Flug der Eule - Karl-Heinz Haselmeyer - E-Book

Flug der Eule E-Book

Karl-Heinz Haselmeyer

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Beschreibung

Gedanken zwischen Erinnerungen und aktuellen Ereignissen. Kann das helfen sich dem Unbegreiflichen anzunähern? Im Vergangenem sollte der Samen für Zukünftiges zu finden sein. Was bleibt, ist Ratlosigkeit.

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Die schrecklichen Bilder aus der Ukraine holten Erinnerungen aus meiner Kinderzeit wieder ins Gedächtnis. Zerbombte Häuser sind sich so ähnlich, sie verlieren ihr regionales Kolorit. Wahrscheinlich haben die Ruinen in ukrainischen Städten auch den spezifischen starken Geruch, der sich mir aus Kindertagen eingeprägt hat und den ich nie vergessen werde.

Die frühen Jahre meiner Kinderzeit waren noch unbeschwert, doch dann wurde das friedliche Spiel im Sandkasten abgelöst von damals noch unverständlichen und ängstlichen Reden der Erwachsenen. Auch unsere Spiele veränderten sich. Wir spielten Soldaten und die Stimmung in der Kinderschar wurde aggressiver. Was kann sich ein kleines Kind schon vom Krieg vorstellen, im Krieg wird gekämpft, das hatten wir mitbekommen und der Stärkere kann dann bestimmen, also wurde unser Sandkasten zu einem kleinen Schlachtfeld. Dass Krieg sehr bedrohlich sein kann, merkten wir, als dann die erste Bombe fiel.

Ich erinnere mich an den dunklen Hausflur, in den ich mich mit meiner Schwester zurückgezogen hatte, die Eltern und Großeltern, Onkel und Tante feierten einen Geburtstag und ließen sich nicht stören. Wir hatten Durchsagen im Radio gehört über den Anflug feindlicher Flugzeuge und waren verängstigt. Die Erwachsenen wollten aber davon nichts hören und sagten: „Göttingen ist eine Universitätsstadt, wir werden nicht bombardiert.“ Dann kam Alarm und das Brummen der Flieger war schon deutlich zu vernehmen. Als die erste Explosion zu hören war, schreckte das auch die Feiernden auf, es blieb aber keine Zeit mehr einen Luftschutzbunker aufzusuchen. Wir liefen in die Waschküche im Keller des Hauses. Dann wurde es gleißend hell, wir purzelten durcheinander, gefolgt von dem lauten Krachen der Explosion. Die Waschküchentür mitsamt Steinen der Mauer war herausgerissen, wir wagten uns nicht heraus. Als es ruhig blieb, spähte jemand aus der Haustür und rief: „Vor dem Haus liegt ein Blindgänger!“ Etwas später stellte sich heraus, es war nur ein Dachfenster. Es dauerte nicht lange, da wussten wir, es war ein sehr gezielter Angriff auf die Gasversorgung und eine Bombe hatte den großen Gasbehälter, weniger als 500 Meter von uns entfernt, in die Luft gesprengt. Ein Haus auf dem Gelände neben dem Gasbehälter war völlig zerstört und es wurde gesagt, dort habe niemand überlebt. Es waren Fremdarbeiter, die dort untergebracht waren, alles junge Leute aus Belgien und den Niederlanden.

Eines Tages, Tage bevor mein Vater in der Baracke der polnischen Fremdarbeiter, in der er sich vor den Nazis versteckt hatte, verhaftet und abtransportiert wurde, hörten wir ferne dumpfe Explosionen. Wir eilten zum Schlafzimmerfenster und sahen in Richtung Kassel eine große pulsierende Glutglocke. Wir hörten die fernen Explosionen und sahen in dem blutroten Schein das Aufleuchten der Explosionen. Wir wussten, dort wird die Stadt Kassel zerstört, und dachten an die armen Menschen, die diesem mörderischen Angriff ausgesetzt waren. Wir hielten uns eng umschlungen und weinten bitterlich. Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit zwischen diesem Bombenangriff auf Kassel und dem ersten größeren Angriff entlang der Göttinger Bahnstrecke lag, an der wir ja nahebei wohnten. Eingebrannt hat sich, dass bei Alarm alle Bewohner unseres Hauses über die Straße liefen zu dem dortigen Bunker. Wir hatten schon alle den Schutzraum erreicht, bis auf meine Großmutter, die etwas zu spät kam und nicht so schnell laufen konnte. Als die erste Bombe fiel, kam meine Oma zu Fall, der Luftschutzwart wollte die Bunkertür schließen und ich schrie und trat nach seinen Beinen. Vielleicht wollte er auch noch nicht ganz schließen, denn er machte einige hastige Schritte meiner Oma entgegen und half ihr auf. Kaum war der Bunker geschlossen, hörten wir das hässliche Pfeifen der Bomben und dann bebte der Bunker von den dumpfen Explosionen. Die Dauer des Angriffs konnten wir kaum ermessen, es ging sehr schnell und dauerte gefühlt ewig, bis die Einschläge sich entfernten und schließlich Ruhe einkehrte. Dann kam Entwarnung und die Erleichterung, dass unser Haus nicht getroffen wurde.

