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Der reiche, hochtalentierte Modeschöpfer René Baron de Lapé aus St. Lucas an der Rhone verliebt sich unsterblich in die hübsche, lebenslustige Tochter des verarmten Weingutbesitzers Armand Graf de Morrot. Er wirbt um sie, aber Nina zieht ihm einen Deutschen aus Hamburg vor, der geschäftlich in dem Ort zu tun hat. Die beiden entbrennen in großer Liebe füreinander, und schon bald sollen die Hochzeitsglocken läuten.
Die Enttäuschung des Barons ist grenzenlos, doch er trägt es wie ein Mann. Und auch wenn sie nicht die Seine wird, soll Nina die schönste Braut sein, die St. Lucas jemals gesehen hat. René persönlich will das Brautkleid für sie entwerfen und nähen. Tatsächlich sieht Nina wie eine Prinzessin in diesem Traum aus kostbarster weißer Seide und Spitzen aus. Keiner ahnt, dass dieses zauberhafte Brautkleid ein Geheimnis birgt, das erst Jahre später gelüftet wird ...
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Seitenzahl: 136
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Der vergessene Liebesbrief
Vorschau
Impressum
Der vergessene Liebesbrief
Sie fand ihn im Saum ihres Brautkleids
Der reiche, hochtalentierte Modeschöpfer René Baron de Lapé aus St. Lucas an der Rhone verliebt sich unsterblich in die hübsche, lebenslustige Tochter des verarmten Weingutbesitzers Armand Graf de Morrot. Er wirbt um sie, aber Nina zieht ihm einen Deutschen aus Hamburg vor, der geschäftlich in dem Ort zu tun hat. Die beiden entbrennen in großer Liebe füreinander, und schon bald sollen die Hochzeitsglocken läuten.
Die Enttäuschung des Barons ist grenzenlos, doch er trägt es wie ein Mann. Und auch wenn sie nicht die Seine wird, soll Nina die schönste Braut sein, die St. Lucas jemals gesehen hat. René persönlich will das Brautkleid für sie entwerfen und nähen. Tatsächlich sieht Nina wie eine Prinzessin in diesem Traum aus kostbarster weißer Seide und Spitzen aus. Keiner ahnt, dass dieses zauberhafte Brautkleid ein Geheimnis birgt, das erst Jahre später gelüftet wird ...
»Komtess Nina, Sie wollten heute doch ganz früh aufstehen! Haben Sie das vergessen?«
Sanft rüttelte Marie an der Schulter des jungen Mädchens. Die rotbackige, stämmige Marie war die einzige Dienstmagd, über die man im Haushalt des verarmten Weingutbesitzers Armand Graf de Morrot verfügte.
»Ja, Marie, gleich!«, kam es schlaftrunken zurück, und ein schwarzer Lockenkopf wühlte sich aus den Kissen.
Die Wangen waren rosig vom Schlaf. Seidige dunkle Wimpern hoben sich langsam von nachtschwarzen Augen. Zwei weiche junge Arme streckten sich, und ein jugendlicher Körper dehnte sich wohlig. Janine Komtess de Morrot, kurz Nina genannt, lächelte dem neuen Tag entgegen.
»Wie viel Uhr ist es, Marie?«
»Gerade sieben vorbei.«
»Scheint die Sonne?«
»Nein, gnädiges Fräulein, leider nicht.«
»Oh weh, das ist schlecht für das Frühlingsfest!«
»Ja. Ich glaube, Sie müssen sich warm anziehen. Vom Fluss her weht ein scharfer Wind.«
»Sind meine Eltern schon auf?«
»Sie sitzen am Frühstückstisch.«
Marie verließ das hübsch eingerichtete Zimmer der Komtess mit den bunt geblümten Vorhängen vor den Fenstern.
Noch einmal reckte Nina sich, dann sprang sie schnell aus den Federn. Das Frühlingsfest, das im Rhone-Tal von Jung und Alt mit der gleichen Begeisterung begangen wurde, war wirklich ein Anlass, früher als sonst auf den Beinen zu sein. Schließlich gab es Vorbereitungen zu treffen.
Im alten Gutshaus der Morrots, auf dem lose Dachschindeln klapperten und wo der weiße Anstrich von den Wänden blätterte, weil kein Geld da war, um ihn zu erneuern, überstürzte sich auch an gewöhnlichen Tagen morgens die Arbeit.
