Die Waldsteinsonate - Hartmut Lange - E-Book

Die Waldsteinsonate E-Book

Hartmut Lange

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Beschreibung

Novellen, die vom Zustand jener Unglücklichen erzählen, denen das Bewußtsein ein besonderes Verhängnis war. Novellen über Nietzsches Wahnsinn, die Goebbels-Kinder, den rätselhaften Freitod von Kleist und Henriette Vogel, den Nihilisten Alfred Seidel, der, kaum neundzwanzig Jahre alt, in einer Erlanger Nervenklinik endete, und über eine Jüdin, die mit einem SS-Mann, ihrem Mörder, spazierengeht.
"

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Seitenzahl: 104

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Hartmut Lange

Die Waldsteinsonate

Fünf Novellen

Mit einem Nachwort von Sebastian Kleinschmidt

Diogenes

{5}Für Ulrike

{7}Die Welt des Glücklichen ist eine andere

als die des Unglücklichen.

Wittgenstein

{11}Über die Alpen

{13}»Meine Adresse weiß ich nicht mehr: Nehmen wir an, dass sie zunächst der Palazzo del Quirinale sein dürf‌te.«

Das Letzte, dessen er sich erinnern konnte, war ein Gefühl, unaufhörlich zu wachsen, ein Gehoben-Werden jenem Licht zu, das er vom Engadin her kannte. Es war ein inwendiges Ausufern ins Unendliche, und doch konnte er von der Vorstellung nicht lassen, bei aller Entfesselung, die der Geist an ihm vornahm, auf irgendeine Weise gekreuzigt zu sein.

Zwei Tage vorher war er noch mit irdischen Verwicklungen beschäf‌tigt, er spürte dieser und jener Fährte nach, die seine Existenz zu bestätigen schienen. Es waren Nachrichten aus Paris, Kopenhagen, St. Petersburg, aber sie konnten ihm, dem Verhungernden, keine Nahrung mehr zuführen, und so schrieb er jenen denkwürdigen Satz:

»Ich halte ernsthaft die Deutschen für eine hundsgemeine Art Mensch und danke dem {14}Himmel, dass ich in allen meinen Instinkten Pole und nichts anderes bin.«

Man schrieb die ersten Januartage des Jahres 1889. Das Wetter in Turin war strahlend, aber doch von jener Gebrochenheit, die dem italienischen Himmel aufgenötigt wird, wenn die Sonne den Horizont nicht mehr hinter sich lassen kann. Die Enge des Zimmers, das ihm zugewiesen worden war, deprimierte ihn nicht mehr, da alle Dinge, die er wahrnahm, aus ihm selbst zu kommen schienen, so auch die nachlässigen Handreichungen des Cameriere während der täglichen Mahlzeit und die Blicke der Passanten, wenn er die Straße zur Osteria überquerte.

Er war nun gesichert. Er war in der Zuversicht, Gott zu sein, Ursprung und Einheit aller Dinge, und er war entschlossen, von dieser Zuversicht Gebrauch zu machen, wann immer es ihm beliebte. Denn dieses Belieben war es ja, nach dem er sich gesehnt hatte, wenn die Dinge um ihn her sein Selbstgefühl auf hartnäckige Weise in Frage gestellt hatten, so dass er gezwungen war, dem vorzubeugen, indem er sich in vollkommener Einsamkeit, den Blick auf Schneefelder gerichtet, hoch in die Lüf‌te erhob, in der Hoffnung, man würde so viel Auf‌trieb letzten Endes doch anerkennen müssen. Und wie oft war er gezwungen, wenn diese {15}Anerkennung ausblieb, am eigenen Bewundern ein Genüge zu haben.

Nun brauchte er keine Bewunderung mehr, er war die Bewunderung selbst. Briefe waren noch zu schreiben, Botschaften übermütiger Gelassenheit, Nachrichten darüber, dass er alles, was ihn sterblich und also verwundbar machen konnte, hinter sich gelassen hatte.

