Ein Herz voller Liebe für Melissa - Anne Alexander - E-Book

Ein Herz voller Liebe für Melissa E-Book

Anne Alexander

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Ausgeschlafen, mein Liebes?« Schwester Regine beugte sich lächelnd über das Kinderbett, das seit drei Monaten in ihrem Zimmer stand. Zwei Ärmchen streckten sich ihr erwartungsvoll entgegen. »Heute ist ein großer Tag für dich, Melissa«, fuhr sie fort und hob das kleine Mädchen aus dem Bett. Liebevoll drückte sie es an sich. In den drei Monaten, die Melissa Braun jetzt in Sophienlust lebte, hatte die Kinderschwester sich so an die Kleine gewöhnt, daß sie sich nur schwer von ihr trennen konnte. Melissa erinnerte sie an ihr eigenes Töchterchen Elke. Elke war genauso blond gewesen wie Melissa, aber sie war nur drei Jahre alt geworden. Der Unfall, der ihr und ihrem Mann das Leben gekostet hatte, lag nun schon einige Jahre zurück, aber den Schmerz über diesen Verlust hatte die junge Frau noch immer nicht ganz überwunden. »Meli hat dich lieb!« Die Zweijährige schlang fest ihre Ärmchen um den Hals der Kinderschwester. »Sehr lieb!« »Auch ich habe dich sehr lieb, mein Kleines!« Impulsiv küßte Schwester Regine das kleine Mädchen auf die Stirn. »Aber jetzt werden wir uns ganz schnell waschen, und dann geht es hinunter zum Frühstück.« »Meli Schule gehn!« »Nein, für die Schule ist Meli noch zu klein«, sagte Schwester Regine. »Aber nach dem Frühstück gehen wir mit Heidi, Werner, Traudi und Jochen auf den Spielplatz.«

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Sophienlust – 315 –

Ein Herz voller Liebe für Melissa

Anne Alexander

»Ausgeschlafen, mein Liebes?« Schwester Regine beugte sich lächelnd über das Kinderbett, das seit drei Monaten in ihrem Zimmer stand. Zwei Ärmchen streckten sich ihr erwartungsvoll entgegen. »Heute ist ein großer Tag für dich, Melissa«, fuhr sie fort und hob das kleine Mädchen aus dem Bett. Liebevoll drückte sie es an sich.

In den drei Monaten, die Melissa Braun jetzt in Sophienlust lebte, hatte die Kinderschwester sich so an die Kleine gewöhnt, daß sie sich nur schwer von ihr trennen konnte.

Melissa erinnerte sie an ihr eigenes Töchterchen Elke. Elke war genauso blond gewesen wie Melissa, aber sie war nur drei Jahre alt geworden. Der Unfall, der ihr und ihrem Mann das Leben gekostet hatte, lag nun schon einige Jahre zurück, aber den Schmerz über diesen Verlust hatte die junge Frau noch immer nicht ganz überwunden.

»Meli hat dich lieb!« Die Zweijährige schlang fest ihre Ärmchen um den Hals der Kinderschwester. »Sehr lieb!«

»Auch ich habe dich sehr lieb, mein Kleines!« Impulsiv küßte Schwester Regine das kleine Mädchen auf die Stirn. »Aber jetzt werden wir uns ganz schnell waschen, und dann geht es hinunter zum Frühstück.«

»Meli Schule gehn!«

»Nein, für die Schule ist Meli noch zu klein«, sagte Schwester Regine. »Aber nach dem Frühstück gehen wir mit Heidi, Werner, Traudi und Jochen auf den Spielplatz.« Sie stellte die Kleine auf den weichen Teppichboden. »Oje, du bist ja noch barfuß, Melissa!« Rasch bückte sie sich nach den winzigen Hausschuhen des Kindes und streifte sie ihm über.

Melissa rannte ihr vorweg zur Tür. Sie versuchte die Klinke zu erreichen, aber dazu war sie noch zu klein. »Tür auf!« forderte sie sehr energisch. »Tür auf!« Sie schlug mit den Fäusten an das Holz.

»Immer langsam, Meli«, mahnte die Kinderschwester. »Das Wasser läuft dir nicht davon!« Sie öffnete die Tür.

