleidig ansahen. In die Wohnung wollte sie auf keinen Fall zurück. Sie hätte Gregorys Anblick nicht ertragen. Aber sie musste mit jemandem reden. Es gab nur einen Menschen, den sie in dieser Situation sehen wollte – Marie.

Marie war die Schwester ihrer Großmutter mütterlicherseits und lebte seit dem Tod ihres Mannes allein in einem schönen alten Haus in der Nähe von Passau. Passenderweise lautete der Name ihres Mannes Josef. Der Tscheche war ein begnadeter Maler gewesen, dessen Bilder in der ganzen Welt große Anerkennung fanden. Nur in seinem Heimatland blieb er unbekannt, denn solange die Kommunisten an der Macht gewesen waren, hatte man ihn und sein Werk als regierungsfeindlich eingestuft und verbannt. Josef litt an einem schwachen Herzen und starb zu früh. Viviane war siebzehn gewesen, als Josef starb, doch an den gebrechlichen älteren Mann mit den wachen Augen und den schlanken Händen, die auf jedes Blatt Papier wundervolle Zeichnungen zauberten, erinnerte sie sich gut.

Seitdem lebte Marie mit seinen Bildern und der Erinnerung an ihre große Liebe. Angesichts dieser tragischen Lebensumstände wurde sie keineswegs ein in sich gekehrter Mensch, der sich aus dem Leben zurückgezogen hätte. Marie war ganz im Gegenteil eine praktische, lebensfrohe und aktive Frau, die sich mit beißendem Humor und scharfem Intellekt dem Leben stellte. In ihrem großen Garten standen zahlreiche Obstbäume, deren Früchte sie Jahr für Jahr einkochte und die Marmeladen und Gelees auf dem Markt verkaufte. Streunende Katzen und Hunde fanden bei ihr vorübergehend oder, wenn es nötig war, für immer ein Zuhause. Sie engagierte sich für ein Frauenhausprojekt im Ort und lud regelmäßig Freunde zu ihrem literarischen Zirkel ein. Viviane sah die gefüllten Bücherregale vor sich, in denen sich Oscar Wilde, Thomas Mann, Jean Anouilh, Simone de Beauvoir oder Jean Paul Sartre genauso fanden wie Werke von Steve Biko oder Erica Jong.

Neben ihrem Vater war Marie, bei der sie fast mehr Zeit als in ihrem Elternhaus verbracht hatte, der Mensch, dem Viviane sich am verbundensten fühlte. »Wir sind seelenverwandt«, sagte Marie manchmal. Und tatsächlich schaffte es die alte Frau, nachdem Viviane mit den notwendigsten Sachen zu ihr gezogen war, sie so weit zu beruhigen und abzulenken, dass sie die Abschlussprüfungen bestand. Sie riet Viviane, Abstand zu gewinnen und eine Scheidung nicht sofort anzustreben, denn Marie wusste, wie viel Gregory ihrer Großnichte bedeutete.

»Ich respektiere tiefe Gefühle«, hatte sie gesagt. »Erst, wenn sie gestorben sind und der Verstand allein das Herz regiert, ist es Zeit zu gehen.«

Viviane waren diese Worte damals etwas pathetisch erschienen, doch sie reichte nicht sofort die Scheidung ein. Es dauerte ein halbes Jahr, bis sie in der Lage war, ein Gespräch mit Gregory zu führen, ohne zornig zu werden. Er bemühte sich sehr um sie, entschuldigte sich auf jede nur erdenkliche Weise, versprach ihr, sich zu ändern. Viviane glaubte ihm, und sie siedelten um nach Bristol, denn er hatte sich für die Firma entschieden und war davon überzeugt, dass sie nun, wo er Verantwortung übernehmen musste, gemeinsam glücklich werden könnten. Als Gregory jedoch wieder in seinen alten Lebensstil verfiel, sah Viviane letztlich nur einen Ausweg. Sie trennte sich endgültig von ihm und zog in das ländliche Shaftesbury, von dem ihre Freundin Jo ihr immer wieder vorgeschwärmt hatte.

Die Katze des Hausbesitzers strich um ihre Beine, und Viviane streichelte gedankenverloren über das seidige Fell des schwarz-weißen Katers, der sich auf den Boden legte und leise zu schnurren begann. Bedingt durch den Umzug und die Trennung hatte sie sich viel zu selten bei Marie gemeldet. Viviane beschloss, ihre Großtante anzurufen und möglicherweise sogar diesen Monat zu besuchen.

Die Briefe lagen noch immer ungeöffnet auf dem Gartentisch. Wahllos zog Viviane einen geschäftlich aussehenden Umschlag aus dem Haufen und öffnete ihn. Die Scheidungspapiere waren schneller als erwartet gekommen, sie brauchte nur noch zu unterschreiben, dann war ihre Ehe auch offiziell ein Teil ihrer Vergangenheit. Greg hatte sich mehr als großzügig in Fragen der finanziellen Versorgung gezeigt, und sie waren trotz allem Freunde geblieben. Sie legte die Papiere zur Seite. Neben einer Postkarte von ihrem Vater, die er von den Malediven aus abgeschickt hatte, fand sie Briefe für ihre Vermieter und einen weiteren an sie adressierten Umschlag aus Deutschland.

Viviane riss den Brief auf. »Dr. Johannes Gardel & Partner, Rechtsanwalt und Notar« stand im Briefkopf. Sie las die in umständlicher Juristensprache formulierten Zeilen und konnte nicht glauben, was dort stand. Marie war vor wenigen Tagen gestorben. Aber das konnte einfach nicht stimmen, sie wollte Marie doch besuchen und ihr so viel erzählen. Viviane begann zu schluchzen und weinte schließlich hemmungslos. Es war zu spät! Nie wieder würde Marie ihr über das Haar streichen, ihre kräftigen knochigen Hände unter ihr Kinn legen und ihr mit ruhiger Stimme einen Rat geben. Vivianes Tränen fielen auf den Brief, den ihre zitternden Hände zerknittert hatten. Am Samstag sollte die Beerdigung stattfinden.