An einem der folgenden Tage ging meine Mutter mit meiner Schwester und mir in Richtung des Güterbahnhofes, dort waren Häuser getroffen worden und meine Mutter hoffte in den Trümmern etwas Holz zum Kochen auflesen zu können. Wir Kinder sahen ein Flugzeug, das über der Stadt kreiste und sich wieder entfernte. Wir sagten unserer Mutter: „Das war wohl ein Aufklärer und es werden wieder Bombenflugzeuges kommen.“ Unsere Mutter war erpicht darauf Holz zu finden und hörte nicht auf uns, da lief meine vier Jahre ältere Schwester mit mir einfach weg in Richtung Bunker und unsere Mutter folgte uns notgedrungen. Noch unterwegs gab es Alarm, wir erreichten den Bunker knapp, und als wir vor der Bunkertür noch einmal hochschauten, sahen wir die Flugzeuge eines großen Bomberverbandes schon recht nah. Dann kam ein Angriff, der alles Bisherige in den Schatten stellte. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Das Licht verlöschte, die Stützbalken gerieten in Bewegung und der Bunker füllte sich mit Rauch. Die Leute schrien durcheinander, einige beteten laut. Ich wunderte mich über die Hysterie der Erwachsenen, hatte ein großes Stofftuch erwischt, einen Unterrock, wie sich später herausstellte, hatte ihn mit Wasser aus einem Löscheimer getränkt und atmete durch das nasse Tuch, so gründlich, dass ich ganz durchnässt war. Dann schimmerte Licht von Taschenlampen durch den Qualm und wir hörten Rufe, wir wären verschüttet. Bemühungen die Bunkertür zu öffnen schlugen fehl. Nach einiger Zeit gelang es, einen kleinen Notausstieg zu öffnen und wir krochen hinaus. Das Haus, unter dem sich der Bunker vorher befand, gab es nicht mehr, auch der große Pferdestall neben dem Gebäude war nur noch ein Trümmerberg. Wir standen inmitten der Trümmer vor einem riesigen Bombentrichter, wir hörten in den Trümmern des Stalles ein Klopfen, wohl vom Ausschlagen eines noch nicht ganz toten Pferdes. Ein großer Wasserturm an der Bahnstrecke brannte und ein dort stehender Güterzug, der mit Munition beladen war, stand in Flammen und ein Feuerwerk explodierender Granaten bot ein schaurig schönes Bild. Ich starrte auf das Feuerwerk, fand es wunderschön und schämte mich gleichzeitig sehr über diese Empfindung. Alle Personen hatten den Bunker unbeschädigt verlassen, aber nebenan waren 21 Pferde und zwei Ochsen durch einen Treffer getötet worden. Das Haus, in dem wir wohnten, stand noch, aber zwischen den beiden Fenstern unserer Küche im dritten Stock war die Wand herausgebrochen, es sah aus wie eine offene Puppenstube. Wir konnten in der Wohnung nicht bleiben und nach einer behelfsmäßigen Nachtruhe in der Wohnung meiner Großmutter packte meine Mutter unsere Habseligkeiten auf einen Handwagen und wir versuchten Verwandte in Grone zu erreichen. Das erwies sich als nicht einfach. Die Straßen in allen Richtungen waren durch Bombentrichter nicht passierbar, wir mussten immer wieder umkehren. Nach vergeblichen Versuchen auf einer Straße durchzukommen, versuchten wir, den Handwagen durch ein großes Schrebergartengelände zu ziehen, und es gelang. Unser Weg führte nun an dem Gelände des Heeresverpflegungsamtes vorbei, dort wurde geplündert. Die Aussicht, Lebensmittel zu ergattern, war verlockend. Wir stellten den Handwagen ab und ich wurde zur Bewachung eingeteilt. Dann brachte meine Mutter einen Karton mit Fleischdosen, stellte ihn beim Handwagen ab und ging noch einmal, teils um meine Schwester zu suchen, die auch in die Hallen gegangen war, um dort etwas zu holen, teils um noch mehr Lebensmittel zu ergattern. Dann wollte ein Mann den beim Wagen abgestellten Karton wegnehmen. Ich hielt den Karton fest und schrie laut um Hilfe. Leute mischten sich ein und jetzt kamen zum Glück meine Mutter und meine Schwester zurück. Drei Kartons, einer mit Fleischdosen und zwei mit Fertigsuppen, wurden mit Mühe noch oben auf dem Handwagen untergebracht, der ja voll beladen war. Dann machten wir uns auf den langen Weg nach Grone. Als wir zwischen Göttingen und Grone waren, wurde aus Dransfeld ein Artillerieschuss abgegeben, direkt über uns hinweg. Ich fiel unter unseren Handwagen und kam mit einem Fuß unter ein Rad. Es war schmerzhaft, aber hinterließ außer einer blutenden Stelle keinen Schaden.

