GÄSTE UM MITTERNACHT - John Cassells - E-Book

GÄSTE UM MITTERNACHT E-Book

John Cassells

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Beschreibung

Henry Clayter arbeitet als Verkaufsleiter einer Farbenfabrik in der südenglischen Kleinstadt Welldale. In seinem Beruf ist er fleißig und korrekt. Aber Clayter ist ein unverbesserlicher Don Juan.

Eines Abends beenden zwei Revolverschüsse Clayters Leben...

 

Der Roman Gäste um Mitternacht des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym des Bestseller-Autors William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1966; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1967.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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JOHN CASSELLS

 

 

Gäste um Mitternacht

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

GÄSTE UM MITTERNACHT 

Vorspiel 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

 

Henry Clayter arbeitet als Verkaufsleiter einer Farbenfabrik in der südenglischen Kleinstadt Welldale. In seinem Beruf ist er fleißig und korrekt. Aber Clayter ist ein unverbesserlicher Don Juan.

Eines Abends beenden zwei Revolverschüsse Clayters Leben...

 

Der Roman Gäste um Mitternacht des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym des Bestseller-Autors William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1966; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1967.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  GÄSTE UM MITTERNACHT

 

 

 

 

 

 

 

  Vorspiel

 

 

Grigsons Motel befand sich an der Südküste von England, nicht weit von Littlehampton. Zu dem Motel gehörten mehrere Gästehäuser und ein Restaurant. Dieses zählte keineswegs zur Luxusklasse. Wer an die Londoner Lokale gewöhnt war, musste von diesem Restaurant enttäuscht sein. Es hatte nichts Exotisches. Zum Dinner gab es keinen Wein. Das Menü bestand aus Tomatensuppe, Schinken mit Rührei, Bohnen und Pommes frites. Diese Art von Kost gab es dort fast das ganze Jahr hindurch, aber an Freitagen und in der Fastenzeit wurde bei Grigson Fisch serviert.

Grigson war ein großer Mann. Einsfünfundachtzig, mit breiten, muskulösen Schultern und einem roten, faltigen Gesicht. Früher war er bei der Polizei in London gewesen - und als Sergeant in den Ruhestand getreten. Viele Jahre hindurch hatte er sich vorgenommen, irgendwo als Gastwirt anzufangen, und auf diesen Tag gespart. Als es soweit war, entdeckte er, dass sich das doch nicht so einfach machen ließ, und er hatte stattdessen ein Motel aufgebaut und kam ganz gut durch damit. Zuerst hatte es einige Schwierigkeiten gegeben. Zusammen mit seiner Frau hatte er bei der Bank ein Darlehen aufgenommen und zwei Gästehäuser gebaut. Grigson war handwerklich geschickt und hatte vieles selbst gemacht: Zimmermannsarbeiten und dergleichen mehr. Nach zwei Jahren war Lils Tante in Sheffield gestorben und hatte ihr siebzehnhundert Pfund hinterlassen.

Das Geld war zur rechten Zeit gekommen. Jetzt ging es den Grigsons recht gut. Das Motel umfasste neun Gästehäuser, und Grigson hoffte bis zum Herbst des nächsten Jahres vielleicht noch zwei errichten zu können. Sobald er  ein Dutzend beisammen hatte, wollte er sich fürs erste zufriedengeben. Grigson wollte ein bisschen mehr Zeit für sich haben. Ein oder zwei Stunden zum Fischen - ein, zwei Stunden extra für die Arbeit im Garten. Er war ein begeisterter Gärtner und pflegte den Rasen vor dem Haus sorgfältig. Er hatte auch einen kleinen Steingarten angelegt und ein kurzes, breites Blumenbeet, das im nächsten Sommer in allen Farben prangen sollte.

