FLUCHT IM NEBEL - John Cassells - E-Book

FLUCHT IM NEBEL E-Book

John Cassells

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Beschreibung

Es war kalt in jener Nacht, und Joe Delany, mit dem ich mich unterhielt, spürte die Kälte auch. Er war ein kleiner, schmaler Ire, der fünf Jahre wegen Totschlags abzusitzen hatte. Doch wer ihn ansah, der konnte sich das nicht vorstellen. Er mochte fünfundsechzig Kilo wiegen, aber bestimmt nicht mehr. Wie Nicky hatte auch er die Hälfte seines Lebens im Zuchthaus verbracht. Seine Geschichte hatte ich schon oft genug gehört...

 

Der Roman Flucht im Nebel des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym des Bestseller-Autors William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1963; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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JOHN CASSELLS

 

 

Flucht im Nebel

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

FLUCHT IM NEBEL 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

 

Es war kalt in jener Nacht, und Joe Delany, mit dem ich mich unterhielt, spürte die Kälte auch. Er war ein kleiner, schmaler Ire, der fünf Jahre wegen Totschlags abzusitzen hatte. Doch wer ihn ansah, der konnte sich das nicht vorstellen. Er mochte fünfundsechzig Kilo wiegen, aber bestimmt nicht mehr. Wie Nicky hatte auch er die Hälfte seines Lebens im Zuchthaus verbracht. Seine Geschichte hatte ich schon oft genug gehört...

 

Der Roman Flucht im Nebel des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym des Bestseller-Autors William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1963; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  FLUCHT IM NEBEL

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Um drei Uhr nachmittags brannte die Oktobersonne noch immer heiß, ein runder Feuerball im klaren blauen Himmel. Es herrschte gute Sicht, doch der Seenebel am fernen Horizont verwischte die Trennlinie zwischen Wasser und Wolken.

Wir saßen auf der trockenen, bröckeligen Erde des Kartoffelackers und blickten die Reihen der Stauden entlang, die noch ausgebuddelt werden mussten. Wir, das waren elf Mann und MacAndrew, der Aufseher.

Big Mac hatte sich so hingesetzt, dass er jeden von uns beobachten konnte. Alle Aufseher taten das. Big Mac machte keine Ausnahme. Die Ärmel aufgekrempelt, den Hemdkragen geöffnet und die Mütze etwas ins Genick geschoben, saß er da. »Ende der Woche werden wir die Kartoffeln wohl draußen haben, Leute«, hörte ich ihn sagen.

Keiner gab eine Antwort.

»Wenn das Wetter so bleibt«, sprach er weiter. »Und ich denke, es wird so bleiben. Nur...«

Wieder dumpfes Schweigen. Von unserem Platz aus konnten wir auf die Peterhead-Bucht hinausblicken. Zur linken Hand sah man nichts anderes als den Gebäudekomplex des Zuchthauses. Das Zuchthaus mit seinen hohen Mauern, den zusammengedrängten Wohnhäusern der Strafanstaltsbeamten und seiner öden Zweckmäßigkeit. Düster, grimmig und trostlos stand es in der Helligkeit des Tages, und sein Schatten war nie sehr weit von uns entfernt.

Wir vermieden es nach Möglichkeit, in diese Richtung zu blicken. Nicht, dass wir durch diese Haltung unser Schicksal vergessen konnten, aber es war beruhigend, etwas anderes zu sehen als diese graue Einsamkeit – wieder Gottes frische Luft zu atmen und zu wissen, dass es freie Menschen gab. So frei wie die Möwen, die mit leichtem Flügelschlag über unsere Köpfe segelten, frei wie die weißen Wellenkämme im blauen Wasser der Bucht.

