Geliebte Esther - Anne Alexander - E-Book

Geliebte Esther E-Book

Anne Alexander

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Was malst du denn da, Pünktchen?« fragte die kleine Heidi Holsten, das jüngste der Dauerkinder von Sophienlust. Neugierig blickte sie der dreizehnjährigen Angelina Dommin über die Schultern. »Das wird eine Geburtstagskarte«, erklärte Pünktchen. Sorgfältig zeichnete sie eine grüne Ranke. »Wer hat denn Geburtstag?« In Gedanken sah Heidi bereits Unmengen von Süßigkeiten und ganze Kuchenberge, durch die sie sich hindurchessen mußte. »Esther Wilke, ein Mädchen, das vor einigen Jahren bei uns gelebt hat. Sie war damals so alt wie du jetzt.« Pünktchen ließ den Buntstift sinken. »Alle Kinder haben Esther gern gehabt.« »So wie mich«, meinte Heidi selbstgefällig und steckte die Hände in die Taschen ihrer Jeans. »Ja, so wie dich«, bestätigte Pünktchen und klappte die Buntstiftschachtel zu. Esther und Angelina waren befreundet gewesen. Es tat ihr leid, daß sie sich eigentlich nur zu den Geburtstagen schrieben. Vielleicht konnte man Esther mal nach Sophienlust einladen. Ja, das war eigentlich ein guter Gedanke.

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Sophienlust – 379 –

Geliebte Esther

Wir geben dich nicht mehr her!

Anne Alexander

»Was malst du denn da, Pünktchen?« fragte die kleine Heidi Holsten, das jüngste der Dauerkinder von Sophienlust. Neugierig blickte sie der dreizehnjährigen Angelina Dommin über die Schultern.

»Das wird eine Geburtstagskarte«, erklärte Pünktchen. Sorgfältig zeichnete sie eine grüne Ranke.

»Wer hat denn Geburtstag?« In Gedanken sah Heidi bereits Unmengen von Süßigkeiten und ganze Kuchenberge, durch die sie sich hindurchessen mußte.

»Esther Wilke, ein Mädchen, das vor einigen Jahren bei uns gelebt hat. Sie war damals so alt wie du jetzt.« Pünktchen ließ den Buntstift sinken. »Alle Kinder haben Esther gern gehabt.«

»So wie mich«, meinte Heidi selbstgefällig und steckte die Hände in die Taschen ihrer Jeans.

»Ja, so wie dich«, bestätigte Pünktchen und klappte die Buntstiftschachtel zu. Esther und Angelina waren befreundet gewesen. Es tat ihr leid, daß sie sich eigentlich nur zu den Geburtstagen schrieben. Vielleicht konnte man Esther mal nach Sophienlust einladen. Ja, das war eigentlich ein guter Gedanke.

Pünktchen nahm die Karte und ging zum Empfangszimmer. Frau Rennert telefonierte gerade. Geduldig wartete das Mädchen, bis die Heimleiterin aufgelegt hatte.

»Na, wo drückt der Schuh, Pünktchen?« fragte Else Rennert.

»Esther Wilke hat in einer Woche Geburtstag, und da habe ich mir gedacht, daß wir sie doch über die Pfingstferien nach Sophienlust einladen könnten«, begann das Kind. »Ich würde Esther sehr gern wiedersehen.«

»Warum nicht?« Die Heimleiterin stand auf und ging an den Schrank, in dem die Karteikarten mit den Daten der Kinder standen, die Sophienlust verlassen hatten. Es dauerte nur einige Minuten, dann hatte sie Esthers Karte gefunden. »Am besten, ich rufe die Dycks an und frage, was sie davon halten«, schlug Else Rennert vor.

»Danke, Tante Ma.« Pünktchen strahlte.

»Kleinigkeiten werden sofort erledigt«, meinte die Heimleiterin lachend.

Die Tür öffnete sich und Denise von Schoenecker, eine aparte, dunkelhaarige Frau, trat in das Empfangszimmer. »Guten Morgen«, grüßte sie gutgelaunt und legte ihre Tasche in einen Sessel. »Pünktchen, ich soll dir von Nick ausrichten, daß er den ganzen Vormittag in Waldi & Co. sein wird. Mein Schwiegersohn hat gestern abend von einem Bauern zwei total vernachlässigte Ponys bekommen. Nick will sich ein bißchen um sie kümmern.«

»Ich werde ihm helfen«, bot Pünktchen sich spontan an.

