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Es war Sommer. Antoine d’Argont, der Chef des gleichnamigen berühmten Modehauses, führte seine auserwählten Kreationen der beginnenden Saison in der Öffentlichkeit vor. Reporter, Modejournalisten und -journalistinnen sowie zahlreiche Schaulustige hatten sich eingefunden.
Gerade fuhr Clarisse Lassoult, d’Argonts Starmannequin, in einem offenen Aston-Martin-Sportwagen vor. Sie trug »Traum in Weiß«, ein d’Argont-Modell. Wie eine Wolke von weißem Taft und Tüll umfloss und umschmeichelte es ihren Körper. Die Zuschauer klatschten, als Clarisse die Champs-Elysees hinunterfuhr.
»Traum in Weiß« sollte ihr Totenkleid werden. Und mit Clarisses Tod begann ihre Laufbahn erst richtig. Als - das Vampir-Mannequin ...
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Seitenzahl: 155
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Das Vampir-Mannequin
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Impressum
Das Vampir-Mannequin
Von Earl Warren
Es war Sommer. Antoine d'Argont, der Chef des gleichnamigen berühmten Modehauses, führte seine auserwählten Kreationen der beginnenden Saison in der Öffentlichkeit vor. Reporter, Modejournalisten und -journalistinnen sowie zahlreiche Schaulustige hatten sich eingefunden.
Gerade fuhr Clarisse Lassoult, d'Argonts Starmannequin, in einem offenen Aston-Martin-Sportwagen vor. Sie trug »Traum in Weiß«, ein d'Argont-Modell. Wie eine Wolke von weißem Taft und Tüll umfloss und umschmeichelte es ihren Körper. Die Zuschauer klatschten, als Clarisse die Champs-Elysees hinunterfuhr.
»Traum in Weiß« sollte ihr Totenkleid werden. Und mit Clarisses Tod begann ihre Laufbahn erst richtig. Als – das Vampir-Mannequin ...
D'Argont war selbst begeistert von seiner Modeschöpfung »Traum in Weiß«. Und von dem Starmannequin Clarisse, das er in Kürze heiraten wollte. Ganz Paris sprach von der geplanten Hochzeit – und von d'Argonts Designs. Der Comte stellte sämtliche anderen Größen der Haute Couture in den Schatten.
Die Fotografen drängten sich. Blitzlichter zuckten. Zwei Fernsehkameras surrten. Eine Sperrkette von Polizisten musste die Zuschauermenge zurückhalten. Comte Antoine d'Argont beglückwünschte sich zu seiner Idee, eine Auswahl seiner Modelle im Herzen von Paris auf den Champs-Elysées öffentlich zu präsentieren.
Vor den eleganten Geschäften und Restaurants, Cafés und Bistros. Es würde sich auszahlen. Clarisse übertraf alle und alles. Nicht umsonst hatte d'Argont der schwarzhaarigen Schönheit sein erlesenstes Modell anvertraut. Clarisse saß hinterm Steuer des Aston Martin mit den glänzenden Speichenradfelgen wie eine Königin.
Schöner denn je. Ein langer Chiffonschal wehte von ihrem Hals. Sie lenkte den Oldtimer lässig mit einer Hand aus der Ausfahrt des Café de l'Opéra und fuhr im Schritttempo bis ans Ende der Absperrung. Für zwei Stunden floss kein Verkehr über einen kleinen Abschnitt der Champs-Elysées, die Prachtstraße gehörte der Haute Couture.
»Zauberhaft!«, schwärmte Anne-Marie Castillon, die Chefredakteurin des führenden französischen Modemagazins, zu d'Argont. »Diesmal haben Sie sich selbst übertroffen, Comte. Dieses Modell ist genau das, was sein Name sagt – ein Traum in Weiß.«
»Es soll Clarisses Hochzeitskleid sein«, erzählte der hochgewachsene, schlanke Modeschöpfer, dessen besonderes Kennzeichen die zu einem Zopf zusammengeflochtenen Nackenhaare waren. Der helle Anzug stand ihm ausgezeichnet. »Sie wissen, dass wir in drei Wochen heiraten wollen, Verehrteste?«
»Wer wüsste das nicht, Comte d'Argont! Sie sind ein glücklicher Mann.«
»Der glücklichste unter der Sonne«, bestätigte d'Argont.