Viviane würde in das kleine Dorf bei Passau fahren, wo Marie auf dem Friedhof der Dorfkirche ihre letzte Ruhe finden sollte. Das Wiedersehen mit dem alten Haus, an das sie so viele glückliche Erinnerungen knüpfte, hatte sie sich nicht unter so traurigen Umständen vorgestellt. Warum nur hatte Marie sie nicht angerufen, sie nicht um Hilfe gebeten? Es musste ihr doch nicht gutgegangen sein. Die Katze zu Vivianes Füßen erhob sich und rieb den kleinen Kopf an ihren Beinen. Viviane wischte sich die Tränen von den Wangen. Es war so lange her, seit sie bei Marie gewesen war, und sie wusste nicht einmal, wie es um den Haushalt ihrer Tante bestellt war.

Hatte sich jemand um sie gekümmert? Viviane konnte sich die tatkräftige Marie nicht in einem Zustand der Hilflosigkeit vorstellen. In dem Brief stand etwas von einer Testamentseröffnung, zu welcher man sie einlud. Viviane seufzte, es fiel ihr schwer, an die bevorstehenden Formalitäten zu denken, die unvermeidlich sein würden.

Sie musste für längere Zeit ihren Gedanken nachgehangen haben, denn als das Telefon plötzlich klingelte und Viviane aufblickte, war von der untergehenden Sonne nur noch ein schmaler rötlicher Schimmer zu sehen.

»Hello?«

»Kind, das ist ja fürchterlich! Hast du auch so einen herzlosen Brief von diesem Anwalt, Dr. Was-weiß-ich-wie-der-heißt, bekommen? Man kann doch mit etwas mehr Gefühl für Pietät an die Übermittlung einer solchen Nachricht herangehen und…«

»Hör auf, Mutter!« Viviane unterbrach Christines Redeschwall kurzerhand. »Du hast dich nie mit Marie verstanden, es kann dir also egal sein, wie man dir von ihrem Tod berichtet. Was willst du? Wissen, ob du im Testament bedacht wirst? Ich glaube nicht, dass es viel zu erben gibt. Sie hat sehr bescheiden gelebt, und soweit ich weiß, hat sie Josefs Bilder schon lange einer Stiftung versprochen.«

»Du bist sehr hart, Viviane. Vielleicht habe ich falsch angefangen. Ich wollte eigentlich nur wissen, wie du ihren Tod aufgenommen hast, ob es dir gutgeht.«

In Vivianes Stimme schwangen Trauer und Verbitterung mit, als sie antwortete: »Danke, die Scheidungspapiere sind ebenfalls heute eingetroffen, und dazu diese Nachricht. Vielleicht reden wir ein anderes Mal miteinander. Heute habe ich dazu einfach nicht die Kraft.«

»Als ob man Kraft brauchte, um mit der eigenen Mutter zu sprechen. Das ist wieder typisch von dir, anderen Schuldgefühle einzureden…«

Bevor Christine Kronauer sich in Rage reden konnte, beendete Viviane das Gespräch. »Auf Wiederhören, Mutter. Wir sehen uns am Wochenende, wenn ich nach Passau komme.«

»Schön, na gut. Dann wohnst du bei mir.«

»Nein, ich fliege nach München und fahre gleich weiter nach Passau. Mach’s gut.« Viviane legte auf.

Ihre Mutter würde sich die Beerdigung nicht entgehen lassen. Sie liebte dramatische Auftritte. Viviane hoffte nur, dass Christine zu beschäftigt war, um lange zu bleiben. Christine engagierte sich für verschiedene Wohltätigkeitseinrichtungen und machte kein Geheimnis daraus, dass sie gerne organisierte und repräsentierte. Auch in dieser Hinsicht gab es keine Gemeinsamkeit zwischen Mutter und Tochter, denn Viviane arbeitete gerne unabhängig für sich und verbrachte ihre Zeit lieber mit der Restauration von Möbeln und dem Querflötenspiel. Sie schrak auf. Morgen Nachmittag hatte sie drei Schülerinnen, die Querflötenunterricht bei ihr nahmen. Sie wollte die Stunden nicht absagen, denn sie mochte die Mädchen. Jo jedoch musste sie anrufen und erklären, dass sie in den nächsten fünf bis sechs Tagen keine Zeit hatte.

2. Kapitel

Als Viviane am Freitagmorgen in der Maschine nach München saß und London zwischen den Wolken verschwinden sah, war sie mit den Gedanken schon in einem kleinen Dorf, das zur Gemeinde Hutthurm, etwa zwanzig Kilometer nördlich von Passau, gehörte. Da Marie umständliche Erklärungen nicht mochte, hatte sie sich bei der Lage ihres Hauses immer auf die nahe gelegene Stadt bezogen, und so hielt es auch Viviane. Auf dem Münchener Flughafen war viel Betrieb, und es dauerte lange, bis Viviane schließlich in einem Mietwagen saß und die Autobahn in Richtung Bayerischer Wald entlangfuhr. Von der A3 bog sie auf die Landstraße nach Aicha, von wo es nur noch wenige Kilometer bis nach Hutthurm waren.

Während sie durch die vertraute Umgebung fuhr, die reich an Burgen und Schlössern war, schnürte sich ihr Magen mehr und mehr zusammen. Das Wetter hätte schöner nicht sein können. Wiesen und Äcker lagen in der heißen Nachmittagssonne, vereinzelt erklang das Geläut einer Kuhglocke. Tränen fielen auf ihre Bluse, und Viviane umklammerte das Lenkrad fester, entschlossen, sich von der aufkeimenden Trauer nicht überwältigen zu lassen. Rechter Hand lag ein großer Ferienhof, auf dem Rotwild gezüchtet wurde. Von diesem Nachbarn hatte Marie immer ihr Wildbret bezogen. Die Familie Baukmann bewirtschaftete den ausgedehnten Besitz seit mehreren Generationen, und Viviane kannte den jungen Forstwirt, der heute mit seiner Frau den Betrieb führte, von ihren früheren Besuchen. Christian und Barbara Baukmann würde sie auf der Beerdigung sehen und dann mit ihnen sprechen. Viviane folgte den Kurven der schmalen Landstraße, ließ eine Gruppe von fünf weißgetünchten Häusern hinter sich und bog dann links in die Einfahrt zum Haus ihrer Tante ein.

