Eine Hand greift die andere - Ute-Marion Wilkesmann - E-Book

Eine Hand greift die andere E-Book

Ute-Marion Wilkesmann

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Beschreibung

Ein Nebendarsteller in der einen Geschichte wird zum Protagonisten der nächsten. Einige dieser Protagonisten begleiten durch das Buch und ergeben somit eine lose Rahmenhandlung. Krimitendenzen sind vorhanden.

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Inhaltsverzeichnis

Ann-Kathrin

Lothar Weingarthen

Simone Kusalski

Pierre Müller

Dagmar Schuster

Mara Winsen

Dana Frischbier

Marcel Sommerfeldt

Kristina Pondraczek

Hans Richard Montag

Hartmut Keller

Philipp Dammer

Lisa König

Hannelore Becker

Bernhard Schuler

Gerold Saelzer

Elfriede Peiser

Clarissa Farenkrog

Lukas Kluge

Hanna Huber

Jürgen Schreier

Martina Örtel

Dennis Merzbach

Svenja Schlebusch

Ann-Kathrin

Sie schaute in den Spiegel über dem Waschbecken. Die dunklen Ringe um die Augen waren verschwunden, die Lachfältchen geblieben. Sie hatte wieder eine frische Gesichtsfarbe, kein Wunder, bei den vielen Kilometern, die sie in diesen beiden Wochen gelaufen war. Anfangs hatte sie einen Schrittzähler gebraucht, um sich zu motivieren, aber nach drei Tagen hatte sie ihn zu Hause gelassen. Es machte einfach Spaß. Sie beneidete die Menschen, die naturnah wohnten. Sie hatte ein kleines Apartment im Herzen einer Großstadt, da gab es nur wenige Bäume, den einen oder anderen überlaufenen Park. Aber in der freien Zeit hatte sie sich ihr Auto genommen und war in die Umgegend gefahren. Es war herrlich, vor allem da das Wetter mitgespielt hatte. Es war nicht zu warm, es war nicht zu kalt, sie hatte keinen Regentag erwischt und die Sonne brannte noch nicht. So konnte sie in relativ kurzer Zeit den ganzen Stress ab- und weglaufen: den Tod des Freundes, die beginnende Demenz der Großmutter, die Arbeitsbelastung und nicht zu vergessen, die belastete Beziehung zu ihrem Chef.

Nach Stefans Tod war es besonders bedrückend geworden. Sie hatte schon gewusst, dass ihr Chef sie mochte, aber hatte gedacht, dass er das für sich behalten würde, aus Anstand oder so. Vor ihrer Ausbildung zur Sprechstundenhilfe hatte sie immer geglaubt, Ärzte seien intelligente und vernünftige Menschen. So hatte sie das zu Hause gelernt. Schon in ihrer Ausbildung hatte sie gemerkt, dass fachliche nichts mit menschlicher Intelligenz zu tun hat und schon gar nicht mit gutem Benehmen, Respekt oder Anstand. Dies war die dritte Praxis in ihrer jungen Karriere. Zuerst hatte sie gedacht, sie hätte einen Volltreffer gelandet.

Nette Kolleginnen, der Chef humorvoll und großzügig, wenn auch penibel bei der Arbeit. Freundlich zu den Patienten, ernsthaft bei der Arbeit. Die Frau vom Chef war ebenfalls sympathisch, wenn auch im Gegensatz zu ihrem Mann eher still und zurückhaltend. Er war mehr so der Typ „Partylöwe“, mit erzählerischem Geschick und einer gewinnenden Art. Häufig bracht er ‚seine Damen‘ zum Lachen. Das Ann-Kathrin bei Paaren oft auf: War einer der beiden eher extrovertiert, war der Partner ruhig und in sich gekehrt. Und je extrovertierter der Eine war, umso ruhiger der Andere. Das konnte man schon an Äußerlichkeiten erkennen: Dr. Grunewald war groß gewachsen, mit vollem dunklem Haar, leicht grau an den Schläfen. Er hatte eine sportliche Figur, war stets salopp-teuer gekleidet. Auch wenn er in Jeans, Poloshirt und Sneakern in die Praxis kam, konnte jeder, der ein bisschen Ahnung hatte, sehen, dass es sich um teure Stücke handelte. Seine Frau hingegen wirkte farblos. Blond, mittellange glatte Haare, auf der einen Seite gescheitelt. Sie war eher hager als schlank, ebenfalls groß. An ihr war nichts Auffallendes, sie strahlte eine stille Zufriedenheit aus, derweil ihr Mann sich eben witziger und kommunikativer präsentierte. Es wurde gemunkelt, dass Dr. Grunewald seine Frau in dem Krankenhaus kennengelernt hatte, in dem er seine Facharztausbildung zum Internisten absolviert hatte. Sie war gelernte Krankenschwester und arbeitete dort als Sekretärin des Chefarztes. Diese Liaison entsprach fast einer Klischeeverbindung.

Nach einem freundlichen Einstellungsgespräch war Ann-Kathrin eine Weile überzeugt, das große Los gezogen zu haben. Immer so eine nette Atmosphäre, so locker. Der Chef ließ nie Zweifel daran, dass es ihm wichtig war, dass seine Mitarbeiterinnen mit den Patienten respektvoll und freundlich umgingen.

Sie arbeitete seit vierzehn Monaten in der Praxis. Das Gehalt war relativ großzügig und so konnten sie und Stefan sich zusammen eine schöne große Wohnung leisten. Traurig dachte sie an diese Wohnung zurück, die sie nach Stefans Tod nicht mehr bezahlen konnte. Jetzt hatte keinen Balkon mehr, keine Vögel, die sie morgens mit munterem Gezwitscher weckten. Alles hatte positiv für die Zukunft ausgesehen. Sie beide hatten etwas Geld zurückgelegt. In zwei Jahren wollten sie heiraten, noch ein wenig sparen und dann hatten sie Kinder geplant. „Mindestens zwei“, sagte Stefan immer lachend. Ann-Kathrin war sich nicht so sicher. In ihrer Familie waren alle Geburten, von denen sie gehört hatte, schmerzhaft und langwierig. Natürlich wünschte sie sich ein Kind, aber dann erst einmal schauen, ob sie danach mehr wollte.

Stefan freute sich mit ihr, dass sie offenbar beruflich das große Los gezogen hatte. „Siehst du“, scherzte er dann gern, „jetzt hast du nicht nur mit mir den absoluten Volltreffer gelandet, sondern bist auch im Job toll dran.“ Ein Moment, in dem sie beide lachten.

Nach etwa drei Monaten änderte sich die Atmosphäre unmerklich, wenn sie mit ihrem Chef arbeitete. Es war schwierig zu beschreiben. Waren Kolleginnen dabei, war er betont distanziert und übersah nicht den kleinsten Fehler, den sie machte. War sie mit ihm allein und half ihm, so war die räumliche Distanz zwischen den beiden für ihren Geschmack zu gering. Erklärte er ihr etwas am Computer, so konnte sie wetten, dass es bald zu einer Berührung kam, die sich zwar mit Zufall erklären ließ, aber es in dieser Intensität doch nicht sein konnte. Am unangenehmsten war ihr die Art, wie er sie ansah. Sie war mit den Kolleginnen nicht vertraut genug, um mit ihnen darüber zu sprechen. Stefan erzählte sie es. Er war überzeugt, dass es so schlimm nicht sei, sie sei doch gar nicht sein Typ – im Gegensatz zu Frau Grunewald war sie mittelgroß, kurvig und dunkelhaarig. „Aber wenn es dich ängstigt, such dir einen anderen Job, wenn nicht hier in dieser Stadt, dann eben woanders. Wir schaffen das schon!“ Sie umarmte ihn in solchen Momenten immer dankbar. Ihr Stefan war nun mal ein Traummann. Nun ja, wie jeder Mensch hatte er Macken und nervte sie mit einigen Dingen, wie es sicher auch umgekehrt der Fall war. Gelegentlich hasste sie seine Art, nichts wirklich ernst zu nehmen. Aber wenn es darauf ankam, gab er ihr Rückhalt und hörte auf zu blödeln.

Bald fing Grunewald an, Ann-Kathrin stärker zu bedrängen. Er legte bei der Computerarbeit seine Hand auf ihre Schulter. Sie fand das unangenehm und versuchte immer, durch eine Drehung oder eine andere Bewegung der Hand zu entkommen, manchmal begann sie ein Gespräch über seine Familie: „Wie geht es Ihrer Frau, wenn ich einmal fragen darf?“, oder „Wie weit sind Ihre beiden Jungs denn jetzt auf dem Gymnasium?“ Das bremste ihn für ein paar Tage. Bei der Weihnachtsfeier letztes Jahr konnte Stefan sie nur bringen, aber nicht abholen. Dr. Grunewald brachte sie nach Hause, genau das hatte sie befürchtet. Im Auto vor ihrer Haustür legte er seine Hand auf ihr Knie und versuchte, die Hand hochrutschen zu lassen, wobei er seinen Mund in ihr Haar drückte. Das konnte sie nicht mehr mit Harmlosigkeiten kontern. Sie zog den Kopf zurück zur Beifahrerseite, sah ihn an, eine Mischung aus zornig und flehend, wobei sie seine Hand zur Seite stieß: „Bitte, Herr Dr. Grunewald, ich möchte das nicht – Sie haben eine Familie, ich habe einen festen Freund, wir wollen bald heiraten.“ Sie sagte nicht, was sie dachte: „Schon bei dem Gedanken, dass sie mich anfassen, wird mir übel, außerdem versuchen Sie, meine berufliche Abhängigkeit auszunutzen.“ Er schrak zurück, seine Zunge schnackte wie die einer Schlange über seine Unterlippe. Sein Ausdruck versteinerte sich, er bemühte sich um eine Maske der Gleichgültigkeit. „Okay, entschuldigen Sie, Ann-Kathrin, wenn Sie eine Weinlaune für ernst gehalten haben, in keinem Fall würde ich meine Grenzen überschreiten.“ Ann-Kathrin kochte innerlich, immer drehte er alles zu seinen Gunsten. „Natürlich nicht“, murmelte sie und stieg aus dem Wagen aus. Die Tür war noch nicht ganz geschlossen, da brauste Grunewald davon.