Aber noch war es nicht Sommer, sondern Februar, kalt und düster. Die Schneeglöckchen ließen die Köpfe hängen, der Krokus schob winzige blaue und weiße Spitzen durchs Gras. Grigson freute sich, dass sie dort blühten. Er mochte Schnittblumen überhaupt nicht. Blumen gehörten in die Natur, pflegte er zu sagen, und dort wuchsen sie, mitten im Grünen. Manchmal, wenn er Lil dabei ertappte, dass sie seine schönsten Blüten abschnitt, stritt er mit ihr.

Sie arbeitete gerade im Lokal. Grigson hörte sie herumgehen und ein paar Teller klirren. Zu dieser Jahreszeit gab es nicht viele Gäste, aber die Grigsons hielten geöffnet, weil sie immerhin die Spesen verdienen konnten; außerdem war das Leben nicht so langweilig, wenn man mit den Gästen reden konnte. Von Zeit zu Zeit war eines der Gästehäuser besetzt, zwar nicht viel öfter als drei- oder viermal in der Woche, aber wer hier hielt, freute sich, eine Unterkunft zu finden.

Grigson saß vor dem Kamin und sog nachdenklich an seiner Pfeife. Es war schon spät. Vor ein paar Minuten hatte er Lil den Schlüssel umdrehen hören. Er war nicht zu seinem üblichen Rundgang aufgestanden, weil es eigentlich gar nichts zu tun gab und er sich vor dem Kaminfeuer wohl fühlte.

In diesem Augenblick hörte er ein Auto kommen.

Es brummte langsam die Auffahrt hinauf, Bremsen quietschten, dann hielt es am anderen Ende.

Grigson nahm die Pfeife aus dem Mund und stand auf.

Es musste wohl jemand sein, der schon hier übernachtet hatte. Er nahm seine Mütze vom Haken und ging zur Tür. Als er sie öffnete, sah er die Scheinwerfer des Wagens am anderen Ende der Auffahrt und wusste, dass er richtig vermutet hatte. Ein Gast, der schon hier gewesen war - und zwar während der Saison, weil in dieser Zeit die kleine Hütte dort drüben als Büro benützt wurde. Dort waren das Telefon, die Geschäftsbücher und der alte Tresorschrank untergebracht, den sie in London gekauft hatten. Während der Wintermonate, solange sie nicht viele Gäste beherbergten, wurde das Geschäftliche meist im Restaurant abgewickelt.

Er schritt auf den Wagen zu, während die kalten Regentropfen ihm ins Gesicht peitschten. Er sah die Umrisse eines weiblichen Wesens vor dem Wagen und konnte auch erkennen, dass sich jemand hinter dem Fahrzeug bückte. Als er die Hälfte des Wegs zurückgelegt hatte, hörte er einen Kofferraumdeckel zuklappen, dann richtete sich die Gestalt eines Mannes auf. Er trug zwei Koffer.

»Kein schöner Abend, was?«, fragte Grigson.

»Leider nicht«, sagte der Mann. »Können Sie uns für eine Nacht unterbringen?«

»Gewiss«, sagte Grigson. Er griff nach einem der Koffer und ging voraus zu dem Gästehaus, das sie für solche Fälle offenhielten. Er blieb davor stehen, zog die Schlüssel aus der Tasche und sperrte auf. »Kommen Sie nur herein.«

Er folgte ihnen und schloss die Tür hinter sich.

Das kleine Gästehaus bestand aus einem großen Zimmer, das ein Doppelbett, einen Schrank, zwei bequeme Sessel, ein Radiogerät und ein kleines Wandbrett enthielt, auf dem eine Anzahl Romane mit bunten Schutzumschlägen standen. In einer Ecke gab es noch ein kleines Holzgestell. Grigson legte die Koffer darauf, drehte sich um und besichtigte seine Gäste.

Ein ganz normales Paar, dachte er.

Die Frau war groß, schlank und hübsch. Sie mochte Ende Zwanzig sein, besaß einen makellosen Teint, blaue Augen und regelmäßige Zähne. Sie schlüpfte aus ihrem Wollmantel, nahm ihr seidenes Kopftuch ab, und Grigson sah, dass sie blaue Ohrringe trug, die die Form einer winzigen Blume hatten. Sie schüttelte den Kopf, um ihr Haar zu lockern. Es war blond.

