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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »So gut wie in Sophienlust hat es mir noch nirgends gefallen«, sagte die achtjährige Maren Keller nachdenklich. Sie saß zwischen Pünktchen und Dominik von Wellentin-Schoenecker am Ufer des kleinen Waldsees. In der Nähe grasten die beiden Pferde und das Pony, mit denen die Kinder gekommen waren. Eigentlich hatten Pünktchen und Nick allein einen Reitausflug unternehmen wollen, aber Maren hatte so lange gebettelt, bis sie mitgenommen worden war. Maren nahm eine Handvoll Steine auf und warf sie weit ins Wasser hinein. »Könnt ihr auch so weit werfen?«, fragte sie und schaute dabei Pünktchen an. »Ich weiß nicht …« Die Dreizehnjährige ergriff einen Stein und schleuderte ihn in hohem Bogen in den See. »Weiter als ich«, stellte Maren ohne Neid fest. »Und du, Nick?« »Mal sehen!« Nick wählte lange, bis er einen passenden Kiesel gefunden hatte. Er stand auf und schleuderte ihn ins Wasser. Der Stein landete kurz hinter der Stelle, die Pünktchen getroffen hatte. »Du bist Sieger, Nick«, sagte Pünktchen. Ihre Augen strahlten den schlaksigen Jungen an. Maren sprang auf und lief zu den Pferden. Zärtlich vergrub sie ihr Gesicht am Hals des Shetlandponys. »Ich habe dich gern, Liesel«, gestand sie flüsternd. »Du bist das liebste Pony auf der ganzen Welt.« »Weißt du noch, wie traurig Maren an ihrem ersten Tag in Sophienlust war?«, fragte Pünktchen den sechzehnjährigen Nick. »Und jetzt möchte sie am liebsten für immer hierbleiben.« »Aber nur, wenn ihre Eltern auch hier wohnen würden«, schränkte Nick ein. »Das ist ein Traum, der nicht in Erfüllung gehen kann. Marens Eltern können nicht alles aufgeben, nur um hierher
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Seitenzahl: 148
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»So gut wie in Sophienlust hat es mir noch nirgends gefallen«, sagte die achtjährige Maren Keller nachdenklich. Sie saß zwischen Pünktchen und Dominik von Wellentin-Schoenecker am Ufer des kleinen Waldsees. In der Nähe grasten die beiden Pferde und das Pony, mit denen die Kinder gekommen waren. Eigentlich hatten Pünktchen und Nick allein einen Reitausflug unternehmen wollen, aber Maren hatte so lange gebettelt, bis sie mitgenommen worden war.
Maren nahm eine Handvoll Steine auf und warf sie weit ins Wasser hinein. »Könnt ihr auch so weit werfen?«, fragte sie und schaute dabei Pünktchen an.
»Ich weiß nicht …« Die Dreizehnjährige ergriff einen Stein und schleuderte ihn in hohem Bogen in den See.
»Weiter als ich«, stellte Maren ohne Neid fest. »Und du, Nick?«
»Mal sehen!« Nick wählte lange, bis er einen passenden Kiesel gefunden hatte. Er stand auf und schleuderte ihn ins Wasser. Der Stein landete kurz hinter der Stelle, die Pünktchen getroffen hatte.
»Du bist Sieger, Nick«, sagte Pünktchen. Ihre Augen strahlten den schlaksigen Jungen an.
