Die Wattwanderung - Hartmut Lange - E-Book

Die Wattwanderung E-Book

Hartmut Lange

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Beschreibung

Völlenklee, ein Buchhändler aus Berlin, ein Doppelgänger von Büchners Lenz, will aus der Enge und dem Zwielicht seines Zimmers ins Offene und Weite fliehen, aus der Welt der Bücher in diejenige des Unnennbaren, Chimärenhaften. Sein Ziel: auf den Grund des Meeres steigen, ins Watt. Die Geschichte eines Mannes, der das Leben in seiner Alltäglichkeit nicht mehr hinnehmen will.
"

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Seitenzahl: 115

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Hartmut Lange

DieWattwanderung

Die Erstausgabe erschien 1990

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Karl Blechen,

›Galgenberg bei Gewitterstimmung‹,

(o.J., Ausschnitt)

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22495 5 (2.Auflage)

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Er fing wieder an zu rauchen und sprach des öfteren davon, daß er eine Wattwanderung machen wolle.

»Eine Wattwanderung! Ja, warst du jemals am Meer?«

Nein, am Meer, versicherte der Buchhändler und lehnte sich lächelnd, fast als würde ihn die Frage amüsieren, in seinem Stuhl zurück, am Meer sei er allerdings nie gewesen.

Der Raum, in dem er sich befand, lag unter einem Brückenbogen der Stadtbahn und war nicht größer als sechs Meter im Quadrat. Das Schaufenster war ganz regellos, ja in einer Unordnung, die abstoßend wirkte, mit Büchern verstellt, Zwielicht herrschte im Innern und eine unübersichtliche Enge, denn auch die Regale ringsherum und die beiden Tische quollen über von Bedrucktem. Das Geräusch der an- und abfahrenden Züge erzeugte ein leichtes, dauerndes Vibrieren, so daß die Decke allmählich Risse bekam.

Ja, eine Wattwanderung! »Siehst du«, sagte der Buchhändler, hielt dem anderen eine Landkarte vor, wies mit dem Finger auf eine sinusartige, gestrichelte Linie, die über das Meer führte und zwei [6] Inseln miteinander verband, »siehst du«, sagte er, »dies wäre durchaus etwas…«

Er schwieg, biß sich leicht auf die Unterlippe, schien in Gedanken weit, weit weg zu sein.

»Ja«, sagte er schließlich, »wenn ich nur wüßte, wie man dort hinkommen könnte.« Und wieder schlug er mit dem Knöchel auf jenen Punkt der Landkarte, auf dem ein Weg über das Meer akkurat eingezeichnet war.

Er wirkte blaß, hatte sich vor kurzem erst seinen Vollbart abnehmen lassen, das etwas aufgeschwemmte Gesicht verriet noch Spuren dieser Veränderung, und oberhalb des Schädels lichteten sich die dunkelblonden Haare. Er hatte Tee gekocht, zwei dampfende Henkeltassen standen auf dem Tisch, es konnte aber Vorkommen, daß der Buchhändler zehn, ja mitunter fünfzehn Tassen zu verteilen hatte, weil seine Kundschaft, meist waren es Bekannte, eine merkwürdige Neigung zeigte, in diesem angestaubten Ambiente länger als nötig zu verweilen. Man sprach gern mit ihm. Der Mann zwischen den Büchern galt als belesen, hatte auch ein erstaunliches Vermögen, seine Kenntnisse eindringlich und mit Ausschmückungen persönlicher Art jedem, der sich darauf einließ, nahezubringen. Oft, wenn genügend Kundschaft herumstand oder hier und dort auf Stühlen und Pappkartons saß, nahm der Buchhändler keine Notiz davon. Er war, bis die [7] Erwartung sich zu einer gespannten Stille steigerte, mit Rechnungen beschäftigt. Aber dann, als hätte die Geduld der Anwesenden sein Schweigen aufgezehrt, erhob er sich, gab jedem die Hand und begann zu reden. Zunächst waren es freundliche Worte, schüchtern hervorgebracht, Begrüßungen, die rasch in Erklärungen übergingen, und die Art, wie dies geschah, war hier schon verführerisch. Es war der sanfte Nachdruck, mit dem er ein Buch, das er scheinbar wahllos aus dem Regal genommen hatte, anzupreisen wußte, und es war die traumwandlerische Sicherheit, mit der er, ganz gleich worüber er sprach, bei allen Anwesenden das Gefühl erzeugte, er hätte sie in ihrem Innersten berührt.

