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Tante Sybille ist verärgert, als sie von der Urlaubsreise ihrer Nichte erfährt. Denn an diesem Wochenende wollte sie Ingeborg den Sohn einer alten Jugendfreundin vorstellen, einen "wunderbaren, gebildeten, reichen, jungen Mann", der genau der Richtige für sie wäre.
Das hübsche Mädchen hat allerdings nicht vor, sich von der Tante einen Ehemann aufschwatzen zu lassen, und macht sich schnell aus dem Staub. Und ausgerechnet diesen jungen Mann lernt Ingeborg, ohne es zu ahnen, zufällig in ihrem Urlaub kennen. Der ein wenig linkische Wissenschaftler, der bisher kaum Umgang mit jungen Damen pflegte, entpuppt sich nun unfreiwillig als großer Schürzenjäger und Herzensbrecher und schlägt Ingeborg, deren Bekanntschaft er unbedingt vertiefen möchte, immer wieder in die Flucht ...
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Seitenzahl: 137
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Zauberhafte Sommertage
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Impressum
Zauberhafte Sommertage
Zwei Herzen werden von der Liebe überwältigt
Tante Sybille ist verärgert, als sie von der Urlaubsreise ihrer Nichte erfährt. Denn an diesem Wochenende wollte sie Ingeborg den Sohn einer alten Jugendfreundin vorstellen, einen »wunderbaren, gebildeten, reichen, jungen Mann«, der genau der Richtige für sie wäre.
Das hübsche Mädchen hat allerdings nicht vor, sich von der Tante einen Ehemann aufschwatzen zu lassen, und macht sich lieber aus dem Staub. Doch dann lernt Ingeborg, ohne es zu ahnen, ausgerechnet diesen jungen Mann zufällig in ihrem Urlaub kennen. Der ein wenig linkische Wissenschaftler, der bisher kaum Umgang mit jungen Damen pflegte, entpuppt sich nun unfreiwillig als großer Schürzenjäger und Herzensbrecher und schlägt Ingeborg, deren Bekanntschaft er unbedingt vertiefen möchte, immer wieder in die Flucht ...
»Aber Tante Sybille, du weißt doch, dass ich heute fahre«, wandte ihre Nichte enttäuscht ein.
Störrisch schüttelte Freifrau von Groningen den Kopf. Sie mochte sechzig, vielleicht siebzig sein; die Jahre waren ihr nicht anzusehen.
»Es tut mir leid, liebste Ingeborg, aber du kannst ganz einfach nicht weg. Es wäre närrisch, dem Schicksal, das uns so gnädig die Hand reicht, entgegenarbeiten zu wollen«, erwiderte die Baronin.
Ingeborg Fabricius, vierundzwanzig, die Abschlussprüfung erst seit einem Monat hinter sich, wandte den Kopf, um sich den in ihr aufsteigenden Ärger nicht anmerken zu lassen, aber Frau von Groningen ließ nicht locker.
»Natürlich sollst du dich von den Strapazen deiner Prüfung erholen. Du weißt, dass ich dir alles gönne, Kind. Ich lasse dich sogar deinen verrückten Motorroller fahren, obwohl ich das Ding absolut nicht leiden kann. Ein Roller ist nun einmal nichts für eine junge Dame, die auf sich hält. Ich drücke beide Augen zu, wenn ich dir gestatte, drei Wochen lang wie eine Vagabundin durch die Gegend zu fahren.«
»Wie nett von dir, Tantchen, dass du beide Augen zudrückst«, entgegnete Ingeborg spöttisch.
Die Tante, der das nicht entging, machte eine säuerliche Miene. Da ihr Rheuma und Gicht zu schaffen machten, stützte sie sich auf einen Stock.
»Du bist ein so hübsches Mädchen, Ingeborg«, sagte sie dann einlenkend, »und könntest viel mehr aus dir machen. Aber so, wie du dich aufführst, werden die Männer niemals in Scharen unser Haus stürmen, um dir einen Heiratsantrag zu machen.«
»Ich dachte bisher auch noch nicht eine einzige Sekunde ans Heiraten, Tantchen.«
Die Augen Frau von Groningens funkelten wie geschliffene Glasknöpfe.
»Unfug! Jedes Mädel will heiraten. Es ist die Bestimmung der Frau, einen Mann zu haben, ein Haus zu führen und Kinder aufzuziehen.«
»Ich habe ja auch gar nichts gegen das Heiraten, nichts gegen einen Mann, nichts gegen einen Haushalt und nichts gegen Kinder, Tantchen, aber das hat alles noch ein wenig Zeit. Ich habe ja erst vor vier Wochen mein Examen gemacht.«
Frau von Groningen nickte sehr energisch.