Der Graf musste hinauf in seine Weinberge, die er zusammen mit einem alten Knecht bestellte. Die ebenfalls bejahrte Köchin deckte den Frühstückstisch, und die Gräfin bereitete eigenhändig den Morgenimbiss für ihren Mann.
Gleichzeitig eilte der sechzehnjährige Bastian zu der kleinen Bahnstation, um den Zug nach Saint-Étienne zu erreichen, wo er das Gymnasium besuchte. Die fünfzehnjährige Anette machte sich auf den Weg zur Haushaltsschule von Mademoiselle Daubert, wo sie Kochen und Nähen, Kinderpflege und Gartenbau lernte. Und die beiden Kleinen, Pierre und Rose, erinnerten sich, dass sie die Schultaschen noch nicht gepackt hatten. Pierre war zehn und Rose sieben Jahre alt.
Noch schlimmer war es, wenn André, Ninas älterer Bruder, zu Hause war. Doch er studierte in Lyon Medizin und kam nur in den Semesterferien in sein Elternhaus.
»Ist der Kaffee noch nicht fertig? Ich muss fort!«, hörte Komtess Nina Vaters ungeduldige Stimme.
»Doch, Armand, aber er dampft noch sehr«, erwiderte die Mutter freundlich.
»Macht nichts! Draußen ist es sehr frisch um diese Zeit!«
Komtess Nina trat fertig angezogen in das Frühstückszimmer und sah den Vater den heißen Kaffee schlürfen. Tief hingen draußen die Wolken, schiefergrau war der Himmel.
»Sieht nicht sehr nach Frühling aus! Guten Morgen, Vater!« Nina sah in ihrer neunzehnjährigen Frische selber wie der junge Frühling aus.
»Daran wird man sich in der ›Goldenen Traube‹ nicht stören«, meinte die Mutter. »Auf dem Kalender steht Frühlingsanfang, und der erste geschmückte Kahn ist vorhin schon den Fluss heruntergekommen. Da hat man einen Grund zum Feiern!«
Graf Armand nickte bedächtig und ein bisschen besorgt.
»Es wird hoch hergehen, Nina. Halte dich, wenn es geht, ein wenig zurück! Sieh zu, dass dir niemand zu nahe kommt!«
»Ach wo, Vater, keine Spur! Bei mir versuchen sie es gar nicht erst. Sie wissen, dass mit mir nicht zu spaßen ist.«
Die Locken flogen in den Nacken, die nachtdunklen Augen leuchteten stolz und selbstbewusst.
»Aber in einem Hotel wie der ›Goldenen Traube‹ kommt viel Volk zusammen, das man nicht kennt«, brummte der besorgte Vater. »Wenn das Geld bei uns nicht gar so knapp wäre, ließe ich meine Tochter nicht in einem solchen Betrieb aushelfen, auch nicht beim Frühlingsfest!«
Graf Armand hatte die Zeiten noch nicht vergessen, als die Morrots in Gesellschaft und Politik eine Rolle gespielt hatten. Heute zählten sie zum verarmten und völlig bedeutungslosen Landadel, und außer ihrem Stolz und guten Manieren war ihnen sozusagen nichts geblieben.
In früheren Zeiten hätte eine Komtess de Morrot in Frankreich eine gute Partie machen können. Doch so, wie die Dinge jetzt lagen, musste Graf Armand froh sein, wenn sich ein gut situierter und bürgerlicher Bewerber für die hübsche Nina fand.
Gott sei Dank litt sie selber nicht unter dem gesellschaftlichen Abstieg. Der liebe Gott hatte Janine mit einem heiteren Temperament gesegnet, das sie alle Dinge leicht nehmen ließ. Ihr konnte es nicht munter und laut genug zugehen, und so half sie ihrer Freundin Denise Lorret auch gern in solchen Stoßzeiten wie beim Frühlingsfest ein wenig aus.
Den Lorrets gehörte die »Goldene Traube«, das einzige repräsentative Hotel in St. Lucas, und Komtess Nina war mit Denise Lorret zusammen zur Schule gegangen.
»Mach dir keine Sorgen um mich, Papa!«, flüsterte sie zärtlich ihrem Vater zu. »Mir macht die Arbeit im Hotel Spaß, und vielleicht werde ich so viel einnehmen, dass ich mir davon meine Frühjahrsgarderobe kaufen kann. Dann seid ihr diese Sorge wenigstens los.«
»Lieber wäre es mir, du hättest das nicht nötig«, murmelte er bitter.