Sein Glück endete in der nächsten Sekunde und kehrte sich jäh ins Gegenteil um. Denn Clarisse wendete auf den Champs-Elysées. Dabei geschah es. Ein Windstoß trieb das lange, lose flatternde Ende ihres Chiffonschals gegen die Speichenradfelgen. Das Schalende verfing sich, wickelte sich blitzschnell um eine Felge.
Clarisse merkte es nicht. Lächelnd trat sie aufs Gas. Dann spürte sie nur noch einen harten Ruck, der ihr den Kopf in den Nacken riss, und einen Schmerz vom Scheitel bis zur Sohle. Nacht umfing sie.
Sie brachte nicht einmal mehr einen Schrei über die Lippen.
Aber die Zuschauer schrien auf, als das Mannequin jäh im Sitz zurückgerissen wurde, sein Kopf zuckte und dann in unnatürlichem Winkel zu dem Körper blieb. Der Motor heulte im Leerlauf, denn Clarisse hatte mit einer zuckenden Reflexbewegung noch den Gang herausbekommen. Ihr Fuß nagelte das Gaspedal fest.
Der Schal zog sie nach hinten, zerrte sie zwischen Sitz und Tür, denn der offene Oldtimer rollte weiter. Comte Antoine d'Argont handelte als einer der ersten. Während das Gros der Zuschauer noch vor Schrecken erstarrt stand und das Entsetzliche nicht begriff, spurtete er vor, schwang sich über die rechte Wagentür an Clarisses Seite und zog die Handbremse.
Der Aston-Martin blieb stehen. Antoine d'Argont stellte den Motor ab. Er stieg aus wie ein Traumwandler, befangen von einem tiefen Schock. Er hörte aufgeregte Stimmen, sah mehrere Polizisten die Fahrertür aufreißen und Clarisse aus dem Wagen heben.
Nur einen Blick erhaschte er auf ihren fast umgedrehten Hals. Der Kopf zeigte eine Haltung, wie sie bei einem lebenden Menschen nicht möglich war. D'Argont zitterte. Er drängte sich vor. Man hielt ihn zurück.
Zwei Flics lösten das Schalende von Clarisses Hals. Sie hatten das Mannequin auf den Boden gebettet. D'Argont sträubte sich gegen den Griff eines Polizisten und eines Modejournalisten, die ihm den Anblick ersparen wollten.
»Lasst mich zu ihr!«, stammelte er. »Ich muss Clarisse helfen!«
»Sie können nichts mehr für sie tun«, sagte der Modejournalist. »Da ist ein Arzt.«
Ein Mann mittleren Alters mit einer Ledertasche war aus einem der Häuser herbeigeeilt. Flüchtig nur untersuchte er die schöne junge Frau in dem weißen Modellkleid. Dann drückte er ihr die Augenlider zu. Antoine d'Argont stand vor ihm, als er sich erhob. Der Modeschöpfer hatte sich losgerissen. In seinen Augen waren ein Entsetzen und eine Qual zu lesen, wie es der Arzt noch niemals in seiner langjährigen Praxis beobachtet hatte.
»Was ist mit ihr?«, schrie d'Argont.
»Wer sind Sie?«
»Ihr Chef – und ihr Bräutigam. Wir wollen in drei Wochen heiraten.«
»Mein herzliches Beileid, Comte d'Argont. Aus Ihrer Eheschließung wird nichts mehr. Mademoiselle hat sich das Genick gebrochen. Sie musste nicht leiden, falls Ihnen das ein Trost ist.«
Die letzten Worte des Arztes hörte der Comte schon nicht mehr. Mit einem Aufschrei brach er zusammen.
Die Modevorführung wurde abgebrochen. Antoine d'Argont musste ins Hospital gebracht und ruhiggestellt werden. Er hätte sich sonst selbst getötet, um seiner über alles geliebten Clarisse zu folgen.