Auch der Mann hatte seinen Mantel ausgezogen. Er war hochgewachsen, aber für seinen Körperbau zu dick, weil er keine starken Knochen hatte. Wie die meisten Polizisten war Grigson von Natur aus ein guter Beobachter. Ganz automatisch pflegte er seine Gäste zu taxieren. Er dachte kaum mehr über sie nach, sobald sie abgereist waren, aber wenn man eine Beschreibung dieses Mannes von ihm verlangt hätte, wäre sie wohl so ausgefallen:

1,82 Meter groß, Gewicht zwischen neunzig und fünfundneunzig Kilogramm, gerade gewachsen, aber zu dick. Blondes Haar, blonder Schnurrbart, blaue Augen, Grübchen am Kinn, kleine, dreieckige Narbe rechts unterhalb der Unterlippe. Große fleischige Hände. Goldener Ring mit dunkelrotem Stein am linken Mittelfinger. Gut gekleidet, sogar teuer - dunkelblauer Anzug mit Nadelstreifen, teure, blankgeputzte Schuhe, teurer grauer Mantel mit Seidenfutter, Schweinslederhandschuhe. Fährt einen Jaguar und sieht aus wie ein Direktor. Ich würde ihn auf fünfunddreißig schätzen. Übermäßig laute Stimme. Macht den Eindruck eines Menschen, der ziemlich weit unten angefangen und einen schnellen Aufstieg erlebt hat.

Grigson richtete den Blick auf die Frau. Sie hatte ihre Handschuhe abgestreift und aufs Bett geworfen. Er sah ihren Ehering schimmern. Nachdem sie den Mantel abgelegt hatte, kam es Grigson vor, als sei sie bei weitem nicht so gut gekleidet wie ihr Mann. Das war natürlich noch kein Einwand. Er fand nur, dass ihr Mann einen etwas geschniegelten Eindruck machte, ganz im Gegenteil zu seiner Frau. Vielleicht hatte er trotz des Aufwands - Jaguar und teure Garderobe - vor der Polizei etwas zu verbergen. Man konnte nie wissen.

Der Mann wandte sich an ihn und sagte: »Ich gehe schnell hinüber und trage mich ein.«

Grigson nickte.

»Sehr wohl, Sir.« Er sah die Frau an. »Möchte Ihre Frau vielleicht etwas Heißes trinken?«

Der Mann drehte den Kopf.

»Möchtest du, Liebes?«

»Nein, ich glaube nicht, danke.«

Sie hatte eine warme, angenehme Stimme und lächelte Grigson an.

»Wir haben unterwegs gegessen.«

Grigson ging zur Tür. Er sah, dass der Mann seinen Mantel zugeknöpft hatte und ihm folgte. Grigson öffnete die Tür und trat hinaus. Der Regen sprühte ihm ins Gesicht.

»Sieht so aus, als hätten wir eine stürmische Nacht vor uns, Sir«, meinte er. Er ging voraus zum Restaurant. Dahinter befand sich seine eigene Zweizimmerwohnung.

Er öffnete die Tür, ließ seinen Gast eintreten und stapfte zu dem Regal, auf dem das Buch lag. Er trug es zum Tisch und zog seinen Füllfederhalter aus der Tasche. Die fleischigen, weißen Finger drehten den Federhalter ein paarmal, bevor sie zu schreiben begannen.

Als der Mann sich eingetragen hatte, drehte Grigson das Buch herum und studierte die dicken, runden Schriftzüge: Mr. George Lower und Frau - 187 Dieterman Lane, London S. W. 5.

»Vielen Dank, Mr. Lower«, sagte er. »Sie haben Nummer 6. Da ist der Schlüssel.« Er überreichte den Schlüssel mit seinem kleinen Plastikring. »Das macht bitte zwei Pfund, Sir.«

Gower zog eine dicke Lederbrieftasche, entnahm ihr zwei neue Scheine und legte sie auf den Tisch.