Sie wollte Stefan von diesem Vorfall erzählen, war sich aber nicht sicher, wie er reagieren würde. Sie wusste nicht, wie es in der Praxis jetzt weitergehen sollte.

Es ging erstaunlich problemlos, Grunewald war die Korrektheit in Person, auch wenn sie allein waren. Manchmal, wenn sie einen Blick von ihm auffing, war sie sich allerdings nicht sicher. Irgendwie hatte er dann so etwas von einem Reptil, einem Fraßräuber. Aber sie war froh, dass er ihr die Arbeit nicht zur Hölle machte oder er ihr aus Rache gekündigt hatte. Gerade jetzt wäre ein Arbeitsplatzwechsel mit unwägbaren finanziellen Konditionen schwierig.

Stefan fragte ab und an, was der „Olle“ denn mache. „Er ist korrekt“, antwortete sie dann. Er lächelte, nahm sie in den Arm und sagte: „Siehst du!“ Stefan neigte dazu, sich seiner Überzeugungen sehr sicher zu sein und sich nur ungern davon abbringen zu lassen. Deshalb war sie manchmal kurz davor, ihm die Szene im Auto zu schildern, aber sie ließ es. Es schien ja alles glatt zu laufen und wenn es dann dieses Zwischenfalls bedurfte, okay.

Etwa sieben Wochen später ereignete sich dieser furchtbare Motorradunfall. Stefan war im strömenden Regen von der Straße abgekommen, was Ann-Kathrin nicht verstehen konnte, er war so ein vorsichtiger Fahrer. Einfach aus der Kurve herausgetragen und trotz Helm so schwer verletzt, dass er das Krankenhaus im Rettungswagen nicht mehr lebend erreichte. Ann-Kathrin war untröstlich, tagelang schlich sie appetitlos mit roten Augen durch die Gegend. Grunewald war erfreulich rücksichtsvoll. Er schickte in seinem Namen und dem seiner Frau einen geschmackvollen Kranz zur Beerdigung. Auf der Karte schrieb er ihr, sie könne sich Zeit nehmen, der Verlust sei schrecklich angesichts der Pläne, die sie doch beide gehabt hätten. Er gab ihr eine Woche Sonderurlaub.

Auch das war schon eine Weile vorbei. Jetzt hatte sie den ersten Urlaub allein hinter sich und es war besser gelaufen, als sie befürchtet hatte. Sie hatte sich an die kleine Wohnung gewöhnt. Wenn sie abends nach Hause kam, war eben niemand schon da. Wenn es mal später wurde, musste sie niemanden mehr anrufen. Die ganze Hausarbeit war weniger, auch wenn sie sich diese relativ fair geteilt hatten. Das Leben ging weiter: Ein Klischee, aber es traf zu. Heute war ihr erster Arbeitstag nach dem Urlaub. Sie trug Lidschatten auf, tuschte sich die Wimpern und wählte einen dunklen Lippenstift. Sie warf noch einen kritischen Blick in den Spiegel, doch, sie war mit sich zufrieden. Sie programmierte einen Termin für zehn Uhr im Smartphone ein, da musste sie das Pflegeheim anrufen, in das ihre Großmutter kommen sollte. Nachdem die Oma letztlich die Nudeln auf dem Ofen vergessen hatte, bis sie angebrannt waren, und außerdem immer wieder vergaß, ihren Hund zu füttern, der deutlich abgemagert war, hatten Ann-Kathrins Eltern mit ihrer Tochter gesprochen. Sie hatten nicht den Platz und auch nicht die Kraft, die alte Frau bei sich aufzunehmen. Die drei hatten sich zusammen mehrere Heime angeschaut und sich letztendlich für den Rosengarten entschieden. Sowohl die Eltern als auch Ann-Kathrin konnten dort hinfahren, ohne eine Weltreise zu machen, Personal und Heimleitung hinterließen einen freundlichen Eindruck, die Zimmer waren nicht zu klein, das Essen wurde frisch gekocht. Ann-Kathrin hatte das Organisatorische übernommen und wollte mit der Heimleiterin Frau Wilskowski heute die letzten Fragen abklären.

Sie fuhr mit dem Auto zur Arbeit. Die Praxis öffnete täglich um halb neun, die Mitarbeiterinnen kamen um acht, um Anrufe entgegenzunehmen. Von den Kolleginnen wurde sie freundlich begrüßt. Annika, die neue Auszubildende, freute sich besonders: „Ann-Kathrin, super, dass du wieder hier bist! Ich habe dich total vermisst.“ Ann-Kathrin lächelte, das war nett zu hören.

„Gibt’s was Neues?“ Die Kolleginnen redeten munter auf sie ein, es war wie immer. Und Zeit, in den Dienstplan zu schauen. Aha, sie war heute für die Rezeption eingeteilt, Telefonate führen, Patienten begrüßen, Termine vergeben, Rezepte aushändigen, was alles so anfällt.

Ihr Chef legte großen Wert auf, wie er sagte, Corporate Identity. Die Praxis war in Weiß und Beige gehalten, alle Mitarbeiter trugen Dienstkleidung: weiße Hose, beigefarbenes Oberteil, weiße Schuhe. Dazu legten die Mitarbeiterinnen noch ein kleines beigerot-weiß gemustertes Halstuch um den Nacken oder steckten ein entsprechendes Taschentuch in die Brusttasche. Dr. Grunewald hatte sich eine beigefarbene Hose und ein weißes Hemd vorbehalten. Als ob man sonst den Unterschied nicht wahrnähme, hatte Sylvia mal gewitzelt. Sylvia war die leitende Assistentin und mit ihren dreiundvierzig Jahren die Älteste.

Das Telefon flötete, die Anlage lief über den PC, sodass die Mitarbeiterinnen bei bekannter Nummer schon im Voraus wussten, wer oder was sie erwartete. „Praxis Dr. Grunewald, guten Morgen, Sie sprechen mit Ann-Kathrin. Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Moin, Lothar Berge am Apparat“, Herr Berge hustete, „mir geht es nicht gut, habe die ganze Nacht mit Husten wachgelegen. Kann ich vorbeikommen?“ „Augenblick, Herr Berge, ich schaue mal, ob ich noch einen Termin für Sie habe oder ob Sie mit Wartezeit rechnen müssen.“ Sie klickte sich durch die Termine des Tages, während Berge vernehmlich durch die Leitung keuchte. „Können Sie um 12.15 Uhr hier sein? Da hat der Doktor noch einen Termin frei.“ „Alles klar, bis später, Ann-Kathrin.“

Zu Herrn Berge gab es einen Vermerk in der PC-Kartei: „Nach Lungentumor halber Lungenflügel entfernt, bei Erkältung sofort Termin!“ Ann-Kathrin ließ sich die Telefonnummer von Frau Martha Müller heraussuchen, die alte Dame hatte einen Kontrolltermin um Viertel nach zwölf, war aber immer bereit, einen Termin zu verschieben, wenn „Not am Mann“ war. Das war so eine Einrichtung in der Praxis: Neue Patienten wurden gefragt, ob sie bei knappen Terminen und Notfällen auch flexibel verschieben würden. Da Dr. Grunewald diese Bereitschaft nur bei Bedarf und keineswegs leichtfertig nutzte, hatte es sich unter den Patienten herumgesprochen. Denn sie wussten: Wenn es bei ihnen selbst einmal dringlich war, konnten sie ebenfalls damit rechnen, vorgezogen zu werden oder einen spontanen Termin zu erhalten. Dr. Grunewald entsprach genau dem Bild, das man als patientenorientiert bezeichnet. Er hatte sich auch ein Team aus Mitarbeiterinnen zusammengestellt, die diese Einstellung teilten und beherzigten. Dieser Aspekt der Arbeit ließ Ann-Kathrin gern hier arbeiten, auch wenn die zahlreichen Überstunden gelegentlich eine Belastung darstellten. Der Chef weigerte sich jedoch beharrlich, noch eine oder gar zwei Helferinnen einzustellen, wie es nötig wäre. Von seinen privaten Ambitionen ganz zu schweigen.

Frau Müller brauchte immer etwas länger, bis sie das Telefon erreichte. Sie war bereit, ihren Termin auf den kommenden Donnerstag, selbe Uhrzeit, zu verschieben. „So ein Glück“, dachte Ann-Kathrin, „da ist mein freier Vormittag und dann muss ich mir die Lebensgeschichte von Frau Müller, ihren drei Töchtern und zahllosen Enkelkinder nicht anhören“. Flexibel, ja, aber sie war auch ein wenig nervig, da waren sich die Rezeptionistinnen einig. Es klingelte, Ann-Kathrin schaute auf den Bildschirm. Aha, der DHL-Bote, sicher wieder ein privates Paket für den Doktor. Sie drückte auf den Summer, die Tür öffnete sich. Es war ihr Lieblingsbote, der junge Blonde, stets freundlich, selbst im Weihnachtstrubel, aber immer in Eile. Manchmal wechselten sie ein paar Worte. Er schob ein Paket über die Theke, sie zeichnete den Empfang ab. Er rieb sich seinen Arm. „Schmerzen?“ Er verzog das Gesicht: „Gestern habe ich mich ziemlich böse gestoßen, aber es ist nicht so schlimm.“ „Zeigen Sie doch mal!“ Er schob den Ärmel hoch. Oh, das sah nicht gut aus. Sie sah ihn an: „Das sollten Sie aber mal dem Doktor zeigen!“ „Nee, keine Zeit“, lachte er, zog den Ärmel wieder herunter und verließ flotten Schrittes die Praxis. „Warten Sie nicht zu lange!“, rief sie hinter ihm her.