Auch jener Mann, der da langsam durch das alte Dorf Burnhaven schlenderte, war frei. Er hatte lediglich die kleine Aufgabe, das Paket unter seinem angewinkelten Arm irgendwo abzugeben. Aber auch das Paket beeinträchtigte seine Freiheit nur unwesentlich. Er konnte es einfach abstellen, zum Strand hinunterlaufen, seine Kleider ausziehen und ein Bad nehmen, ohne dass sich jemand um ihn kümmerte. Er konnte überhaupt alles machen – sich in einen Bus setzen und nach Aberdeen fahren – sich die Nacht um die Ohren schlagen – nach Peterhead-Stadt zurückkehren und piekfein zu Abend essen. Er konnte nach Hause kommen, wenn es ihm Spaß machte, oder in einem Hotel übernachten, wenn er Geld hatte. Denn er war frei – und nur die Freiheit war im Leben ausschlaggebend.

Ich nahm eine Handvoll Erde auf.

Einen Moment ließ ich sie durch die Finger rieseln und hörte hinter mir die leise Frage: »Hat’s dich mal wieder erwischt, Jack?«

Ich drehte mich langsam um.

Die Frage kam von Nicky; Ike Nicholas, ein kleiner Kerl, Engländer, einen Meter zweiundfünfzig groß und höchstens einundfünfzig Kilo schwer. Auf den ersten Blick konnte man ihn für einen Jockey halten. Das war er aber nicht; es sei denn, man hätte die von ihm gestohlenen Wagen mit Rennpferden verglichen. Er kannte auch schon zwei, drei englische Zuchthäuser von innen und war in jedem davon nicht nur einmal zu Gast gewesen. Soweit ich über sein Leben orientiert war, hatte er die Hälfte davon hinter Gütern verbracht. Trotzdem mochte ich ihn.

»Vielleicht«, antwortete ich, in seine dunklen Augen blickend. »Wie kommst du darauf?«

»Ich habe dich beobachtet«, sagte er und fügte nach kurzer Pause hinzu: »Auch Big Mac.«

»Dazu ist er schließlich da«, murmelte ich.

»Das stimmt, Jack. Aber hast du die Faust nur so zum Spaß geballt? Oder... liegt da ’n Stein drin?«

Ich öffnete meine Finger. Tatsächlich fiel ein Stein heraus; kein sehr großer, aber immerhin ein Stein.

»Wusste nicht, dass einer in der Erde war«, brummte ich.

Nicky antwortete nicht gleich. Dann: »Ich habe dich schon seit Anfang der Woche beobachtet.« Er schielte nach Big Mac. »Weiß genau, was in dir vorgeht, Jack.«

»Eines Tages, Nicky«, flüsterte ich, »dann...«

»Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Würdest nicht weit kommen. Schafft einfach keiner.«

»Johnny Ramenski hat es geschafft.«

»Aber für wie lange?«

Ich antwortete nicht.

»Aber für wie lange, Jack?«, fragte Nicky noch einmal. »Er kam raus. Das haben schon andere fertiggebracht. Du kannst ausbrechen, aber du kommst nicht weit.«

»Kommt auf die Umstände an.«

»Was heißt das schon? Und was soll hier schon viel passieren, Jack? Ganz ausgeschlossen. Sieh dir doch mal die Gegend an. Kein Baum, kein Strauch, nichts als flache Felder und ein paar Maulwurfshaufen. Kannst keinen halben Meter auf dem Bauch kriechen, ohne gesehen zu werden.«

»Man könnte es wenigstens versuchen.«

Er rieb seine lange Nase.

»Steht natürlich jedem frei. Kannst ja auch ’nen Tippzettel ausfüllen und gleich ’ne Villa in Auftrag geben. Kannst auf Kredit kaufen und die Schulden nach ’nem Banküberfall bezahlen. Kannst auch zum Strand laufen und ins Meer hinausschwimmen. Wenn du Glück hast, wirst du zehn Meilen draußen von irgend’nem Küstenfrachter gesichtet und an Bord gehievt. Dann setzen die dich in Aberdeen oder Fraserburgh an Land, und du warst von der Polizei in Empfang genommen.«

»Eines Tages wird es doch einer schaffen.«

»Vielleicht. Aber ich bin’s bestimmt nicht.«

Ich betrachtete sein schmales Gesicht.