Maren sprang auf und lief zu den Pferden. Zärtlich vergrub sie ihr Gesicht am Hals des Shetlandponys. »Ich habe dich gern, Liesel«, gestand sie flüsternd. »Du bist das liebste Pony auf der ganzen Welt.«
»Weißt du noch, wie traurig Maren an ihrem ersten Tag in Sophienlust war?«, fragte Pünktchen den sechzehnjährigen Nick. »Und jetzt möchte sie am liebsten für immer hierbleiben.«
»Aber nur, wenn ihre Eltern auch hier wohnen würden«, schränkte Nick ein. »Das ist ein Traum, der nicht in Erfüllung gehen kann. Marens Eltern können nicht alles aufgeben, nur um hierher nach Wildmoos zu ziehen.«
»Es wundert mich sowieso, dass sie ihr Sanatorium in Baden-Baden für sechs Monate einem Vertreter überlassen haben, um nach Südamerika zu fliegen.«
»Dr. Keller hat meiner Mutter erzählt, dass sie sich diese Reise schon seit zehn Jahren vorgenommen haben. Du weißt ja, dass seine Frau vor ihrer Heirat Archäologin war. Wenn ich daran denke, dass die Kellers jetzt in Südamerika alte Maya-Siedlungen erforschen, bekomme ich regelrecht Reisefieber.« Nick lachte. »Schade, dass es in unserer Gegend nicht einmal Hünengräber gibt.«
»Ich würde auch gern all die Länder kennenlernen, von denen man im Erdkundeunterricht hört«, gestand Pünktchen. »Am schönsten stelle ich mir eine Weltreise vor.«
»Vielleicht werden wir eines Tages eine machen«, sagte Nick gedankenverloren. Er griff nach Pünktchens Hand und hielt sie fest.
»Ja, vielleicht!« Pünktchen starrte in das klare Wasser. Sie dachte daran, dass sie in fünf Jahren achtzehn sein würde. Mit achtzehn Jahren konnte man schon heiraten. Aber fünf Jahre waren lang. Ob Nick sie dann immer noch gernhaben würde? Er würde dann einundzwanzig sein und …
Pünktchens Überlegungen wurden jäh durch einen Aufschrei von Maren unterbrochen. Noch bevor Pünktchen sich zu den Pferden umwenden konnte, hatte Nick schon ihre Hand losgelassen und war aufgesprungen.
»Halte dich fest, Maren! Halte dich fest!«, schrie Nick und stürzte zu seinem Rappen.
Maren hatte unbemerkt Pünktchens Pferd losgemacht und war hinaufgeklettert. Sie musste es erschreckt haben, denn das sonst so friedliche Tier galoppierte mit dem Mädchen auf seinem Rücken quer über die Lichtung auf die Bäume zu.
»Blacky, brrr!«, schrie Pünktchen entsetzt, aber ihr Pferd hörte nicht auf sie. Es bog in den schmalen Waldpfad ein und war innerhalb von wenigen Sekunden ihren Blicken entschwunden.
Während Nick auf seinem Rappen Blacky verfolgte, rannte Pünktchen zu dem Pony, sprang in den Sattel und ritt Nick nach.
»Hör auf, Blacky, hör auf«, jammerte die kleine Maren. Zweige peitschten ihr ins Gesicht. Sie duckte sich tiefer über den dunklen Pferderücken, umklammerte mit ihren Händen die Zügel. »Blacky, halte an, halte an!«
Doch Blacky hörte nicht auf das weinende Mädchen. Sie fühlte noch immer diesen entsetzlichen Schmerz, der sie rasend gemacht hatte, als Maren in ihren Sattel geklettert war. Verzweifelt begann sie noch schneller zu galoppieren.
»Blacky, brrr!«, schrie Nick etwa hundert Meter hinter den beiden.
Maren fühlte, wie die Kraft in ihren Armen erlahmte. Entsetzt schrie sie auf, als Blacky unter einem dicken, quer über den Pfad hängenden Ast hindurchrennen wollte. Bei dem Versuch, sich zur Seite zu werfen, lösten sich ihre Finger von den Zügeln. Mit einem Aufschrei glitt sie aus dem Sattel und stürzte schwer neben einem Brombeergestrüpp zu Boden.
»Maren, um Himmels willen!« Kurz vor dem Kind brachte Nick seinen Rappen zum Stehen. Er sprang aus dem Sattel und beugte sich über Maren, die mit seltsam verrenkten Gliedmaßen neben dem Gestrüpp auf der Erde lag.
»Es tut so weh, Nick«, weinte Maren.
»Die Beine?«, fragte der Junge. Er wagte es nicht, Marens Beine zu berühren, denn er nahm an, dass sie gebrochen waren. »Pünktchen ist gleich bei dir«, sagte er tröstend und strich ihr über die kurzen blonden Haare.
Pünktchen glitt aus dem Sattel des Ponys und band es neben Nicks Rappen an einen Baum. »Gebrochen?«, fragte sie. Ohne eine Antwort abzuwarten, kniete sie sich neben Maren auf den Waldboden. Mit zusammengepressten Lippen schaute sie auf die Beine der Achtjährigen.