Vor fünf Jahren hatte Marie Habart ihr Auto verkauft, weil sie ihren Augen nicht mehr vertraute, und die ehemalige Garage, die versteckt zwischen Tannen und Fichten neben dem Haus lag, war zum Abstelllager geworden. Viviane parkte ihren Wagen vor dem halboffenen Garagentor und ging von dort auf das Haus zu. Zu beiden Seiten des aus einzelnen Natursteinplatten bestehenden Weges rankte und wucherte es grün und in den prächtigsten Farben. Viviane wischte sich die Augen, denn sie wusste, mit wie viel Hingebung, Geduld und harter Arbeit Marie diesen natürlich wirkenden Garten zum Leben erweckt hatte. Pfingstrosen, Margeriten, Schleifenblumen, Rittersporn und viele andere Blumen, deren Namen Viviane vergessen hatte, bildeten zusammen ein wogendes Feld duftender Blütenpracht, die sich den ganzen Sommer über immer wieder zu erneuern schien.

Viviane strich über den aufragenden dunkelblauen Rittersporn. »Marie, es tut mir so leid. Ich wäre gern bei dir gewesen.«

Die Haustür ging auf, und eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren trat schüchtern lächelnd heraus. »Frau Viviane Byrne?«

»Ja, das bin ich. Aber…?« Viviane war nicht darauf gefasst gewesen, hier jemanden anzutreffen.

Die junge Frau kam auf sie zu und stellte sich mit weichem ausländischem Akzent vor, den Viviane nicht sofort einordnen konnte: »Angela, ich war Frau Habarts Haushälterin, habe ihr geholfen, wo immer sie eine Hand brauchte, na ja, ein Mädchen für alles eben.«

Viviane erwiderte den Händedruck und musterte Angela mit neuerwachtem Interesse. »Wie lange waren Sie bei meiner Tante?« Sie sagte immer Tante, denn Großtante klang so unpersönlich und altmodisch.

»Sechs Monate, denke ich. Ja, denn einen Monat nach meiner Ankunft in Deutschland, ich bin Rumänin, fand ich die Stelle bei Frau Habart.«

Ein halbes Jahr! Mehr als ein halbes Jahr hatte Viviane Maríe nicht besucht. Betroffen und sprachlos starrte sie in die Blumen.

»Oh, es tut mir so leid für Sie. Frau Habart war ein wunderbarer Mensch. Ich habe sie sehr gemocht, aber für Sie ist das natürlich etwas ganz anderes.« Mitfühlend sah Angela zu Viviane hin.

»Danke. Ja, ich habe sie sehr geliebt, und ich muss mir vorwerfen, mich nicht genügend um sie gekümmert zu haben, das macht es schwerer, als es ohnehin schon ist.«

»Ich bin sicher, Sie hatten Ihre Gründe. Frau Habart hat nur Gutes von Ihnen erzählt. Wollen Sie hereinkommen? Ich könnte uns einen Tee kochen. Aber vielleicht möchten Sie auch lieber allein sein, dann gebe ich Ihnen die Schlüssel und gehe. Ich füttere die Katze, wissen Sie, deshalb bin ich hier.«

Angela strahlte eine Ruhe aus, die ungewöhnlich war für einen Menschen in ihrem Alter. Viviane entschied, dass es an den dunklen, weit auseinander liegenden Augen lag, die ernst und abwartend blickten.

»Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe und würde gerne noch mit Ihnen sprechen, aber für den Moment wäre ich wirklich gern allein.« Viviane mochte die junge Rumänin und wollte sie nicht zurückstoßen.

Verständnisvoll nickend griff Angela in die Tasche ihres Hemdkleides und reichte Viviane ein Schlüsselbund. »Miko, der Kater, ist hinten im Garten. Er frisst viel. Die Dosen stehen in der Küche. Wenn Sie ihm heute Abend noch eine Schüssel geben, ist es gut. Bis morgen, Frau Byrne.«

Viviane stand auf dem Weg und sah die schmale Gestalt zwischen den Bäumen verschwinden. Mit dem Schlüsselbund in der Hand ging sie auf die Haustür zu. Es hatte sich nichts verändert seit ihrem letzten Besuch. Der Balkon, der um das gesamte erste Stockwerk lief, wurde von rankenden gelben und roten Blumen geschmückt, neben der Eingangstür hatte eine rosafarbene Kletterrose ihre vollen Blüten geöffnet. Sie trat in den gefliesten Flur. Ihre Schritte hallten laut in der Stille des alten Hauses. Langsam ging sie durch die Zimmer. In der Küche stand das Katzenfutter auf dem Tisch. Angela hatte hier und auch im Wohnzimmer frische Blumen in Vasen verteilt. Weiße Rosen und zarte Madonnenlilien erfüllten den Raum mit ihrem Duft. Viviane öffnete die Terrassentüren des großen Wohnraumes, der die gesamte Breite des Erdgeschosses einnahm. Eine Sitzgruppe alter Ledersessel stand vor dem Kamin. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch.

Viviane nahm den kleinen Gedichtband in die Hand. Georg Trakls dunkle, bedeutungsschwere Sprache ließ den Sommer schwermütig zur Neige gehen.

Vergebliche Hoffnung des Lebens. Schon rüstetzur Reise sich die Schwalbe im HausUnd die Sonne versinkt am Hügel;

Schon winkt zur Sternenreise die Nacht.

Viviane schluckte. Marie war eine kluge Frau gewesen, und möglicherweise hatte sie geahnt, dass sie bald sterben würde. Vorsichtig legte Viviane das Buch auf den Tisch zurück und ging nach draußen. Die Sonne schien immer noch warm auf die hellen Steine. In den Zwischenräumen wuchs zartes Gras nach, eine hölzerne Liege stand auf der Terrasse, daneben zwei Stühle und ein Tisch. Rechts und links wuchsen Büsche, dahinter Fichten. Viviane schaute über die Grünflächen, die von einzelnen Ziersträuchern, einem Teich und einem großen bepflanzten Steinhaufen unterbrochen wurden. Im Hintergrund erstreckte sich der Obstgarten. Die Äste einzelner Bäume begannen schon, sich unter der Last der Früchte zu biegen.

Den Blick von den Bäumen abwendend, ging Viviane auf einem ausgetretenen Pfad zu Josefs ehemaligem Atelier, das sich in einem umgebauten Heuschober auf der linken Seite des Gartens befand. Die Türen knarrten, als sie in den weitläufigen Raum trat. Josef hatte große Fenster in das Mauerwerk einbauen lassen. Der hohe, lichte Raum hatte keine Heizung, wurde im Winter aber von einem Ofen erwärmt. Marie hatte die Staffeleien, an denen Josef zuletzt gearbeitet hatte, stehengelassen. Auch die Pinsel, Farben, Tücher und anderes Zubehör lagen noch auf den Arbeitstischen. Doch fertige Bilder standen nicht an den Wänden, die hatte Marie ins Haus gebracht. Angela musste sich auch um diesen Raum gekümmert haben, denn alles war sauber gewischt und nirgendwo hingen Spinnenweben.

