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Angeregt durch ein Gespräch mit einem jungen Mann versucht ein alter Schriftsteller die menschliche Geschichte aus einer tausendjährigen Perspektive zu sehen, um aus dieser Sicht auch Eindrücke zu bekommen in das, was für ihn noch Zukunft ist.
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Seitenzahl: 72
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„Du sitzt hier allein im Dunklen, fast hätte ich dich nicht gesehen. Ich wollte nur in Ruhe eine Zigarette rauchen, willst du auch eine?“ „Danke, ich bin Nichtraucher.“ Der schlaksige junge Mann entzündet seine Zigarette. „Darf ich mich zu dir auf die Bank setzen? Dir ist wohl auch der Trubel etwas zu laut geworden, gehörst du zur Familie?“ „Ich bin der Großvater des Bräutigams, aber ich tanze nicht, trinke keinen Alkohol und habe Probleme mit meinen Ohren. Deshalb kann ich mich bei dem Lärm auch nicht unterhalten. Da sitze ich lieber hier am Flussufer und genieße die laue Nacht.“ „Entschuldigen Sie, dass ich Sie geduzt habe, ich bin der Bruder der Braut und mit Ihrem Enkel Gernot befreundet. Gernot hat mir schon von Ihnen erzählt, Sie schreiben Bücher und setzen sich für den Umweltschutz ein. Er nennt Sie einen lieben Schwarzseher.“ „Gernot meint, mit Vernunft und den enormen technischen Möglichkeiten könnte man die Schwierigkeiten der Zivilisation überwinden, aber mit unserer Vernunft ist es nicht ganz so gut bestellt und die Technik gehört mit zu den Ursachen unserer Probleme.“ Das Interesse des jungen Mannes ist geweckt, er hat sein Studium der Physik fast abgeschlossen und sein Glaube an die Möglichkeiten, mit wissenschaftlichen Kenntnissen die Umweltprobleme lösen zu können, ist trotz großer Zweifel noch nicht ganz verschwunden. „Sehen Sie die Zukunft wirklich so pessimistisch?“ Der junge Mann versucht, im Dunklen die Gesichtszüge seines Gesprächspartners zu erkennen. „Sie sind noch sehr jung, meinen Anteil an dem, was man Zukunft nennt, kann man schon sehr gut abschätzen, mich bedroht sie nicht. In sehr kleiner Dimension leben wir ständig in der Zukunft. Unser Gehirn plant jede Aktion, bevor wir reagieren. Aber im Ernst, die Zukunft ist immer ungewiss, sie besteht aus unzähligen Möglichkeiten, die von der Vergangenheit in der Gegenwart gezeugt werden. Anders gesagt, einerseits ist die Zukunft festgelegt, andererseits hat sie viele Freiheitsgrade. Es ist unsere Gegenwart, um die es nicht gut bestellt ist. Mein Pessimismus bezieht sich auf uns Menschen. Wir überschätzen unseren Verstand und werden großenteils durch Urtriebe gesteuert, aus Habgier, aus Geltungs- und Selbstsucht. Wenn es möglich wäre, losgelöst von menschlicher Sicht so wie aus einer Vogelperspektive vergangenes Wirken der Menschen zu betrachten, könnte man wohl Prognosen für die Zukunft erstellen, aber ich fürchte, so eine Prognose würde uns wenig gefallen. Im Grunde sind wir fähig, aus Fakten ungefähr auf Entwicklungen in der Zukunft zu schließen. Ich versuche es so gut wie möglich, aber unser Blick ist in menschlichen Dimensionen gefangen, wir sind voreingenommen.“ „Sie meinen, wenn zum Beispiel ein außerirdisches Wesen die Welt eine Zeit lang objektiv beobachten könnte, dann wäre dieses Wesen in der Lage, zukünftige Entwicklungen vorherzusehen? Wäre es dann nicht sehr interessant, sich in so ein Wesen hineinzuversetzen, um sich zukünftige Entwicklungen besser auszumalen?“ Der alte Mann lacht verständnisvoll: „Sie meinen, eine Science-Fiction-Geschichte aus einer höheren Sicht könnte der Zukunft in die Karten schauen? Das wäre sicher interessant, aber leider können wir unsere menschliche Sichtweise nicht ausschalten. Außerdem sind Außerirdische, die uns beobachten, Unsinn, doch man könnte sich vorstellen, dass ein Individuum aus weiter Zukunft unsere Geschichte analysiert. Das wäre aber nur ein ausgedachtes Wesen und ausgedachte Wesen könnten nur eine ausgedachte Geschichte beschreiben. Allerdings würde die geschichtliche Sicht eines Wesens aus weiter Zukunft nicht nur unsere Vergangenheit, sondern auch unsere Zukunft betrachten und wir könnten versuchen, ihm eine möglichst große Objektivität zuzuordnen“.