Heute jedoch, an diesem späten Nachmittag, war der Buchhändler schweigsam und wirkte auf fahrige Weise in sich gekehrt.

»Ja«, sagte er lediglich, »die Welt der Bücher«, und das Lächeln, das er versuchte, war skeptisch gemeint.

Auch fiel es dem anderen auf, daß er, obwohl er zur Tasse griff, keinerlei Anstalten machte, daraus zu trinken. Er hielt das Porzellan mit dem dampfenden Tee wie beziehungslos, etwas seitwärts von sich gestreckt, in die Luft…

Ob der Tee zu heiß sei, wollte er wissen.

»Nein«, sagte der andere, trank und wunderte sich, wie hartnäckig der Buchhändler, kaum daß er [8] die Tasse abgesetzt hatte, wieder mit dem Atlas beschäftigt war.

So saßen sie sich eine Weile gegenüber, und als der Buchhändler den Gast an der Tür verabschiedet hatte, sah er diesem, obwohl er rasch im Gewühl der Passanten verschwand, nach. Und bevor er die Ladentür verriegelte und die Scheibe mit einem Tuch abdeckte, griff er nochmals zum Atlas, ging zur Vitrine, die neben dem Eingang stand, klappte die Karte mit den Nordfriesischen Inseln auf, und es war unübersehbar, wie umständlich und liebevoll er das verschlissene Buch ins Neonlicht rückte.

[9] 2

Am nächsten Morgen war die Buchhandlung geschlossen. Ein kleines Schild wies darauf hin, daß der Inhaber krank sei, sich aber bemühen werde, für eine Vertretung zu sorgen. Wer den Buchhändler kannte, wußte, was es mit dieser Nachricht auf sich hatte und daß der untersetzte, durch die neuerliche Rasur überaus blaß gewordene Mann zur Stunde womöglich einen Spaziergang in jenem kleinen, von Mietshäusern umstandenen Garten unternahm, der zur Psychiatrischen Klinik gehörte. Auf engstem Raum gab es hier Rabatten, schmale Kieswege, und das Dutzend Bäume, vor allem Schwarzkiefern und Scheinzypressen, verstellte die Sicht auf die Front der Fenster ringsherum und auf den regnerischen Himmel. In der Mitte gab es eine Art Laube, die nach allen Seiten offen und spärlich von Kletterrosen bewachsen war, dazu eine gußeiserne Bank, und hier, ja immer nur hier, wenn er unter diesen morschen, von Rosenholz umklammerten Sparren saß, war es dem Buchhändler, als sei er von der Unruhe, die ihn überfallen und bis ins Zentrum dieser Anstalt getrieben hatte, erlöst, und er konnte nicht sagen, worin dieser plötzliche [10] Wechsel, den er deutlich spürte, es war wie ein Wohlbefinden in der Gegend der Lungen, nun eigentlich gründete. Er atmete tief und gut.

»Nicht wahr, Hohenleitner«, sagte er nach solchen Augenblicken, wenn er den Arzt im Treppenhaus der Klinik traf, »nicht wahr,« sagte er mit einem verschämten, aber doch irgendwie einverständigen Lächeln, »am besten, man läßt Dinge, die einem zu denken geben, einfach gewähren.«

Abends öffnete er in dem Zimmer, das man ihm zugewiesen hatte, das Fenster und sah hinaus. Er bemerkte das kahle Geäst der Eichen und wie der Mond, der von leichtem Gewölk verdeckt und wieder freigegeben wurde, allem Laublosen eine überscharfe, schattenlose Kontur gab. Es war ein vollendetes Schwarz und als wäre es von Eis überzogen, und der Mond, die Wolken, das Geäst schienen ihm wie von magischer, aber doch ungeschickter Hand zusammengesetzt, so daß er die Distanz zu allem, was er betrachtete, als schmerzliche Endgültigkeit empfand.

Er war ein regelmäßiger Gast hier, blieb nie länger als eine Woche, kannte Hohenleitner aus der gemeinsamen Schulzeit, und es hatte sich so ergeben, daß er, immer wenn es ihm unumgänglich schien, die Nähe dieses Mannes aufsuchen durfte. Er wußte, daß sein Zustand eine Überspanntheit war, keineswegs wert, daß man darüber redete, und doch [11] konnte er von der Einbildung nicht lassen, er hätte hin und wieder einen Menschen nötig, der sich in den Abgründen des Gemüts zuverlässig auskannte.