»Wir möchten auch gerne frühstücken, wenn es geht.«

»Das ist schon eingeschlossen, Sir«, erwiderte Grigson. »Was möchten Sie gerne?«

Gower zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Ich glaube, nur Tee. Ich spreche noch mit meiner Frau. Wenn wir etwas wollen, sagen wir es Ihnen morgen früh, wenn Sie den Tee bringen.«

»Um acht Uhr, Sir?«

»Das ist ein bisschen spät für uns«, meinte Gower nachdenklich. »Wir müssen ziemlich weit fahren und wollten früh unterwegs sein.« Er ging mit kurzen Schritten rückwärts zur Tür. »Gute Nacht, Mr...«

»Grigson, Sir.«

»Natürlich.«

»Sie waren schon einmal hier?«, fragte Grigson.

Gower schüttelte den Kopf. Er sagte zögernd: »Ich glaube nicht, aber ich - wir übernachten oft in Hotels und kommen ein- oder zweimal im Jahr hier vorbei, manchmal sogar öfter, meistens erst spät abends, so dass man sich gar nicht mehr richtig umsieht. - Gute Nacht!«

»Gute Nacht«, sagte Grigson und begleitete ihn hinaus.

Als er zurückkam, trug Lil gerade ein Tablett mit Tee, Bohnen und Toast herein. Lil war sehr klein, blass und dunkelhaarig. Trotz ihrer geringen Körpergröße - sie reichte nicht einmal bis zu Grigsons Schulter - war sie zäh, ausdauernd und fleißig. Sie setzte das Tablett ab und sagte: »Ist da nicht jemand gekommen, Frank?«

Grigson nickte.

»Ein Mr. Gower und Frau aus London. Earls Court, die Gegend.«

»Wie sind sie denn?«

»Er ist Mitte Dreißig, sie ungefähr Ende Zwanzig und sehr hübsch. Er sieht wie ein Direktor aus. Sehr gut angezogen, dicke Brieftasche. Fährt einen Jaguar. Er war schon einmal hier, glaube ich.«

»Wann?«

»Weiß nicht mehr. Ich hab’ ihn gefragt, aber er kann sich nicht mehr erinnern.« Er griff nach dem Toast. »Spielt ja wohl keine Rolle.«

Lil stand auf, um die Katze hinauszulassen, dann machte sie die Betten zurecht. Gewöhnlich waren sie um diese Jahreszeit vor elf schon im Bett, und auch diesmal schafften sie es knapp. Grigson las gerne im Bett, oft ziemlich lange. Auch an diesem Abend.

Es war fast ein Uhr, als er seinen Kriminalroman zu Ende gelesen hatte und das Licht ausknipste.

 

Am Morgen, als er wach wurde, war Lil schon auf und rumorte in der Küche herum. Er hörte sie mit dem Tablett hereinkommen und blinzelte sie im hellen Licht an.

»Aufstehen, Sergeant!«, sagte sie.

Grigson schmunzelte und meinte: »Die wollen ihren Tee früh, weil sie bald weg müssen.«

»Ich hab’ ihn schon hinübergebracht«, erwiderte sie. »Sie waren schon angezogen. Mr. Gower kam gerade heraus, um nach dem Wagen zu sehen oder um etwas zu holen.« Sie hob die Hand und lauschte. »Da fahren sie.«

Grigson hörte das Auto davonbrummen. Nach ein paar Sekunden wurde es wieder still. Er trank seinen Tee und stand auf.

Nach dem Frühstück ging er zum Gästehaus und machte sauber, zog das Bett ab und brachte die Laken und Kissenbezüge mit. Als er sie zusammenfaltete, fiel etwas auf den Boden. Er bückte sich und hob es auf.

Es war ein einzelner blauer Ohrring in der Form einer kleinen Blume.

Lil war hereingekommen, während er ihn betrachtete.

»Der ist aber hübsch«, meinte sie.