»Wegen der Ponys?«, scherzte Else Rennert und zwinkerte Denise zu. Sie alle kannten Angelinas Schwäche für Nick.

Wie erwartet, errötete die Dreizehnjährige. »Ich muß mich beeilen, sonst denkt er, ich würde nicht kommen.« Pünktchen ging zur Tür. »Wiedersehen.« Bevor ihr die beiden Frauen antworten konnten, stand sie schon in der Halle und schloß die Tür hinter sich.

»Ich kann es einfach nicht lassen, sie wegen Nick aufzuziehen«, gestand Frau Rennert etwas schuldbewußt.

»Pünktchen hat es ganz gern, sie nimmt es nicht übel«, erwiderte Denise. Sie griff nach der Karte, die Angelina auf dem Schreibtisch der Heimleiterin liegengelassen hatte.

»Pünktchen hat sie für Esther Wilke gemalt und mich gebeten, das Mädchen einzuladen. Ich habe zugesagt«, erklärte Else Rennert. »Es ist Ihnen doch recht, Frau von Schoenecker?«

»Natürlich, für einen Gast haben wir immer Platz.« Denise nahm die Karteikarte entgegen, die ihr die Heimleiterin reichte. »Es ist schon sechs Jahre her, aber ich kann mich noch gut an Esther erinnern«, sagte sie. »Schon mit ihren damals fünf Jahren war sie eine ausgeprägte kleine Persönlichkeit. Die Dycks wollten ja eigentlich ein Mädchen mit hellblonden Löckchen und blauen Augen, aber Esther gelang es innerhalb von Minuten, ihr Herz zu gewinnen.«

»Kein Wunder bei ihrem sonnigen Wesen«, meinte Frau Rennert. »Und dabei hatte sie damals bereits einiges mitgemacht.« Die Frau griff zum Telefonhörer, um Esthers Pflegeeltern anzurufen.

*

»Nein! Nein! Nein!« Jens Rippel stampfte so heftig mit dem Fuß auf, daß Kater Felix erschrocken unter den Eßzimmertisch floh.

»Jens, sei brav!« Brigitte Timm, eine junge Studentin, die den Dreijährigen ab und zu betreute, umfaßte ihn in der Taille und trug den Jungen zum Tisch zurück. »Du wirst jetzt brav essen!« befahl sie. »Oder möchtest du, daß ich böse werde?«

Jens blickte sie aus seinen blauen Augen treuherzig an. »Du darfst mich nicht hauen«, entgegnete er. »Wenn du mich haust, sage ich es meiner Mami, und die haut dann dich.«

Kleiner Satansbraten, dachte Brigitte. Manchmal hätte sie dem verwöhnten, kleinen Jungen ordentlich den Hosenboden versohlt, aber sie wußte genau, daß er recht hatte. Selbst mit ihm schimpfen, war gefährlich. Mehr als einmal hatte ihr Marita Rippel sehr deutlich zu verstehen gegeben, daß sie Jens zu hart behandelte.

»Komm, sei lieb, iß dein Brot auf«, bat sie. »Deine Mama kommt bald nach Hause, und du weißt, sie möchte, daß du dann schon gegessen hast.«

»Ich will nicht!« Jens rutschte vom Stuhl und rannte durch das Eßzimmer. »Ich bin eine Bahn!« schrie er. »Tut...tut...tut...!« Einem Wirbelwind gleich sauste er in den Korridor.

Brigitte holte das Kind vor der Wohnungstür ein. Diesmal faßte sie Jens ziemlich unsanft an. Erst zappelte er nur mit den Armen und Beinen, dann begann er durchdringend zu schreien.

Draußen drehte sich ein Schlüssel im Schloß, die Tür wurde aufgestoßen. »Was ist denn hier los?« Marita Rippel stellte ihre Tasche auf den Boden.

»Mami...Mami!« Jens rutschte unter Brigittes Arm hindurch und stürzte sich auf seine Mutter. »Die Gitti ist so böse!«

Dicke Tränen kullerten aus seinen Augen.