»Du verstehst, es ist wie mit dem Eichhörnchen, das man in ein Tretrad gezwungen hat«, sagte er, als er am nächsten Morgen dem Arzt gegenübersaß.

»So, und du hast wieder Lust, in unserer Gegend spazierenzugehen.«

Hohenleitner war feingliedrig, wirkte überaus schmal, besonders die Hände waren von durchsichtiger, marmorner Blässe, und er hatte eine Art zu lächeln, an die sich der Buchhändler, obwohl er Hohenleitner seit ehedem kannte, nie so recht hatte gewöhnen können. Andererseits gefiel es ihm, daß jener, der einen weißen Kittel trug, und in der Brusttasche steckten verschiedene, bleistiftartige Gerätschaften, ihn so freundlich, mit einem Anflug von Skepsis, musterte und keinerlei Fragen stellte.

Der Buchhändler wußte, daß ihm ohne Formalitäten das Zimmer, in dem er schon geschlafen hatte, für weitere Tage, solange er dies wünschte, überlassen sein würde, und es war eine Mischung aus Vertrautheit und Distanz, ja Verlegenheit, die sich bei jeder Begegnung neu einstellte. Denn immerhin: Hatten nicht beide in absolut gleichwertiger Nachbarschaft die Schulbank gedrückt, und nun sollte der eine, lediglich Buchhändler mit bescheidenem Einkommen, vor dem anderen, der es zum Leiter [12] einer Klinik gebracht hatte, Zeugnis über seine seelischen Nöte abgeben?

Nein. Es war eine stille Übereinkunft, daß man über die Gründe, warum der Buchhändler hier anwesend sein mußte, nie eigentlich sprach, sondern es bei Andeutungen beließ. Sicher, der Buchhändler hätte gern jenes sonderbare Gefühl erwähnt, das ihn gestern abend, als er vom Fenster aus den Himmel betrachtete, überfallen hatte. Aber er genierte sich, versuchte stattdessen, seine Bemerkung über das Eichhörnchen zu bagatellisieren oder zumindest dahin zu deuten, daß es harmlos und nicht etwa als Anspielung gemeint war.

Der Arzt lächelte. Man kam überein, daß der Buchhändler die geringe Dosis Valium, an die er gewöhnt war, beibehalten sollte. »Und ansonsten«, sagte der Arzt, »tu, was du willst. Du könntest im übrigen vor dem Frühstück einen Dauerlauf versuchen.«

Am Nachmittag sah man den Buchhändler ohne Jackett, aber mit einem dicken Schal versehen und wie er im Garten mit gymnastischen Übungen beschäftigt war. Er grätschte die Beine, versuchte, mit den Fingern die Fußspitzen zu erreichen, bemühte sich auch redlich darum, dies mit durchgedrückten Knien zu tun. Aber hier schon kam er sich albern vor, so daß er das kreuzweise Schwingen der Arme über den Kopf hinweg und das Wiegen in den [13] Hüften immer hastiger ausführte, und kaum daß er seinen Dauerlauf begonnen hatte, er war durch das Tor auf die Straße hinausgelangt, blieb er mit hochrotem Kopf, und indem er sich über seine Beflissenheit ärgerte, stehen.

›Was für ein Unsinn‹, dachte er, und ihm fiel ein, daß er für jene, die sich täglich einer solchen Mühe unterzogen, die keuchend und schwitzend in den Berliner Wäldern umherliefen, immer nur ein Lächeln übrig gehabt hatte. ›Es ist der billige Trieb zu überleben‹, dachte er und kehrte in den Park zurück.

Für eine gute Viertelstunde saß er unter dem Dach der Laube und überlegte, ob es nicht eine Idiosynkrasie sei, derart irritiert auf die harmlosen, täglichen Belange des Lebens, wie etwa auf einen Dauerlauf, zu reagieren. Dann, als er spürte, daß er die Wärme seiner kurzen Anstrengung aufgebraucht hatte und zu frösteln begann, erhob er sich, umschritt noch einmal auf dem Kiesweg das mittlere, von einem Geländer umfaßte Stück Rasen. Den Rest des Tages verbrachte er auf seinem Zimmer.

