Nachwelt - Karl-Heinz Haselmeyer - E-Book

Nachwelt E-Book

Karl-Heinz Haselmeyer

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Beschreibung

Es ist nicht gelungen die Biosphäre zu stabilisieren, die Menschen mussten sich als letzten Ausweg aus der Natur zurückziehen. In ihrem selbsterwählten Ghetto verlieren sie sich immer mehr in eine imaginäre Traumwelt. Ein junges Paar möchte sich dieser Entwicklung entziehen und bricht auf in eine menschenleere geschädigte Welt.

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Meinen Helm, der mit seinem Display das obere Gesicht abdeckt, dieses Schlupfloch in eine imaginäre Welt, habe ich beiseitegelegt. Sinnend schaue ich aus einer Höhe von 380 Metern auf diese schöne Welt. Bei gutem Wetter ist diese Aussicht atemberaubend, und dennoch fühle ich mich immer ein wenig ausgesperrt. Meine Großeltern mussten noch kämpfen, damit unsere schöne Erde fast ganz als Naturschutzgebiet anerkannt wurde. Dabei gab es für die Menschheit keine Alternativen, sie hatten den Kampf um einen Ausgleich mit der Natur verloren. In Gebieten am Äquator war die Erde zu einem Glutofen geworden. Unwetter tobten, Ernten wurden vernichtet, die Wälder trockneten aus und die Menschen verhungerten oder starben geschwächt an Epidemien. Große Aktionen, neue Wälder mit Korkeichen, Esskastanien und tropischen Gehölzen entstehen zu lassen, waren nur die Reparatur eines der Faktoren, die zu dieser Katastrophe geführt hatten. Die Menschheit konnte nicht weiterhin auf Kosten der Natur weiterbestehen. Großvater erzählte oft, wie es mit der Erde stand, als er ein junger Mann war. Eingriffe von neun Milliarden Menschen hatten ihr fast alle Lebenskraft genommen. Alle Kuren blieben nur Stückwerk. Solange diese Masse von Menschen von der Natur lebte und sie ausbeutete, waren alle Anstrengungen vergeblich. Die Menschheit war wie ein Krebsgeschwür und als letzter Ausweg blieb nichts anderes übrig, als das Geschwür zu isolieren. Die Generation meiner Großeltern hat das unter menschenwürdigen Bedingungen geschafft. Es war nicht leicht und es erforderte den Einsatz und den Behauptungswillen einer ganzen Generation. Wir, die Nachkommen, haben ein schönes Leben, zugegeben, aber es ist ereignisloser geworden. Zwar gibt es viele Möglichkeiten in Bildung und Kultur, im Sport und in einem lebendigen Gemeinschaftsleben. Das alles steht uns zur Verfügung, doch den größten Teil unseres Lebens nimmt die digitale Traumwelt ein. Auch ich habe nach meinem morgendlichen Sport schon fast fünf Stunden in dieser unrealen Welt verbracht. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Welten scheinen oft zu verschwimmen, unser Erleben in der künstlichen Welt ist sogar oft unproblematischer, es stellt einfach weniger Ansprüche an uns.

Die Natur hat sich in fast hundert Jahren ein wenig erholt. Sie steht für uns Menschen nur eingeschränkt zur Verfügung, eingreifen und uns ihrer Schätze bedienen dürfen wir nicht mehr, das wird streng überwacht. Rings um unser Menschengetto gibt es sichere Wege, ungepflasterte Naturwege, auf denen wir uns bewegen können. Diese Wege sind gegen gefährliche Tiere abgesichert, ohne die Natur merklich einzuschränken. Ich gehe gern dort weite Strecken, abgesehen von meinen regelmäßigen morgendlichen Waldläufen. Das Leben der menschlichen Gemeinschaft findet in einem gigantischen Bauwerk statt. Man kann es mit einem riesigen Termitenbau vergleichen. Es hat eine Grundfläche von 4,8 Quadratkilometern und ist 510 Meter hoch. Das Gerüst besteht aus einem neuen Material, dem Stabolit, das sehr leicht, aber härter als Stahl ist. Die tragenden Teile sind mit flüssigem Stabolit verklebt, das in wenigen Minuten unter UV-Bestrahlung aushärtet. Die Bauteile dazwischen bestehen aus aufgeschäumtem und recyceltem Material ehemaliger Autobahnen und Straßen, aber auch von abgerissenen Bauwerken ehemaliger Städte. Das Innere ist wie ein Schwamm, durchzogen mit einem Gewirr von Korridoren, Fahrstühlen, Parks und Freizeiteinrichtungen, Werkräumen, Kantinen und Unterkünften. Ohne Navigation wäre man im Inneren dieses Riesenklotzes verloren. Der Wohnraum ist beschränkt auf genormte kleine Wohneinheiten.

Wir bekommen alles, was wir benötigen, ohne Gegenleistung. Jeder kann sich aber nützlich machen, was bei vorheriger Anmeldung und Zuweisung ermöglicht wird. Eine Tätigkeit bringt Abwechslung und ist teilweise bei jungen Menschen beliebt, die das Erleben in einer imaginären Welt, wenn es Tag für Tag geschieht, nicht befriedigt. Alle Beschäftigungen haben aber den Beigeschmack, dass sie genau genommen nicht notwendig sind.