Die Frau blickte empört auf. »Haben Sie ihn etwa geschlagen, Fräulein Timm?« fragte sie schneidend. Mit einer gereizten Handbewegung strich sie ihre braunen Haare zurück.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Brigitte.

»Sie ist so böse«, wiederholte der Kleine und schmiegte sich an seine Mutter.

»Ich wollte nur, daß der sein Abendbrot ißt«, verteidigte sich Brigitte. »Er ist immer wieder aufgestanden. Nicht einmal die Banane hat er angerührt.«

»Bist du gar nicht hungrig, Liebling?« Marita küßte Jens auf die rundlichen Wangen.

»Doch!« Der Junge strahlte sie an. »Jetzt esse ich«, erklärte er. »Ich bin so brav.«

»Sehen Sie, mit ein bißchen Liebe und Verständnis kann man bei einem Kind sehr viel erreichen. Eigentlich sollten Sie das wissen, Fräulein Timm, schließlich studieren Sie ja Psychologie.« Marita Rippel brachte ihren Sohn ins Eßzimmer, setzte ihn auf sein Stühlchen und sah zufrieden zu, wie Jens sofort nach der Banane griff.

Brigitte kochte innerlich vor Wut, dennoch beherrschte sie sich. Sie war auf das Geld angewiesen, das sie mit dem Babysitten verdiente. Zum Glück waren nicht alle Kinder so verwöhnt wie Jens Rippel, der von seinen Eltern wie ein kleines Weltwunder behandelt wurde.

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich nicht für Jens eine andere Hilfe engagieren soll«, fuhr Marita fort und sah die Studentin an. »Wenn Sie sich nicht in Zukunft ein bißchen mehr Mühe geben, müssen wir uns trennen, Fräulein Timm. Und weiterempfehlen kann ich Sie sicher nicht.«

Jetzt reichte es dem jungen Mädchen doch. Es griff nach seiner Handtasche, die Jens im Laufe des Nachmittags herumgeworfen hatte. »Wir trennen uns auf jeden Fall, Frau Rippel«, erklärte sie wütend. »Denken Sie, ich habe noch länger Lust, mir von Ihnen und Ihrem Sohn auf der Nase herumtrampeln zu lassen? Ich bekomme für den heutigen Tag fünfzehn Euro. Wenn Sie mich gleich bezahlen könnten, ich habe es eilig.« Sie streckte die Hand aus.

»Fräulein Timm, wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen?« fragte Marita betroffen. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß Brigitte von sich aus kündigen könnte.

»Nein!«

»Gitti ganz böse«, sagte Jens. »Ganz, ganz böse.«

»Halt den Mund!« fuhr ihn Marita ungeduldig an. »Fräulein Timm, ich meine,wir könnten uns zusammensetzen und gemeinsam versuchen, eine Lösung zu finden.«

»Es war das letzte Mal, daß ich auf Jens aufgepaßt habe«, beharrte die junge Studentin. »Es gibt noch mehr Eltern, die Babysitter brauchen.« Spöttisch fügte sie hinzu: »Eine Empfehlung von Ihnen brauche ich nicht.«

Widerwillig bezahlte Marita die

fünfzehn Euro. »Wenn Sie es sich noch einmal überlegen, könnte ich den Stundenlohn auch hinaufsetzen«, lockte die Hausherrin, als sie Brigitte, ganz gegen ihre Gewohnheit, zur Tür brachte.

»Nein, Frau Rippel.« Die Studentin umfaßte den Henkel ihrer Tasche

fester. »Leben Sie wohl.« Eilig verließ sie die Wohnung.

Marita blieb noch einen Augenblick vor der offenen Tür stehen. Sie hoffte, daß es sich die junge Frau doch noch überlegen würde, aber als unten die Haustür ins Schloß fiel, wußte sie, es war sinnlos. Resignierend seufzte sie auf.

»Mami...Mami!« tönte es aus dem Eßzimmer.

»Ich komme schon, Liebling!« Marita schloß die Wohnungstür, kehrte zu ihrem kleinen Sohn zurück und setzte sich zu ihm an den Tisch. »Schmeckt es dir?« fragte sie und strich zärtlich über seine blonden Locken.