Er stand auf, schob die nicht ganz geleerte Tasse zurück und steckte das Brot, das ihm die Gräfin bereitgelegt hatte, in seine Jackentasche.
»Also dann, gehabt euch wohl! Ich gehe auf den Keilberg. Dort könnt ihr mich finden, falls ihr mich aus irgendeinem Grund sucht.«
Der Keilberg hatte seinen Namen daher, dass er sich wie ein Keil in den Fluss hineinschob. Die Rhone musste eine scharfe Biegung um ihn herum machen. Ein guter Tropfen wuchs auf seinen Hängen.
Graf Armand küsste seine Gattin auf die Wange und stapfte zur Tür hinaus.
Nina sah ihm durch das Fenster mit den blütenweißen Gardinen nach. Der Vater konnte schon gar nicht mehr gerade gehen. Das kam vom allzu vielen Bücken oben im Weinberg. Seit Generationen bewirtschafteten die Morrots drei dieser Berge am Ufer der Rhone, und noch nie hatten sie genug abgeworfen, um ihre Besitzer zu ernähren.
Nebenbei hatten die Grafen von Morrot dem Staat als Offiziere oder Diplomaten gedient und für ein zusätzliches Einkommen gesorgt.
Bastian und Anette waren schon lange unterwegs. Die Kleinen machten sich gerade fertig für den Schulweg. Marie räumte die Zimmer auf, und die Köchin begann mit den Vorbereitungen für das Mittagessen.
»Ich fahre heute nach Saint-Étienne«, sagte Gräfin Elise und seufzte dabei leise. »Der Doktor hat mich für heute bestellt.«
»Glaubst du, dass er das Untersuchungsergebnis inzwischen bekommen hat?«, fragte Nina teilnehmend.
»Ja. Heute werde ich erfahren, ob ich mich einer Operation unterziehen muss oder nicht.«
Gräfin Elise verließ das Speisezimmer, um sich für die Fahrt in die Stadt anzukleiden. St. Lucas war nur ein kleines Nest am Ufer des Flusses, idyllisch gelegen, still und verträumt, wirtschaftlich und kulturell jedoch völlig unergiebig. Hier konnte nur glücklich sein, wer das Landleben liebte und an seiner Heimat hing.
Komtess Nina ging in ihr Zimmer, um es aufzuräumen. Das tat sie stets selber, denn Marie war mit der Arbeit nicht zu knapp eingedeckt. Der frohgemuten Nina ging alles schnell von der Hand.
♥♥♥
Auf dem Weg zur »Goldenen Traube« traf die Komtess den Sohn des Bürgermeisters von St. Lucas, einen jungen Fähnrich der Marine, der im Augenblick Urlaub machte.
»Guten Tag, Nina!«, rief er erfreut. »Wie schön, dich zu sehen! Kommst du auch in die ›Goldene Traube‹? Wir trinken die Frühlingsfahrt an!«
»Ja, ich habe es schon gehört! Heute in der Frühe ist der erste geschmückte Kahn gekommen. Wer war es denn diesmal?«
Die beiden gingen nebeneinanderher.
»Die Laussacs aus Dijon sind es«, sagte er. »Michel und Pierre, du kennst sie ja! Ich muss nun auch bald wieder fort. Mein Schiff fährt diesmal nach Indien. Da bleibe ich lange fort.«
Er sah sie mit einer kaum verborgenen Bitte in den Augen an. Ich werde an dich denken!, hieß diese Bitte. Du weißt doch, Nina, wie gern ich dich habe. Kannst du mir nicht eine kleine Hoffnung auf die Reise mitgeben?
Aber Komtess Nina war solche Blicke gewöhnt, und deshalb lächelte sie ihn nur freundlich an.
»Gewiss, Gaston, du fährst, und du kommst auch wieder! Es ist immer dasselbe! Ich muss mich jetzt beeilen. Ich helfe heute Denise bei der Arbeit, denn beim Frühlingsfest hat sie so viel zu tun, dass sie es allein nicht schafft. Bis nachher!«
Sie schlug eine energische Gangart an und war bald verschwunden.
Der junge Mann trottete etwas bedrückt weiter. So war das nun mit Janine. Zu jedem war sie freundlich und nett, aber niemanden ließ sie an sich herankommen. Nicht einmal böse konnte man ihr sein, denn sie weckte keine unnötigen Hoffnungen. Ein kleiner Abendspaziergang am Fluss, ein Tanz in der »Goldenen Traube«, ein gestohlener Kuss auf dem Heimweg, das war alles, was Komtess Nina verschenkte.