»Ich glaube«, erwiderte Nick. »Bleibst du bei ihr, Pünktchen? Ich reite zum Forsthaus und hole Hilfe.«
»Gut«, erwiderte Pünktchen. »Und sie sollen in Sophienlust anrufen.«
»Ja!« Nick schwang sich in den Sattel seines Pferdes und galoppierte davon.
»Ich wollte nur einmal auf Blacky reiten«, flüsterte Maren unter Tränen. »Mag sie mich nicht?«
»Doch, sie mag dich.« Sanft drückte Pünktchen Marens Hand. »Du musst sie erschreckt haben.«
Maren schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nicht erschreckt, Pünktchen. Du, werden meine Beine wieder gesund?« Angstvoll sah das kleine Mädchen die Dreizehnjährige an. »Bei meinem Papa im Sanatorium war ein Mann, dem wurden die Beine abgeschnitten.«
»Keiner wird dir die Beine abschneiden, Maren«, versuchte Pünktchen die Kleine zu beruhigen. »Was meinst du, wie oft man sich ein Bein bricht.«
»Hört es wieder auf, wehzutun?«
Pünktchen nickte.
»Aber es tut immer noch …« Die Stimme des Kindes erstarb. Kraftlos sank sein Kopf zur Seite. Es hatte das Bewusstsein verloren.
Wie Pünktchen es bei Schwester Regine gelernt hatte, drehte sie Marens Kopf zur Seite. Mit ihrer Jacke stützte sie ihn so ab, dass er nicht zurückgleiten konnte. Grübelnd schaute sie in das blasse Gesicht ihrer kleinen Freundin. Es gab nichts, was sie noch tun konnte. Hoffentlich kam Nick bald zurück.
Doch es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis Hilfe kam. Der junge Revierförster Schröder war mit seinem Wagen bis zum Ende der Lichtung gefahren. Er und Nick hatten die Trage dann zu Fuß den Pfad entlanggetragen. Behutsam legte der Förster nun an Marens Beine Behelfsschienen an. Vorsichtig hoben er und Nick das Kind auf dieTrage.
»Meine Mutter und Schwester Regine sind auf dem Weg zum Waldsee«, sagte Nick. »Ein Krankenwagen ist auch unterwegs.«
»Arme Maren, nun muss sie im Krankenhaus liegen«, meinte Pünktchen mitleidig. »Dabei hatte sie sich jetzt so schön in Sophienlust eingelebt.«
»Ich möchte nur wissen, warum Blacky durchgegangen ist«, überlegte Nick laut. Er sah Pünktchen an, die neben ihm ging. »Wird es dir auch nicht zu schwer?«
»Nein, es geht schon«, erwiderte Pünktchen. Mit beiden Händen umklammerte sie den rechten Griff der Trage. Obwohl sie zu dritt trugen, kam Maren ihr entsetzlich schwer vor.
Endlich hatten sie den Waldsee erreicht. Erschöpft setzten sie die Trage zu Boden. »Da kommt schon der Krankenwagen!«, rief Revierförster Klaus Schröder. »Hört ihr das Martinshorn?«
Nick nickte.
»Und Tante Isi ist auch schon da!«, rief Pünktchen erleichtert aus, als der Wagen der Gutsbesitzerin in die Lichtung einbog.
Denise von Schoenecker und Schwester Regine verließen gleichzeitig den Wagen. Sie eilten quer über die Lichtung zur Trage. Behutsam untersuchte die junge Kinder- und Krankenschwester das Mädchen.
»Wie sieht es aus?«, fragte Denise besorgt.
»Wie Nick vermutet hat. Es sind beide Beine gebrochen«, erwiderte Schwester Regine. Sie blickte auf. Der Krankenwagen hatte gerade in der Nähe des Sees gehalten. »Bitte, entschuldigen Sie mich, Frau von Schoenecker.« Sie ging den beiden Krankenträgern entgegen.
»Wie konnte das nur passieren?«, fragte Denise ihren ältesten Sohn. »Maren hätte doch nur auf Liesel reiten sollen.«
»Wir haben nicht aufgepasst«, entgegnete Pünktchen schuldbewusst an Nicks Stelle. »Maren hat Blacky heimlich genommen.«
»Es tut uns leid, Mutti.« Nick stellte sich neben Pünktchen und legte wie schützend seinen Arm um ihre Taille.