»Mhm«, machte Jens mit vollem Mund.

»Du siehst aus wie ein kleines Engelchen«, sagte Marita. »Ich begreife einfach nicht, warum es so schwer sein soll, auf dich zu achten.« Ihrer Meinung nach mußte jedem das Herz schmelzen, wenn er ihren Sohn sah.

Als Achim Rippel nach Hause kam, lag Jens schon längst im Bett. Leise öffnete der junge Mann die Tür des Kinderzimmers und blickte hinein. Die ruhigen Atemzüge des Kindes erfüllten den liebevoll eingerichteten Raum. Leise schloß der Vater die Tür wieder.

»Ich müßte einfach mehr Zeit für unseren Kleinen haben«, meinte Achim, als er mit seiner Frau beim Abendessen saß. Er war zweiunddreißig, vier Jahre älter als Marita. Wie Jens hatte er blonde Haare und blaue Augen. »Meist sehe ich das Kind nur beim Mittagessen. Na ja, vielleicht wird es in ein, zwei Jahren besser. Sobald wir den Umbau hinter uns haben und das Geschäft läuft, wird sich alles ändern.«

»Aber bis dahin heißt es noch arbeiten, arbeiten und arbeiten«, sagte seine Frau und seufzte. »Manchmal glaube ich, daß es über meine Kräfte geht, vormittags den Haushalt zu versorgen und nachmittags im Geschäft zu stehen.«

»Du wirst es schon schaffen«, erklärte Achim zuversichtlich. Seine blauen Augen blitzten. »Du wirst sehen, wenn wir das Gröbste hinter uns haben, wirst du stolz auf unsere Leistung sein. Es wird einem nichts geschenkt.«

Leider, dachte Marita. Sie war nicht so ehrgeizig wie ihr Mann. Ihr hätte das kleine Lebensmittelgeschäft gereicht, das sie kurz nach ihrer Hochzeit von Achims Eltern übernommen hatten. Aber ihr Mann wollte hoch hinaus. Sie war überzeugt, daß er nie mit dem Erreichten zufrieden sein würde. Wie gerne wäre sie einmal in den Urlaub gefahren. Sie wollte das Leben genießen, doch Achim dachte anders.

»Du solltest mit diesem Fräulein Timm sprechen und sie bitten, auch abends auf Jens zu achten. Ab nächster Woche werde ich dich fast jeden Abend im Geschäft brauchen. Je weniger wir uns auf andere Leute verlassen, um so mehr sparen wir. Außerdem wissen wir dann, daß es richtig gemacht wird.« Achim hielt Marita seine Tasse entgegen, damit sie ihm Tee nachschenkte.

»Fräulein Timm hat gekündigt.«

»Warum denn das?« Achim runzelte die Stirn.

»Sie kommt nicht mit Jens zurecht. Als ich ihr Vorwürfe machte, hat sie die Arbeit einfach hingeschmissen.« Marita zuckte mit den Schultern. »Jens braucht jemanden, der auf ihn eingeht, und Fräulein Timm versteht nicht das geringste von Kleinkindern. Wahrscheinlich hat sie ihn sich selbst überlassen und in ihren Büchern gelesen.«

»Das ist innerhalb von vier Monaten bereits der fünfte Babysitter«, bemerkte der Geschäftsmann ärgerlich. »Vielleicht behandelst du diese Frauen zu hart. Du solltest ihnen keine Vorwürfe machen. Am besten, du rufst morgen früh gleich wieder den Babysitterdienst an. Wie ist denn das mit dieser Oma Holzer? Sie ist doch immer eingesprungen, wenn Fräulein Timm keine Zeit hatte. Womöglich kann sie aushelfen.«

»Sie zieht zu ihrer Tochter.«

Achim biß in ein Schinkenbrot. »Das beste wäre natürlich, jemanden einzustellen, der halbtags den Haushalt versorgt, aber das können wir uns nicht leisten. Denk nur an die hohen Gehälter, die jetzt verlangt werden.«

»Ich könnte zu Hause bleiben«, schlug Marita vor. »Du müßtest eben noch eine Halbtagskraft für das Geschäft einstellen.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Das käme auf dasselbe heraus. Wir müssen mit jedem Pfennig rechnen. Denke daran, was wir erreichen wollen.« Er nahm einen Schluck Tee. »Sag mal, wie alt ist deine Esther jetzt eigentlich?«