Viviane schloss die Tür hinter sich und atmete tief durch. Sie empfand eine Zugehörigkeit zu diesem Ort, die sie nirgendwo sonst je empfunden hatte. Daran hatte auch der Tod ihrer Tante nichts geändert. Plötzlich wandte sie den Kopf, denn sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. In einer Entfernung von kaum fünf Metern entdeckte sie schließlich eine braunweiße Katze, die sie unverwandt ansah.

»Du musst Miko sein.«

Der schlanke Kater streckte sich und spazierte dann in den Garten, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Viviane zuckte die Schultern und ging über die Terrasse ins Haus, wo sie ihren Rundgang fortsetzte. Im ersten Stock hatte Marie nur einen der kleineren Räume als Schlafzimmer genutzt. Das große Zimmer zum Garten hinaus hatte sie für Viviane eingerichtet, die nun schluchzend in der Mitte des aufgeräumten Raumes stand. Alles sah so aus, als hätte Marie ihre Ankunft jederzeit erwartet. Bücher aus ihrer Studienzeit lagen auf dem kleinen Schreibsekretär, und im Schrank hingen sogar noch einige ihrer Sommerkleider. In einer Ecke stand ein schön geschnitzter, hölzerner Notenständer. Marie hatte Viviane immer ermutigt, ihr auf der Querflöte vorzuspielen. Sie setzte sich dann in einen Sessel, sah in ihren Garten und schloss die Augen.

Sobald Viviane absetzte, weil sie dachte, ihre Tante sei eingenickt, öffnete diese die Augen und sagte: »Warum hörst du auf? Die Wiederholung und das Largo fehlen. Eine Schande ist das, jawohl! Musik hättest du studieren sollen. Du wärst eine berühmte Solistin geworden!«

»Dazu hätte mein Talent niemals ausgereicht.«

»Ach, Papperlapapp, Talent hast du im Überfluss. Nur Ausdauer fehlt dir, du übst zu wenig, daran liegt es. Aber ich genieße es trotzdem. Na, weiter, spiel weiter, Vivi.«

Viviane setzte die Flöte an die Lippen und begann zu spielen. Anfangs zitterten ihre Finger, doch die Töne perlten klar durch die kleine Dorfkirche. Die Trauergemeinde, die kaum zwei Stuhlreihen füllte, schwieg ergriffen. Verhalten begleitete der Organist die schwermütige Melodie, die sich gleich einer düsteren und doch singenden Klangfantasie durch den hohen Raum zog. Sie spielte nur für Marie. Während sie ihrem Instrument die Musik entlockte, sah sie ihre Tante lächelnd in ihrem Garten stehen. Sie sah sie vor Josefs Bildern, wenn Wehmut für einen Moment als Schatten über ihr Gesicht zog. Und sie sah sie in ihrem Sessel, konzentriert lauschend, genau wie immer. Nachdem der letzte Ton verklungen war, verharrten die Anwesenden minutenlang schweigend, bis der Priester den abschließenden Segen sprach und sie die Kirche verließen.

Vor dem Eingang wartete Christine Kronauer auf ihre Tochter, die sich bei dem Organisten und dem Priester für die schlichte Feier bedankte, die ganz im Sinne ihrer Tante gewesen war. Christine küsste ihre Tochter flüchtig auf die Wangen.

»Du hättest mich ruhig in München besuchen können, so selten, wie du vorbeikommst.« Bitter fügte sie hinzu: »Hierher bist du ja immer lieber gefahren.«

Viviane konnte sich nur mühsam beherrschen. »Das ist wohl nicht der richtige Ort für eine deiner Szenen.«

Jemand berührte leicht ihre Schulter. »Viviane! Mein Beileid. Wir haben Marie sehr geschätzt, eine großartige Frau.«

Christian Baukmann umarmte Viviane, und seine Frau gab ihr einen herzlichen Kuss auf die Wange.

»Es ist schön, dich zu sehen, Viviane. Ich hätte mir unser Wiedersehen unter anderen Umständen gewünscht.«

»Danke. Barbara, Christian, es tut gut, euch zu sehen.«

Barbaras Strahlen wurde auch durch ihre mitfühlende Miene nicht überdeckt. Sie war eine große schlanke Frau mit kastanienbraunen Haaren, die heute von einem Zopf gebändigt wurden. Ihr gebräunter Teint rührte von der Arbeit auf dem Hof und dem Reiten her. Christian und die Kinder teilten ihre Leidenschaft für Pferde. Viviane bewunderte die Energie der beiden, mit der sie den riesigen Betrieb meisterten und nebenher ein liebevolles Familienleben pflegten.

Angela trat in Begleitung eines dunkelhaarigen Mannes durch das Portal, und Viviane nickte ihr freundlich zu.

»Frau Byrne, das ist Stojko Langert, mein Mann.«

Der kräftige Mann setzte ein gewinnendes Lächeln auf, das die Kälte seiner Augen nicht verschleiern konnte. Viviane lehnte den Mann intuitiv ab, was sie hinter betonter Freundlichkeit zu verbergen suchte.

»Herr Langert, danke für Ihr Kommen.«

»Bitte, das ist doch selbstverständlich. Frau Habart war eine Dame, eine sehr großzügige Dame mit einem Sinn für Kultur. Wissen Sie schon, was mit den Bildern geschehen soll?«

Etwas irritiert antwortete Viviane: »Nun, sie sind einer Stiftung zugedacht. Woher wissen Sie…?« Sie ließ den Satz unbeendet.

»Ich habe manchmal im Garten ausgeholfen. Das ist schön, eine Stiftung. Ja dann, wir müssen weiter, Angela. Alles Gute, Frau Byrne!« Sein Akzent war härter als der seiner Frau, und Viviane fragte sich, woher er kommen mochte.