»Man kann euch kaum einen Vorwurf machen«, meinte Denise. »Schließlich konntet ihr ja nicht damit rechnen, dass Maren Pünktchens Pferd nehmen würde.« Sie berührte kurz Pünktchens Schultern. »Es wird schon wieder alles gut werden.«
»Fährst du mit zum Krankenhaus, Mutti?«, fragte Nick und beobachtete, wie die Krankenträger die Trage in den Wagen hoben.
»Ja, natürlich«, erwiderte Denise. »Sag Vati, dass es spät werden kann. Wartet nicht mit dem Abendessen auf mich.«
»Können wir nicht mitfahren?« Bittend sah Nick seine Mutter an.
»Nein, bleibt lieber hier«, sagte Denise. »Und kümmert euch um Blacky. Sie wird irgendwo stehen geblieben sein.«
»Gut, Mutti.« Nick seufzte tief.
Pünktchen und Nick warteten, bis der Krankenwagen die Lichtung verlassen hatte, bevor sie Blacky zu suchen begannen. Liesel, das Pony, stand noch dort, wo Maren nach dem Sturz gelegen hatte. Pünktchen nahm es am Halfter und folgte ihrem Freund, der bereits ein Stück weitergegangen war.
*
»Warum gehst du immer so lange fort, Papi?«, fragte der vierjährige Peter Ziegler und klammerte sich an die elegante Hose seines Vaters. »Du sollst nicht fortgehen. Günthers Papa ist auch immer da.«
Torsten Bredow beugte sich zu seinem kleinen Sohn hinab. Sanft löste er die Kinderhände von seiner Hose und hob Peter hoch. »Du bist doch schon ein großer Junge, Peter«, meinte er. »Ich habe dir doch erklärt, dass ich noch eine andere Familie habe. Ich kann nicht immer bei dir und deiner Mama sein.«
»Aber du sollst immer da sein, Papi!« Peter vergrub sein Gesicht an Torstens Schulter.
»Es geht nicht, Peter.« Hilfe suchend blickte Torsten die junge Frau an, die am Fenster des kleinen Wohnzimmers stand und die Szene schweigend beobachtet hatte. »Bitte, Helen!«
Helen Ziegler, eine hübsche blonde Frau von achtundzwanzig Jahren, trat neben Torsten. Liebevoll nahm sie ihm den kleinen Jungen ab. »Möchtest du nicht mit dem neuen Auto spielen, Peter, das der Papi dir mitgebracht hat?«, fragte sie.
»Ich mag nicht spielen!« Zappelnd versuchte Peter sich aus den Armen seiner Mutter zu befreien.
»Jetzt sei brav, Peter!« Torstens Stimme klang mit einem Male streng.
Erschrocken schaute Peter ihn aus seinen braunen Augen an. So streng sprach der Papa nur ganz selten mit ihm. »Ich bin ganz lieb«, meinte er etwas kläglich und streckte seine Arme nach Torsten aus.
»Ja, das bist du auch.« Torsten nahm Helen den Kleinen ab und stellte ihn auf den Boden. »So, und jetzt bekommt der Papa noch einen dicken Kuss, und dann gehst du spielen. In Ordnung?«
»In Ordnung«, echote Peter. Er fühlte, dass jeder Widerstand zwecklos war. »Kommst du bald wieder?« Treuherzig blickte er zu seinem Vater empor.
»In drei Tagen, Peter«, versprach Torsten. Mit einer etwas hilflosen Gebärde strich er durch die dunkelblonden Haare seines kleinen Sohnes. Er sehnte sich danach, dieses Kind mit nach Hause zu nehmen, wusste aber gleichzeitig, dass das nicht möglich war. Nicht nur Silvias wegen. Er durfte auch Helen den Kleinen nicht wegnehmen.