Der junge Mann freut sich, dass seine Anregung so gut aufgenommen wird, und fragt seinen Gesprächspartner, ob sich dieser Stoff nicht für einen Zukunftsroman eignen könnte. Der alte Schriftsteller erwidert: „Das ist nicht so einfach, denn eine Geschichte erzählt Begebenheiten aus der Vergangenheit oder sie schildert Gegenwärtiges. Utopische Erzählungen machen da keine Ausnahme, sie erzählen Geschehen in einer fiktiven Zukunft. Alles, was erzählt werden kann, ist mit der Zeit verbunden. Es gibt eine Ausnahme, denn wenn man die Möglichkeitsform wählt, ist man von der Zeit entbunden, aber auch von der Wirklichkeit. Ungeschehene Geschichten enthalten unendliche Möglichkeiten und beliebig viele Freiheitsgrade, es ist die Welt der reinen Fantasie. Realisten sagen, man gerät damit in den Sumpf des Beliebigen, in dem alles versinkt, was wir Wahrheit nennen. Wahrheiten kann man von der Zeit nicht ablösen. Wahrheiten sind mit Gegenwart und Vergangenheit verbunden, übrig bleibt die Fantasie. Trotz der Bedenken reizt mich dieser Einfall, ich werde es versuchen.“
Vom Haus her sind Rufe zu vernehmen. Der junge Mann erhebt sich: „Ich glaube, wir werden gesucht, man hat uns vermisst.“ Auch der alte Herr erhebt sich ein wenig mühsam von der Bank. „Die ersten Schritte tun immer etwas weh. Es geht schon, gehen Sie voraus, ich komme nach.“ Ein Mann mittleren Alters eilt dem Alten entgegen. „Vater, wir haben uns Sorgen gemacht, warum gibst du denn nicht Bescheid, es ist doch schon reichlich spät für dich. Leider kann ich dich nicht mehr fahren, ich habe getrunken. Ich werde dir ein Taxi bestelle. Ella fährt mit und begleitet dich nach Hause.“
Bis das Taxi kommt, ist der Senior noch einmal Mittelpunk des Trubels, und nachdem er sich von den Brautleuten verabschiedet hat, ist er froh, mit einer seiner Enkeltöchter im Taxi wieder zur Ruhe zu kommen.
Nachdem seine Haushaltshilfe ihm das Frühstück gemacht hat, denkt er am nächsten Tage wieder an das vergangene nächtliche Gespräch. Schon einige Zeit hat er nach einem neuen Stoff gesucht, nach siebenundzwanzig Büchern hat seine Kreativität eine Pause eingelegt und so ist er froh, sich mit einem neuen Stoff beschäftigen zu können. Er eilt an seinen PC und die Einfälle lassen nicht auf sich warten. Er sitzt, die Hände im Schoß, und sammelt Gedanken.
Es könnte einmal ein Jahr 3001 sein, überlegt er, natürlich in christlicher Zeitrechnung. Die Religionen würden dann wohl schon ausgestorben sein wie so vieles andere. Es könnte sein, dass noch Menschen überlebt haben oder das, was sich aus ihnen entwickelt hat, und man könnte sich daran erinnern, dass die Zeitrechnung von der Geburt eines Juden aus, der in früher Vorzeit gelebt hat, gerechnet wird. Diese Nachkommen würden große Veränderungen durchgemacht und sich von den natürlichen Bedingungen der Erde abgekoppelt haben. Sie würden zwar noch auf der Erde leben, aber abgegrenzt in einem eigenen Lebensraum, der die Natur zu ihrer Schonung ausgeschlossen hat. Sie würden auch nicht den Menschen in vergangenen Jahrtausenden sehr ähnlich sein, sondern eine Symbiose mit der Technik eingegangen sein. Dass die Erde menschenfrei sein könnte, kann aus einem Grund nicht sein, denn sonst gäbe es auch keine Jahreszahl und das Jahr 3001 könnte nicht sein.
Er steht auf und geht im Zimmer herum. „Hat auch die Zukunft unendlich viele Möglichkeiten, sind sie doch mit der Gegenwart verbunden, denn der Samen für alles, was geschehen kann, schlummert im Gegenwärtigem. Es kommt mir so vor wie eine große Welle Wirklichkeit, die sich den Möglichkeiten entgegenwälzt, sich erneuert, und was gerade noch Wirklichkeit war, der Vergangenheit überlässt . Mit Aussagen, die in meine Vergangenheit reichen, muss ich vorsichtig umgehen, da darf ich nichts verfälschen. Bei allem, was über meine Gegenwart hinausreicht, habe ich freie Hand, darf aber die Verbindung zu allem Vorherigen nicht verlieren. Fantasien haben nur dann einen Wert, wenn sie Bezug zur Wirklichkeit haben. Also, ein Individuum könnte Sammler heißen und in ihm könnten alle verwirklichten Möglichkeiten der Vergangenheit gesammelt sein, die den Lauf der Entwicklung gelenkt haben. Das sind unvorstellbare Datenmengen, mögliches Geschehen in fast zehn Jahrhunderten komprimiert in einem zukünftigem Bewusstsein. Wenn ich nun die Frechheit besitze, einen zukünftigen Sammler einfach im Jahr 3001 entstehen zu lassen, kann ich auch auslesen, was er gesammelt hat. Ich könnte die Teile der verdichteten Information expandieren und erfahrbar machen. Daraus könnte eine ungeschehene Geschichte eines Jahrtausends werden. Dieses fiktive Archiv aus ferner Zukunft würde also eine nicht geschehene Vergangenheit enthalten, die momentan noch meine Zukunft ist, als Möglichkeit weit in die Zeit hinausreicht und mit größter Gewissheit so nie entstehen wird. Als Einstieg nehme ich die Vergangenheit, meine Vergangenheit. Das scheint verwirrend, denn all unser Denken ist mit der Zeit verbunden. Möglichkeiten sind Zukunft, also noch nicht vorhanden. Ob vorhanden oder nicht vorhanden, ich setze mich darüber hinweg und schildere aus dem Blickwinkel eines fiktiven fernen Gesichtspunktes über die mir vertraute Vergangenheit hinaus das Ungeschehene, das nur als Möglichkeit existiert. Der Anfang dieses Archivs könnte noch sehr bruchstückhaft sein, denn in der Zeit, in denen die Datensammlung beginnen soll, entwickelten sich erst die Datenspeicher und waren noch nicht sehr stabil und nicht dauerhaft haltbar. Auch ein erdachter Sammler wird auf einen digitalen Fundus angewiesen sein.
Dann wendet der Schriftsteller sich wieder seinem PC zu und fängt an zu schreiben.