»Das ist es. Du lebst in den Tag hinein. Du kümmerst dich zu wenig um die Zukunft. Und da du es nicht tust, muss sich ein anderer darum kümmern. Deshalb habe ich beschlossen, die Sache nunmehr in meine Hand zu nehmen.«
»Du hast also wieder einmal die Absicht, mich unter die Haube zu bringen, liebste Tante?«, stellte Ingeborg fest und seufzte abgrundtief.
»Wenn du es so nennen willst, mein Kind. Also, pass auf. Ich bekam durch Zufall wieder Verbindung mit einer Jugendfreundin. Eine Frau mit Lebensstil und sehr reich. Sie hat einen Sohn, der gerade im richtigen Alter für dich ist.«
Ingeborg hob in komischer Verzweiflung die Hände.
»Um Gottes willen, Tante! Du bist ja das reinste Heiratsinstitut. Und ich bin viel zu jung, um zu heiraten.«
»Ein Mädchen ist nie zu jung zur Heirat. Dieser Sohn meiner alten Freundin wird dir eine sorgenfreie Zukunft bieten können, das ist gewiss.«
Störrisch schüttelte Ingeborg den Kopf
»Und wenn er mir nicht gefällt? Zum Heiraten gehört schließlich Liebe, Tantchen.«
»Die große Liebe gibt es nur in Romanen, Kind. Natürlich gehört zu jeder Heirat Liebe, aber die braucht gar nicht vorher da zu sein, die kommt nach der Hochzeit von selbst. Auf jeden Fall fährst du heute nicht weg. Weil meine Jugendfreundin uns morgen mit ihrem Sohn einen Besuch machen will. Da hast du hier zu sein. Er ist ein sehr gebildeter junger Mann und nicht nur einfacher Doktor wie du, sondern doppelter!«
»Das freut mich für ihn, Tantchen, aber ich fahre dennoch heute mit meinem Motorroller weg.«
»Nein, du bleibst«, bestimmte Freifrau von Groningen. »Und du wirst morgen zu dem Sohn meiner Jugendfreundin besonders nett sein, Kind. Wenn du meinen Rat befolgst, werden wir sicher bald eure Verlobung feiern können.«
»Erstens suche ich mir den Mann, den ich mal heirate, selber aus, liebe Tante. Und zweitens trete ich meine Urlaubsfahrt heute an.«
»Das wirst du nicht tun«, widersprach Tante Sybille. »Du bist ein eigensinniges, undankbares Kind.«
»Vielleicht, Tantchen. Trotzdem fahre ich in zwei Stunden los, wie wir es verabredet haben. Ich bleibe keinen Tag länger als die geplanten drei Wochen. Wenn du jetzt so böse bist, dass du mich nach dieser Zeit nicht mehr bei dir haben willst, so kann ich es nicht ändern. Dann werde ich mich allein durchs Leben schlagen.«
»Ingeborg!« Frau von Groningen war zutiefst empört. Wütend trommelte sie mit dem Stock auf den Boden.
Aber das junge Mädchen war schon nicht mehr da. Die Tür hatte sich so lautlos hinter ihr geschlossen, dass sie es gar nicht bemerkt hatte.
Die Freifrau griff empört nach dem Klingelzug. Irgendwo in den hinteren Räumlichkeiten des Hauses schepperte eine Glocke.
Die alte Anna trat eilig ins Zimmer.
»Sie wünschen, Frau von Groningen?«
Tante Sybille bebte vor Zorn.
»Gehe zu meiner Nichte hinauf, Anna«, befahl sie. »Und sage ihr, wenn sie es tatsächlich wagen sollte zu fahren, dann ...«
Sie wurde unterbrochen. Das Telefon läutete. Frau von Groningen stampfte zu dem kleinen Tisch hinüber, auf dem der Apparat stand, und meldete sich grollend.
Plötzlich wurde ihre Stimme sehr freundlich.
»Ach, du bist es, liebste Alice! Natürlich freut Ingeborg sich sehr darauf, deinen lieben Sohn kennenzulernen. Ich selbstverständlich auch. Wir können beide den morgigen Tag kaum erwarten.«
Sie wurde unterbrochen. Eine Zeit lang lauschte sie. Ihr Gesicht veränderte sich.