Melissa schoß an ihr vorbei in den Gang. Wenn es darauf ankam, konnte sie so flink wie ein Wiesel sein.

»Brumm, brumm!« machte die Kleine. »Meli ist Auto!« Damit bog sie in den Waschraum ein.

»Na, wer kommt denn da?« Angelina Dommin, ein blondes Mädchen von dreizehn Jahren, von allen Pünktchen genannt, ging in die Hocke und breitete die Arme aus. »Ist dieses Auto etwa unsere Meli?«

»Auto ist Meli«, bestätigte Melissa und ließ sich in Pünktchens Arme fallen.

»Wir werden dich sehr vermissen, Meli«, seufzte Pünktchen und hob die Kleine hoch, um sie dann an ihre fünfzehnjährige Freundin Irmela Groote weiterzugeben.

»Es ist richtig schön, wenn so ein kleines Kind in Sophienlust ist«, meinte Irmela und strich Melissa eine blonde Strähne aus der Stirn.

»Ich möchte sie auch einmal halten!« rief die zwölfjährige Angelika Langenbach und streckte ihre Arme nach Melissa aus.

»Hier hast du sie!« Irmela wirbelte das vor Vergnügen quietschende Mäd­chen herum und reichte es dann an Angelika weiter. Von Angelika wanderte es zu deren zehnjähriger Schwester Vicky.

»Und jetzt ich!« schrie die fünfjährige Heidi Holsten. Sie wischte sich die Hände am Handtuch ab. »Jetzt bin ich dran!«

»Du bist noch zu klein, um Meli zu tragen«, sagte Viktoria ablehnend und drehte sich demonstrativ mit Melissa zur anderen Seite. »Nicht wahr, Meli, du willst bei mir bleiben?« wandte sie sich an die Zweijährige.

»Meli Di-Di!« Melissa zappelte mit den Beinen. »Meli will Di-Di!«

»Hörst du, sie will zu mir!« Heidi streckte erneut ihre Arme aus. »Komm zu mir, Meli-Schatz!« Als Vicky keine Anstalten machte, ihr das kleine Mädchen zu geben, rannte sie zu Schwester Regine, die eben den Waschraum betrat. »Schwester Regine, sag Vicky, sie soll mir Meli geben!« rief sie. »Ich bin groß genug, um Meli zu halten. Da Meli heute weggeht, möchte ich sie auch noch einmal liebhaben.«

»Du hast noch bis heute mittag Zeit, Meli liebzuhaben, Heidi«, beruhigte Schwester Regine die Fünfjährige, »aber wenn Pünktchen, Irmela, Angelika und Vicky aus der Schule kommen, dann ist Meli schon fort.«

Heidi nagte an ihrer Unterlippe, wie immer, wenn sie nachdachte. »Warum bleiben Melis neue Eltern denn nicht noch zum Mittagessen in Sophienlust?« fragte sie.

»Weil sie noch heute nach Köln zurückfahren wollen.«

»Dauert es lange, bis man in Köln ist, Schwester Regine?«

»Ja, sehr viele Stunden.«

»Dann kann Meli uns ja gar nicht mehr besuchen«, stieß Heidi entsetzt hervor. In ihren blauen Augen glitzerten Tränen. »Dann ist sie immer weg!«

Heidi war im allgemeinen auf kleinere Kinder eifersüchtig, da sie das Nesthäkchen von Sophienlust sein wollte, aber Melissa hatte sie in ihr Herz geschlossen.

»Herrn und Frau Walter gefällt es in Sophienlust. Sie werden bestimmt ab und zu kommen, um uns zu besuchen«, sagte Schwester Regine. »Du weiß doch, die meisten Eltern, die Kinder von uns adoptieren, besuchen uns immer wieder.«

»Dann ist es gut!« Heidi wischte sich über die Augen. Danach drehte sie sich um. »Schau mal, Schwester Regine!« schrie sie. »Traudi ißt Seife!«

Traudi Mahler, ein sechsjähriges Mädchen, verzog eben angewidert das Gesicht und spuckte ein Stück Seife in das Waschbecken. Rasch griff sie zum Zahnputzbecher, nahm den Mund voll Wasser und spuckte es ebenfalls wieder aus. »Iii!« Sie schüttelte sich.