Christian und Barbara verabschiedeten sich und baten Viviane, sie zu besuchen, solange sie noch in der Gegend war. Unter den übrigen Trauergästen erkannte Viviane einige Nachbarn Maries und Mitglieder ihres Literaturkreises. Nur ein älterer Herr, der sich nickend, aber ohne sich vorzustellen, verabschiedete, war ihr gänzlich unbekannt. Sie hatte jedoch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, da ihre Mutter sie daran erinnerte, dass die Testamentseröffnung bevorstand. Dr. Gardel hatte um den ungewöhnlichen Termin gleich nach der Trauerfeier gebeten, weil er am nächsten Tag in den Urlaub fuhr und die Angelegenheit gern selbst übernehmen wollte.

Johannes Gardel empfing sie in seinem elegant eingerichteten Büro in Passau. Geschickt wuchtete er seine massige Gestalt hinter dem Schreibtisch hervor, um sie zu begrüßen. Die kleine Brille unterstrich sein insgesamt rundliches Erscheinungsbild, das jedoch bedeutungslos wurde, als er mit angenehmer Stimme zu sprechen begann.

»Es tut mir sehr leid, Sie ausgerechnet heute hierher bitten zu müssen. Aber Marie, Frau Habart, war eine Freundin, und das Testament birgt einige Punkte, die meiner Klientin sehr am Herzen gelegen haben und die ich Ihnen deshalb persönlich nahebringen möchte. Zuerst wären da die Bilder ihres Mannes Josef.«

Viviane nickte. »Ja, sie hat sehr an ihnen gehangen und wollte sie einer Stiftung vermachen.«

»Ganz genau. Alle im Haus befindlichen Werke sind der Stadt Prag als Sammlung gestiftet worden, mit der Auflage, die Werke nur als Sammlung auszustellen. Ihre Tante hat Sie, liebe Frau Byrne, zur Hüterin dieser Sammlung auserkoren, weil sie annahm, dass Ihnen ebenso viel an den Bildern gelegen sei.« Ein fragender Blick über den Rand der Brillengläser traf sie.

»Ja, sicher, natürlich, nur, was kann ich tun…?«, fragte Viviane erstaunt.

Christine Kronauer nestelte gelangweilt an ihrem Seidenschal und seufzte. »Was sollst du schon groß tun? Zusehen, dass die Bilder nach Prag kommen, lauter Papierkram eben.«

»Nun, das ist eigentlich der nebensächlichere Teil. Frau Habart wollte vielmehr, dass Ihre Tochter bei der Eröffnungsveranstaltung der Stiftung anwesend ist und die Betreuung des Erbes im Auge behält. Würden Sie das übernehmen, Frau Byrne?«

»Natürlich.«

»Gut, das wäre dann auch schon fast alles. Das Haus samt Inventar und das gesamte Barvermögen gehen ebenfalls an Sie. Ein kleiner Betrag wurde Frau Angela Langert zugedacht.«

Christine zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe und murmelte: »Typisch Marie…«

Dr. Gardel ignorierte die Bemerkung. »Eine Kleinigkeit gäbe es noch, Frau Byrne. Sollten Sie die Erbschaft antreten wollen, dazu kann ich Ihnen nur raten, denn es kommen keine Nachteile auf Sie zu, können Sie über den gesamten Besitz nach Ihrem Gutdünken verfügen. Nur eine antike Schreibkommode, die sich im Schlafzimmer Ihrer Tante befindet, dürfen Sie nicht veräußern. Ihre Tante hatte mich damals bei der Verfassung des Testamentes extra und ausdrücklich darauf hingewiesen. Es schien ihr sehr viel an dem Stück zu liegen, das aus dem Besitz ihres verstorbenen Mannes stammt. Sie war der Ansicht, dass Sie das Stück zu schätzen wüssten. Ich glaube, Sie restaurieren Möbel?«

Etwas verwirrt nickte Viviane. Sie hätte ohnehin nicht vorgehabt, die Möbelstücke, an denen Marie gehangen hatte, einfach zu verkaufen.

Der Anwalt reichte ihr einen Brief. »Der ist für Sie.« Anschließend sah er die beiden Frauen an. »Haben Sie noch Fragen?«

»Für den Moment nicht. Das heißt, wie gehen wir in der Stiftungsangelegenheit vor?« Viviane strich den Brief glatt, auf dem sie Maries Handschrift erkannte, und steckte ihn in ihre Tasche.

Dr. Gardel riet ihr, für die Zeit seiner Abwesenheit nichts zu unternehmen, dann würde er sich mit ihr in Verbindung setzen. Sie verabschiedeten sich, und Viviane war erleichtert, dass ihre Mutter direkt nach München zurückfuhr, denn sie wollte mit sich und den Gedanken an Marie allein sein. Am späten Nachmittag kehrte sie in das weißgetünchte Haus zwischen den Tannen zurück. Sie fütterte den Kater, der um ihre Beine strich, sich aber immer noch nicht von ihr anfassen lassen wollte. Ein Gefühl von Verlassenheit nahm von ihr Besitz. Warum erkannte man immer erst, was einem wirklich wichtig war, wenn man es verloren hatte?

Minutenlang verharrte sie regungslos, ihre Augen brannten, und sie kämpfte gegen die erneut aufsteigenden Tränen an. Etwas berührte ihre Wade. Automatisch streichelte sie über Mikos Kopf und war überrascht, als er stehenblieb und leise zu schnurren begann. Sie suchte ihre Handtasche und holte Maries Brief hervor. Ein warmer Wind, der durch die offene Terrassentür hereinwehte, ließ das Papier in ihren Händen erzittern, als sie den handbeschriebenen Bogen entfaltete. Der Brief war undatiert, und Viviane nahm an, dass Marie ihn schon vor längerer Zeit geschrieben hatte.

Liebste Viviane,

nur ungern hinterlasse ich Dir diesen theatralischen Brief, aber manche Dinge lassen sich leichter schreiben als aussprechen. Ich habe in Dir immer eine Tochter gesehen und danke Dir für die Gedanken, die Du mit mir geteilt, und die Liebe, die Du mir entgegengebracht hast. Manchmal habe ich mir Vorwürfe gemacht, weil unsere enge Beziehung Deine Mutter verletzt hat. In dieser Hinsicht war ich zu egoistisch und kann nur hoffen, dass sie mir vergibt, doch ich hatte nie den Eindruck, ihr etwas zu nehmen, das sie nicht selbst hätte haben können, wenn sie nur gewollt hätte.