»Ah, Freund! Welcher Augenblick! – Als Ihre Karte kam, was tat ich da… Es war der berühmte Rubicon …«

Er ging die vier, fünf Schritte in seinem Zimmer auf und ab wie jemand, der sich darin gefällt, nicht durch die Wände zu gehen. Die Stiege nahm er behutsam, mit durchgedrückten Knien, den Kopf hoch erhoben, er hätte fliegen können, aber dies wäre ihm billig erschienen. Und so ging er auch die Straße entlang, Schritt für Schritt, jedem Hindernis fast bis zur Umständlichkeit ausweichend. Er wollte die Passanten bitten, ihr zustimmendes Lächeln zu unterlassen, ihm fiel aber immer wieder rechtzeitig ein, dass er es selbst war, der sich begegnete, oder dass zumindest alle Dinge den Schein ihrer Unabhängigkeit nur wahren konnten, weil seine Bescheidenheit es verlangte. Dies hatte er notiert, aber nun war auch diese Notiz der Post übergeben.

Vor dem Palazzo Carignano sah er in das {16}Gewimmel, und während er prüf‌te, ob es der Mühe wert war, diese Ansammlung menschlicher Unerheblichkeiten erschaffen zu haben, entdeckte er ein Pferd und wie dieses, da der Karren, den es ziehen sollte, zu schwer war, auf den vorderen Hufen ausrutschte und wie der Kutscher, erbittert vor Wut, mit einer Peitsche auf die Kreatur einschlug und wie sie bei jedem Versuch, das Unmögliche, das man von ihr erzwingen wollte, doch noch zu leisten, hoffnungsloser und endgültiger auf den Knien zusammenbrach. Es war ein Bild des Jammers.

Er ging auf den Kutscher zu und wollte ihn energisch zurechtweisen, wie er dazu käme, ein Tier, das in jeder Hinsicht höher stünde als er, derart zu quälen, und ob er nicht wisse … Aber plötzlich schien ihm das Gefühl der Allmacht, jenes Ausufern ins Unendliche wie das Spannen einer Feder, die, je mehr man sie dehnt, an Kraft und Widerstand zunimmt, bis sie jenen Zustand erreicht, wo sie zurückschlagen muss. Er konnte den Blick von der Peitsche nicht mehr wenden, das verzerrte Gesicht des Fluchenden, dieses unnachgiebige, bis in den äußersten Willen angestrengte Wüten, bäumte sich vor ihm auf wie eine Wand. Nun sank sein Mut, der eben noch alle Grenzen überstiegen hatte, ins Unerhebliche. Er begann zu schluchzen, warf sich dem Pferd um den Hals, wobei er ins Stolpern kam, {17}und als einige Männer ihn fassen wollten und als auch der Kutscher, ernüchtert durch die überfallartige Verzweif‌lung des Fremden, ihm hilfreich die Hand reichte, stieß er Schreie der Empörung aus. Er verfluchte die Welt, nannte das Tier seinen Bruder und hing noch haltloser, noch unlösbarer mit dem Pferd verbunden, an dessen Hals, und jeder sah, dass hier jemand ein für alle Mal die Fassung seines Lebens verloren hatte.

Man brachte ihn auf sein Zimmer. Er war immer noch außer sich, konnte aber die Fragen, die man ihm nach Herkunft, Alter, Beschäf‌tigung stellte, klar beantworten. Überhaupt schien es unnötig, sich um ihn, der immer wieder versicherte, er brauche Schlaf, einen tiefen, ausgiebigen Schlaf, sonst nichts, weiter zu kümmern. Eine halbe Stunde später lag er mit weit von sich gestreckten Armen reglos da, er atmete tief, ruhig, als wäre es ihm gelungen, seine übermäßige Wachheit noch einmal zu besänf‌tigen.