Den Einmarsch der Amerikaner erlebten wir später bei Verwandten in Grone. Das liegt nun schon so weit zurück. Die Zeit ist weggeglitten, lautlos wie der Flug einer nächtlichen Eule. Die vielen Erinnerungen sind in nebelhaftes Dunkel gehüllt und werden durch mühsames Erinnern geweckt. Mit der Erinnerung tasteten meine Gedanken nach grundlegenden Überzeugungen über unsere menschliche Existenz. Mein Selbstbild, das sich durch zurückliegende Jahre geformt hat, bekam durch die jüngsten Entwicklungen Risse.

Wieder werden Menschen für Mitmenschen zum Wolf. Was für schlimme verborgene Potenziale schlummern vielleicht auch in mir? Ich verstehe mich als überzeugten Pazifisten, könnte ich auch dazu gebracht werden zu töten? Kenne ich mich bis in meine tiefsten Gehirnareale? Wie gut kenne ich Menschen meiner nächsten Umgebung? Einzelmenschen sind mir manchmal fremd, doch immer ist auch Vertrautheit damit verbunden, Untaten traue ich niemandem zu. Die Menschheit, die Masse Mensch, scheint mir in einem anderen Licht, sie scheint ein Moloch zu sein, ein unbegreifliches Monster. Die Massenmorde der Nazizeit lasten noch sehr auf dem Menschenbild und schon füllen neue Grauen den Zeitraum zur Gegenwart. Sind es Menschen wie du und ich, die es fertig bringen jedes Mitgefühl beiseite zu schieben, die bereit sind, unzählige Menschenleben der Erreichung ihrer Ziele zu opfern? Ich hatte immer Vorurteile gegen Militär und jede Gewalt, die Ordnungsgewalt eines freiheitlichen Staates ausgenommen, nun begrüßte ich es bereits, wenn Waffen an die Ukraine geliefert werden, Waffen, die viele junge russische Menschen aus dem Leben reißen werden. Was wird geschehen, wenn trotz der westeuropäischen Waffenhilfe das zahlenmäßig weit überlegene russische Heer die Ukraine überrennt, wenn die Atommacht Russland nicht zu bremsen ist? Wenn die Bedrohung der menschlichen Freiheit direkt an unseren Grenzen auftaucht? Im Hintergrund lauern im russischen Reich mehr als tausend Atomwaffen, die Initialzündung einer Weltuntergangsmaschine.

Das waren Gedanken, die mich zu Beginn des Jahres 2023 noch beschäftigt haben. Nun kommt es meistens anders, als man es sich ausdenken kann, oft reicht unsere Fantasie nicht aus, kommende Schrecken auszumalen, selten werden wir angenehm überrascht. Mich bedrängt diese Vorstellung, dass die Ukraine überrannt werden könnte, dass Europa nochmals Millionen fliehender Ukrainer aufnehmen müsste.

Noch kämpfen die zahlenmäßig unterlegenen Ukrainer heldenhaft, wie lange können sie einen so großen Blutzoll entrichten? Grausame Berichte über russische Gewalttaten geistern durch die Medien, gefolterte und getötete Zivilisten, vergewaltigte Frauen und entführte Kinder. Einem Sieg der russischen Armee könnten Angriffe auf andere Staatsgebiete folgen, die dann nach bekanntem russischem Muster vorangetrieben würden. Die russische Propaganda könnte zum Beispiel über Missetaten gegenüber der russischen Minderheit in den Baltischen Staaten berichten. Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppen russischer Sprache mit den baltischen Polizeieinheiten würden organisiert. In den angrenzenden Gebieten von Russland und Belarus würden große Militäreinheiten zusammengezogen und in den Baltischen Staaten die NATO-Truppen verstärkt. Sollte es dazu kommen, dass Russland einen weiteren Schritt zur Ausweitung seiner Grenzen ins Auge fasst, könnten sie das bei der überlegenen Kampfkraft der Nato nur unter Einsatz von taktischen Atomwaffen unternehmen. Ich muss damit aufhören, mir solche Schreckensszenarien vorzustellen. Bestenfalls könnte es zu einer friedlichen Einigung kommen. Was wäre eine friedliche Einigung, müssten dann die russischen Menschen und sogar Völker angrenzender Gebiete unter der Knute dieses verbrecherischen Regimes weiterleben?