Wer heute einen Job hat, ist ständig überarbeitet, in Hektik und traut sich nicht, Krankheiten auszukurieren. Irgendwie nicht gut, dachte sie. Während sie weiter Patienten ins Wartezimmer bat, Sendungen entgegennahm und Telefonate führte, bereitete sie dem Chef den PC-Zugang zu den Krankenakten für die nächsten drei Patienten vor. Grunewald kam zwischen zwei Patienten an der Theke vorbei. „Können Sie heute Mittag etwas länger bleiben? Da gibt es noch ein paar Ungereimtheiten in der Akte von Lothar Weingarthen.“ Sie nickte und seufzte innerlich: „Ja, sicher.“ Das wurde nun einmal erwartet. „Danke, Ann-Kathrin. Sie sehen übrigens gut aus.“ Sie lief leicht rosa an, oh nein! Er bemerkte ihre Verlegenheit: „Gut erholt, meine ich natürlich.“ Sie lächelte. Aber nur mit halbem Herzen.

Es stand noch Herr Konrad Wilsberg zur Blutabnahme an, dann war erst einmal Ruhe für den Vormittag. Die Kolleginnen scherzten gerne über seinen Namen, er lachte gutmütig mit ihnen. „Vielleicht sollte ich mich in Georg umbenennen lassen?“

Die Mitarbeiterinnen gingen häufig zusammen in die Mittagspause. „Kommst du mit?“ „Nee, sorry, der Chef braucht mich wegen einer Patientenakte.“ „Sollen wir dir das übliche Salamibrötchen und einen kleinen Salat mitbringen?“ „Oh, das wäre prima, sonst verhungere ich hier noch!“

Sie ging ins Wartezimmer und zog sich einen Milchkaffee am Automaten. Der würde wenigstens ein bisschen sättigen, bis die Kolleginnen zurückkämen. Sie hatte sich heute kein Obst mitgebracht, wie sie das sonst für solche Fälle immer dabeihatte. Nicht dran gedacht, eben raus aus der Routine. Die Praxis war leer, sie schaltete den Anrufbeantworter für die Mittagspause ein.

Grunewald kam aus seinem Büro. „Die anderen Damen sind alle ausgeflogen?“ Ann-Kathrin nickte. Was sollte die Frage? Sie war leicht beunruhigt. „Kommen Sie doch in mein Büro, ich möchte mit Ihnen reden.“ Dabei musterte er sie von oben bis unten auf seine spezielle Weise, die sie so unangenehm fand.

Er bot ihr einen Stuhl am kleinen Besprechungstisch an und setzte sich ihr gegenüber. „Sie sehen gut erholt aus!“ „Danke, das bin ich auch.“ Kleine Pause. Er beugte sich vor und legte seine Hand auf ihre. Ann-Kathrin wurde es eiskalt. Was sollte das werden? „Sie wissen ja, wie sehr ich Sie schätze, nicht wahr?“ Sie nickte und wusste kaum, wohin den Blick zu wenden.

„Nun, Sie sind jetzt ja eine Weile wieder allein, da wird es langsam Zeit, sorgsam in die Zukunft zu schauen.“ Ihre Stühle standen zu nah beieinander. „Ich würde Sie gerne zur leitenden Assistentin machen.“ – „Und Sylvia?“ – „Sie bekommt dann die Leitung des Labors übertragen.“ Ann-Kathrin wusste, dass Sylvia diesen Job nicht mögen würde, sie liebte den Kontakt zu den Patienten, den Trubel „vorn“.

„Natürlich wird Ihr Gehalt entsprechend angehoben. Na, Interesse?“

Ann-Kathrin ahnte nichts Gutes, aber was sollte sie sagen: „Ja, wenn die Kolleginnen damit kein Problem haben.“ Seine Reptilienzunge benetzte die Lippen. „Sie haben den richtigen Umgang mit den Patienten, sind beliebt bei den Kolleginnen und können auch den Umgang mit Ihrem Chef noch einmal überdenken.“ Er kam mit seinem Gesicht näher an sie heran: „Deine Kratzbürstigkeit gefällt mir, aber am Ende musst du schon ein bisschen entgegenkommender sein.“ Sie spürte seinen Atem an ihrem Hals, seine Hände legten sich um ihre Taille. Das Telefon klingelte, sie wollte aufspringen, sie bog ihren Kopf zur Seite, von ihm weg. „Ich muss ans Telefon.“ „Oh nein, meine Kleine, es ist doch Mittagspause, ich habe auch abgeschlossen.“

Panik würgte sie, sie spürte seine Hände unter der Bluse aufwärtsrutschen, seine Lippen, eklig nass und übelriechend – so empfand sie es – an ihrem Hals. „Lassen Sie mich hier weg, Sie sind doch nicht ganz dicht!“ Sie stemmte dabei ihre Hände gegen seinen Brustkorb, zog das Knie hoch und traf ihn voll. Letztendlich, so wusste sie, war sie ihm körperlich unterlegen, aber sie hoffte, dass er zur Besinnung kommen würde. Er zog sich zurück, gekrümmt vor Schmerz, sie sprang auf. Er starrte sie an, ein undurchdringlicher Blick. Sie zog sich die Bluse herunter, steckte sie wieder in die Hose und ging klopfenden Herzens zur Rezeption. Sie würde kündigen müssen, das Vertrauensverhältnis war ein für alle Mal zerstört.

Im Vorraum der Toilette kämmte sie sich die Haare und brachte die Kleidung vollends in Ordnung. Ihr Herz hämmerte immer noch aufgeregt gegen den Brustkorb. Sie blieb, mit den Händen auf das Waschbecken gestützt, einige Minuten stehen, um wieder normal atmen zu können. Sie riss sich zusammen, als sie die Kolleginnen zurückkommen hörte. Annika kam in den Raum, mit ihrem feinen Gespür merkte sie, dass etwas in der Luft lag, und fragte: „Ist irgendwas?“ Ann-Kathrin schüttelte den Kopf, „Ist schon okay“. Sie ging zu ihrem Schreibtisch. Unter diesen Umständen konnte sie hier nicht bleiben, egal ob gute Beziehung zu den Kolleginnen oder gute Bezahlung. Sie seufzte, es hätte auch schlimmer kommen können, wenn Grunewald sich völlig vergessen hätte. Es war übel genug. Sicher war sie nicht die Erste, an der Grunewald sich versucht hatte. Sie sah ihre Kolleginnen unauffällig an. Wer war es vorher? Wie hatten sie reagiert? Ob sie nachfragen sollte, so ganz vorsichtig? Gerne hätte sie den Chef angezeigt, aber sie hatte ja keinen Beweis, da es Gott sei Dank nicht zu einer Vergewaltigung gekommen war, wo auch die Beweislast, wie man weiß, immer nicht so einfach ist. Sie entschied sich, nachher zu Frau Grunewald zu gehen und darum zu bitten, dass sie den Nachmittag freinehmen könne. Dass ihr übel war, konnte man deutlich sehen. Und irgendwie würde sie die Wochen bis zum Ende der Kündigungsfrist schon herumbekommen, zur Not auch mit einer Krankschreibung überbrücken. Sie lächelte bitter, aber sicher würde sie dafür nicht Herrn Grunewalds „Dienste“ in Anspruch nehmen.

Die ersten Patienten füllten allmählich wieder das Wartezimmer. Da war der kleine Markus mit seiner Mutter, dessen Mittelohrentzündung hoffentlich endgültig abgeklungen war. Gerade kam Herr Weingarthen zur Tür herein, seine Lungenfunktion musste überprüft werden. Die Lungenfunktionsprüfung würde eine der Assistentinnen durchführen, nur die Besprechung war Grunewalds Sache. Direkt hinter Herrn Weingarthen drängte sich die füllige Frau Demirez durch die Tür. Vermutlich wollte sie das Rezept für ihren Mann verlängern lassen, wie immer zu Anfang des Quartals.

Dann kam Frau Grunewald, sie nickte kurz in die Runde. Sie erledigte nachmittags einen Teil der Buchhaltung und andere administrative Belange, jetzt wo die Kinder wieder zur Schule gingen. Ann-Kathrin bemitleidete Frau Grunewald. Irgendwann hatte sie doch sicher einmal mitbekommen, was für ein widerlicher Schürzenjäger ihr Mann war.

Ann-Kathrin hatte sich fünfzehn Minuten gegeben, bevor sie sich bei ihr abmelden wollte. Nach zehn Minuten Wartezeit kam Frau Grunewald mit hochrotem Kopf und schmalen Lippen aus dem Büro ihres Mannes und steuerte direkt auf Ann-Kathrin zu. Was war denn jetzt los? Frau Grunewald, sonst zurückhaltend, freundlich und eher scheu, baute sich vor der Rezeption auf. Mit den Worten „Hier ist Ihre Kündigung!“, warf sie Ann-Kathrin einen Umschlag auf den Tisch. Frau Grunewald starrte sie an. „Wir hätten Ihnen lieber fristlos gekündigt, aber sicher würden Sie nicht zugeben, wie Sie meinen Mann sexuell bedrängt haben.“ Ann-Kathrin blieb der Mund offenstehen. Frau Grunewalds Stimme war schrill und durchdringend, die Kolleginnen und die Patienten im Wartezimmer konnten jedes Wort hören. Ann-Kathrin schossen vor Wut und Empörung die Tränen in die Augen.