†
Acht Wochen später, im Frühherbst.
Antoine d'Argont, der Modeschöpfer, und sein Freund, der Arzt Victor Messan, ein Internist mit eigener Praxis, saßen auf der Terrasse des Café de ›l Opéra. Von diesem Café aus war Clarisse Lassoult damals in den Tod gefahren.
Ein tragischer Unglücksfall, hatten die Zeitungen geschrieben. Weitere öffentliche Modevorführungen in der Art des Comte d'Argont würde es nicht mehr geben. Sein Experiment war grausam misslungen. Aber das berührte ihn noch am allerwenigsten.
Er konnte den Tod seiner Geliebten nicht verwinden. Er gab sich die Schuld daran. Victor Messan hatte sich alle Mühe gegeben, den Freund auf andere Gedanken zu bringen, hatte seine gesamte knappe Freizeit d'Argont geopfert, seit dieser von der psychiatrischen Station des Hôpital du Necker entlassen war. Weder eine Urlaubsreise in die Karibik noch ein Angelausflug in die Argonnenhöhen an die Maas hatten etwas ausgerichtet.
Den Urlaub brach d'Argont schon nach drei Tagen ab. In den Argonnen ging er umher wie ein Schlafwandler, und es wäre ihm nicht aufgefallen, wenn er statt der Angelrute nur eine Stange in der Hand gehabt hätte. In der Nacht schrie und stöhnte er in der Jagdhütte derart, dass es Victor Messan Angst wurde.
Zudem verlangte d'Argont stürmisch, nach Paris zurückzukehren. Von dort reiste er rasch ab, ins Schloss seiner Väter in den Pyrenäen. Victor Messan bekam nur den Diener Martin Joffé an den Apparat, als er mehrmals auf Château Argont anrief. Dessen unklare Auskünfte waren nicht dazu angetan, den Arzt zu beruhigen.
Er wollte schon in die Pyrenäen fahren, als d'Argont nach Paris zurückkehrte, jedoch niemand empfing und sich auch um seinen Modesalon überhaupt nicht kümmerte. In seiner Stadtwohnung am Boulevard Haussmann war er nicht zu sprechen. Bis er von sich aus an diesem Abend ein Gespräch mit Messan verlangte und ihn im Café de ›l Opéra traf.
Victor Messan erschrak über das Aussehen seines Freundes. D'Argont wirkte elend. Schlank war er schon immer gewesen. Jetzt sah er regelrecht ausgezehrt aus. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen. Das sonst so gepflegte, seidige braune Haar war fettig und voller Schuppen. Der Zopf wirkte regelrecht verdreckt.
Der Couturier trug einen fleckigen Samtanzug, den er früher nie und nimmer angezogen hätte. Kurz, der sonst so elegante, selbstsichere und erfolgsverwöhnte Mann war elend und heruntergekommen. Nur sein Name und Victor Messans Begleitung bewahrten ihn davor, aus dem vornehmen Caféhaus hinausgewiesen zu werden.
Die beiden Freunde saßen an einem Ecktisch. D'Argont rauchte eine Zigarette nach der anderen. Seine nikotinverfärbten Finger zitterten. Er wollte nicht heraus mit der Sprache, was er die letzte Zeit getrieben hatte, noch was er zu tun beabsichtigte.
Victor Messan redete ihm zu.
»Antoine, ich kann dich verstehen. Clarisses Tod war ein entsetzlicher Schock für dich, das Schlimmste, was dir geschehen konnte. Aber du darfst darum nicht auch noch dein Leben ruinieren. Als dein Freund ermahne ich dich, fasse dich. Trauere um sie, aber verzehre dich nicht selbst. Es schmerzt mich tief, dich in diesem Zustand zu sehen, und ich bin in ernsthafter Sorge um dich.«
»Das brauchst du nicht mehr zu sein«, antwortete ihm der Comte. »Denn ich werde den Sinn meines Lebens wiederfinden. Clarisse kehrt zu mir zurück.«
Victor starrte den Freund an. Sollte Antoine geistig verwirrt sein? Oder wie waren seine Worte zu verstehen? Stille herrschte zwischen den beiden Freunden am Tisch in der schlechtbeleuchteten Ecke. Nebenan lachte eine Frau hoch und schrill. Ihr Lachen zerbrach das Schweigen.