Marita verschluckte sich beinahe. Sie legte ihr angebissenes Brot auf den Teller zurück. »Elf oder zwölf«, erwiderte sie widerwillig. »Warum willst du das wissen?«

»Wir könnten sie zu uns nehmen«, erwiderte Achim ruhig. »Ein Esser mehr macht uns nicht arm, aber wir hätten jemanden, der nachmittags auf Jens achten kann, zudem hättest du noch eine Hilfe im Haushalt.«

»Nein!« Marita streckte ihr Kinn vor.

»Und warum nicht?« Achim langte über den Tisch nach ihrer Hand. »Immerhin ist Esther deine Tochter.«

»Ich habe sie nur drei- oder viermal gesehen«, entgegnete Marita. »Du weißt doch, daß ich sie gleich nach ihrer Geburt ins Heim gab. Soviel ich weiß, lebt sie bei irgendeiner Pflegefamilie.«

»Du hast niemals auf sie verzichtet!«

»Schließlich ist sie meine Tochter. Es gehört sich nicht, auf sein eigenes Kind zu verzichten, auch wenn der Vater einen im Stich gelassen hat.«

»Ich wollte dir keine Vorwürfe machen, Marita«, sagte Achim überlegend. »Ich meine nur, du kannst nach wie vor bestimmen, wo dein Kind leben soll. Niemand kann etwas dagegen einwenden, wenn wir sie zu uns nehmen wollen.«

»Versteh doch, Achim, ich will sie nicht haben«, erwiderte Marita Rippel. »Wer weiß, wie sie sich entwickelt hat. Vielleicht ist sie wie ihr Vater.« Haß verzerrte sekundenlang ihr Gesicht. »Nein, Achim, nehmen wir uns lieber jemanden, der wirklich für Jens sorgen kann.«

»Ich habe mich bereits entschieden, Liebling«, erklärte ihr Mann resolut. Er war es gewohnt, daß Marita seine Entscheidungen akzeptierte. Bisher war er aus jeder Meinungsverschiedenheit als Sieger hervorgegangen. »Esther wird zu uns kommen.«

»Und wo soll sie schlafen?«

»Wir können die kleine Kammer für sie richten, das ist schnell getan.« Er lächelte seiner Frau zu. »Paß auf, du wirst dich bald an sie gewöhnt haben, wir müssen ihr nur von Anfang an zeigen, wo es langgeht. Sie wird schon parieren.«

»Und wenn sich Jens nicht mir ihr verträgt?«

»Marita, das sind doch alles nur Einwände, die mich zwingen sollen, das Ganze noch einmal zu überdenken, aber da gibt es nichts mehr zu überlegen. Je eher Esther zu uns kommt, um so besser ist es. Denk nur daran, was wir sparen. Und du klagst doch immer, daß du mit dem Haushalt nicht fertig wirst. Wie viel kann sie dir nach der Schule abnehmen.«

»Sie wird dieser Tage erst elf, ich habe es mir gerade ausgerechnet. Was wird schon eine Elfjährige helfen können? Am Schluß habe ich mehr Arbeit als jetzt.«

»Mit elf kann man schon viel tun«, erklärte Achim Rippel. »Es ist entschieden, Marita. Und jetzt räume den Tisch ab. Ich muß mit dir noch etwas durchrechnen.«

Seine Frau stand auf und brachte das Geschirr in die Küche. Es würde wieder spät werden. Wenn Achim erst einmal am Rechnen war, ging das endlos weiter. Müde strich sie sich über die Stirn. Nach der Rechnerei würde sie noch abwaschen müssen. Das wäre eine Arbeit, die Esther ihr abnehmen könnte. Eigentlich war der Gedanke gar nicht so dumm. Etwas zuversichtlicher kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.

*

Esther Wilke erwachte von einem Sonnenstrahl, der durch das offene Fenster in ihr hübsches Zimmerchen fiel. Der Kleine schlug die Augen auf. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen blieb sie noch etwas liegen.