»Einfälle hast du, Trudi!« Schwester Regine ermahnte das kleinen Mäd­chen, noch einmal den Mund zu spülen. »Um alles in der Welt, warum hast du ein Stück von der Seife abgebissen?«

Traudi spuckte das Wasser aus. »Ich wollte wissen, wie sie schmeckt«, bekannte sie freimütig. »Seife schmeckt schlecht!« Sie drehte sich zu den anderen Mädchen um. »Warum lacht ihr denn?« fragte sie.

»Weil du bestimmt das erste Mädchen bist, das Seife ißt«, antwortete Vicky lachend. Sie stellte Melissa auf den Boden. Mit der Zeit war ihr die Kleine doch zu schwer geworden.

»Das erste Mädchen, das Seife ißt, ist Traudi bestimmt nicht«, sagte Schwester Regine. Sie verkniff sich nur mühsam das Lachen. Traudi war eines der neugierigsten Kinder, das sie je in Sophienlust gehabt hatten. Aber sie war nicht nur neugierig, sondern auch wißbegierig. Alles mußte sie ausprobieren.

Heidi bemühte sich inzwischen, Melissa hochzuheben, aber die Kleine war doch zu schwer für sie. »Ich werde dich waschen, Meli«, entschied sie und nahm Melissa an die Hand.

»Wie ich sehe, bin ich hier überflüssig«, meinte Schwester Regine. »Dann werde ich erst einmal Melissas Bett machen. Bringt sie mir bitte, wenn ihr fertig seid.«

»Darf ich Meli anziehen?« fragte Pünktchen, bevor eines der anderen Mädchen ihr zuvorkommen konnte.

»Wenn du willst, gern«, erwiderte Schwester Regine. Sie schmunzelte, denn Heidi belehrte Melissa eben darüber, wie wichtig es sei, sich auch jeden Tag den Hals zu waschen. »Vergiß deinen eigenen Hals nicht, Heidi!« rief sie lachend und verließ den Wasch­raum.

*

»Harald, bitte, kneif mich!«

»Was soll ich?« Harald Walter nahm den Blick von der Fahrbahn und sah seine Frau an, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß.

»Mich kneifen«, wiederholte Christine Walter. »Ich will wissen, ob ich nicht vielleicht doch träume. Vielleicht liege ich zu Hause in meinem Bett, und es gibt gar kein kleines Mädchen, das auf uns wartet.« Ihre braunen Augen strahlten vor Freude und Glück. »Ich kann einfach nicht glauben, daß wir jetzt endlich ein Kind haben werden, ein kleines Mädchen!«

»Ich war zwar zunächst dagegen, ein fremdes Kind in unsere Familie aufzunehmen, aber jetzt bin ich froh, daß du mich dazu überredet hast, Liebling«, erklärte Harald Walter. »Und Melissa ist erst zwei! An ihre eigene Mutter wird sie sich in einigen Wochen kaum noch erinnern.«

»Sie hat mich ja schon bei unserem letzten Besuch Mami genannt«, meinte Christine glücklich. »Ob ihr das Zimmer gefallen wird, das wir für sie eingerichtet haben?«

Sie dachte an die weißen Schleiflackmöbel, die sie vor zwei Wochen gekauft hatten. Die rosafarbenen Vorhänge und die weißen Gardinen hatte sie selbst genäht. Am liebsten hätte

sie für Melissa ein Himmelbett gekauft, aber Harald war dagegen gewesen. Er hielt nichts von übertriebenem Tand.