»Nicht wahr? Mrs. Gower hat ihn verloren. Gestern Abend trug sie ihn noch. Komisch, dass er ihr heute früh nicht gefehlt hat.«

»Vielleicht hat sie ihn nur nicht gefunden.«

Lil nahm den Ohrring in die Hand.

»Wirklich ein schönes Stück.« Sie betrachtete die Rückseite. »Echt Gold, Frank. Da ist etwas eingraviert... Ja. Da steht Eve. Man kann es ganz deutlich lesen.«

Grigson setzte seine Brille auf.

»Stimmt. Vielleicht kommen sie noch einmal zurück.«

Aber sie kamen nicht zurück. Zwei oder drei Tage später legte Grigson den Ohrring in eine kleine Schachtel, schrieb eine Notiz dazu, dass er beigefügten Ohrring gefunden hatte, nachdem sie abgereist waren. Das Päckchen gab er zur Post.

Etwa eine Woche später kam es zurück, mit dem Vermerk: Empfänger und Adresse unbekannt.

Grigson kratzte sich am Kinn und sagte zu Lil, das sei eigentlich komisch. In Wirklichkeit kam es ihm gar nicht so komisch vor. Man lernte in dieser Branche alle möglichen Leute kennen. Er legte Schachtel und Ohrring in eine Schublade und vergaß das Ganze.

  ERSTER TEIL

 

 

 

Erstes Kapitel 

 

 

Es war ein Jahr später, ein Montagabend Anfang April, aber doch noch sehr kalt. Ein eisiger Wind fegte durch die Straßen. Den ganzen Tag über drohte ein regenverhangener Himmel. Jetzt, um fünf Uhr, begann es zu regnen. Der Abendhimmel war schwarz und düster.

Arthur Smith fröstelte ein wenig in seinem leichten Regenmantel. Als er ihn vor zwei Jahren gekauft hatte, war er zuerst auch in einen teureren geschlüpft, einen Mantel mit Wollfutter, und er hätte ihn sehr gerne gekauft, aber der Preisunterschied hatte zwei Pfund zehn Shilling ausgemacht, und das war damals viel Geld gewesen.

Es war immer noch viel Geld. Er dachte an die unbezahlten Rechnungen in seinem Schreibtisch. Wenn man verheiratet war, Kinder hatte und ein Haus, verging kaum ein Tag, der keine Rechnungen brachte. Er schob diese Gedanken beiseite, weil man mit diesen Dingen einfach nicht mehr fertig wurde, wenn man sich zu sehr damit einließ. Auf seinem Schreibtisch lagen immer Rechnungen. Sie wurden nie weniger. Wenn man eine bezahlte, kamen zwei. Kaum hatte man die Beträge überwiesen, traf eine Rechnung ein, die den Großteil eines Monatsgehalts verschlang. Er fröstelte wieder und schob die Hände tief in die Taschen.

Bei solchem Wetter brauchte man Handschuhe, aber er wusste nicht, wo er sie hingetan hatte. Normalerweise steckte er sie in die Tasche seines Regenmantels, aber seit ein oder zwei Tagen fehlten sie. Er wusste auch nicht mehr genau, seit welchem Tag. Er wusste nur, dass er sie nicht mehr fand. In der Schule waren sie auch nicht. Vielleicht hatte er sie irgendwo im Haus verlegt. Aber dann war es ein Wunder, dass Penny sie nicht entdeckt hatte. Penny entging kaum etwas.

Er bog um die Ecke und ging auf das Haus zu. Nummer 16, Dale Crescent, keine schlechte Gegend, fast ein Boulevard, denn vor der Reihe hübscher, sauberer Häuschen erstreckten sich eine lange Rasenfläche und eine Hecke. Alles wohlgepflegt und auch dafür wurden Rechnungen ausgestellt.

Smith wagte gar nicht daran zu denken. Er gärtnerte selbst gerne, und es hätte ihm nichts ausgemacht, am Boulevard ein bisschen zu arbeiten, aber Penny meinte, das schicke sich nicht. Wenn man hier wohnte, kam dergleichen nicht in Frage. Man bezahlte andere Leute dafür.