»Wie? Dein Sohn kann nicht mitkommen? Wie meinst du das? Er muss unbedingt und dringend ... Ja, von solchen Dingen verstehe ich natürlich nichts. Drei Wochen wird das dauern? Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Wenn du der Meinung bist, dass es nicht anders geht, liebste Alice ...«
Wieder lauschte sie. Dann legte sich ein spitzbübisches, zufriedenes Lächeln um ihren Mund.
»Aber meine liebe Alice, du hast ja ganz recht! Drei Wochen? Darf ich dir einen Vorschlag machen?« Ihr Gesicht bekam einen vergnügten, spöttischen Ausdruck. »Dann kommt ihr eben nicht morgen, sondern in drei Wochen zu uns.«
Wieder lauschte sie.
»Natürlich, natürlich«, endete sie schließlich. »Es passt uns ausgezeichnet.« Sie lachte zufrieden. »Dann ist die Sache also fest abgemacht.«
Behutsam legte sie den Hörer auf. Ihre Augen funkelten vor Freude. Triumphierend wandte sie sich an Anna.
»Du gehst also jetzt sofort zu meiner Nichte hinauf und sagst ihr, ich hätte es mir überlegt, sie dürfe fahren. Ich will sogar vergessen, dass sie hässlich zu mir war. Aber sie soll unter allen Umständen daran denken, sich von mir zu verabschieden, ehe sie das Haus verlässt.«
Eine knappe Stunde später trat Ingeborg reisefertig in Frau von Groningens Zimmer. Sie sah in ihrer Reisekluft ausgezeichnet aus.
Frau von Groningen musterte sie kritisch.
»Gut. Ich denke, so kannst du dich sehen lassen. Obwohl mir dieses Herumsausen auf dem Motorroller nicht gefällt. Warum musst du durchaus solch ein Ding haben? Du weißt, dass ich dir gern ein Auto gekauft hätte.«
»Es macht mir eben Spaß, Tantchen«, gab Ingeborg lachend zurück. »Im Übrigen freue ich mich, dass du deine Meinung geändert hast.«
Tante Sybille blickte sie listig an.
»Hältst du mich für eine Despotin, Kind? Wenn du durchaus fahren willst, meinen Segen hast du. Und dieser Sohn meiner Jugendfreundin ist vielleicht doch nicht der Richtige für dich.« Sie dachte an das Gesicht, das Ingeborg machen würde, wenn sie zurückkam und den Mann im Haus fand, vor dem sie davonlaufen wollte.
Ingeborg küsste die Tante behutsam auf die Stirn. Frau von Groningen schaute ihr nach, bis sich die Tür hinter ihr schloss. Dann griff sie nach ihrem Stock und stampfte zum Fenster, um der Abfahrt der Nichte zuzusehen.
♥♥♥
Ingeborg erreichte die Landstraße. Natürlich hatte sie sich für diese dreiwöchige Ferienreise eine Route zurechtgelegt, an die sie sich aber nicht unbedingt halten musste.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es eben zehn war. Bis zur Mittagsrast konnte sie noch eine ganze Anzahl von Kilometern hinter sich bringen. Ihr erstes Tagesziel war ein altertümliches, verträumtes Städtchen, in dem sie übernachten wollte.
Gegen zwölf verlangte ihr Magen sein Recht. Eine halbe Stunde später tauchte eine Raststätte auf. Sie fuhr auf den Parkplatz.
Um halb zwei fühlte sie sich angenehm satt und ausgeruht; es konnte weitergehen. Ingeborg griff in die Tasche, um ihre Geldbörse hervorzuholen. Bestürzt brachte sie die leere Hand zurück.
Sie hatte ihr Portemonnaie verloren!
Es war nicht viel Bargeld darin gewesen. Der Verlust ließ sich verschmerzen. Aber womit bezahlte sie nun ihr Essen? In der nächsten Stadt konnte sie einen ihrer Reiseschecks einlösen. Doch was fing sie im Augenblick an?
Sie winkte den Kellner herbei.
»Ich möchte zahlen. Leider ist mir da ein entsetzliches Malheur passiert. Irgendwo unterwegs habe ich meine Geldbörse verloren, ohne es zu merken. Ich besitze nur noch Reiseschecks. Die einzelnen Stücke lauten auf fünfzig Mark, und Sie müssten mir herausgeben.«
Der Kellner machte ein misstrauisches Gesicht. Er hatte seine Erfahrungen. Auch nette junge Damen gingen manchmal darauf aus zu betrügen. Bedauernd hob er die Schultern.
»Es tut mir sehr leid, meine Dame.«
Auf Ingeborgs Gesicht legte sich Bestürzung.