»Wie viele Jahre hast du, Nicky?«

»Drei.«

»Ich sieben«, sagte ich. »Neun Monate habe ich jetzt hinter mir.« Ich ließ wieder eine Handvoll Erde durch meine Finger rieseln. »Neun Monate, Nicky, das sind zweihundertsiebzig Tage und zweihundertsiebzig Nächte. Die Nächte sind am schlimmsten. Da liegst du im Bett, kannst nicht einschlafen und denkst nach. Du denkst an die Außenwelt. Du denkst, dass du eigentlich frei sein müsstest.«

Ich spürte, wie meine Kehle rau und trocken wurde.

Da stand ein Büschel Kammgras neben einer Kartoffelstaude. Ich riss einen Halm ab und schob ihn mir zwischen die Zähne.

»Soll auch Leute geben, die lebenslänglich haben«, flüsterte Nicky.

»Vielleicht haben die ihre Strafe auch verdient.«

»Und du nicht, wie?«

»Nein! Das wisst ihr alle.«

»Aber alle glauben’s nicht.«

»Mir egal. Ich denke nicht daran, die ganze Strafe abzusitzen.«

»Zwei Jahre schenken sie dir wegen guter Führung. Dann hast du bloß noch fünf. Ein Jahr ist so gut wie vorbei, also bleiben nicht mehr als vier volle Jahre. Vielleicht werden’s nicht mal so viele, Jack.«

»Vier volle Jahre, Nicky, das sind noch einmal rund fünfzehnhundert Tage und fünfzehnhundert Nächte.«

Ich blickte zum Strand hinunter. Die Feriengäste waren um diese Jahreszeit verschwunden, doch an schönen Tagen sonnten sich an der zum Strand abfallenden Böschung stets ein paar Leute. Am Strand hielten sich auch noch Leute auf, Kinder plantschten im Wasser herum.

Heute waren es ein halbes Dutzend, die sich auf dem weiten Halbkreis des Strandes verteilt hatten. Da war auch ein Junge mit einem kleinen Scotch-Terrier. Er setzte hinter den Kieselsteinen her, die der Junge ins Wasser warf, bellte, paddelte ans Ufer, schüttelte sich und bellte wieder.

Nicky folgte meinem Blick.

»Scheint noch nicht so alt zu sein, der Hund. Deshalb macht er auch so ’nen verdammten Lärm.«

»Er freut sich, dass er frei herumlaufen kann«, sagte ich.

Nicky sah mich von der Seite an.

»Nimm’s nicht so tragisch, Kamerad. Ich weiß, wie dir zumute ist. Ging mir auch mal so. Wirst dich schon daran gewöhnen.«

Ich blickte weiter auf das Meer und fragte langsam: »Aber das dauert lange, wie?«

»Spielt doch keine Rolle. Du hast ja auch Zeit.«

Was sollte ich dazu sagen?

Big Mac stand auf. Er saß immer abseits, wie gesagt, für den Fall, dass es jemand von uns in den Sinn kam, sich auf ihn zu stürzen. Das wäre allerdings nicht einfach gewesen. Ich bin überzeugt, dass er es bequem mit vier Leuten hätte aufnehmen können. Aber dieser Fall würde wohl kaum eintreten. Alle konnten Big Mac gut leiden. Sogar die alten Zuchthäusler, die ihren Hass gegen Vorgesetzte jeder Art schon jahrelang in sich hineingefressen und aufgespeichert hatten, sahen in Big Mac keinen schlechten Kerl. Und das war wirklich ein Lob.

Jetzt klopfte er sich den Staub von seinen blauen Sergehosen, reckte seine breiten Schultern und sagte: »Dann wollen wir mal wieder, Leute. Hinein in die Kartoffeln!«

Wir wälzten uns wieder auf die Knie und krümmten unsere Rücken.

Ich dachte an einen anderen sonnigen Oktobertag, der noch gar nicht lange zurücklag. Nur, dass ich an Stelle dieser flachen Ebene des Nordostens die westliche Landschaft sah.