Ich habe es immer bedauert, dass Du nicht Musikerin geworden bist, aber vielleicht war das nicht Dein Weg. Trotzdem, Du liebst die Musik und wirst zu schätzen wissen, was ich Dir hinterlasse. Ich hätte Dir früher davon erzählen sollen, aber selbst jetzt fällt es mir schwer, darüber zu sprechen. Durch mein Verhalten habe ich nicht nur mich, sondern Menschen, die ich geliebt habe und, schlimmer noch, die mir vertrauten, unglücklich gemacht. Vielleicht war ich zu jung, vielleicht waren es die Umstände, der Krieg und dann die Flucht. Nach Ausflüchten zu suchen ist leicht, die eigene Schuld dagegen wiegt schwer.

Warum ich Dir überhaupt von diesen Dingen erzähle, hat verschiedene Gründe – ich hege die inständige Hoffnung, dass Du die wahre Bedeutung dieses Musikstücks, das ich ein Leben lang verflucht habe, ergründest. Aus persönlichen Gründen, es mag simple Angst gewesen sein, habe ich mich dieser Aufgabe selbst nicht gestellt. Und gerade, weil ich Dir nichts erzählt habe, kannst Du unvoreingenommen an die Sache herangehen und Dich ganz allein auf Dein eigenes Urteilsvermögen verlassen.

Dr. Gardel wird Dir gesagt haben, dass Du eine bestimmte Kommode nicht veräußern mögest. Sie stammt aus dem Besitz von Josefs Mutter. Du kennst Dich mit Möbeln aus und wirst das Geheimfach in der oberen Platte sicher schnell finden. Darin befindet sich die Originalpartitur einer Violinsonate. Ich kann Dir nur so viel sagen, dass diese Musik von ungewöhnlicher Faszination ist. Mir hat diese Musik einmal alles bedeutet, und dennoch habe ich sie verborgen, weil ich es nicht ertragen hätte, sie noch einmal zu hören. Heute weiß ich, dass ich mich nicht vor der Musik fürchte, sondern vor mir selbst, und diese Erkenntnis ist wohl die schmerzhafteste, die ein Mensch haben kann.

Du wirst Dich um Josefs Bilder kümmern und sie nach Prag bringen. In dieser Stadt waren wir einmal sehr glücklich, und ebendort haben wir unsere Träume und Hoffnungen begraben. Vielleicht greifst Du die zerrissenen Fäden wieder auf und findest, was wir einst verloren.

Viviane, geliebtes Kind, Du wirst diese Musik aus dem Dunkel holen und mit ihr ins Licht gehen. Mach es besser als ich – lebe Dein Leben so, dass Du am Ende nichts bedauern musst.

In inniger Liebe

Deine Marie

Viviane ließ den Briefbogen sinken. Das hier sollte ihre Tante geschrieben haben? Diese zweifelnden, selbstkritischen Sätze sollten aus der Feder ihrer Tante stammen? Wie wenig sie Marie gekannt, wirklich gekannt hatte, wurde ihr mit einem Male bewusst. Die Tränen rannen ihr erneut über die Wangen, nur war der Schmerz jetzt größer, denn sie hatte nicht nur den Menschen verloren, der ihr auf der Welt am nächsten gestanden hatte – sie hatte auch die Möglichkeit verloren, diesen Menschen richtig kennenzulernen. All die Jahre war diese Frau für sie die verständnisvolle, kluge, immer fröhliche und energiegeladene Marie gewesen. Viviane konnte sich einfach nicht vorstellen, was Marie so sehr bedrückt hatte, dass sie nicht einmal mit ihr darüber sprechen konnte. Warum jetzt diese Anspielungen auf ihre Zeit in Prag?

Viviane hatte oft mit Marie über den Krieg gesprochen, der alles verändert hatte. Auch wenn Josef nie ein Wort darüber verloren hatte, so konnte Marie die Verbrechen während der Besatzung und Ausplünderung Prags durch die Nationalsozialisten, unter denen Josefs Familie zu leiden gehabt hatte, nie verdrängen. Manchen Nachmittag, daran erinnerte sich Viviane gut, hatte sie mit ihrer Tante bei einer Tasse Tee im Wohnzimmer verbracht und sich mit ihr Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Prag der späten dreißiger Jahre angesehen.

»Und ich war eine von ihnen«, sagte Marie dann leise, wobei Verbitterung und Enttäuschung in ihrer Stimme mitschwangen. Sie zog ein Foto heraus, auf dem sie in einer Gruppe junger lachender Studenten zu sehen war, die vor dem Eingang der Karlsuniversität standen. Eine junge Frau mit Locken, die keck unter einem Hut hervorquollen, zeigte lachend ihre weißen Zähne. »Elli, sie war ein Jahr jünger als ich und eine begabte Literaturstudentin. Ihre Aufsätze waren scharfzüngig und brillant.« Marie seufzte. »Die Nazis haben sie erschossen, als sie nachts Flugblätter verteilte. Im November 1941 war das. Aber weißt du«, sie schaute ihre Nichte an, »keiner dieser tschechischen Studenten hat mich je meine Herkunft spüren lassen. Sie haben mich immer wie eine der ihren behandelt.« Marie schluckte schwer. »Und ich konnte nichts für sie tun, nur Zusehen, wie meine Landsleute in diese prächtige Stadt einmarschierten, den Pragern alles Wertvolle und Schöne Wegnahmen und sie schikanierten und quälten, wo immer sich ihnen Gelegenheit dazu bot.«

Viviane deutete auf einen dunkelhaarigen jungen Mann mit ebenmäßigen Gesichtszügen. »Und wer war das?«

Marie seufzte und schüttelte den Kopf. »Milan, ein Musikstudent. Er hätte nicht sterben dürfen.«

Sanft nahm Viviane die Hand ihrer Tante in ihre und hielt sie fest.

Tonlos fuhr Marie fort: »Ich habe sie im Stich gelassen, bin einfach weggerannt.«

»Aber du musstest doch fliehen! Josef und du, sie hätten euch nicht ungeschoren davonkommen lassen. Seine Bilder waren ihnen doch ein Dorn im Auge!«, warf Viviane ein.

Marie schien ihre letzten Worte nicht gehört zu haben. »Nein, es war nicht recht. Wir hätten das nicht tun sollen.«

Josef betrat den Raum, und Marie wechselte sofort das Thema.