„Im Übrigen sind Sie bis zum Rest Ihrer Arbeitszeit freigestellt, die entsprechende Summe liegt ebenfalls im Umschlag.“ Ann-Kathrin wollte etwas sagen, aber ihre Stimme versagte.

„Wissen Sie, mein Mann hat sich ja schon mehrmals über Ihre plumpen Avancen beschwert, ich habe das bisher nie ernstgenommen, habe Sie in Schutz genommen und ihm erklärt, er habe da sicher etwas falsch verstanden. Sie haben mich auch menschlich aufs Tiefste enttäuscht.“

Frau Grunewalds Stimme wurde lauter und schriller, sie hatte rote Flecken am Hals, sie schrie Ann-Kathrin an: „Packen Sie Ihre Sachen, jetzt sofort, und verlassen Sie umgehend unsere Praxis. Seien Sie froh, wenn wir keinen Rechtsanwalt einschalten!“ Die beiden Frauen starrten sich an. „Und“, fuhr Frau Grunewald fort, „erwarten Sie kein Zeugnis von uns. Ich kann Ihnen keinesfalls empfehlen, darauf zu bestehen!“ Damit drehte sie sich um und eilte wieder in ihr Büro, wo man sie weiter schimpfen hören konnte.

Ann-Kathrin schaute ihre Kolleginnen an, die jedes Wort mitgehört hatten. Alle waren schwer beschäftigt, verbargen ihre Köpfe hinter den Bildschirmen oder starrten Kathrin sogar entsetzt an. Annika schaute auf den Boden. Na, phantastisch, das sind ja Kolle ginnen, von denen man träumt! Ann-Kathrin packte rasch ihre Sachen zusammen und stopfte sie in ihren Rucksack. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, sich umzuziehen. Die Dienstkleidung würde sie mit der Post schicken, nur keine Sekunde länger hierbleiben! Sie war in keiner Gewerkschaft, aber so würde sie sich das nicht gefallen lassen. Wofür hatte sie eine Rechtsschutzversicherung? Sie würde sich auf jeden Fall, dazu war sie fest entschlossen, erkundigen, welche Rechte ihr zustanden und wie sie diese durchsetzen konnte.

Lothar Weingarthen

Lothar Weingarthen gehörte zu den Menschen, die gerne in Suchmaschinen ihren eigenen Namen nachschauen. Immer wieder gab er seinen Namen in die Suchmaske ein, aber es gab nur Lothar Weingarth, und zwar dreimal: in Kleinblittersdorf, Neunkirchen und Heckenransbach. Er war 2.0-mäßig gesehen nicht existent. Er sinnierte dann zuweilen, ob er ein Existenzialist sei, wenn er über so eine Frage nachdachte, und kam sich dann philosophisch vor. Das hob seine Laune.

Manchmal überraschte er Freunde damit, dass er sie fragte: „Denkt ihr, ich bin ein Existenzialist?“ Keiner konnte so recht etwas darauf antworten, weil die meisten von ihnen gar nicht wussten, dass es so etwas wie Existenzialismus gibt. Weil Lothar das schon ahnte, hatte er sich eine Definition aus dem Internet kopiert, in Acht-Punkt-Schrift ausgedruckt und ausgeschnitten. Drei dieser kleinen Papiere trug er immer in der Brieftasche bei sich:

„Die Denkströmung [des Existenzialismus] befasst sich mit dem Lebensentwurf des einzelnen Menschen und seiner persönlichen Verantwortung. Sie greift vor allem Themen auf, die unmittelbar zur menschlichen Erfahrung gehören, wie Angst, Tod, Fremdheit, Freiheit und Handeln.“

Er gab immer die Quelle1 an, damit man ihm nicht Unwissenschaftlichkeit unterstellen konnte.

Kam das Thema ins Gespräch, konnte er die kleinen Papierchen verteilen und dann zu Hause Nachschub ausdrucken, ausschneiden und die Brieftasche auf drei Exemplare auffüllen. Er lachte, und das mochten seine Freunde an ihm: Er nahm sich nicht allzu ernst mit seinen Ausführungen, es war eine Marotte. Hatte nicht jeder so seine Marotte? Sein Freund Uwe zum Beispiel hatte lauter Fußballmaskottchen im Auto: Ein gelb-schwarz gekleideter Plastikfußballspieler hing am Rückspiegel, ein blau-weiß-gerautetes Tuch lag auf der Hutablage und ein rot-weißer Trinkbecher steckte in der entsprechenden Halterung. Uwe war gerne unparteiisch und gerecht auf eine Weise, die Lothar als Marotte betrachtete. Und so schloss sich der Kreis.

Lothar war kein Einzelgänger: Er war verheiratet, hatte zwei Kinder, einen netten Freundeskreis. Einmal hatte er ein Verhältnis mit einer Kollegin gehabt, das ging aber nur über zwei Wochen und er fand es eigentlich selbst recht blöde. Denn er liebte seine Frau, seine Familie, wie er fand, also war das überflüssig gewesen. Aber es hatte seinem männlichen Ego schon geschmeichelt, dass so eine gutaussehende Siebenundreißigjährige sich mit ihm eingelassen hatte. Immerhin war er Anfang fünfzig, sein Haar war oben auf dem Kopf schon ein wenig schütter. Zum Glück war Irina kleiner als er und sah seine Schwachstelle daher nicht ständig. Er schmunzelte, ja, es waren zwei aufregende Wochen, es war moralisch nicht gutzuheißen, aber auch nett gewesen. Irina war ebenfalls verheiratet, ihr ging es ähnlich wie ihm mit der Einstellung zu ihrer Beziehung. So war es zu keinen Szenen gekommen, sie hatten sich nett verabschiedet. Das war etwa ein Jahr her. Sie zwinkerten sich, wenn keiner hinsah, gelegentlich heute noch zu. Es hatte sein Ego aufgebaut, was, so redete er sich gern ein, auch letztendlich der Beziehung zu seiner Frau Auftrieb gab. Er las doch immer wieder, dass es wichtig ist, sich selbst zu lieben, bevor man andere lieben kann. Sozusagen liebte er dank Irina seine Monika jetzt umso mehr.

So war sein Leben bis vor kurzem glatt verlaufen. Es gab die üblichen Ups und Downs, es passiertes Trauriges wie der Tod seiner Mutter. Sein Vater war schon länger tot. Nicht zu vergessen, die Pflege von Monikas Mutter, die den Alltag belastete. Die Kinder machten nicht immer pausenlos nur Freude, wenn auch unterm Strich alles recht problemlos verlief. Lothar war mit seinem Beruf zufrieden: Als kleiner Beamter im Ordnungsamt bot das Berufsleben zwar keine Abenteuer, aber das Gehalt war stabil, der Job fest. Was heute, so sah Lothar das, alles andere als selbstverständlich war.

Zwei Ereignisse hatten ihn in den letzten Monaten erschüttert. Da war einmal die schwere Bronchitis, die ihn zwei Wochen ans Bett gebunden hatte. Es war sogar fast zu einem Krankenhausaufenthalt gekommen, weil sein Hausarzt Dr. Grunewald eine Lungenentzündung vermutete. Aber dann war es glücklicherweise doch eine Bronchitis, wenn auch eine schwere. Lothar hatte geduldig im Bett gelegen. Die ersten Tage wollte er nicht akzeptieren, dass er krank war. Er war bisher nur zweimal länger als drei Tage krank gewesen, einmal kurz nach dem Übergang aufs Gymnasium und dann während der Bundeswehrzeit, als er sich einen Arm gebrochen hatte. Aber so eine Bronchitis, nein, so etwas kannte er nicht. Er hatte brav die Antibiotika geschluckt, genau nach Plan, denn der Doc hatte ihm eindringlich erklärt, warum das wichtig ist. Er besuchte die Praxis überhaupt gern, alle waren nett, die Organisation prima, man musste selten warten. Er ging regelmäßig zu den fälligen Vorsorgeuntersuchungen dort hin. Dabei hatte er letzte Woche diesen Eklat mitbekommen. Er hätte das Ann-Kathrin gar nicht zugetraut, er hatte immer gedacht, sie wüsste die Distanz zu wahren. Aber offensichtlich ... nun ja, er überlegte, ob er Ann-Kathrin von der Bettkante geschubst hätte, wenn sie ihm nähergekommen wäre. Er verdrängte den Gedanken, denn nach der Erfahrung mit Irina sollte er solche Gedanken gar nicht in seinen Kopf lassen.

Die Zeit im Bett hatte er nicht einmal mit Lesen oder Fernsehen füllen können, der Kopf brummte und die ständige Husterei zerstörte den Rest seiner Konzentrationsfähigkeit. Eine Woche hatte er mit hohem Fieber halb wach, halb schlafend und in Fieberträumen verbracht. Der Doc war sogar einmal zu einem Hausbesuch gekommen!

Aufschlussreich war, wer von seinen Freunden und Kollegen nach ihm gefragt oder ihn sogar besucht hatte. Uwe, das wunderte ihn nicht, war einer der Ersten. Er war ein wirklich treuer Freund, sie kannten sich schon seit der Bundeswehrzeit, da hatten sie Spaß zusammen gehabt. Erwin und Michael hatten sich gedrückt, angeblich hatten sie keine Zeit. Aus dem Büro war niemand gekommen. Soweit zum perfekten kollegialen Verhältnis untereinander, wie es immer hochgelobt wurde. Wenigstens schickten sie einen kleinen Obstkorb mit einer Karte, besser als vollständig vergessen worden zu sein.