»Ja, was fange ich dann nur an? Ich besitze keinen Pfennig Bargeld.«
Noch einmal maß er sie mit prüfendem Blick. Dann murmelte er, er wolle den Wirt herbeiholen.
Der kam, aber auch er wollte den Scheck nicht in Zahlung nehmen.
Die Situation war mehr als peinlich. Ingeborg wäre am liebsten im Erdboden versunken. Was sollte sie nur tun? Hielt man sie wirklich für eine Zechprellerin? Die Gäste an den Nachbartischen wurden bereits aufmerksam.
Da erhob sich ein junger Herr, der am Nachbartisch gesessen hatte. Er war groß, schlank und ungefähr achtundzwanzig Jahre alt. Grüßend trat er auf Ingeborg zu.
»Darf ich Ihnen behilflich sein, mein Fräulein? Ich weiß nicht genau, worum es sich handelt, habe aber das Gefühl, dass Sie in Schwierigkeiten sind.«
Ingeborg blickte ihn an. Sie fand sein Gesicht sympathisch.
»Die Dame hat ihr Geld verloren«, erklärte der Wirt. »Leider kann ich den Reisescheck nicht annehmen, den sie mir anbietet.«
Der junge Herr verbeugte sich vor Ingeborg.
»Diese Kleinigkeit ist rasch aus der Welt zu schaffen«, erklärte er. »Wie viel schuldet Ihnen die Dame?«
Der Wirt warf seinem Kellner einen fragenden Blick zu. Dieser rechnete schnell alles zusammen.
»Acht Mark fünfzig, mein Herr«, sagte er dann diensteifrig.
Der Retter in der Not griff in die Tasche.
Ingeborg machte eine abwehrende Handbewegung.
»Das geht nicht, mein Herr. Sie, ein Fremder, können doch nicht für mich bezahlen. Das ist ganz ausgeschlossen!«
Ihre Verlegenheit belustigte ihn.
»Wenn ich es nicht tue, wer soll es dann tun, meine Dame?«
Sein Lächeln ärgerte sie. Der angeborene Trotz stieg in ihr auf.
»Ich kann mir doch nichts von Ihnen schenken lassen!«
Sein Lächeln wurde stärker. Es machte ihn noch sympathischer, als er schon war, und auch das ärgerte Ingeborg seltsamerweise. Sie redete sich ein, er sei arrogant und überheblich.
»Wer sagt denn, dass ich Ihnen etwas schenken will, meine Dame? Ich springe für Sie ein, und Sie erstatten mir den kleinen Betrag später wieder zurück. Das ist doch ganz einfach, oder?«
Ingeborg stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig. Sie musste sich von ihm helfen lassen.
»Würden Sie so freundlich sein, mir Ihre Adresse zu geben, mein Herr? Ich werde Ihnen das Geld so schnell wie möglich zusenden. Am besten noch heute.«
»So sehr eilt es nun auch wieder nicht«, erwiderte er. »Es dauert längere Zeit, bis ich wieder daheim bin.«
Der Mann bezahlte ihre Rechnung. Wirt und Kellner zogen sich befriedigt zurück.
Mit einer kurzen Verbeugung wollte er sich wieder an seinen Tisch zurückbegeben, aber Ingeborg hielt ihn durch eine hastige Handbewegung auf.
»Darf ich um Ihre Adresse bitten? Ich muss Ihnen doch Ihr Geld zustellen. Haben Sie übrigens vielen Dank für Ihre Liebenswürdigkeit.«
Er verbeugte sich noch einmal.
»Da gibt es nichts zu danken, meine Dame.« Lässig griff er in die Tasche und reichte ihr ein Kärtchen. »Sie finden alles darauf, was Sie brauchen, falls Sie fürchten, Ihre Schuld könne Sie erdrücken.«
Sein spöttischer Ton ärgerte Ingeborg. Sie steckte die Karte ein, ohne einen Blick darauf geworfen zu haben.
»Ich werde Ihnen das Geld so schnell wie möglich zustellen«, erklärte sie und erhob sich. »Noch einmal vielen Dank«, flüsterte sie kaum verständlich und verließ eilig das Rasthaus.
Draußen blieb sie einen Augenblick stehen. Dass ihr so etwas passieren musste!
♥♥♥
Gegen fünf Uhr erreichte Ingeborg Fabricius das Städtchen, in dem sie ihrem Plan nach die heutige Nacht verbringen wollte.
Soweit sie feststellen konnte, gab es nur eine einzige Übernachtungsmöglichkeit im Ort, die Gastwirtschaft »Zum blühenden Holunder«, am Marktplatz gelegen, ein Haus mit breiter Front und behäbigem Giebel.