Die gleiche Sonne schien über Ayrshire am Firth of Clyde; Ayrshire mit seinen Heidekrautfeldern, die wie rote Färbtupfen am Grün der sonnigen Berghänge klebten, und den fernen bläulich leuchtenden Gipfeln des Arran. Daran dachte ich.

An das und an Sandra Lane.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Bis zum Zeitpunkt unserer ersten Begegnung war mein Leben nach dem üblichen Muster verlaufen. Nicht viele Höhepunkte, aber dennoch schöne Jahre, die gelegentlich von traurigen Ereignissen überschattet wurden. Ich wuchs in Glasgow auf. wo mein Vater Schullehrer war. Wie er, sollte auch ich die Universität besuchen, doch irgendwie kam immer etwas dazwischen.

Meine Reifeprüfung machte ich mit Verspätung, aber ich machte sie. Anschließend leistete ich meinen Wehrdienst ab und hielt mich unter anderem auch in Deutschland auf. Es gefiel mir gut, und die Deutschen, die ich dabei kennenlernte, gefielen mir ebenfalls. In jenen Monaten starb mein Vater. Das war ein schwerer Schlag für mich, denn wir hatten uns blendend verstanden. Nie hätte ich damit gerechnet, dass er eines so plötzlichen Todes sterben würde, denn er war ein großer, kräftiger und fröhlicher Mensch, der im Leben noch keinen Tag krank gewesen war. Bis zur letzten Minute hatte er sich wohl gefühlt und war dann bei seinem leidenschaftlich geliebten Golfspiel einfach zusammengebrochen. Man brachte ihn auf dem schnellsten Wege ins Krankenhaus, doch als der Wagen dort eintraf, war er schon tot.

Herzinfarkt.

Dieser Schock tötete auch meine Mutter, die noch nie sehr kräftig gewesen war. Sie starb zwar erst zwei Jahre später, aber sie hatte ihren Schmerz über den Tod meines Vaters nie vergessen können. Ich war damals seit einem Jahr wieder zu Hause und arbeitete im Büro der Firma Kane & Merrilees.

Als ich eines Abends ein wenig später wie gewöhnlich aus dem Büro kam, war der Tisch noch nicht gedeckt. Stattdessen sah ich auf dem Tischtuch den Inhalt einer Einkaufstasche: Haferflocken, ein Pfund Speck, ein halbes Pfund Tee, Biskuits und einen Kartonbehälter mit einem Dutzend stoßfest verpackter Eier.

Das wunderte mich, war es doch der Stolz meiner Mutter, das Essen trotz ihrer schwachen Gesundheit immer pünktlich auf den Tisch zu stellen. Ich begriff, dass irgendetwas nicht stimmte. Normalerweise traf ich um halb sechs zu Hause ein, und dann hielt meine Mutter sich zumindest in der Küche auf. Es musste also etwas geschehen sein. Während ich noch überlegte, hörte ich den Schlüssel im Türschloss. Sie war da – noch atemlos vom Treppensteigen und ein wenig gekränkt, dass ich die Lebensmittel schon in den Schrank gepackt hatte. Ihre Arbeit ließ sie sich nicht nehmen.

Eine halbe Stunde später hörte ich in ihrem Zimmer ein qualvolles Stöhnen und stieß die Tür auf.

Sie lag auf der Bettdecke.

»Sie muss es gefühlt und sich hingelegt haben«, sagte der Arzt. »Wir werden tun, was in unseren Kräften steht, aber es gibt kaum noch Hoffnung. Sie hat eine schwere Gehirnblutung.«

Meine Mutter starb, ohne ihr Bewusstsein wiederzuerlangen.

Ich war sehr einsam. Seltsamerweise spürte ich diese Einsamkeit nicht sofort, ging weiter ins Büro und verrichtete abends die Hausarbeit eines Junggesellen. So dachte ich nicht allzu sehr über mein Schicksal nach. Die Mietwohnung behielt ich einstweilen. Früher oder später würde ich mich nach einer anderen Wohnung umsehen – doch nicht früher, bis ich wusste, welche Laufbahn ich einschlagen wollte.