Als er sich zum ersten Mal wieder angezogen und aufs Sofa gesetzt hatte, fühlte er sich gleich wie ein ‚richtiger Mensch‘. Das hielt jedoch nur wenige Minuten an, dann kam die Schwäche zurück. Kranksein geht eben nicht so schnell vorbei, wie er sich das gedacht hatte. Soweit war nach ein paar Wochen alles okay, er musste nur für eine Weile seine Lungenfunktion regelmäßig überprüfen lassen. Die war so miserabel gewesen, dass ihm der Doc sogar ein Asthmaspray verschrieben hatte. Nachdem der letzte Test aber so gut ausgefallen war, musste er es nicht mehr benutzen. „Wir machen mal einen Auslassversuch, Herr Weingarthen. Ihre Ergebnisse sind einwandfrei, da sehe ich kein Risiko.“

Monika schien auch erleichtert, als es ihm wieder besserging. Sie hatte nicht geklagt, aber er wusste, was sie von ‚kranken Männern‘ hielt. Sie hatte sich eine Woche freigenommen, was als Busfahrerin gar nicht so einfach war. Das brachte den ganzen Dienstplan durcheinander und Kollegen mussten einspringen.

Das andere Ereignis war der Unfall. Und deshalb saß er hier im Wartezimmer von Rechtsanwalt Jörg Junghammer. Was für ein Name für einen Anwalt! Lothar musste immer schmunzeln, wenn er von seinem Anwalt sprach. Junghammer war ihm von Siegfried empfohlen worden. Uwe, Siegfried und er spielten gelegentlich Skat. Als er von dem Unfall erzählt hatte, war Siegfried sofort fürsorglich geworden: „Mach bloß nix ohne Anwalt! Die reißen dir die Haare bei lebendigem Leibe vom Kopf, egal ob du Recht oder Unrecht hattest. Ich hatte da letztlich …“ und damit hob Siegfried zu einer zweistündigen Erzählung an. Manchmal war Siegfried schon anstrengend. Aber seine unermüdliche Hilfsbereitschaft gab den Freunden meist die Geduld, nicht nach einer halben Stunde gähnend das Weite zu suchen. Was Siegfried von dem Anwalt erzählte, klangt überzeugend: „Das ist ein ganz scharfer Hund, einen besseren gibt es für dich nicht, und wehe, wenn der auf der Gegenseite steht“. Daher hatte Lothar sich einen Termin geben lassen.

Es war sein erster Besuch in einer Rechtsanwaltspraxis. Er, Lothar Weingarthen, war jetzt kein normal Sterblicher mehr, sondern ein Mandant, wie die Rechtsanwälte ihre Kunden nennen, das lernt man schon in den einschlägigen Fernsehsendungen. Er hatte vor vier Tagen angerufen, nur zwei Tage nach dem Unfall. Monika hatte ihm gleich gesagt, dass er ohne Anwalt sofort verloren habe: „Sobald Kinder im Spiel sind, hast du keine Chance!“ Nun stand er vor der Tür der Kanzlei, die nur wenige Minuten von seiner Wohnung entfernt in einer kleinen Seitenstraße lag. Komisch, da lebt man jahrelang in einer Gegend und nimmt gar nicht wahr, dass es quasi um die Ecke eine Anwaltskanzlei gibt. Er hatte sich ihre Webseite angesehen, ein wenig zu textlastig für seinen Geschmack, er bevorzugte präzise und schnelle Informationen. Erst durch drei Seiten zu klicken, um eine Telefonnummer zu finden, hielt er für schlechtes Design. Andererseits war er kein Designer und sicher hatten Marketingexperten herausgefunden, dass es so am besten ist. Lothar vertraute den Fachleuten.

Die Kanzlei war auf Arbeits- und Verkehrsrecht spezialisiert, das kam günstig hinzu. Lothar war mit seiner Familie selbstverständlich rechtsschutzversichert, der Selbstbehalt pro Fall betrug 750 Euro, damit wurde die Police günstig. Monika und er hatten sich die Wahl ihrer Versicherungen nicht leichtgemacht.

Lothar stand vor dem Haus und ließ das Messingschild mit schwarzer Gravur auf sich wirken: „Dr. Klosemann & Partner“ in der ersten Zeile, darunter, ebenfalls mittig gesetzt: „Rechtsanwälte“. Er klingelte. Eine junge Frau, vermutlich eine Türkin, dachte er, öffnete ihm die Tür. „Guten Tag, ich habe einen Termin für vierzehn Uhr dreißig“. Die junge Frau lächelte, „Guten Tag. Gehen Sie bitte in das Anmeldungszimmer vorne rechts.“ Lothar sah sich mit einer Zimmerflucht konfrontiert, zum Glück war der entsprechende Raum wirklich vorne rechts. Solche Angaben, das wusste er aus Erfahrung, sind häufig doch recht unpräzise.

Er versuchte, durch die Milchglasscheibe zu schauen, die in den Türrahmen eingesetzt war, aber er konnte nur Schatten erkennen. Links neben dem Türrahmen war eine rote Klingel angebracht, darüber hing ein Blatt, das mit einer Stecknadel an der Wand befestigt war: „Bitte hier klingeln und warten, bis die Tür geöffnet wird!“ Er lächelte verständnisvoll, er kannte das vom Amt. Es werden Dinge konstruiert, die jedem verständlich sein müssen, aber man kann sich gar nicht vorstellen, wie Menschen deutliche Zeichen missachten, nicht lesen können oder die falsche Brille aufgesetzt haben. Die Klingel neben der Tür könnte faustgroß sein, dreißig Prozent – so seine Schätzung – aller Besucher würden trotzdem an der Tür klopfen und sofort hineinstürmen. Oder gar nicht erst klingeln. Er drückte den Türsummer, es machte „Surr“ und die Tür ließ sich öffnen.

Er trat ein und versuchte sich, wie das seine Art war, schnell einen Überblick über den Ort zu verschaffen. Regale an den Wänden, voll mit sorgfältig beschrifteten Ordnern, ein Kopierer, ein riesiges Faxgerät, drei Schreibtische, die zu einem Rechteck zusammengestellt waren. An jedem dieser Tische saß eine Frau mit Telefon neben sich. Er kannte die Anlage, die hatten sie im Büro auch, allerdings eine ältere Ausgabe. „Natürlich älter“, dachte er säuerlich. Und der unvermeidliche Bildschirm, auch damit war jeder Schreibtisch bestückt. Die Älteste der Frauen am rechten Schreibtisch blickte nicht wie die beiden anderen auf die Tastatur, sondern lächelte Lothar freundlich an: „Ja, bitte?“ – „Ich habe einen Termin um vierzehn Uhr dreißig.“ Die Frau schaute auf ihren PC. Lothar bemerkte, dass auf den Schreibtischen Namensschilder standen. Seine Gesprächspartnerin war Frau J. Habermast. Die jungen Damen hießen ‚S. Kusalski‘ und von der dritten konnte er nur die Hälfte des Namens lesen: ‚… gmann‘. Wie viele Namen gibt es wohl, die auf –gmann enden?

Frau Habermast nickte freundlich: „Ja, Rechtsanwalt Junghammer wird gleich Zeit für Sie haben, setzen Sie sich doch bitte solange gegenüber in das Wartezimmer.“ „Danke!“, antwortete Lothar freundlich. Er fand das Wartezimmer auf Anhieb und hängte seinen Mantel in der Garderobe auf einen Haken. Auf dem quadratischen Tisch in der Mitte lagen drei Stapel mit Zeitschriften. Vor zwei Wänden standen – wie man sie früher nannte – Cocktailsessel, die mit rotem Stoff bespannt waren. Außer ihm saßen zwei Männer und eine Frau im Wartezimmer. Er erinnerte sich, gelesen zu haben, dass in der Kanzlei insgesamt sechs Rechtsanwälte tätig waren, vier Männer und zwei Frauen. Er setzte sich hin, er hatte keine Lust zu lesen. Die junge Frau, die ihm die Tür geöffnet hatte, kam herein und wandte sich dem Mann links von Lothar zu: „Herr Cornelius, könnten Sie bitte mitkommen?“ Der Mann mit dem breiten Schnurrbart stand auf, er war deutlich größer, als Lothar von der sitzenden Person gedacht hätte. Lothar schaute auf seine Armbanduhr, ein Geschenk von Monika zum letzten Geburtstag. Er war fünfzehn Minuten zu früh gekommen, „Ich bin eben doch ein typischer Beamter“, dachte er selbstironisch, ein Talent, um das ihn viele beneideten. Jetzt war es 14:34 Uhr. Er hoffte, dass er nicht länger als zehn Minuten warten müsse, weil er schon wusste, dass Unpünktlichkeit ihn in Harnisch brachte, was Gespräche unnötig beeinträchtigen konnte.

Zwei Minuten vor Ablauf der selbstgesetzten Frist kam die junge Frau wieder herein und wandte sich zu Lothar: „Herr Weingarthen, kommen Sie bitte mit.“

Rechtsanwalt Bruno Junghammer hatte ein etwas chaotisches Büro. Auf dem Schreibtisch waren Blätterbündel quer und kreuz übereinandergestapelt, Bücher lagen geöffnet daneben, ein Stapel geschlossener Bücher lag neben dem Tisch auf dem Boden, als Lesezeichen lugten gelbe Zettel hervor. Der Schreibtisch, dominiert von einem riesigen Bildschirm, stand schräg rechts zu einem großen Fenster, durch das man auf einen liebevoll gepflegten Garten schaute, der von einer Buchsbaumhecke abgegrenzt war. „Ja, so kann man arbeiten“, dachte Lothar, „besser als auf andere Betonbauten zu schauen wie in meinem Büro.“

Rechts vor den Bücherregalen stand ein runder schwarzer Tisch mit Gläsern und diversen kleinen Saftflaschen, links vom Eingang ein Stehpult. Bruno Junghammer kam auf seinen neuen Mandanten zu und schüttelte ihm die Hand: „Guten Tag, Herr Weingarthen. Setzen Sie sich doch.“ Damit machte er eine Handbewegung zum Tisch hin. „Bitte entschuldigen Sie, wenn ich stehenbleibe, aber ich habe zurzeit üble Rückenschmerzen, deshalb erledige ich möglichst viel am Stehpult.“ Lothar nickte verständnisvoll.