Mir war die reale Welt auf die Füße gefallen. Noch zwei Wochen davor wollte ich vor Glück die Welt umarmen, ich hatte mich verliebt. Mit zwei Freunden war ich in der Mittagszeit in eine uns bisher unbekannte Kantine gegangen. An unserem Nebentisch saß eine fröhliche Runde junger Frauen. Zwei der Frauen fielen mir auf Anhieb ins Auge. Beide waren wahre Schönheiten, aber in ihrer Wirkung waren sie ganz unterschiedlich. Eine sprühte vor Lebenskraft, sie schien die Wortführerin zu sein, sie redete laut, lachte ungezwungen und zog die Aufmerksamkeit der anderen Damen auf sich. Die andere, dem Aussehen nach schien sie die Schwester zu sein, hatte ihre Haare streng zurückgekämmt, saß ruhig neben ihrer extrovertierten Nachbarin, schaute mit ernster Miene auf ihren Teller und schien unbeteiligt. Wie ein Magnet zog die temperamentvolle Dame meine Blicke an, und als sich unsere Blicke trafen, durchfuhr mich ein heißes Erschrecken und ich meinte, mein Nachbar müsse meinen Herzschlag hören. Unsere Blickwechsel wurden mit der Zeit häufiger und von vorsichtigem Lächeln begleitet. Ich fotografierte sie mit meinem Smartphone, das ich als Armbanduhr immer dabeihabe, um sie später mit dem Computer identifizieren zu können. Sie merkte es und schürzte ihre Lippen zur kurzen Andeutung eines Kusses. Als die Damen aufstanden und den Tisch verließen, merkte ich, dass auch meinen Freunden die Luft wegblieb. Die Damen waren nach der neusten Mode nur mit hauchdünnen Schleiern bekleidet, welche die anmutigen Körper mehr unterstrichen als verhüllten. Wir trugen wie üblich nur unseren Lendenschurz, und ich war nicht der Einzige, der merkte, dass diese sparsame Bedeckung zu knapp wurde und sich spannte. Kaum war ich in meinem Zimmer, nahm ich meinen Helm, wählte das Computerprogramm und koppelte mein Armband mit dem Gerät. Ich bekam nur ihre Telefonnummer, alle anderen Daten waren geschützt.

Ich machte sogleich einen Bildanruf und sie sagte: „Es freut mich, dass du mich nicht warten lässt.“ Wir verabredeten uns zu einem Treffen in einem Park in ihrer Etage. Es ging dann alles sehr schnell, wir küssten uns, tranken Kaffee in einem Gartenlokal und gingen zum Rollschuhlaufen. Danach gingen wir in mein Zimmer und liebten uns. Sie hieß Gitti und sie war wie ein Zauber, sie blieb dann die ganze Nacht bei mir. Ich fühlte mich wie in einem schönen Traum, so schön, wie es kein imaginärer Traum zustande bringen könnte. Dann folgten wundervolle Tage in ekstatischer Zweisamkeit.

An einem Morgen sagte sie mir, sie hätte an diesem Tag keine Zeit für mich, sie hätte eine Verabredung. Ohne sie fühlte ich Leere und rief deshalb meinen Freund Mauritz an, der jedoch meinen Anruf nicht annahm. Etwas irritiert rief ich nun Paul an und fragte ihn, ob er wisse, wo Mauritz sei, aber er wusste es nicht. Gegen Abend versuchte ich Gitti zu erreichen. Es meldete sich ihre Schwester Selma, die meinte, sie würde es ausrichten, dass ich angerufen hätte, und Gitti könnte dann zurückrufen. Gitti meldete sich aber nicht. Am anderen Morgen kam sie froh lachend zu mir und sagte mir, sie sei bei Mauritz gewesen und sie hätten sehr viel Spaß gehabt. Mich traf es wie ein Schlag. „Weiß Mauritz, dass wir schon seit über einer Woche zusammen sind?“, fragte ich ärgerlich und enttäuscht. „Bist du etwa eifersüchtig?! Klar wusste er das nicht, sonst hätte er sich wohl nicht verführen lassen“, entgegnete Gitti belustigt. Ihr Verhalten und ihre leichtsinnige Art machten mich fassungslos. „Dann hast du ja wohl mit mir auch Spaß gehabt. Mir war es ernst, wir haben wohl grundverschiedene Vorstellungen von einer Beziehung. Ich glaube, du gehst jetzt lieber.“ Damit drehte ich ihr den Rücken zu. Ich hörte, dass sie den Raum verließ, und konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Zugegeben, ich vermisste sie, aber ich wollte ihr vorläufig nicht begegnen. Als ich Mauritz zur Rede stellte, bedauerte er es sehr, dass er nichts über meine tieferen Gefühle für Gitti gewusst hatte, für ihn war es nur ein flüchtiges Abenteuer.

Ich stürzte mich wieder mehr in meine Arbeit, auf imaginäre Abenteuer hatte ich vorläufig auch keine Lust. Ich inspizierte die Pflanzensilos und überprüfte die Messwerte und Einstellungen der Regler. Im Grunde geht alles automatisch vom Samenkorn bis zur automatischen Ernte. Es ist nur so, dass auch die perfekteste Automatik zeitweise kontrolliert werden muss, denn eine kleine Fehlfunktion kann die Ernährung von Millio