In jenem Jahr hatten meine Ferien früher begonnen, und meine Mutter starb, als ich gerade ein paar Wochen aus Paris zurückgekehrt war. Anfang Oktober hatte mich der alte Mr. Merrilees in sein Büro beordert. Mr. Merrilees war der Senior der Firma, ein breitschultriger, grimmiger alter Mann, dem wir nach Möglichkeit aus dem Wege gingen. Nicht sehr stark von mir selbst überzeugt, kam ich dieser Aufforderung nach. Ich wusste, dass in der Kostenberechnung ein Fehler war, den ich – obwohl es nicht in mein Ressort gehörte – hätte korrigieren müssen.

Ich trat ins Allerheiligste und machte mich auf eine Moralpredigt gefasst. Doch der alte Mann behandelte ein anderes Thema und sagte: »Sie sehen nicht besonders gut aus, Beattie. Ich habe Sie schon eine Zeit beobachtet, so sagen Sie mir nun bitte nicht, dass ich mich geirrt habe.«

Ich sagte es ihm auch nicht.

»Nun haben Sie ja auch allerhand hinter sich, nicht wahr?«, fuhr er fort. »Im Augenblick herrscht bei uns eine kleine Flaute. Ich schlage vor, dass Sie in der kommenden Woche einmal ausspannen.«

Ich weiß noch, wie ich ihn anstarrte.

»Meinen Sie Urlaub, Sir?«

»Das meine ich. Sie sollen sich nun nicht eine Woche in London aufhalten. Fahren Sie irgendwo aufs Land. Machen Sie längere Spaziergänge. Zum Fischen ist es zu spät, aber wandern können Sie immer noch. Füllen Sie Ihre Lungen mit frischer Luft. Gönnen Sie sich etwas. Das ist alles.«

Das war auch alles. Mit Mr. Merrilees durfte man sich auf keine lange Diskussion einlassen – und warum sollte ich gegen diesen Vorschlag sein? Ich nahm ihn beim Wort, fuhr nach Girvan und wohnte dort in einem kleinen, aber komfortablen Hotel.

Am zweiten Urlaubstag traf ich Sandra.

Das war ein Tag wie jetzt. Früher Oktober, die Sonne Lin glühender Ball im violetten Himmel, die Farbtupfen des Heidekrauts an den Berghängen, das blaue Wasser des Firth of Clyde mit seinem golddurchwobenen Schimmer.

Um zehn Uhr hatte ich das Hotel verlassen, um einen Spaziergang nach Ballantrae zu unternehmen. Ich war keine Meile gegangen, als ich es mir anders überlegte. Da war zur linken Hand ein bewaldeter Hügel. Ich kletterte hinauf, sah einen Streifen Farnkraut und im Hintergrund eine schmale Deichmauer aus Ziegelsteinen.

Ich schlenderte auf diese Mauer zu, blickte hinüber und legte dabei die Hände auf. Da erschien plötzlich noch eine Hand!

Sie tauchte von der anderen Seite auf, war schmalgliedrig und gebräunt. Dann blickte ich in zwei klare blaue Augen und ein hübscher Mund hauchte: »Mein Gott, haben Sie mich erschreckt!«

Selber einigermaßen verwirrt, sah ich das Mädchen einen Moment schweigend an. Sie war etwas mehr als durchschnittlich groß, schlank und hatte eine Figur, wie man sie auf Reklameplakaten für Badetrikots zu sehen pflegt. Sie trug ein leichtes blaues Wollkleid und auf ihrem Rücken einen Rucksack, an dem ein weißer Pullover befestigt war. Das honigblonde Haar fiel ihr über die Schultern. Sie konnte zweiundzwanzig, vielleicht auch fünfundzwanzig sein – doch wie alt sie auch war, sie sah gut aus.

»Ich habe Sie nicht kommen hören«, sagte sie unbefangen, »auf meiner Seite ist es niedriger.«

»Das sieht man«, entgegnete ich.

Sie nahm ihren Rucksack ab, stellte ihn ins Farnkraut und stützte die Ellenbogen auf die harte Ziegelmauer.