Bruno Junghammer war ein großer schlaksiger Mann mit leicht nach vorn gebeugter Haltung, wie wir das oft bei großen Menschen sehen. Die gelockten blassblonden Haare passten zu seiner blassen Gesichtsfarbe. Sein Gesicht war rundlich, insgesamt machte er in seinem schlecht sitzenden Anzug und seiner Körperhaltung eher einen etwas verträumt-langsamen Eindruck. Aber ein Blick in seine wachen blauen Augen reichte Lothar, um zu erkennen, dass er es hier mit einem klugen Menschen mit blitzschneller Auffassungsgabe zu tun hatte. Junghammer stellte sich an das Stehpult und schaute in eine dünne Akte: „Meine Sekretärin sagte mir, es geht um einen Unfall?“ Lothar nickte. „Bevor Sie mir nun schildern, was genau passiert ist, lassen Sie uns bitte dieses Formular ausfüllen. Es geht um Uhrzeit, Tatbeteiligte usw.“

Er füllte das Formular mit Kugelschreiber aus, Adresse, Name und Telefonnummer übertrug er aus der Akte, die ihm vorlag. Er räusperte sich entschuldigend: „Normalerweise fülle ich das mit den Klienten am Computer aus, aber unser System liegt seit zwei Stunden brach, da müssen wir diese etwas vorsintflutlichen Methoden benutzen.“ Lothar nickte wieder, das kannte er nur zu gut aus dem Büro. Nur dass es dort vermutlich immer länger bis zur Behebung einer solchen Störung dauerte als hier, wo mehr Geld zum Dienstleister floss.

Junghammer legte den Kugelschreiber zur Seite, schaute nochmal durch das Formular und wandte sich dann Lothar zu. „Erzählen Sie mir doch bitte möglichst genau, was bei diesem Unfall passiert ist, wie es dazu kam und was Sie bisher in dem Fall unternommen haben.“

Lothar räusperte sich, er rutschte auf dem Stuhl etwas nach vorn. Junghammer hörte ihm zu, die Hände auf dem Tisch gefaltet, ab und an notierte er sich ein paar Worte.

„Wo soll ich anfangen, direkt beim Unfall?“

„Nein, beginnen Sie mit dem Zweck der Fahrt und was vorher passiert ist.“

„Also, wir haben den Ausstand eines Kollegen gefeiert, der geht nach Passau, das war sein letzter Arbeitstag. Wir sind in die kleine Pizzeria in der Langen-Beek-Straße gegangen, die kannte der Kollege. Er meinte, dort sei es besonders lecker. Ich fand einen guten Parkplatz, zum Glück, denn es hatte angefangen zu regnen. Wir haben dort etwa zwei Stunden zusammengesessen, dann wollte ich nach Hause fahren. Da ich mich in dieser Ecke der Stadt nicht so gut auskenne, habe ich das Handynavi benutzt, um mich nach Hause leiten zu lassen.“

Junghammer unterbrach ihn: „Was haben Sie getrunken?“

„Ein Mineralwasser.“

„Keinen Alkohol?“

„Nein,“ Lothar schüttelte den Kopf, „ich trinke nicht, wenn ich fahre. Der scheidende Kollege hat zwar Bier und Schnaps ausgegeben, aber ich habe nicht mitgetrunken.“

„Gab es nichts aufs Haus?“

„Doch, einen Amaretto.“

„Haben Sie den getrunken?“

„Na, klar“, strahlte Lothar.

Junghammer sah Lothar an: „Sie sagten doch, Sie hätten keinen Alkohol getrunken?“

Lothar überlegte kurz, „Sie haben Recht, den Amaretto habe ich getrunken, aber ich dachte, der zählt nicht. Das ist doch nur so wenig.“

Junghammer lächelte: „Ja, ich weiß, das ist okay. Ich möchte nur, dass sie alle Fragen korrekt beantworten, denn es macht sich vor Gericht nicht so gut, wenn Sie Alkoholkonsum abstreiten, dann doch aber einen Likör getrunken haben.“

„Stimmt, daran habe ich nicht gedacht! Ich werde verstärkt darauf achten.“ Lothar nippte an dem Glas Orangensaft, das ihm der Anwalt ausgegossen hatte. „Ich habe mein Telefon in die Halterung am CD-Halter eingehängt und bin losgefahren. Am Ende der Alfons-Müller-Straße ist so eine Ladezone, Tempo 30. Ich habe die Geschwindigkeit gedrosselt, nochmals kurz aufs Handy geschaut, wie viele Meter es bis zu der Straße sind, an der ich abbiegen muss. Wirklich, nur ein Seitenblick.“

Junghammer nickte. „Und dann?“

„Plötzlich schoss zwischen den parkenden LKWs ein Kind hervor, der Junge lief mir direkt ins Auto, ich habe den Schlag an der rechten Fahrzeugseite gespürt. Das Kind wollte wohl die Fahrbahn überqueren und zu seiner Mutter laufen, die auf der anderen Straßenseite stand. Ich glaube, aber ich bin mir nicht sicher, sie hatte ihn zu sich gerufen. Ich habe angehalten und sofort nach dem Jungen gesehen. Er lag auf dem Boden, sein rechter Arm war so komisch verdreht. Er hatte eine Verletzung auf der Stirn, er sagte nichts. Ich beugte mich herunter, um Erste Hilfe zu leisten und dann die Polizei zu rufen. Ich war selbst unter Schock und hörte kaum die hysterischen Schreie von der anderen Straßenseite. Das war die Mutter des Jungen, die jetzt auf die Straße lief, die Hände voller Einkaufstüten. Sie ging wie eine Furie auf mich los, beschimpfte mich, riss an meiner Anzugjacke und schrie, ich hätte ihren Jungen umgebracht. Irgendjemand hat einen Notarzt und die Polizei alarmiert. Die Feuerwehr ist direkt um die Ecke, der Krankenwagen kam nach wenigen Minuten. In dieser Zeit war der Junge schon wieder bei Bewusstsein. Wie ich hinterher erfahren habe, hatte er sich den Arm gebrochen und eine kleine Gehirnerschütterung davongetragen. Die Mutter benahm sich aber so, als hätte ich ihn fast umgebracht. Dabei bin ich wirklich nicht schneller als dreißig gefahren!“

„Ist der Junge ins Krankenhaus gebracht worden?“ „Ja“, Lothar nickte. „Zur Beobachtung ein paar Stunden.“ „Haben Sie ihn besucht?“ „Nein, dazu war keine Zeit. Bis die Polizei mit Aufnahme der Unfallspuren, meiner Angaben und Aufnahme der Zeugenaussagen fertig war, hatte mir der Polizeimeister schon gesagt, dass es dem Jungen besserging.“

„Sie wurden beschuldigt, viel zu schnell gefahren zu sein?“

„Ja, das ist unglaublich! Die Zeugen waren sich mit der Mutter einig, dass ich mindestens mit achtzig Sachen durch die Straße gezischt bin und dabei telefoniert habe! Ganz ehrlich, die Menge war so aufgebracht, dass ich froh war, dass die Polizei kam und ich nicht zusammengeschlagen wurde. Als ob ich der größte Kriminelle sei.“

Junghammer machte einige Notizen. Er seufzte leicht, nachher, wenn die Computeranlage wieder in Ordnung wäre, müsste er das alles übertragen. Wie schnell doch bequeme Technik zur Gewohnheit wird! Er war noch nicht dazu gekommen, das neue Spracherfassungssystem in Betrieb zu nehmen, sonst hätte er alles diktieren können. So aber war Handarbeit angesagt.

„Jetzt hat die Mutter Strafanzeige erstattet, sie hat Zeugenadressen gesammelt. Ich habe keinen einzigen Zeugen außer meiner unbescholtenen Vergangenheit.“ Lothar sah bedrückt aus, da er sich die Ereignisse wieder vor Augen geholt hatte.

„Hat die Polizei die Geschwindigkeit Ihres Wagens anhand der Bremsspuren bestimmt?“ Lothar überlegte.

„Keine Ahnung, sie haben einiges gemessen, gebremst habe ich erst nach dem Aufprall. Dann hat einer der Beamten mein Smartphone auf dem Beifahrersitz gesehen, ich hatte es wohl nicht richtig befestigt und es war aus der Halterung geflogen. Das haben sie notiert und mich darauf hingewiesen, dass ich beim Fahren das Handy nicht benutzen darf. Auf meinen Hinweis, ich hätte das Handy nicht benutzt, sondern nur das Navi eingeschaltet gehabt, haben sie nichts gesagt. Das Navi war aber nicht mehr an, die Geräte heute sind ja so empfindlich, dass die kleinste Bewegung eine App beenden kann. Sie wollten mir einen Strafzettel geben für Telefonieren beim Fahren und noch irgendetwas, was ich vergessen habe. Aber das,“ so triumphierte Lothar, „habe ich nicht akzeptiert, weil ich genau weiß, dass das mir schaden kann.“

Junghammer nickte bestätigend, „Das haben Sie richtiggemacht!“ Er wechselte sein Standbein, meine Güte, sein Rücken würde ihn heute noch umbringen. Er hätte eben doch die Rückengymnastik nach den letzten Problemen konsequent weiterführen sollen, aber die Zeit, die Zeit ... wenn man Juniorpartner in einer Kanzlei werden will, kann man nicht sagen „Ach, ich muss heute pünktlich gehen, ich habe noch Rückenübungen.“ Lothar sah ihn erwartungsvoll an.