Peter hielt eine Hand hoch, spreizte die Finger. Er hatte schon bis zehn zählen gelernt und war sehr stolz auf seine Künste. »Eins, zwei, drei«, zählte er ab. »Ist dann Samstag?«
Torsten nickte. »Ja, dann ist Samstag, Peter.« Er beugte sich zu dem Jungen hinab. »So, und nun bekomme ich einen Kuss!«
»Einen ganz dicken«, versprach Peter und drückte seine weichen Lippen auf die raue Wange des Vaters. »Ich habe dich lieb, Papi«, flüsterte er und umklammerte Torstens Hals. »Ganz lieb!«
»Ich dich auch, Peter!« Ein letztes Mal fuhr Torsten durch die Haare seines Sohnes, dann richtete er sich wieder auf.
»Ich bringe dich zum Wagen, Torsten«, bot Helen an.
»Gut!« Torsten griff nach seiner Aktenmappe, die er im Korridor auf die Garderobe gestellt hatte. Wehmütig blickte er seinem Sohn nach, der brav zum Kinderzimmer gegangen war, und verließ die Wohnung.
»Was macht Jasmin?«, fragte Helen Ziegler, als sie und Torsten auf der Treppe waren.
»Es geht ihr wieder gut, Helen. Lieb, dass du nach ihr fragst. Die Erkältung hatte sie schnell überwunden.« Torsten blieb am untersten Absatz der Treppe stehen. »Da hat Jasmin nun einen Bruder und darf nichts von ihm wissen.« Er umklammerte mit seiner rechten Hand das braune Geländer. »Manchmal möchte ich Peter meiner Frau einfach vor die Füße setzen.«
»Meinst du, dass das klug wäre, Torsten?«, fragte Helen erschrocken. Um nichts in der Welt wollte sie auf ihren Sohn verzichten.
»Natürlich nicht, das weiß ich«, gab Torsten zu. »Aber wie lange soll das noch so weitergehen?« Er zuckte mit den Schultern. »Habt ihr alles, Helen?«
»Ja«, erwiderte Helen.
»Ich wünschte, du würdest nicht so starrsinnig sein und mir erlauben, dir mehr zu helfen.«
»Du hilfst mir genug, Torsten«, meinte Helen. »Ich brauche für Peter keinen Cent auszugeben, denn du kaufst ja alles, was er braucht. Andere ledige Mütter sind nicht so gut dran.«
»Aber ich würde gern etwas für dich tun, Helen. Das darfst du mir glauben«, versicherte Torsten. Er hatte Helen Ziegler gegenüber noch immer ein schlechtes Gewissen. Die Liebe zu ihr war nur ein kurzer Rausch gewesen, der schon vorbei gewesen war, ehe es richtig begonnen hatte. Und doch hatte Helen ihm einen Sohn geschenkt, einen Sohn, den er über alles liebte.
»Das ist nicht nötig, Torsten«, widersprach Helen ihm bestimmt und dennoch freundlich.
»Schon gut, Helen!« Torsten zuckte mit den Schultern und ging weiter. Langsam folgte ihm die junge Frau.
An der Haustür nahmen die beiden mit einem Händedruck voneinander Abschied. Torsten schaute nicht zurück, als er zu seinem Wagen ging und davonfuhr.
*
»Mutti, was ist denn?« Die zwölfjährige Jasmin Bredow schmiegte ihr Gesicht in die herrlichen rotblonden Haare ihrer Mutter. Sie war eben erst aus der Schule nach Hause gekommen und hatte im ganzen Haus nach ihrer Mutter gesucht, bevor sie diese schließlich hier im Zimmer von Klaus gefunden hatte. »Ist es wegen Klaus?«
»Nein, Jasmin«, erwiderte Silvia Hellmann-Bredow. »Nein, es ist nicht wegen Klaus.« Sie griff nach ihrem seidenen Taschentuch und tupfte sich die Augen ab.
»Aber warum weinst du dann, Mutti?« Jasmin setzte sich neben ihre Mutter auf das Kinderbett.
»Ich war nur ein bisschen traurig, Jasmin.« Silvia stand auf. »Hast du dich schon gewaschen? In fünf Minuten gibt es Mittagessen.«
»Warten wir denn nicht auf Vati?«
»Nein!«
Erschrocken schaute Jasmin ihre Mutter an. »Habt ihr euch gezankt?«, fragte sie ängstlich.