»Machen Sie Urlaub?«

»Stimmt«, antwortete ich.

»Ich auch.«

»Engländerin?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Irin – aber ich wurde in England erzogen. Ich glaube, das wirkt sich aus. Auf meinen Akzent, meine ich. – Sie sind Schotte?«

»Aus Glasgow«, bekam sie von mir zu hören.

Ich zog meinen Tabaksbeutel und begann die Pfeife zu stopfen.

Sie nahm eine Zigarette. Ich gab ihr Feuer. Anschließend war ich ihr beim Überklettern der Deichmauer behilflich. Ich weiß nicht mehr, worüber wir uns unterhielten, aber es war eine ganze Menge. Ich weiß auch nicht mehr, wer von uns beiden den Vorschlag machte, den nächsten Berg hinaufzuklettern. Wir gingen nebeneinander her und jeder schien die Richtung des anderen zu kennen. Dann saßen wir unweit des alten Hünengrabes im Heidekraut und blickten auf das Meer hinaus. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich mich noch nicht vorgestellt hatte, und holte das nach.

Für einen Moment glaubte ich, sie würde mir ihren Namen nicht nennen, doch dann sagte sie, ohne mich anzublicken: »Sandra Lane.«

Eine Weile saßen wir schweigend da, bis sie fragte: »Warum haben Sie Ihren Urlaub um diese Zeit genommen?«

»Befehl vom Chef. Ich habe meinen offiziellen Urlaub schon weg, aber er dachte, ich könnte noch eine Woche gebrauchen.«

»Sehr freundlich von ihm, muss ich sagen.«

»Ja. Meine Mutter starb vor einigen Monaten.«

»Das tut mir leid«, sagte sie leise.

»Danke. Aber da ist nun mal nichts zu ändern.«

»Haben Sie keine Geschwister?«

»Nein. Nur zwei Cousins. Einer wohnt in Brisbane, der andere in New South Wales. Ich habe noch keinen von beiden gesehen.«

Sie antwortete nicht, sie blickte nur über das Meer.

Nach einer Weile sagte ich zu ihr: »Und wie ist das mit Ihnen? Irgendwelchen Anhang?«

»Nein«, sagte sie langsam, »im Augenblick nicht. Meine Eltern sind tot. Sie ertranken vor einigen Jahren. Sicher erinnern Sie sich an die Princess Victoria?«

Sie blickte auf das Meer, das Grab der Princess Victoria.

»Ich erinnere mich«, erwiderte ich. »Damals ging ich noch zur Schule. Ich weiß noch, wie der Sprecher der Ein-Uhr-Nachrichten bekanntgab, dass sie sich in Seenot befand.«

Ich lehnte mich zurück und sog an meiner Pfeife.

»Und dann waren Sie allein?«

»Nicht ganz. Ich hatte noch eine Schwester.«

»Älter oder jünger?«

»Jünger.« Als sie das sagte, zuckte ihr Mundwinkel. Dann drehte sie sich zu mir um. »Reden wir nicht länger von traurigen Dingen. Nicht heute. An diesem schönen Tag sollte man vergnügt und glücklich sein.« Ihre Augen waren plötzlich wieder voller Leben. Sie streifte die Tragriemen des Rucksacks ab. »Haben Sie Hunger?«

»Ich stehe kurz vor dem Hungertod.«

»Ich habe nicht viel eingepackt«, sagte sie zweifelnd. »Aber wir werden teilen.«

Sie kippte den Rucksack aus: drei Tomaten, zwei Äpfel, einen Riegel Schokolade, eine Apfelsine und ein Päckchen geröstete Weißbrotscheiben.

»Ein wahres Festessen«, sagte ich, der noch eine große Tafel Cadbury-Schokolade bei sich führte. Ich legte sie dazu, und dann nahmen wir unsere erste Mahlzeit ein.