Schön, wenn man an einem schulfreien Samstag Geburtstag hat, überlegte sie. Dann haben Mama und Papa Zeit und müssen nicht ins Büro. Und nachmittags mit der Geburtstagsgesellschaft muß man auch nicht hetzen. Sie hatte fünf ihrer besten Freundinnen eingeladen.

»Mau!« klang es vom Gang her.

»Moment, Moritz.« Esther sprang aus dem Bett und öffnete die Tür. Ein schwarzer Kater tänzelte ins Zimmer. Mit hocherhobenem Schwanz rieb er sein Fell an die bloßen Beine seines Frauchens. »Guten Morgen, mein Lieber.« Das Mädchen hob den Kater hoch und schmiegte das Gesicht an ihn.

»Ah, du bist wach, Kleines.« Markus Dyck, Esthers vierzigjähriger Pflegevater, steckte den Kopf ins Zimmer. »Eigentlich könntest du dich gleich anziehen und nach unten gehen, es sei denn, du bist nicht neugierig auf das, was du zum Geburtstag bekommst.«

»Und ob ich neugierig bin, Papa.« Esther drückte Markus den schwarzen Kater in die Arme und huschte in das gegenüberliegende Badezimmer. »Ich habe heut’ Geburtstag, ich hab heut’ Geburtstag«, trällerte das Mädchen vor sich hin.

Markus Dyck stieg mit Moritz die Treppe hinunter. Unten setzte er den Kater auf seinen Stammplatz, einem alten Sessel, der neben dem Garderobenschrank stand und schon vor einem halben Jahr von Moritz in Beschlag genommen worden war. »Liebling, wo bist du?« fragte er.

»In der Küche«, antwortete Angela Dyck. »Ist Esthi schon wach?«

»Hörst du sie nicht?« Markus ging in die Küche. »Sie ist ganz aus dem Häuschen. Und was meinst du, wie schlimm das erst wird, wenn sie ihr Geburtstagsgeschenk sieht.«

Angela drehte sich zu ihrem Mann um. »Und trotzdem ist es nicht das Geburtstagsgeschenk, das ich ihr gern gemacht hätte«, sagte sie. »Ich verstehe diese Frau nicht, warum gibt sie Esther nicht endlich zur Adoption frei. Das Kind lebt seit sechs Jahren bei uns und heißt noch immer Wilke.«

»Vielleicht kommt die Mutter doch noch zur Besinnung«, erwiderte Markus. »Manchmal geschehen Wunder.«

»Ich glaube, dieses Wunder wird nie geschehen«, meinte Angela mit einem Anflug von Schwermut. Dann lächelte sie wieder. »Hast du schon die Torte für heute nachmittag gesehen, Markus?« Sie ging zum Kühlschrank und öffnete die Tür.

»Paß auf, daß ich sie nicht bereits vorher anschneide«, sagte ihr Mann scherzend.

»Untersteh dich!« Energisch schloß Angela den Eisschrank wieder.

»Wann habe ich dir eigentlich zum letzten Mal gesagt, wie hübsch du bist?« fragte Markus zärtlich. Er schloß seine blonde Frau in die Arme und sah ihr in die Augen.

»Das ist schon eine Ewigkeit her«, entgegnete Angela lächelnd. »Mindestens vierundzwanzig Stunden.«

»Wahrlich eine Ewigkeit.« Markus küßte sie auf den Mund.

»Guten Morgen.«

Das Ehepaar fuhr auseinander. Verlegen glättete sich die junge Frau ihre Haare. »Guten Morgen, Esthi.« Sie ging auf ihre Pflegetochter zu und schloß sie in die Arme. »Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag, mein Liebling.«

»Danke, Mama.« Esther schmiegte sich an Angelas Brust. »Ich bin so froh, daß ihr meine Eltern seid«, sagte sie.

»Ein schöneres Kompliment konntest du uns nicht machen.« Markus beugte sich über Esther und küßte sie auf den Haaransatz. Dann zog er das Mädchen liebevoll an den langen, braunen Zöpfen. »Und jetzt wollen wir nachsehen, was du alles bekommst.«

Esther hängte sich bei ihm ein. »Ich bin ja schon so gespannt, Papa«, verriet sie. »Habt ihr mir das Tierbuch gekauft, das ich mir gewünscht habe?«