»Und ich werde ihr heute beibringen, mich Papa zu nennen«, sagte Harald in Christines Gedanken hinein. »Sobald sie sich etwas bei uns eingewöhnt hat, werde ich mit ihr Ausflüge machen. Sie wird schwimmen lernen und radeln, sie wird…«

»Harald, Meli ist erst zwei!« unterbrach seine Frau ihn amüsiert. »Es wird noch einige Zeit dauern, bis du ihr das Schwimmen beibringen kannst, und was ich von Radeln halte, das weißt du ja. Ich finde es unverantwortlich, ein kleines Kind auf ein Fahrrad zu setzen.«

»Natürlich wird Meli erst ein Dreirad bekommen, aber mit drei, vier Jahren kann sie schon auf einem Kinderfahrrad üben.«

»Und unters nächste Auto kommen.«

»Du bist zu ängstlich, Christine«, meinte Harald. »Ich werde jedenfalls nicht zulassen, daß du unsere Tochter zu einem Angsthasen erziehst.«

»Und ich werde nicht zulassen, daß du ihr Leben gefährdest.« Christines Stimme hatte sich gehoben. »Denke nur an die vielen Kinder, die alljährlich mit ihren Fahrrädern verunglücken. Und immer sind es die Jüngsten, die am meisten gefährdet sind. Ein Kind unter zehn Jahren ist kaum in der Lage, den Straßenverkehr richtig zu beurteilen.«

»Weil man es meistens nicht dazu erzogen hat.«

»Unsinn!« widersprach Christine ihrem Mann.

Harald hatte eine heftige Erwiderung auf der Zunge, schluckte sie aber hinunter und lachte. »Schöne Eltern werden wir«, meinte er. »Melissa ist noch nicht bei uns, und wir zanken uns bereits über ihre Erziehung. Wenn das so weitergeht…«

»Es wird nicht so weitergehen«, sagte Christine versöhnlich. »Wir werden ihr gute Eltern sein. Das weiß ich.« Mit einer anmutigen Bewegung strich sie eine lange Strähne ihres hellblonden Haares zurück. »Es wird wunderschön mit ihr werden.«

»Ja, bestimmt«, bestätigte Harald.

Eine Stunde später fuhren die beiden durch Wildmoos. Ungeduldig schaute Christine durch das Wagenfenster auf die kleinen Läden rechts und links der Straße. Noch nie war ihr die Fahrt von Köln nach Sophienlust so endlos erschienen. Sie spürte nicht die geringste Müdigkeit, obwohl sie und ihr Mann seit fünf Uhr unterwegs waren.

»Schau, da sind schon die bunten Wegweiser, die du immer so lustig gefunden hast«, sagte Harald neben ihr. Er verstand die Ungeduld seiner Frau, denn es erging ihm ähnlich. Es hatte lange gedauert, bis Christine ihn davon überzeugt hatte, daß sie ein adoptiertes Kind genauso lieben würden wie ein eigenes. Und dann waren noch einmal Monate vergangen, bis das Jugendamt ihnen Melissa vermittelt

hatte. Ihm war die Zeit des Wartens genauso lang geworden wie seiner Frau.

Bald lag auch Bachenau hinter ihnen. Jetzt fuhren sie auf einer von Bäumen begrenzten Straße nach Sophienlust. Schon konnten sie das Dach des ehemaligen Herrnhauses, in dem das Kinderheim untergebracht war, erkennen. Eine hohe Hecke schirmte es von der Straße ab.

Das schmiedeeiserne Tor des Kinderheims Sophienlust stand einladend offen. Harald Walter bog in die breite Auffahrt ein. Er fuhr sehr langsam, um nicht die Kinder zu gefährden, die, wie er wußte, sich frei in diesem riesigen, zum Kinderheim gehörenden Park bewegen konnten. Zwei Minuten später erreichte er den Parkplatz und stellte seinen Wagen neben dem Denise von Schoeneckers ab. »Alles aussteigen!« rief er munter und schlug seiner Frau leicht aufs Knie,.

»Unhold!« warf sie ihm lächelnd an den Kopf.

»Ungetüm!« konterte er.

»Paß auf, wenn Frau von Schoenecker uns so reden hört, gibt sie uns Melissa vielleicht gar nicht, weil wir einen schlechte Einfluß auf das Kind haben könnten«, meinte Christine und stieg aus.

»Dann müssen wir sehr, sehr vorsichtig sein«, flüsterte Harald ihr zu und legte einen Finger auf seine Lippen.

Christine sah ihn an. »Hast du auch so ein flaues Gefühl in der Magengegend?« fragte sie und zog eine Grimasse.