Ungefähr eine Stunde saßen wir auf dem gleichen Platz, redeten nicht viel, musterten uns aber umso mehr. Anschließend kletterten wir auf der anderen Bergseite hinunter, durchquerten einen Streifen Buschwerk und wanderten über ein Torfmoor. Wir wanderten stundenlang und kamen in ein kleines Dorf. In einem Bäckerladen tranken wir Tee. Danach pilgerten wir wieder über die Berge zurück zur Straße nach Ballantrae.

Als wir sie erreichten, stand die Sonne schon ziemlich tief. Die Straße lag weit hinter den Argyll-Bergen. Das Juragestein schimmerte purpurn, und der ganze westliche Himmel war eine Farbensymphonie von Gold und Blut.

Lange standen wir zusammen und sahen den Tag zu Ende gehen. Dann war das Licht erloschen, die prächtigen Farben verschwunden, die Welt in einen grauen Schleier gehüllt und der Abend kühl.

Sie berührte meine Hand. Dann – ich weiß nicht wie es kam – lagen wir uns plötzlich in den Armen. Wenn der Abend kühl war, so war Sandra warm und lebendig, ihre Lippen blühend und frisch.

Und so fing alles an.

Genauso...

Eine Stimme drang in mein Ohr: »Das reicht für heute. Kommt, Jungens, zieht eure Jacken an. Feierabend.«

Nur zögernd kehrten meine Gedanken in die raue Wirklichkeit zurück. Ich hatte das öde, graue Zuchthaus in Peterhead vergessen, die trostlosen Tage, die eiskalten Nebel, den nervenzermürbenden Alltagstrott und den Kummer, der an meinem Herzen nagte.

»Macht ein bisschen lange Schritte, Leute«, sagte Big Mac. »Schon ziemlich spät. Ihr wisst, was das bedeutet.«

Wir fielen in Trab und überquerten den Kartoffelacker in Richtung der Zuchthaustore von Peterhead. Von der Wärme des Tages war nicht mehr viel zu spüren; der erste kalte Hauch des Winters umwehte unsere Gesichter.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Es war kalt in jener Nacht, und Joe Delany, mit dem ich mich unterhielt, spürte die Kälte auch. Er war ein kleiner, schmaler Ire, der fünf Jahre wegen Totschlags abzusitzen hatte. Doch wer ihn ansah, der konnte sich das nicht vorstellen. Er mochte fünfundsechzig Kilo wiegen, aber bestimmt nicht mehr. Wie Nicky hatte auch er die Hälfte seines Lebens im Zuchthaus verbracht. Seine Geschichte hatte ich schon oft genug gehört.

Er wollte in eine Kneipe einsteigen, erwischte aber eine schlechte Nacht. Der Wirt vermisste eine Reihe voller Flaschen und verdächtigte einen Schankkellner, der früher einmal bei ihm tätig gewesen war. So legte er sich auf einer Matratze hinter der Theke auf die Lauer. Da hatte er auch gelegen, als Joe Delany eingestiegen war. Als kräftiger Mann brauchte er sich vor einem Sperling wie dem Einbrecher nicht zu fürchten – doch Delany hatte eine Flasche auf seinem Kopf zerschlagen.

Delany hätte sich aus dem Staub machen können, sah aber, dass der Wirt schwer verletzt war und rief die Ambulanz an. Mit der Ambulanz kam die Polizei und nahm ihn mit.

Der Wirt starb am nächsten Tag. Delany wurde selbstverständlich vor Gericht gestellt und wegen Totschlags verurteilt. Er konnte sich freuen, nur mit fünf Jahren davongekommen zu sein. Das gab er selbst zu. Leider redete er auch über nichts anderes, höchstens noch über das Essen und die Kälte. Er hasste die Winter in Peterhead – und wer hasste sie nicht? Die Kälte machte Joe Delany mürrisch und einsilbig.

So war er auch in dieser Nacht, und ich war froh darüber, denn seine Reden mussten einem zwangsläufig auf die Nerven gehen.

Nur einmal sah er zu mir herüber.

»Das schöne Wetter ist vorbei, Jack.«

»Glaube ich nicht«, erwiderte ich. »Heute Abend war’s klar. Keine Wolken – kein Wind. Morgen wird’s wieder heiß.«