Auch das stimmte. Die Nachbarn in der Umgebung waren alle gutsituiert: Ollroyd, der das Möbelgeschäft in der High Street besaß; Miller, der Lebensmittelhändler; Derry, von Beruf Bauingenieur; Clayter, der als Verkaufsleiter in der Farbenfabrik Danby arbeitete.

Manchmal fand Smith, es sei ein Fehler gewesen, in diese Gegend zu ziehen, aber Penny hatte sich von Anfang an dafür eingesetzt. Das Haus hatte zum Verkauf gestanden, als sie heiraten wollten. Es hatte einem alten Mann gehört, der zur Einsiedelei neigte und es immer mehr herunterkommen ließ. Als er gestorben war, hatte sein Erbe, der in Südafrika lebte, das Haus schnell loswerden wollen.

Penny hatte in der Anwaltskanzlei Quennell & Quinn gearbeitet, die mit der Abwicklung der Erbschaft befasst war, und hatte Smith eines Abends mit der verblüffenden Mitteilung überrascht, dass sie ein Haus bekommen könne, wenn sie es riskieren wollten.

»Wo?« hatte Smith gefragt.

»Dale Crescent, Arthur. Das Haus vom alten Prosser.«

Arthur hatte sein Erstaunen nicht verbergen können.

»Dale Crescent? Aber das geht doch weit über unsere Verhältnisse, Penny. Ich meine - die Leute, die dort wohnen, sind doch alle wohlhabend, Geschäftsleute wie die Dressers oder die Millers oder Mr. Derry. Wir könnten doch niemals...«

»Ich habe mit Mr. Quinn darüber gesprochen, Arthur«, hatte sie ihm entgegengehalten. »Der alte Prosser war seit den zwanziger Jahren im Haus und immer allein, seit seine Frau gestorben ist. Das war während des Krieges. Während all dieser Jahre hatte er am Haus überhaupt nichts reparieren lassen. Mr. Quinn meint, es dauert Wochen, bis man es in Ordnung hat - und an den Garten muss man ja auch denken. Die reinste Wildnis. - Mr. Prosser hat es einem Neffen in Südafrika hinterlassen«, hatte sie erzählt, »und dieser Mr. Pelling möchte es so schnell wie möglich verkaufen. Mr. Quinn hat ihm geschrieben, dass er viel Geld verliert, wenn er das Haus nicht in Ordnung bringen lässt, bevor er es zum Verkauf anbietet, aber er hat einfach kein Interesse daran. Er verlangt nur viertausendfünfhundert Pfund.« Sie hatte den Kopf gehoben und Smith angesehen. »Arthur, wo bekommen wir uni diesen Preis sonst ein Haus? Ein Haus, wie wir es uns vorstellen? Mr. Quinn meint jedenfalls, es sei die Chance für uns, wenn wir Interesse hätten. Er will uns bis zum Wochenende Zeit lassen.«

Sie hatte sich schon entschlossen gehabt. Am selben Abend waren sie hingefahren, um es sich anzusehen. Es hatte keinen guten Eindruck gemacht. Grau und trostlos, abblätternder Putz, brüchige Schornsteine und zerbrochene Fensterscheiben.

Smith war entsetzt gewesen, aber Penny verstand es, sich durchzusetzen. Sie hatte auch einen Blick dafür, was getan werden musste, und setzte ihm mit ihrer lebhaften, am Praktischen orientierten Art auseinander, wie das zu bewerkstelligen sei. Am Ende gab er ihr recht. Zumal an diesem Abend, als sie gesagt hatte: »So steht’s, Liebling. Du hast es gesehen, und ich gebe zu, dass es nicht im besten Zustand ist, aber stell dir vor, was wir damit anfangen könnten! Und selbst, wenn wir es nicht immer behalten, ist es für viertausendfünfhundert Pfund geschenkt. Wir könnten uns eine Hypothek besorgen, das Haus kaufen und es herrichten. Selbst wenn es für uns zu teuer ist, können wir es hinterher immer noch verkaufen und dadurch eine hübsche Summe verdienen. Das gelingt uns sonst nie. Die Gelegenheit ist einfach großartig. Sag ja, Arthur!«

Sie hatte die Arme um ihn geschlungen.