Es war Viviane nie gelungen, ihrer Tante die Ereignisse, die 1942 letztlich zu ihrer Flucht aus Prag geführt hatten, zu entlocken. Sobald es dazu kam, legte sich ein Mantel eisigen Schweigens um Marie, und aus ihren klugen Augen sprach so viel Kummer, dass Viviane es nicht übers Herz brachte, weiter in sie zu dringen. Selbst auf die häufig von Viviane gestellte Frage, warum es keinen Kontakt mehr zu den Verwandten in Prag gab, hatte Marie nur mit Ausflüchten geantwortet. Auf was genau sich Marie bezog, hatte Viviane nie erfahren.

Wollte Marie jetzt, dass Viviane den Kontakt zu Josefs Familie in Prag wieder aufnahm? Nun, das würde sich wahrscheinlich ergeben, wenn sie zur Ausstellungseröffnung fuhr. Viviane nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe. Allein darum konnte es ihrer Tante nicht gegangen sein, dann hätte sie sich deutlicher geäußert. Hier ging es um viel mehr, um persönliche Schuld, um Gefühle, um Unausgesprochenes und um begrabene Träume – Dinge, über die zu sprechen für die meisten Mensch schwer, wenn nicht gar unmöglich war. Die einzig greifbare Verbindung zu Maries Kummer war allem Anschein nach diese Sonate. Viviane steckte den Brief in den Umschlag zurück und legte ihn auf den Tisch. Dann würde sie diese Sonate jetzt suchen und herausfinden, was es damit auf sich hatte.

3. Kapitel

Die Kommode, ein eher schlichtes Möbelstück, das Viviane nie besonders aufgefallen war, stand im Schlafzimmer ihrer Tante. Zum ersten Mal betrachtete Viviane das Möbel eingehend und stellte fest, dass es mindestens zweihundert Jahre oder sogar älter sein musste. Sie strich über die Maserung des Holzes, das sie für Hirnholzfurnier hielt. Die Messingbeschläge an den drei größeren Schubladen sahen original aus. In den Schubladen befanden sich Bettbezüge und Tischdecken. Das Holz war in gutem Zustand, es bedurfte lediglich einer Säuberung und gründlicher Pflege.

Viviane hatte schon in vielen Schränken und Schreibtischen Geheimfächer entdeckt, wenn sie diese Stücke für Freunde oder Bekannte überarbeitet hatte. Einige Möbeltischler vergangener Jahrhunderte waren regelrechte Künstler, was den Einbau solcher Fächer betraf. Viviane fühlte entlang der Rückseite der Deckplatte und fand eine Unebenheit. Sie sah genauer hin und entdeckte eine schmale Holzleiste, die in die massive Platte eingefügt zu sein schien. Sie drückte gegen die kaum sichtbare Leiste, doch nichts bewegte sich. Vielleicht hatte sie sich hier getäuscht, und es handelte sich lediglich um eine Verstärkung.

Sie klappte die als Schreibunterlage gedachte Platte nach vorn, und nach einigen Minuten filigranen Puzzlespieles ließ sich eine schmale Holzleiste aus der Platte lösen und herausziehen. Viviane drehte den Schrank ins Licht und zog etwas, das wie ein lederner Umschlag aussah, aus dem Versteck. Sie blies den Staub von der Mappe und legte sie auf einen Tisch am Fenster.

Miko stapfte an ihr vorbei und sprang auf die Fensterbank.

Seine bernsteinfarbenen Augen beobachteten sie, bevor er seine Aufmerksamkeit einem Rotkehlchen zuwandte, das in einem der Blumenkästen auf dem Balkon saß. Mit einem Tuch wischte Viviane die Mappe sorgsam ab. Sie war aus dünnem Ziegenleder gefertigt, und zwei goldene ineinander verschlungene Buchstaben zierten die Vorderseite. Die Buchstaben waren durch Blattornamente verziert und schienen ein W und ein K darzustellen. Sie stutzte und schaute sich die Messingbeschläge an den Schubladen an, in die ebendiese Buchstaben eingraviert waren. Viviane hielt den Atem an, als sie den Deckel hob und die von Altersspuren überzogenen Notenblätter vor sich liegen sah. Ehrfurchtsvoll hob sie das erste Blatt auf. »Sonate« stand in Französisch am Anfang des Blattes, darunter »a-Moll« und neben der Tonart »op. 17«. Wo der Name des Komponisten hätte stehen sollen, war nur ein großes J zu erkennen, davor ein kaum leserliches Wort, »zárí«. Die restlichen Buchstaben waren Wassereinwirkung zum Opfer gefallen, wovon gelblich braune Ränder und verwischte Tintenreste zeugten. Der Titel der Sonate lautete Désir douloureux. Désir hieß so viel wie Sehnsucht oder Verlangen, und douloureux kam vom lateinischen dolor, Schmerz, also bedeutete der Titel in etwa, so überlegte Viviane, schmerzvolle Sehnsucht.

Die Violinsonate hatte eine Begleitung für das Klavichord, ein dem Cembalo ähnliches Instrument. Diese Instrumentierung der Begleitung bedeutete, dass die Sonate im 17. oder 18. Jahrhundert verfasst worden sein musste, denn später wurde das Cembalo durch das Pianoforte ersetzt. Vorsichtig hielt Viviane die wertvolle Originalpartitur ins Licht. Drei Sätze gliederten das Musikstück: ein Largo, gefolgt von einem Adagio cantabile, zum Schluss ein Allegro. Beim ersten Durchsehen hatte Viviane Schwierigkeiten, die Noten zu lesen, die in einer schnell hingeworfenen alten Handschrift geschrieben waren. Sie gewöhnte sich jedoch an die zeichenhafte Notierung und ahnte bald die Schönheit der Melodie im Hauptmotiv. Um die Musik vollends zu erfassen, musste sie sie spielen, und holte dafür ihre Querflöte aus dem Etui.

Sie stellte die Violinstimme auf den hölzernen Notenständer und setzte das Instrument an die Lippen. Wehmütig formulierten die einleitenden Töne ein von tiefem Ernst empfundenes Thema. Melancholie beherrschte das Largo, in dem wiederholt das Hauptthema variiert wurde. Was sich im Largo andeutete, nahm im Adagio cantabile klanglich vollendete Formen an. Das Thema wurde hier zu einer ergreifend schönen Melodie ausgearbeitet, der als sehnsuchtsvoll drängender Gesang immer neue Wendungen abgewonnen wurden. Tief in ihrem Innern spürte Viviane unterdrückte Emotionen, die an die Oberfläche ihres Bewusstseins drängten. Der Komponist dieser Melodie musste gleichermaßen geliebt und gelitten haben. Alles schienen die Töne auszudrücken: ein sehnsuchtsvolles Verlangen, die Hoffnung auf Erfüllung des scheinbar Unerreichbaren, Zärtlichkeit und immer wieder die wehmütige Erkenntnis, dass mehr als Hoffnung nicht möglich ist.