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Weingarthen, ich war gerade so in Ihren Fall vertieft, dass ich Ihre letzte Bemerkung nicht gehört habe.“ Lothar sah ihn zweifelnd an, ob er nicht doch eher an die netten Mädels vorne in der Rezeption gedacht hatte? Dennoch wiederholte er seine Frage:

„Was glauben Sie, wie meine Aussichten sind?“

Junghammer wiegte den Kopf. „Das wird schwierig. Bei Unfällen mit Kindern liegt die Beweislast immer beim Fahrer. Sie haben selbst erfahren, wie die Zeugen reagiert haben.“

„Vielleicht können Sie die Glaubwürdigkeit der Mutter und der Zeugen untergraben?“

Junghammer lächelte, „Gerichtsverfahren im Leben sind anders als im Fernsehen. Es geht hier nicht um Mord, sondern um einen Verkehrsunfall mit einem Verletzten. Keine Fahrerflucht, das spricht für Sie, ebenfalls, dass Sie sich korrekt im Sinne der Ersten Hilfe um den Jungen gekümmert haben. Eine Kopie der Anzeige haben Sie dabei?“

Lothar nickte, zog das Blatt aus seiner Aktentasche, stand auf und übergab es Junghammer. Der überflog es kurz, er musste sicherstellen, dass die Klägerin nicht Mandantin der Kanzlei war und es zu einem Interessenskonflikt käme. Er nahm das Mobilteil des Telefons, das auf dem Stehpult lag, und drückte zwei Tasten: „Könnten Sie bitte nachschauen ob Frau“, er blickte auf die Anzeige, „Nadine Happe Mandantin unserer Kanzlei ist.“ Er wartete kurz. Sie schaute in der Mandantenkartei nach. „Nicht? Prima, vielen Dank Frau Jungmann!“

„Also, das ist geklärt, wir können Ihren Fall übernehmen.“

„Was passiert als Nächstes?“

„Wir werden dem Gericht mitteilen, dass wir Ihren Fall übernommen haben und abwarten. Wenn ich noch Fragen habe, kann ich Sie dann unter der angegebenen Mobiltelefonnummer erreichen?“

„Ja, kein Problem, ich habe das Handy immer eingeschaltet. Womit muss ich im schlimmsten Fall rechnen, Herr Rechtsanwalt?“

„Gegen Sie ist ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung nach Paragraph 229 des Strafgesetzbuches eingeleitet worden. Ich habe gerade gestern von einem Fall gelesen, wo eine Geldstrafe über 2400 Euro verhängt wurde, das entsprach sechzig Tagessätzen. Dabei wurde von einer Mitschuld des Jungen ausgegangen. Wenn die Bremsspuren belegen, dass Ihre Geschwindigkeit im erlaubten Rahmen lag, dürfte trotz der ungünstigen Zeugenaussagen die Strafe in dieser Spanne bleiben. Für Sie spricht, dass das Kind seitlich erfasst wurde, nicht von vorn. Das Gericht wird vor allem klären wollen, ob der Unfall vermeidbar gewesen wäre“.

Lothar nickte. Das hieße kein Urlaub in diesem Jahr ... „Eine letzte Frage noch, muss ich im schlimmsten Fall damit rechnen, vorbestraft zu sein?“

„Davon gehe ich nicht aus. Für eine Vorstrafe müssten Sie zu mehr als neunzig Tagessätzen verurteilt werden, um es einmal kurzzufassen. Es kommt natürlich immer auf den einzelnen Fall an, aber ich würde das hier für unwahrscheinlich halten. Ob wir beweisen können, dass die Alleinschuld bei dem kleinen Happe liegt, wird sich weisen. Haben Sie sonst noch Fragen? Wenn nicht, schlage ich vor, Sie warten, bis ich mich bei Ihnen melde oder Sie neue Korrespondenz erhalten.“

Lothar stand auf: „Soweit okay. Ich möchte allerdings nochmals betonen, dass ich wirklich keine Schuld an diesem Unfall habe, ich bin unter dreißig gefahren, und der Junge kam auf mich zugeschossen, das konnte ich nicht sehen.“

„Alles klar Herr Weingarthen, ich habe das im Kopf. Bis dann!“

Sie schüttelten sich die Hände und Lothar verließ das Büro. Junghammer drückte sich die Faust in den Rücken, goss sich Wasser in ein Glas und nahm eine Tablette aus dem Blister in seiner Jackentasche. Diese verdammten Schmerzen. Den Fall Weingarthen legte er erst einmal zur Seite.

Für einen kurzen Augenblick wusste Lothar nicht so genau, wo der Ausgang war. Er kehrte in das Wartezimmer zurück, um sich seinen Mantel zu holen, der dort an der Garderobe hing. Vier Personen warteten im Zimmer, alles neue Besucher. Offenbar war die Praxis terminlich gut organisiert. Rechts neben der Garderobe saß doch wahrhaftig eine Frau, deren Gesicht ihm vertraut war. Er überlegte kurz, wer war das denn? Die Frau begrüßte ihn mit einem Lächeln und einem kurzen Kopfnicken. Ach ja, das war ja die ‚heiße Stute‘ aus der Arztpraxis, wie hieß sie noch, genau, Ann-Karin oder so ähnlich. Ob ihr Lächeln ihm etwas sagen sollte? Aber nein, er wollte ja nicht mehr ... obwohl diese junge Frau war schon eine Sünde wert. Er warf ihr ein – wie er meinte – charmantes Lächeln zu und ging auf sie zu. „Ja, guten Tag, das ist ja ein Zufall, Sie hier zu treffen!“ Dabei reichte er ihr die Hand.

„Hallo Herr Weingarthen, ich hoffe, bei Ihnen ist alles okay?“

„Es könnte ja fast kaum besser sein ... gerade ...“, wobei er ihre Hand länger in seiner hielt als nötig. „Wie schön, dass Sie sich noch an meinen Namen erinnern, Ann-Karin.“ Sie entzog ihm ihre Hand und lächelte etwas steif: „Ann-Kathrin“.

„Oh, entschuldigen Sie bitte ..., bis bald mal!“

Er verließ das Wartezimmer und schritt zum Ausgang. Viele Dinge gingen ihm durch den Kopf. Ann-Kathrin dachte nur, was für ein widerlicher Kerl der war. Das war ihr bisher nie aufgefallen, in der Praxis war er immer höflich, zuvorkommend und riss kleine Scherze. „Ich komme mir jetzt immer vor wie Freiwild!“

1www.helles-koepfchen.de/wissen/lexikon/was-ist-der-existenzialismus.html

Simone Kusalski

Wenn jemand in Simones Beisein sagte, sie sei Rechtsanwaltsgehilfin, zog sie ein langes Gesicht. Ein völlig überalterter Begriff! Sie war Rechtsanwaltsfachangestellte, das waren nur zwei Silben mehr, das kann man ja wohl noch über die Lippen bringen. Eines Tages würde sie sich zur Rechtsfachwirtin weiterbilden und könnte dann in einer anderen Kanzlei so eine Position wie jetzt Frau Habermast bei Dr. Klosemann & Partner einnehmen. Die Habermast war leider nicht alt genug, um in Rente zu gehen, und nicht jung genug, um noch Kinder zu bekommen. Somit war die Chance, dass Simone sie ersetzen könnte, sehr klein. Die Kanzlei zahlte recht ordentlich: Mit ihren 1950 Euro brutto bekam Simone etwas mehr als den Landesdurchschnitt, das hatte sie extra einmal nachgesehen. Dennoch kommt man damit nicht weit, aber da sie mit Daniel zusammenwohnte, kam sie zurecht. Daniel war Dachdeckergeselle, im Handwerk verdient man nicht übel. Er war ehrgeizig, wollte seinen Meister machen und dann einen eigenen Laden eröffnen. Da ist natürlich eine Rechtsfachwirtin auch nützlich an der Seite. Simone kaute auf ihrem Kaugummi, während sie ihren Träumen nachhing. Daniel war echt süß, er unterstützte sie immer, er hatte ihr auch versprochen, mehr zu Hause zu helfen, sobald sie berufsbegleitend die Ausbildung zur Fachwirtin beginnen würde. Daniel plante im Gegensatz zu ihr gründlich. Sie lebte eher in den Tag hinein, aber da ergänzten sie sich. Sie kannten sich jetzt fünf Jahre, von denen sie drei zusammen waren. Davor war er mit ihrer besten Freundin gegangen, das hatte den Anfang etwas erschwert. Das führt einfach zu Spannungen. Nachdem Ann-Kathrin aber mit Stefan zusammen war, hatten sich die Probleme praktisch in Luft aufgelöst. Simone glaubte nicht, dass sich jetzt nach Stefans Tod daran etwas ändern würde. Immer, wenn Simone an den Unfall dachte, bekam sie eine Gänsehaut. Daniel war nur wenige Minuten vorher genau an der Stelle vorbeigefahren!