Mit diesem Ausdruck in den Augen hätte Smith erklärt, er kaufe ihr den Buckingham Palace. Er hatte sie geküsst.

»Ich spreche morgen mit dem alten Wetherby.«

»Liebling«, hatte sie gesagt und ihn noch fester an sich gedrückt.

Der alte Wetherby war Mr. Samuel Wetherby, Geschäftsführer bei Cheals Bank, Zweigstelle Welldale, wo er damals beschäftigt gewesen war. Wetherby hatte sich das Ganze überlegt und schließlich auch seine Meinung verkündet, das Haus sei ein guter Kauf, aber für einen jungen Bankangestellten von fünfundzwanzig Jahren wohl im Unterhalt zu teuer. Wenn Smith jedoch den Kauf tätigen wolle, um das Haus instand zu setzen und dann wieder zu verkaufen, könne das allerhand Gewinn bringen.

Sie hatten sofort unterschrieben. Das Haus gehörte ihnen.

Das war vor elf Jahren gewesen - und sie wohnten immer noch dort. Sie hatten bienenfleißig daran gearbeitet, und Smith war der Meinung gewesen, es in ein bis zwei Jahren wieder verkaufen zu können.

Aber am Ende des zweiten Jahres war Pat zur Welt gekommen, und Penny hatte es sich inzwischen anders überlegt.

»Wir haben es hier doch so bequem, Liebling«, hatte sie gesagt. »Ich kann mir gar kein schöneres Haus vorstellen, um Kinder großzuziehen. Außerdem wär’ es furchtbar schade, wenn wir jetzt verkaufen, nachdem es endlich in Ordnung ist. Bleiben wir doch noch ein Jahr, damit wir von der vielen Arbeit etwas haben. Verkaufen können wir es immer noch, das weißt du.«

Das stimmte natürlich. Es war wie Geld auf der Bank.

Sie blieben. Aus dem einen Jahr wurden zwei. Nach Jills Geburt wurde vom Verkauf des Hauses nicht mehr gesprochen.

Der Unterhalt verschlang natürlich viel Geld, aber Penny erwies sich als tüchtige Haushälterin. Sie konnte einen Finanzplan aufstellen und ihn einhalten, auch wenn das schwerfiel. Nach fünf Jahren war Arthur bei der Bank ausgeschieden. Mit der Beförderung ging es langsam voran, und Penny hatte eine bessere Idee gehabt. Die Grundschule Welldale suchte Lehrer, und Arthur hatte, bevor er in die Bank eingetreten war, die Reifeprüfung abgelegt. Überdies hatte er ein Jahr lang die Lehrerbildungsanstalt besucht, bevor er sich anders entschloss und Bankkaufmann wurde. Warum sollte er jetzt nicht Lehrer werden? Das brachte zweihundert Pfund im Jahr Mehreinnahmen, vielleicht sogar zusätzliche Beträge, weil die Zeit reichen würde, am Abend Nachhilfestunden zu geben.

Sie hatten alles bedacht und besprochen, dann wagte er den großen Schritt. Aber trotz ihrer Planungen kostete das Leben immer mehr, als sie einnahmen.

Sie hätten natürlich das Haus verkaufen können, aber warum sollten sie das tun? Das fragte Penny immer wieder. Schließlich war das ihr einziger Besitz. Das einzig Lohnende. Sie besaßen keine Garderobe, sie konnten ihre Kinder nicht auf teure Privatschulen schicken, sie hatten kein Auto, sie konnten sich keine Ferien im Ausland leisten. Aber sie hatten für sich und die Kinder ein schönes Heim.