Was träumte er? Unwichtig. Vielleicht sah er etwas Herbstliches. Oder ein Boot, das vom Ufer weggestoßen wurde. Ein, zwei stumme Zypressen … Er schrie auf, sprang vom Bett, und als er die Augen öffnete, als er das dämmrige Licht sah, das durch die kleinen Fenster in seine Stube eindrang, wusste er, dass er gestorben war. Er stand ganz {18}still. Für Augenblicke nichts weiter als Erleichterung. Vorbei. Et in arcadia ego. Er hatte auch das letzte Problem hinter sich gelassen: die Zeit. Ein Lächeln, ein zustimmendes Nicken. Aber wer war er? Auch die Ewigkeit hatte einen Namen.

Er lief zu dem stummen Diener, an dem seine Jacke hing, riss die Dokumente aus der Tasche. Die Hände zitterten ihm, als er sein Passeport auseinanderfaltete, und was er nun lesen musste, war allerdings entsetzlich. Da stand in einer steilen, allzu deutlich gehaltenen Schrift ein Name, den er kannte: FRIEDRICH WILHELM NIETZSCHE!

›Da hast du sie‹, dachte er und spürte einen Schlag und wie ihm ein eisernes Viereck (war es ein Spaten?) langsam, aber unwiderruf‌lich durchs Gehirn zog. ›Da hast du sie, die ewige Wiederkehr des Gleichen, die du dir gewünscht hast. Und nichts wird sich ändern! Dieselbe Hölle der Einsamkeit!‹

Ihn fröstelte. Er rief nach dem Wirt, verlangte ein Glas Wasser, ließ es aber zurückgehen, weil es nicht durchsichtig genug war. Ein neues Glas Wasser! Dies trank er wie ein Fiebernder in ein, zwei Zügen leer, dann wies er schon mit hilf‌loser Geste auf seinen Magen und teilte dem Wirt mit, er hätte sich überanstrengt.

Auf dem Hof, den er nur mit Mühe, beide Hände gegen den Leib gepresst, erreichte, musste {19}er sich übergeben, und es war ihm, als würde er in ein Meer von Übelkeit getaucht und als könne er diesen Zustand keine Sekunde länger ertragen. Er presste den Ärmel seiner Bluse gegen den Mund, weil er wusste, dass hef‌tige Konvulsionen folgen würden, dabei fiel sein Blick auf einen leeren Blumenkübel. Nun erst bemerkte er, dass ein Kind in unmittelbarer Nähe auf ebendiesem Kübel saß und ihn mit großen Augen ansah, unbeweglich, gebannt vom Elend eines Erwachsenen. Er vergaß seine Beschwerden, war nun seinerseits gebannt von dieser ruhigen, selbstverständlichen Art zu staunen, er nickte mit dem Kopf und sagte:

»Ganz recht. Ja, so machen wir’s. Die Welt ist verklärt, und alle Himmel freuen sich.«

Dann wandte er sich ab. Wehmut überfiel ihn, Selbstmitleid, seine Augen füllten sich mit Tränen. Er ging, so, wie er war, ohne Jacke, die Ärmel seiner Bluse halb aufgekrempelt, in jene Osteria, in der er seit Tagen nur noch Wein und Brot, hin und wieder ein Glas Wasser zu sich genommen hatte.

Auf der Straße zeigte er sich beeindruckt darüber, dass ein derart unschuldiges, voraussetzungsloses Staunen, wie er es eben erlebt hatte, überhaupt möglich war und dass er den Zustand des Kindes an sich selbst nie erfahren hatte. Er hielt Ausschau, ob ihm das gleiche Erlebnis im Gedränge des Marktes, {20}den er überquerte, noch einmal begegnen würde, aber er fand nichts.

In der Osteria setzte er sich stumm an einen Tisch, und als der Cameriere ihm mit einem Lächeln, ohne zu fragen, alles Gewohnte, die gefüllte Karaffe, die Schale mit dem Brot, das Salz, vorsetzte, fühlte er sich wie ein reumütiges Kind, das nach einer langen, langen Zeit der Widersetzlichkeit Abbitte zu leisten gewillt ist.