Simone kontrollierte ihr Spiegelbild, sie wollte gleich in die Disko. Daniel sah das zwar nicht so gern, wenn sie ohne ihn ging, aber meine Güte, wenn er unbedingt Überstunden schieben wollte, bitteschön! Sie würde schon nicht mit dem nächstbesten Tänzer nach Australien auswandern. Vor Stefans Tod waren sie gelegentlich zu viert gegangen, oder nur die beiden Mädels allein. So ein Mädelsabend hat was für sich. Mit der Anbaggerei, die ja fast dazu gehört, konnten sie umgehen. Das war jetzt, wo sie allein war, nicht gänzlich ohne Probleme. Aber sie war kess genug, das wusste sie, sie wurde mit den anhänglichen Typen schon fertig. Und Ann-Kathrin konnte sie jetzt kaum fragen. Erst der Tod ihres Freundes und dann dieser Rauswurf. Einfach unmöglich! Simone kannte ihre Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie niemals ihren Chef angebaggert hätte. Und dann auch noch zu drohen, ihr kein Zeugnis auszustellen, nee, so geht das nicht. Sie hatte die Freundin getröstet, ihr an dem Abend heiße Milch mit Honig gemacht, sie im Arm gehalten und ihr dann die Kanzlei Klosemann & Partner empfohlen. Sie arbeitete gern dort und hatte eine hohe Meinung von den Anwälten des Büros. Na ja, mal abgesehen von Dr. Wössner, der unfreundlich war und nichts lieber tat, als die Mitarbeiter herunterzuputzen. Sie vermutete aber, dass er nicht mehr lange bleiben werde. Dr. Klosemann hatte das nicht gern, wenn jemand so blöde rummachte. Aber so rein fachlich war Dr. Wössner mit Sicherheit top, sonst hätte Klosemann ihn nicht eingestellt. Ihr Chef war stolz darauf, nur die Besten als Mitarbeiter zu rekrutieren, respektive zu Partnern zu machen. Das galt auch für die „kleineren“ Angestellten wie sie selbst. Sie hatte sich mit Topzeugnissen beworben. Irgendwie war ihr das alles zugeflogen, außerdem war der Beruf gar nicht so trocken, wie sie mal gefürchtet hatte. Eigentlich hatte sie sich damals nach der Schule dort nur beworben, weil es die einzige Lehrstelle war, die sie von zu Hause aus zu Fuß erreichen konnte.

Soweit kannte sich aber auch Simone im Arbeitsrecht schon aus, dass jeder Angestellte Recht auf ein Zeugnis hat. Das heißt, Grunewald wollte da irgendwelchen Druck auf Ann-Kathrin ausüben, dass sie lieber ohne Zeugnis ginge, als sich mit ihm auseinanderzusetzen. Simone war ein Mensch ohne kriminelle Energie und konnte sich daher überhaupt nicht vorstellen, was das sollte.

Wenn’s in die Disko ging, donnerte Simone sich ordentlich auf, diese Art von Verkleidung machte ihr Spaß. Im Büro musste sie darauf achten, dass ihre Blusen ihre Tattoos am Dekolleté nicht offenbarten, aber in der Freizeit konnte sie das verzierte altgothische „D“, das auf Rosen gebettet war, strahlen lassen. Es war ein echtes Meisterwerk, nicht größer als drei mal drei Zentimeter, aber alles war plastisch und deutlich. Sie hatte sich das Tattoo im letzten Urlaub in Berlin stechen lassen, eine Freundin hatte ihr einen Laden dort empfohlen: teuer, aber erste Sahne! Und so war es, sie war hochzufrieden. Auch ihr rechtes Schulterblatt hatte sie sich verzieren lassen, die Buchstaben D und S miteinander verwoben auf einer kleinen Wolke. Dasselbe Bildchen hatte Daniel sich auf die Fußsohle stechen lassen, echt witzig. Das war ja praktisch wie eine Verlobung.

Wenn man Simone in ihrer Freizeit sah, vor allem wenn sie sich für die Disko zurechtgemacht hatte, würde man nie vermuten, dass ihre Wünsche so konventionell waren. Sie bretzelte sich auf, wie ihre Freunde sagten, als sei sie hektisch auf der Suche nach dem nächsten One-Night-Stand, aber das war nur ihr Spaß an Verkleidung. Im Grunde waren Treue und Partnerschaft für sie zentral im Leben. Das war immer schon so gewesen und sie ging davon aus, dass Daniel das auch wusste. Ihr Traum war ein Reihenhäuschen am Stadtrand mit einem kleinen Garten, er konnte ruhig Handtuchgröße haben. Kinder hätte sie gerne, zwei, und solange diese noch nicht im Kindergarten waren, wollte sie mit der Arbeit pausieren. Dann könnte sie ja erst wieder halbtags einsteigen. Sie fand auch nichts dabei, als Frau in der Partnerschaft Küche und Haushalt allein zu übernehmen, solange sie nicht arbeiten ging. Gerne sprach sie mit Daniel über ihre gemeinsame Zukunft, wobei ‚mit ihm sprechen‘ eine Übertreibung ist – er saß dann da, nickte, und sie sagte sich dann, er sei einverstanden. Die Gedanken sind frei.

Daniel war eher ein stiller Typ, aber er wurde so richtig lebendig, wenn es darum ging, über Holz zu sprechen. Ein Waldspaziergang mit Daniel war für Simone immer ein Erlebnis. Er konnte einen Baum anfassen und zehn Minuten über Holz und Verarbeitung erzählen. Das waren die Augenblicke, in denen sie Daniel bis zu Tränen in den Augen liebte. Das stand im Gegensatz zu den Momenten, wo sie ihm ein nasses Spültuch hinterherwarf, weil er sich mal wieder vor seinen Pflichten drücken wollte.

Als sie vor einiger Zeit begonnen hatten, zu viert loszuziehen, fand sie das so harmonisch. Sie gingen hin und wieder am Baggersee zusammen zelten, schwammen, kochten zusammen, das war ein großes Vergnügen. Anfangs waren Stefan und Daniel nicht so gut miteinander ausgekommen, klar, wer geht schon so richtig gerne mit seinem Vorgänger in Urlaub? Aber das hatte sich gelegt. Simone hatte sich mit Ann-Kathrin ausgesprochen. Es war nicht etwa so, dass sie Ann-Kathrin den Typen ausgespannt hätte, das würde sie nie tun, nicht einmal bei einer Freundin, die ihr nicht so nahestand. Trotzdem war die Stimmung ein paar Tage komisch. Simone, der leicht die Tränen in die Augen stiegen, hatte mit Ann-Kathrin auf dem Sofa gesessen und geheult, sie war so verschossen in Daniel, aber hing doch auch total an ihrer Freundin. Ann-Kathrin hatte ihr damals heiße Milch mit Honig gemacht, sie in den Arm genommen, ihr über die Haare gestrichen und ihr erklärt, dass sie wirklich kein Problem damit habe.

Einmal beim Zelten, das war beim zweiten oder dritten gemeinsamen Ausflug zum Baggersee, hatte Simone zufällig ein Gespräch zwischen Stefan und Daniel aufgeschnappt. Die beiden saßen mit Bierdosen in der Hand auf zwei Campingstühlen an einem kleinen Gasbrenner. Es war Herbst, eine der ersten kühlen Nächte. Es war megalustig gewesen beim Essen, sie hatten rumgeblödelt, zum Radio mitgegröhlt und sogar ein bisschen geschunkelt. Die beiden ‚Mädels‘ hatten an diesem Abend Abwaschdienst, Ann-Kathrin ging früh schlafen. Simone war es zu kalt und sie wollte sich ihre warme Fleecejacke aus der Reisetasche holen, dazu musste sie in ihr und Daniels Zelt kriechen. Stefan und Daniel hatten sie nicht bemerkt. Sie wollte schon aus dem Zelt zurückrobben, als sie ihren Namen hörte. Sie spitzte ihre Ohren. Normalerweise lauschte sie nicht, aber das bot sich nahezu unausweichlich an. Sie bekam den Zusammenhang nicht mit, in dem ihr Name genannt wurde, sie hörte nur Daniel: „... wir lieben beide dieselbe Frau, aber mich will sie halt nicht. Also kein Problem, Kumpel, mit uns. Und, na ja, so läuft es ja auch ganz gut, und die Puppe ist wirklich lieb und ...“. Den Rest hörte sie nicht mehr. Sie lief zum See und heulte, bis ihr der Hals weh tat und die Ärmel der Fleecejacke, die als Taschentuch herhalten mussten, tropften. Am liebsten wäre sie direkt nach Hause gefahren, es war so schrecklich. Zweite Wahl! Und wieder schluchzte sie, es tat so weh, so, so weh!

Irgendwann musste sie zu den anderen zurück. Sie blieb im Dunkeln und murmelte nur „bin müde ...“. Daniel kam wenige Minuten später ins Zelt und fand seine Freundin schluchzend auf der Luftmatratze. „Mädel, was ist denn los mit dir?“ Er streichelte ihren Arm, ihre nassen Wangen. Da brach es aus alles ihr heraus, in halben Sätzen, aber voller Vehemenz.

„Aber meine kleine Süße, das hast du völlig missverstanden. Schau mich an!“ Simone drehte Daniel ihr verquollenes Gesicht zu, es war jetzt sowieso egal, wie sie aussah. Er küsste sie zärtlich auf die geschwollenen Augendeckel, „Aber Kleines, das habe ich doch nur gesagt, damit Stefan und ich miteinander auskommen und wir zu viert keine Spannungen haben.“ Logisch war das nicht, aber Simone hörte, was sie hören wollte. Ein ähnliches Gespräch gab es nie wieder zwischen den beiden und auch sonst gab Daniel keinen Anlass mehr, an seiner Liebe zu ihr, nur zu ihr, zu zweifeln. Hatte sie nicht gesehen, wie Daniel Ann-Kathrin nach Stefans Tod ansah oder wollte sie das nicht sehen?

Daniel hatte sie, Simone, immerhin schon mehrmals mit zu seiner Mutter genommen. Frau Wolf war eine resolute Frau, die aber ihren Sohn, ihr einziges Kind, anhimmelte. Der Vater war vor zehn Jahren gestorben. Daniel ließ ihr schwülstiges Reden meist über sich ergehen, so wie man im Regen steht. Nur manchmal