Smith war derselben Meinung. Früher oder später stimmte er stets mit Penny überein. Vielleicht nicht immer gleich zu Anfang, weil er nicht zu den Menschen gehörte, die in irgendeiner Form nachgiebig gegen sich selbst sind, aber Penny hatte eine wunderbare Art, ihre Meinung auszudrücken, so dass er ihr am Ende meistens recht gab. Natürlich nicht immer. Wie viele junge Ehepaare hatten auch sie Differenzen, aber wenn sie auftraten, waren sie schnell beigelegt. Es kam zu ein paar heftigen Worten, man bockte ein wenig, aber bis Arthur gegen fünf Uhr von der Schule zurückkam, hatte er das alles längst wieder vergessen.

So waren die Jahre vergangen, elf insgesamt, und Penny war jetzt zweiunddreißig. Sie hatten natürlich Höhen und Tiefen erlebt, und das Geld blieb immer knapp. Das würde sich auch in Zukunft nicht ändern. Arthur Smith gehörte nicht zu den Leuten, die im Leben reich werden können.

Penny hatte ihm das oft genug erklärt. Wehmütig pflegte er zuzustimmen.

»Irgendwie hab’ ich nie Glück gehabt - beim Geld, versteht sich. Dafür umso mehr in anderer Beziehung, Penny. Ich meine dich und die Mädchen.«

Jetzt war es aber nicht mehr ganz so schlimm, weil Penny wieder zur Arbeit ging. Vor vier Jahren war sie zu Quennell & Quinn zurückgekehrt; der alte Mr. Quinn nahm sie mit Freuden auf. Sie war gleichermaßen dekorativ und tüditig. Vier Tage in der Woche kam sie in die Kanzlei, und sie hatte mit ihm vereinbart, dass sie den freien Tag immer dann nehmen konnte, wenn die Hausarbeit zu viel wurde. Das passte Mr. Quinn sehr gut. In der Anwaltskanzlei herrschte selten eine hektische Atmosphäre, und er war durchaus bereit, sich ihr in dieser Beziehung anzupassen.

So stand es am Montagabend, dem ersten April.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Der Wagen rollte langsam heran, Clayter trat vor der Nummer 16 sanft auf die Fußbremse und hielt am Eingang zum Haus Nr. 18. Er blieb einen Augenblick sitzen und sammelte die Kleinigkeiten ein, die er mit nach Hause gebracht hatte. Ingwer, eine Dose Gänseleberpastete, die er auf Wunsch seiner Frau besorgt hatte, und eine Kiste Zigarren aus dem Büro. Er stieg aus, schloss den Wagen ab und ging zum Haus. Auf halbem Weg sah er mit einem Blick zur Seite die schmale, unscheinbare Gestalt von Arthur Smith.

»’n Abend, Smith«, sagte er.

Smith hob den Kopf.

»Guten Abend, Mr. Clayter. Ein bisschen früh heute Abend?«

Clayter seufzte.

»Ich liefere nur die Sachen da ab. Leider muss ich meistens gleich wieder fort. Ich beneide Sie oft um Ihren freien Abend, Smith. Sie wissen nicht, was es heißt, Abend für Abend in der Tretmühle zu stehen.«

»Das ist sicher recht ermüdend.«

»Scheußlich«, sagte Clayter und zog seinen Schlüssel aus der Tasche. Er sperrte auf und blieb einen Augenblick in der Diele stehen. »Hallo, hallo! Niemand zu Hause?«

Milly tauchte als erste auf. Sie war zwölf, groß und langbeinig, blond wie ihre Mutter, blond wie Clayter selbst. Eines Tages würde sie zu einer Schönheit erblühen, aber jetzt war sie noch ungelenk und wusste das nur allzu genau. Sie lächelte ihn an und sagte: »Hallo, Daddy. Mammie ist oben.«

Mammie kam die Treppe herunter.

Clayter hielt seiner Tochter die mitgebrachten Sachen hin und sagte: »Nimm das, Milly.«

Dann ging er zur Treppe und küsste Judith.

»Überrascht?«