»Das nicht, aber etwas weiche Knie«, antwortete Harald. »Vater zu werden ist nicht gerade ein kleines Unternehmen.«

Denise von Schoenecker trat aus der Pforte und stieg die Freitreppe des Hauses herab. Sie war eine schlanke, aparte Frau, die von den meisten Leuten weit jünger geschätzt wurde, als sie in Wirklichkeit war. Seit ihr jetzt sechzehnjähriger Sohn Dominik vor vielen Jahren von seiner Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, Sophienlust geerbt hatte, war sie der gute Geist des Kinderheims.

»Guten Morgen!« grüßte Denise freundlich.

»Guten Morgen«, erwiderten die beiden Walters. Sie wirkten etwas unsicher, wie die meisten Eltern, die endlich ein langersehntes Kind vom Heim abholen konnten.

»Weiß Meli, daß wir kommen?« fragte Christine.

»Wir haben es ihr nach dem Frühstück gesagt«, erwiderte Denise von Schoenecker, während sie gemeinsam mit dem Ehepaar Walter die Treppe emporstieg und die geräumige Halle betrat. »Meli wartet schon sehnsüchtig auf Sie.«

»Wo ist sie denn?« Christine sah sich suchend um.

Harald stieß seine junge Frau an. »He, du kannst doch nicht erwarten, daß sie wie ein Paradepferdchen gesattelt und gezäumt in der Halle steht.«

»Sie ist auf dem Spielplatz«, sagte Denise von Schoenecker. »Wir halten es für das beste, den Kindern den Übergang vom Heimleben zum Leben innerhalb einer Familie so natürlich und selbstverständlich wie möglich zu gestalten. Sie dürfen also nicht erwarten, daß wir Melissa extrafein herausgeputzt haben.«

»Keine Angst, das habe ich auch nicht erwartet«, antwortete Christine. »Ich werde Meli auch lieben, wenn sie wie ein kleines Ferkelchen vom Spielplatz kommt.«

»Na, ganz so arg wird es wohl nicht sein«, meinte Denise von Schoenecker und führte das Ehepaar Walter in das Biedermeierzimmer, in dem sie gewöhnlich ihre Besucher empfing.

Das Hausmädchen Ulla brachte Kaffee und Gebäck, und bald gesellte sich auch Frau Rennert, die mütterliche Heimleiterin, zu ihnen. Sie hatte die Mappe mit Melissas Unterlagen mitgebracht und ging die Papiere zusammen mit den Walters durch.

»Weiß man inzwischen etwas über Melissas Vater?« erkundigte sich Harald Walter, nachdem Frau Rennert ihm das Impfbuch der Kleinen übergeben hatte.

»Wir haben inzwischen nur herausbekommen, daß er wahrscheinlich Engländer ist«, sagte Denise ernst. »Wie Sie wissen, hat Frau Braun auf dem Standesamt keinerlei Angaben über Melissas Vater gemacht. Durch Zufall habe ich eine frühere Bekannte von ihr kennengelernt. Fräulein Wengel erzählte mir, daß Frau Braun vor knapp drei Jahren ihren Urlaub in London verbrachte. Als sie zurückkam, war sie schwanger.«

»Also ein Engländer«, sagte Harald nachdenklich. Er spielte mit seinem Teelöffel.

»Ich hoffe, das ändert nichts an Ihrem Entschluß, Herr Walter«, meine Denise, erschrocken über Haralds kurze Bemerkung.

»Für wen halten Sie mich, Frau von Schoenecker?« fragte der junge Mann. »Natürlich ändert dies nichts an unserem Entschluß, Melissa zu adoptieren.« Er lachte auf. »Was meinen Sie, was mir meine Frau erzählen würde!«

»Darauf kannst du dich verlassen!« drohte Christine.

»Sie dürfen mich nicht falsch verstehen, Frau von Schoenecker«, fuhr Harald fort. »Es ist nur verständlich, daß ich alles über Melissas Eltern wissen möchte. Je mehr wir über ihre Eltern wissen, um so mehr können wir uns auf sie einstellen. Wir…«

Harald wurde durch das Öffnen der Tür unterbrochen. Schwester Regine schob die kleine Melissa ins Biedermeierzimmer.