Ingeborg hielt an, ließ ihren Motorroller am Bordstein stehen, trat in die große, gewölbte Halle, die eher zu einer Kellerei als zu einer Gastwirtschaft zu gehören schien, und schritt auf die lang gestreckte, mit vielen Schnitzereien verzierte Empfangstheke zu.
Nach einem kurzen Augenblick kam die Wirtin persönlich, eine rundliche Frau, ungefähr vierzig, mit hochrotem Gesicht und leicht zerzaustem Haar.
»Könnte ich bei Ihnen ein Zimmer haben für eine Nacht?«, fragte Ingeborg. Die Wirtin war ihr auf den ersten Blick sympathisch.
»Zimmer sind immer bei uns frei«, erklärte die Wirtin freundlich. »Wir haben selten Nachtgäste. Aber dafür floriert die Gastwirtschaft umso besser. Welches Zimmer geben wir Ihnen nur? Ich glaube, ich verfrachte Sie in den zweiten Stock hinauf.«
»Mehr als zwei Stockwerke hat Ihr Haus doch gar nicht«, entgegnete Ingeborg lachend. »Warum wollen Sie mich durchaus unters Dach stecken?«
»Damit Sie diese Nacht schlafen können«, erläuterte die Wirtin vergnügt. »Bei uns wird nämlich heute getanzt, und im ersten Stock hören Sie die Musik noch recht kräftig.«
»Sie feiern ein Fest?«, fragte Ingeborg interessiert. »Vielleicht kann ich da ein wenig zuschauen? Ich sehe gern zu, wenn getanzt wird.«
»Sie tanzen doch sicher auch gern«, meinte die Wirtin lächelnd.
In diesem Moment kam ein sechzehnjähriges Mädchen, frisch, quicklebendig und lebhaft, die Treppe herunter. Ingeborg sah auf und wusste sofort, um wen es sich handelte. Die Ähnlichkeit mit der Mutter war unverkennbar.
»Bringe die Dame in den ersten Stock, Hanne!«, befahl die Wirtin. »Gib ihr das Zimmer ganz am Ende des Korridors, damit sie morgen nicht sagt, sie habe kein Auge zutun können.«
»Einen Augenblick«, bat Ingeborg. »Mein Motorroller steht auf der Straße. Vielleicht sagen Sie mir, wo ich ihn unterbringen kann.«
»Wir haben eine große Remise im Hof, die wir als Garage benutzen. Hanne wird Sie Ihnen zeigen. Darin ist Ihr Roller ausgezeichnet aufgehoben.«
Sie traten auf die Straße. Hannes Augen leuchteten, als sie Ingeborgs Fahrzeug sah.
»Schickes Ding! So etwas hätte ich für mein Leben gern, aber Mutter erlaubt nicht, dass ich mich auch nur daraufsetze.«
Ingeborg schnallte den Koffer ab, Hanne übernahm ihn, und bald darauf war der Motorroller in der Remise untergebracht.
Das Zimmer, das Ingeborg beziehen sollte, strahlte so viel Behaglichkeit aus, dass sie sich sofort heimisch fühlte.
»Wann kann ich zu Abend essen?«, fragte sie, ehe das Mädchen verschwand.
»Jederzeit«, erklärte Hanne eifrig. »Bei uns gibt es bis zehn Uhr abends warme Küche.«
»Ausgezeichnet. Dann mache ich jetzt einen kleinen Spaziergang durch die Stadt und bin gegen sieben zum Essen zurück.«
»Ganz wie Sie wünschen.«
Ingeborg folgte Hanne die Treppe hinunter.
Das Mädchen blieb in der breiten, zweiflügligen Tür zur Straße hinaus stehen, als Ingeborg ging, und sah ihr nach. Ein leiser Neid stieg in ihr auf. Diese junge Dame hatte es gut! Sie konnte, ohne dauernd die Befehle der Mutter ausführen zu müssen, auf einem schicken Motorroller durch die Lande gondeln.
Gleich darauf weiteten sich ihre Augen vor Überraschung. Ein schicker Wagen, den sie kannte, hielt vor dem Gasthof.
Hanne kannte auch den Herrn, dem er gehörte. Als er jetzt ausstieg, klopfte ihr Herz doppelt so schnell wie gewöhnlich.
Helmut Michaelis pflegte öfter im »Blühenden Holunder« abzusteigen. Er liebte den altertümlich behäbigen Gasthof in der kleinen Stadt.