»Mein Herr«, sagte er, »was ein Genie seinem Zeitalter übelnimmt, übelnehmen muss, ist nicht das Unverständnis, sondern das geringschätzige Lächeln, das dieses Unverständnis begleitet. Ich habe Bücher geschrieben, so tief, so in Sprache abgefasst, ich verbeuge mich vor mir selbst, ich habe keinen Bedarf nach fremden Verbeugungen. Aber das gewisse Lächeln, mein Herr, dieses gewisse Lächeln hat mich zum Hammer greifen lassen.«

»Certo, certo«, antwortete der Cameriere und ging fort. Nietzsche wollte dessen Hand ergreifen, fasste aber ins Leere. Einen Augenblick lang verharrte er in dieser Geste der Ergebenheit, die ihm verhasst war, Rücken und Kopf gebeugt, die Augen halb geschlossen, dann richtete er sich auf.

»Ecce homo! Ein Talent haben ist nicht genug, man muss auch eure Erlaubnis dazu haben, wie, meine Freunde!«, rief er höhnisch und musterte {21}alle, die in dem engen Raum saßen, in einer Weise, als hätten sie sich ihm gegenüber durchaus zu verantworten.

Man sah ihm zu oder tat doch zumindest alles, um einen offenbar gereizten Gast, dessen Sprache niemandem geläufig war, freundlich zu behandeln. Dies bemerkte er. Er wollte noch etwas sagen. Er wollte darauf hinweisen, dass er bereit sei, nicht immer nur über sich selbst zu reden. Er liebe sich nicht so sehr, wie es den Anschein habe. Er bewundere vielmehr die stillen, zarteren Naturen, jene, die lieber vergehen, bevor sie sich unter die Erde lächeln lassen, die in der Einsamkeit ihren Peinigern Werke hinterlassen, die diese dann, jetzt im Lächeln der Anerkennung, als Produkt ihrer Verständigkeit anpreisen. Diese Naturen, wollte er sagen, sind ausbeutbar, ja ihre stille, zarte Demut ist geradezu ihre List und Rache, da sie durch das Eigenlob ihrer Ausbeuter wieder auf diese Welt zurückkommen. Sie geben sich aus Klugheit von vornherein auf, sie leben nach ihrem Tode, sie würden niemals einen Hammer in ihre Hände nehmen, aber er hatte nicht die Kraft, über das Lächeln seiner Peiniger hinwegzukommen!

Dies wollte er sagen, aber er schwieg.

Auf der Straße fuhr ein Landauer vorbei, der von Kindern umringt wurde, und das Geschrei, {22}das sich über den Anblick eines solch aufgeputzten Gefährts, es war eine Hochzeitskutsche, erhob, ließ die Pferde ängstlich werden, die, unter den anfeuernden Rufen ihres Herrn, irritiert und beunruhigt vorwärtstänzelten.

Er sah hinaus, aber mit verständnislosen Augen. Er wirkte verloren, wie beziehungslos zu der ihn umgebenden Szenerie, ihn bedrückte das Links und Rechts, die ihn fast berührende Anwesenheit der Gäste. Er kämpf‌te gegen eine Verspannung in der Gegend des Nackens, weil er fürchtete, diese Unpässlichkeit würde, wie so oft, zu einem Krampf ausarten und seine Augen behindern. Er wusste, dass dieser Kampf aussichtslos war, wenn er jenes Gefühl, minderwertig zu sein, das ihm durch die Nichtachtung seiner Zeitgenossen aufgezwungen worden war und das seiner Selbsteinschätzung auf das hef‌tigste widersprach, nicht loswerden konnte. Aber dieses unsichtbare Tier, das ihm Augen und Nacken verspannte, das sich von seiner Eigenliebe losgerissen und gegen ihn sich gerichtet hatte, das er in unzähligen Reflexionen, aber auch durch Spott und durch den Hinweis auf dessen Nichtigkeit, ja Grundlosigkeit, nicht hatte bändigen können, dieses Tier drohte nun wieder anzuwachsen.

Er verließ die Osteria, um sich Bewegung zu verschaffen, ging aber nur wenige Schritte und {23}