Die Kleine trug ein reizendes Spielhöschen und weiße Sandalen. Die schulterlangen Haare hatte Heidi ihr zu zwei Rattenschwänzchen zusammengebunden.

Chistine stand auf und lief ihr entgegen. »Komm zur Mutti, Meli«, lockte sie und ging mit ausgebreiteten Armen in die Hocke. »Komm, mein Schatz!«

»Schon da!« Melissa warf sich in die Arme der jungen Frau. »Meli lieb!« behauptete sie. »Meli lieb und brav.«

»Natürlich ist meine Meli lieb und brav«, bestätigte Christine. Mit der Kleinen im Arm stand sie auf.

Melissa schlang ihre Ärmchen um Christines Hals und gab der jungen Frau viele kleine Küßchen. Sie schien kein Ende zu finden.

»Und wo bleibe ich?« fragte Harald belustigt. Er kam hinter dem Tisch hervor. »Wenn du der Mami so viele Küßchen gibst, bleibt ja für den armen Papi gar nichts mehr übrig.«

Melissa strahlte ihn an. »Du Papi?« fragte sie.

Harald nickte. »Ja, ich bin dein Papi«, sagte er und streckte die Arme aus.

»Papi auch lieb!« Melissa zappelte in Christines Armen. »Meli zu Papi!« verlangte sie.

»Siehst du, was habe ich dir gesagt?« fragte Harald seine Frau und schloß die Arme um das kleine Mädchen. »Sie sagt schon Papi zu mir!«

»Wie es aussieht, hat Meli Sie bereits adoptiert«, meinte Schwester Regine zufrieden. Es tat ihr zwar leid, Melissa zu verlieren, aber sie war froh, daß die Kleine neue Eltern gefunden hatte.

»Bei ihr geht das schneller als bei uns«, seufzte Christine. »Wenn ich daran denke, daß noch mindestens ein Jahr vergehen wird, bis wir wissen, ob wir sie behalten dürfen…«

»Wenn nicht schwerwiegende Gründe vorliegen, wird man Ihnen die Kleine nicht mehr nehmen«, erklärte Denise bestimmt. »Das Jugendamt ist über jedes Kind froh, das es vermitteln kann. Aber diese Probezeit muß sein. Eltern und Kinder müssen Gelegenheit haben, sich aneinander zu gewöhnen, bevor der letzte Schritt getan wird. Eine bereits gültige Adoption rückgängig zu machen, ist ein langwieriges Verfahren, unter dem dann am meisten das betreffende Kind zu leiden hat.«

»Kommt so etwas überhaupt vor?« fragte Christine zweifelnd. Es fiel ihr schwer zu glauben, daß Eltern ein bereits adoptiertes Kind wieder zurückgaben.

»Ja, ab und zu schon«, sagte Denise. »Wir hatten vor zwei Jahren auch einmal so einen Fall. Es war eine mehr als unerfreuliche Sache.«

»Ich glaube, wir sollten Meli jetzt umziehen«, warf Schwester Regine ein. »So, wie sie aussieht, kann sie nicht mit Ihnen mitfahren.«

»Darf ich es tun?« fragte Christine, bemerkte aber sofort die Enttäuschung bei der Krankenschwester und dachte daran, wie sehr Melissa Schwester Regine ans Herz gewachsen war. »Wir könnten sie gemeinsam umziehen«, verbesserte sie sich.

»Gut!« Schwester Regine nahm Melissa von Haralds Arm.

»Will Papi!« protestierte Melissa.

»Bald wirst du den Papi für immer haben«, sagte Schwester Regine und drückte die Kleine an sich, »aber jetzt mußt du erst einmal umgezogen werden. Du wirst mit Mami und Papi eine weite Reise machen.« Sie ging mit Christine zur Tür.

»Ade, ade!« schrie Melissa winkend.

»Ade, Meli!« Harald warf ihr eine Kußhand zu.

Er wartete, bis seine Frau die Tür hinter sich und Schwester Regine geschlossen hatte, dann setzte er sich wieder zu Denise von Schoenecker und Else Rennert an den Tisch.

*