Das Rauschen und Flüstern des Stromes und sein starker, würziger Geruch drangen zu Nina herüber. In der Ferne konnte sie die große Brücke von Vienne hinter der Schleife des Flusses erkennen.
Ach, der Frühling! Eine Sehnsucht nach Glück und Liebe ergriff die junge Komtess. Aber sie wusste, dass sie nichts zu vergeben hatte, keine Reichtümer, keinen großen Namen, nur sich selbst.
»Gut, dass du kommst, Nina!« Die Wirtin der »Goldenen Traube« nickte ihr zu. »Heute gibt es viel zu tun. Schau dir nur die Gaststube an.«
Sie mochte das Komtesschen gern. Alle mochten sie, weil sie sich stets zurückhielt und keiner anderen ins Gehege kam. Nie verdrehte sie jungen Männern den Kopf, und den Neckereien der verheirateten Männer wich sie geschickt aus.
In der Gaststube herrschte tatsächlich schon ein reger Trubel. Die Männer hatten die Tische zu einem offenen Rechteck zusammengerückt, und jetzt verlangten sie Wein, Wein und noch einmal Wein!
»Oh, die Komtess! Komm doch mal her, Mädchen!« Sie lachten und schrien durcheinander.
Der Flussmeister und der Lagerhausverwalter saßen da, der Bürgermeister und der Apotheker, der Kaufmann und der Bäcker. Flussschiffer scharten sich um einen Tisch, und am anderen Ende saßen Fremde, die des Frühlingsfestes wegen gekommen waren. Auch ein paar Weingutbesitzer waren gekommen.
»Ich gebe einen Ehrentrunk!«, rief der Wirt der »Goldenen Traube«. »Die Lage vom hundertjährigen Medinet in meinem Keller könnte was werden!«
»Hört, hört! Her mit dem hundertjährigen Medinet!«, riefen die Schiffer, und die beiden vom Frühlingskahn schrien am lautesten.
Denise und Janine trugen um die Wette Tabletts mit gefüllten Gläsern zu den Tischen. Ihre Gesichter glühten vor Eifer.
»Wohlsein, Michel! Zum Wohle, Pierre! Wollt ihr heute noch weiter?«
»Nicht, wenn Sie heute Abend mit mir tanzen, Komtesschen!«
Pierre war nicht auf den Mund gefallen und trank ihr lachend zu. Aber sie entwischte seiner zugreifenden Hand und bediente schon die anderen.
Einer griff zur Ziehharmonika und spielte ein altes Trinklied, und sie fielen alle mit weinseligen, kraftvollen Stimmen ein. Die Lieder wurden lustiger, je öfter der Medinet die Runde machte, und schließlich sangen sie die alten Tänze und trampelten im Sitzen mit den Füßen den Takt.
Als es anfing zu dämmern, nahm die Mannschaft vom Frühlingskahn Abschied, während die anderen jetzt erst richtig feierten und die Gaststube der »Goldenen Traube« immer voller wurde.
♥♥♥
Der junge René Baron de Lapé war zu Hause geblieben und saß an seinem Schreibtisch, als er sich plötzlich daran erinnerte, dass heute Frühlingsfest war und ganz St. Lucas feierte.
Über seinen Entwürfen hatte er das ganz vergessen. Er liebte nun einmal mit Leib und Seele den Beruf, den er sich ausgesucht hatte, obwohl er irgendeine Form von Arbeit gar nicht nötig hatte, denn er war sehr reich. Dem Vater Renés hatte eine der größten Seidenfabriken von Lyon gehört, und als einziger Sohn hatte René nach dem frühen Tode seiner Eltern das ganze Vermögen geerbt.
In der idyllischen Umgebung von St. Lucas hatte sich der Baron de Lapé, Renés Vater, eine Villa gebaut, die von einem parkartigen Garten umgeben war. Hier hatte René sein Arbeitszimmer. In diesem Haus entstanden die zauberhaften Entwürfe jener eleganten Kleider, die in Paris Furore machten. Der junge Baron de Lapé war Modeschöpfer aus Berufung.
Den Haushalt führte ihm eine alte Dame, die schon kurz nach der Geburt des Achtundzwanzigjährigen ins Haus gekommen war. Mademoiselle Benedicte Blas hatte nie geheiratet, und so übertrug sie alle ihre mütterlichen Gefühle auf ihren Schützling René.