Viviane spielte die ersten Takte des Allegros. Aus einem geheimnisvollen Pianissimo stieg die Melodie noch einmal auf, zitternd, Unruhe, Erregung und Verwirrung ausdrückend. Fast schien es, als ob der Komponist es vorgezogen hatte, sich der Wirklichkeit ab- und den Träumen zuzuwenden. In einer abschließenden Kadenz zerriss die träumerische Stimmung, und drängende Leidenschaft gepaart mit angstvoller Verzweiflung fegte wie ein letzter Sturmwind die aufkeimende Hoffnung, die eben noch greifbar schien, hinweg, bis die ausdrucksvolle Melodie in zwei Generalpausen verlosch. Erschüttert ließ Viviane die Flöte sinken.

Mikos lautes Schnurren riss sie aus ihrer Ergriffenheit. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die verschwitzte Stirn und schaute sich in dem lichtdurchfluteten Raum um. Sie schrieb es ihrem angespannten Nervenkostüm zu, dass sie sich von der Musik derart hatte hinreißen lassen. Ihre Empfindungen waren erschreckend real gewesen, so als nähme sie teil am Schicksal eines anderen Menschen. Stücke verschiedenster Komponisten waren Viviane vertraut und hatten sie auf unterschiedlichste Art bewegt oder auch angerührt, aber diese Sonate zu spielen war eine gänzlich neue Erfahrung, die sich mit nichts vergleichen ließ. Persönlicher, überlegte Viviane, ja, es musste daran liegen, dass sie das Gefühl gehabt hatte, eine persönliche, eine besondere Beziehung zum Urheber dieser Musik aufzubauen. Das Erstaunliche war, dass sie den Komponisten nicht kannte, nie etwas von dieser Sonate gewusst hatte, und dennoch meinte, sie wäre auf eine einzigartige Weise mit ihr verbunden.

War es das, was Marie gemeint hatte, als sie auf die Faszination der Musik hingewiesen hatte? Aber sie hatte kein Instrument gespielt. Nein, die Musik musste eine andere Bedeutung für Marie gehabt haben. Über die Umstände ihrer Flucht aus Prag hatte Marie nie gesprochen, und auch Josef hatte über seine zurückgelassene Familie immer Stillschweigen bewahrt. Viviane ahnte die Schmerzlichkeit dieses Verlustes und hatte nicht gewagt nachzufragen. Von Schuld sprach Marie in ihrem letzten Brief. Welche Schuld konnte ihre Tante, die Viviane nur als großherzig und mitfühlend erlebt hatte, auf sich geladen haben? Und in welchem Zusammenhang stand die Sonate mit diesen Erlebnissen? Wie konnte man eine derartig schöne Musik hassen und willentlich der Öffentlichkeit vorenthalten? Das alles entsprach einfach nicht der Marie, die Viviane zeit ihres Lebens gekannt hatte, oder vielmehr zu kennen geglaubt hatte.

»Oh Marie. Wozu das alles? Warum haben wir nicht offener miteinander gesprochen?« Erschöpft stützte Viviane den Kopf in ihre Hände. Warum war Marie ihr gegenüber in diesem einen, für sie doch anscheinend wichtigen Punkt derartig verschwiegen gewesen? So viele Fragen blieben offen, und jetzt war es zu spät. Viviane schluckte die aufkeimenden Tränen herunter. Zu spät war ein verdammt endgültiges Wort, aber hatte Marie ihr nicht doch noch ihr Vertrauen geschenkt?

Mit einem Ruck richtete Viviane sich auf, straffte den Rücken und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Eigentlich hätte sie diese Überraschung bei der Testamentseröffnung nicht derartig aus der Ruhe bringen sollen, denn ihre Tante war eine vielschichtige Persönlichkeit gewesen. Ein Geheimnis passte sogar zu Marie, fand Viviane. Viviane ging hinunter in die Küche, wo sie in einen säuerlichen Apfel biss. Sie sah aus dem Fenster auf die Blumen und den kleinen Kräutergarten vor dem Haus. Das Surren der Mücken unterbrach als einziges Geräusch die friedliche Stille in Haus und Garten. Was zog sie eigentlich nach England zurück? Sie hatte keine größeren Verpflichtungen dort. Außer Jo gab es niemanden, den sie vermissen würde. Das Telefon klingelte.

»Darling, es tut mir so leid. Du hättest die Scheidungspapiere nicht sofort zurückschicken müssen. Jo hat mir alles erzählt. Wie kommst du klar?« Gregs Stimme klang besorgt, fast zärtlich.

Viviane räusperte sich. »Es geht. Ist nicht leicht, vor allem, weil ich mir solche Vorwürfe mache. Nun ja, ich werde damit irgendwie zurechtkommen.« Damit meinte sie Maries Tod und die Scheidung gleichermaßen, denn sie gestand sich ein, dass sie Greg trotz allem noch gernhatte.

»Wenn du mich brauchst, komme ich dich auch in der bayerischen Wildnis besuchen, ich habe sowieso demnächst dort unten zu tun.«

Viviane lachte. »Nun übertreib nicht. Bristol ist auch nicht der Nabel der Welt.«

»Aber dichter dran als da, wo du jetzt bist. Ich, hmm, wollte eigentlich nur deine Stimme hören. Wir sind jetzt offiziell geschieden, aber ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen.«

»Es war doch nur eine Frage der Zeit«, sagte Viviane sachlich, obwohl sie genauso dachte wie ihr Exmann.

»Natürlich. Wann kommst du zurück?«

»Ich werde noch einmal kurz nach Shaftesbury fahren, um meine Wohnung aufzulösen.« Sie hatte sich entschieden. Greg überhäufte sie mit Fragen, beschwor sie, ihre Wohnung nicht aufzugeben, konnte ihr letztlich aber keinen überzeugenden Grund nennen, ihre Entscheidung zu ändern.