Als es dämmerte, er hatte begonnen, in dem spärlichen Licht der Lampe, die auf dem Nachttisch stand, zu lesen, öffnete jemand die Tür, trat ein und ohne daß er sich vorher bemerkbar gemacht hätte. Der Buchhändler kannte die vierschrötige [14] Gestalt, die, ohne zu grüßen und mit einer Miene, als wollte sie ihn nötigen sich zu erklären, in der Mitte des Zimmers stehenblieb. Er wußte, daß jener seine Anwesenheit in der Klinik nicht, wie die anderen, als stille, heimliche Übereinkunft mit Hohenleitner akzeptieren wollte, aber auch nicht den Mut hatte, es offen einzugestehen.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte er, in der eindeutigen Absicht, den Buchhändler, wenn schon nicht seine Mißbilligung, so wenigstens seine Autorität spüren zu lassen. Der Buchhändler erhob sich, versuchte, die Gereiztheit des Pflegers zu beschwichtigen, indem er Auskunft über sein Befinden gab, umständlich und in einem Ton, als wisse er durchaus, daß der andere Gründe hatte, sich über seine Anwesenheit zu ärgern. Er versuchte vorsichtig und mit versteckten Anspielungen, seinen vertraulichen Umgang mit Hohenleitner zu erklären. Und während er dem Pfleger mit betonter Freundlichkeit und fast, als wären sie Bekannte, nähergekommen war, bemerkte er, daß dieser ihm nicht zuhörte. Er musterte das Buch, das auf dem Kopfkissen lag.

»Sie sollten bei dem schwachen Licht nicht lesen«, sagte er. »Gehen Sie zu den anderen, da spielt man Mühle oder Halma, das entspannt.« Und er hielt, als er das Zimmer wieder verließ, die Tür in seinem Rücken, als wollte er seiner Aufforderung Nachdruck verleihen, einen Spaltbreit geöffnet.

[15] Der Buchhändler sah ihm nach, sah, wie die Tür, die schief in den Angeln hing, sich langsam bewegte und den Blick auf den Korridor freigab. Der Pfleger ging zum äußersten Ende, dorthin, wo sich ein verglaster Vorbau befand, und der Buchhändler überlegte, ob er nicht im Unrecht war und ob es nicht überheblich wirken mußte, wenn er sich von den anderen, die im Gemeinschaftsraum saßen, immer nur abseits hielt, statt mit ihnen, ja was hinderte ihn daran, ins Gespräch zu kommen oder eine Partie Dame zu spielen. Er fühlte sich dazu in seinem Innersten abgeneigt, aber das schlechte Gewissen, das er nicht unterdrücken konnte, bewog ihn, der Pfleger war im Vorbau verschwunden, auf den Flur hinauszutreten. Zögernd ging er die paar Schritte zu dem langgestreckten, ungemütlich wirkenden, mit Tischen und Stühlen vollgestellten Raum, und als er die anderen sah, blieb er auf der Schwelle stehen.

Die Kranken saßen einzeln oder in Gruppen bei einem Glas Tee oder Limonade, waren mit Brettspielen beschäftigt, und einige winkten ihm, kaum daß er sich auf der Schwelle gezeigt hatte, freundschaftlich zu. Das Bild, das sich ihm bot, war von frappierender Normalität, aber das Schweigen und die, wie ihm schien, kraftlosen Blicke der anderen, die zu der lebhaften Freundlichkeit ihrer Gesten einen merkwürdigen Kontrast bildeten, irritierten ihn. Er genierte sich, daß er immer noch zögerte und [16] die Aufmerksamkeit, die er erregt hatte, unerwidert ließ. Er sah mit verständnislosen Augen in den Raum, und was das Schlimmste war: Er glaubte, daß er jenen dort, die ihn so freundlich und ausdauernd begrüßten, jede Art von Unhöflichkeit zumuten durfte. Er drehte sich um und ging, wie er gekommen war, in sein Zimmer zurück.

›Wo der Geist einen Sprung hat, hat die Welt einen Sprung‹, dachte er und war beruhigt in der eben gemachten Erfahrung, daß für ihn diese Klinik lediglich ein Refugium, für die anderen aber eine traurige Notwendigkeit war.

[17] 3