»Es ist heute viel Trubel in der ›Goldenen Traube‹«, sagte sie, als sie in sein Arbeitszimmer kam, um nach ihm zu sehen.
»Ja, viel Trubel«, antwortete René geistesabwesend. Er war mit seinen Gedanken bei der jungen Komtess de Morrot, in die er sich verliebt hatte und die nun einem Schwarm ausgelassener Männer ausgesetzt war.
»Sie sollten Schluss machen, Herr Baron«, mahnte Mademoiselle Benedicte sanft. »Ihre Leute sind längst zu Hause, es geht auf acht Uhr!«
»Haben Sie das Essen fertig?«, fragte René uninteressiert, und das alte, stets ein wenig einsame Fräulein nickte ein wenig gekränkt: »Längst, Herr Baron, was denken Sie denn?«
»Nun, dann will ich essen, Mademoiselle Blas. Und hinterher gehe ich noch ein bisschen aus!«
Er erhob sich seufzend hinter seinem Schreibtisch.
Benedicte Blas ging kopfnickend hinaus und wies die Köchin an, das Abendessen zu richten. Gleichzeitig gab sie dem Diener den Auftrag, in Kürze zu servieren.
Es ging sehr förmlich zu bei diesen Mahlzeiten, die Baron René und Mademoiselle Benedicte in einem düsteren, etwas kahl wirkenden Speisezimmer gemeinsam einnahmen, wo sie weit voneinander getrennt an der langen polierten Tafel saßen.
Renés Tagesablauf bestand fast nur aus Arbeit und wenigen Mußestunden. Der junge Mann war mittelgroß und schlank gewachsen und wirkte etwas melancholisch mit seinen dunklen Haaren und dem blassen Teint. Meist war er ernst und still, würdig und zurückhaltend wie die alte Villa mit ihren Stilmöbeln und wertvollen Gemälden und dem vornehm gedämpften Gang der livrierten Bediensteten.
Baron René schob den Teller zurück und legte die Damastserviette auf den Tisch. In der Garderobe nahm er seinen eleganten Wintermantel vom Haken, denn der Nachtwind draußen war gar nicht frühlingshaft, und mit dem Hut auf dem Kopf wanderte er langsam zur »Goldenen Traube«, in der es bereits hoch herging.
»Sieh da, der Baron! Willkommen! Welch ein seltener Gast!«
René lächelte ein wenig unbeholfen, legte den Mantel ab und nahm in diesem Kreise Platz.
»Wir trinken auf die Frühlingsfahrt!«, rief der junge Mann mit der Ziehharmonika, schwenkte sein Glas und ließ die Ziehharmonika misstönend über den Boden schleifen. Das eine Ende hielt er in der Hand.
»Ja, ja, aber der Frühlingskahn ist schon weg! Michel und Pierre Laussac aus Dijon sind es diesmal!«, meinte der Flussmeister und strich seinen Schnurrbart.
»Spiel weiter!«, riefen die Schiffer, und die Winzer stimmten ein. »Wir wollen tanzen!«
»Mit wem?«, fragte der Apotheker mit dem Petrusbart.
»Mit Denise und Nina!«, riefen die jungen Männer. Und der Ziehharmonikaspieler griff in die Tasten und spielte schöne, altbekannte Melodien.
Komtess Ninas Gesicht wurde rot und heiß. Eine feuchte dunkle Locke klebte auf ihrer Stirn.
»Uff! Ist das anstrengend!«, rief sie zum Spaß.
»Jetzt geht es erst richtig los!«, rief einer der Schiffer und fasste die Komtess um die Taille. Nina wurde herumgewirbelt, dass sie die vielen lachenden Männergesichter nur noch als rötliche Punkte in dem Zigarettenrauch ausmachen konnte.
René Baron de Lapé sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu und nippte nur an seinem Wein. Solch ein wildes Treiben war nicht nach seinem Geschmack.
Höher und höher stieg die Stimmung. Komtess Nina wurde nun auch ausgelassen, denn es war ja nur einmal im Jahr Frühlingsanfang.
»Die Komtess soll leben!«, schrien die Männer. »Hoch leben die Mädchen vom Rhone-Ufer! Die schönsten Mädchen weit und breit!«
Und dann fassten sie sich alle an den Händen, bildeten einen großen Kreis und hüpften stampfend in der Runde, wobei sie die Ziehharmonika bei Weitem überschrien. Innen im Kreis drehte sich der Fähnrich mit Komtess Nina, bis ihr schwindlig wurde.