»Wir haben uns nicht gezankt, Jasmin.« Silvia zog ihre Tochter vom Bett hoch. »So, und nun geh dich waschen.«
»Gut, Mutti!« Mit gesenktem Kopf trat Jasmin in den Korridor. Was mochte ihre Mutter nur haben? Am Morgen war sie doch noch so fröhlich gewesen.
Grübelnd schlüpfte Jasmin in ihrem eigenen Zimmer aus ihrer Schulkleidung und zog Jeans und eine bunte Bluse an. Die langen schwarzen Haare band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Gründlich wusch sie Hände und Gesicht. Beim Abtrocknen schaute sie in den zierlichen Spiegel, der über ihrem Waschbecken hing. Ihr Vater hatte ihn im letzten Jahr auf einer Auktion ersteigert. Eigentlich war er viel zu wertvoll für das Zimmer eines zwölfjährigen Mädchens, aber Jasmin hatte Geburtstag gehabt, und da hatte Torsten ihr diesen Wunsch nicht abschlagen können.
Eine leichte Röte flog über Jasmins Gesicht, als sie nun an das dachte, was der vierzehnjährige Rolf Kaiser in der Pause zu ihr gesagt hatte. Bin ich wirklich hübsch?, fragte sie sich. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. Sie hatte ein ovales Gesicht mit großen braunen Augen und einer geraden Nase. Bisher hatte sie ihre Mutter immer um deren rotblonde Locken beneidet, doch nun fand sie ihre schwarzen Haare schön.
»Jasmin!«, rief ihre Mutter vom Erdgeschoss aus.
»Ich komme schon, Mutti!« Das Mädchen hängte das Handtuch an den dafür vorgesehenen Haken und rannte aus dem Zimmer.
Es war eine sehr schweigsame Mahlzeit, die Mutter und Tochter ein wenig später zusammen einnahmen. Jasmin hätte ihrer Mutter gern erzählt, dass Rolf sie hübsch genannt hatte, aber sie wagte es nicht. Ihre Mutter sah im Moment nicht so aus, als würde sie dafür Verständnis haben.
»Darf ich abräumen, gnädige Frau?«, fragte das Hausmädchen Ella, nachdem Silvia lustlos Messer und Gabel beiseitegelegt hatte und mit zusammengekniffenen Lippen vor sich hin starrte.
»Ja, räumen Sie ab.« Silvia stand auf. »Ella, wenn mein Mann kommt, dann sagen Sie ihm bitte, ich hätte mich hingelegt und wünsche nicht gestört zu werden.«
»Ich werde es ihm ausrichten, gnädige Frau«, versprach Ella. Kopfschüttelnd sah sie ihrer Chefin nach, als diese das Zimmer verließ. Dann erst erinnerte sie sich an Jasmin, die noch immer am Tisch saß. »Magst du Schokoladeneis, Jasmin?«, fragte sie.
»Kann ich es bei dir in der Küche essen?«
»Wenn du willst!« Ella konnte verstehen, dass Jasmin nicht allein in dem riesigen Esszimmer sitzen wollte. Sie stellte einen riesigen Eisbecher vor das Mädchen auf den Küchentisch, aber Jasmin schien keinen rechten Appetit zu haben. Sie nahm nur einige Löffel und schob das Eis dann von sich.
»Vielleicht hat meine Mutter Kopfschmerzen«, meinte Jasmin nach einer Weile.
»Das wird es sein.« Ella räumte den Eisbecher weg. »Was hast du heute Nachmittag vor? Kommen deine Freundinnen?«
Jasmin schüttelte den Kopf. »Ich muss lernen. Am Montag haben wir eine Mathearbeit. Die letzte vor den Ferien.«
»Wohin soll es denn diesmal in den Ferien gehen, Jasmin?«
»Ich weiß es noch nicht«, sagte Jasmin. »Vati möchte ins Gebirge, und Mutti an die See. Hoffentlich fahren wir an die See.« Sie ging zur Tür. »Und wohin wirst du fahren, Ella?«
»Wohin soll ich schon fahren, Kind?«, erwiderte das ältliche Hausmädchen. »Zu meiner Familie in Hessen.«
»Schade, dass …« Jasmin unterbrach sich. Sie rannte zum Küchenfenster. »Vati kommt!«, rief sie. Wie ein Wirbelwind war sie aus der Küche.