»Ich hole sie mir aus dem Totenreich zurück«, sagte Antoine d'Argont. »Ich lasse nicht zu, dass die Würmer Clarisses schönen Leib verzehren. Noch dass ihre Seele im Jenseits bleibt.«
Er meinte es ernst. Der Arzt erschrak. Er wusste, auf welche Abwege der Geist eines Menschen geraten konnte, wenn ihm das Liebste genommen wurde, er solch einen Schicksalsschlag zu verwinden hatte wie Antoine d'Argont.
Victor zwang sich zu einem Lachen.
»Bist du unter die Totenbeschwörer gegangen, Antoine? Willst du mittels einer Seance mit Clarisse im Jenseits Kontakt aufnehmen, oder hast du dich an einen Scharlatan gewendet, der dir mit Humbug dein gutes Geld aus der Tasche zieht?«
Der Comte stand abrupt auf. Er warf Geld für beider Zeche auf den Caféhaustisch.
»Dir wird das Lachen schon noch vergehen. Die Schwarze Magie vermag sogar den Tod zu bezwingen. Ich weiß sehr wohl, dass die okkulten Wissenschaftler in Vergessenheit und Verruf geraten sind, dass Zauberei, Hexerei, Magiertum nichts mehr gelten in diesem ach so aufgeklärten 20. Jahrhundert. Aber es ist doch etwas an ihnen dran. Ich habe einen Meister der alten Schwarzen Kunst gefunden. Einen Magus.«
Der Arzt sprang auf, hielt seinen Freund zurück, als der gehen wollte.
»Halt, warte noch einen Moment! Das musst du mir näher erklären. Um unserer Freundschaft willen – und um Clarisses. Auch ich kannte und verehrte sie.«
»Da gibt es nichts zu erklären, Victor. Du wirst von uns hören – und uns wiedersehen, wenn alles gelingt. Leb wohl jetzt, mein guter Freund, und danke für alles. Du meintest es gut. Aber meinen Weg musste ich mir selber suchen. Den Weg zu Clarisse.«
Er sprach ganz ruhig, wandte sich ab und verließ das gutbesetzte Café. Victor Messan blieb zurück. Zunächst wollte er dem Freund nacheilen, auf ihn einreden. Aber er besann sich anders. Er kannte Antoine. Wenn der sich in eine Idee verbohrt hatte, war er nicht mehr davon abzubringen.
Dann halfen weder gutes Zureden noch logische Argumente oder Vorhaltungen. auf diese Weise war Antoine d'Argont zum »Zar« der Haute Couture geworden – durch Beharrlichkeit, die sein Talent mit seinen Zielvorstellungen in Einklang brachte. Victor Messan bestellte bei der adrett gekleideten Serviererin einen neuen Kaffee.
Er zündete sich eine Zigarette an und beschloss, seinen Freund gewähren zu lassen. Antoine d'Argont sollte seine Erfahrungen selber machen. Er hatte sich auf ein verrufenes, unheimliches Gebiet begeben, indem er sich mit der Materie der Schwarzen Magie beschäftigte. Victor Messan glaubte, dass es einen Gott gab, obwohl er – Victor – in keine Kirche ging.
Mit Übersinnlichem hatte er wenig im Sinn. An Totenerweckung glaubte er nicht. Dass Antoine mit seinem Okkultismus einen Erfolg verzeichnen würde, vermochte er sich nicht vorzustellen.
»Er spinnt«, murmelte Victor. »Clarisses Tod hat ihn völlig durcheinandergebracht. Er ist einem Scharlatan aufgesessen, wird viel Geld loswerden und äußerst aufgebracht und empört sein. Aber vielleicht hilft ihm gerade das, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.«
Victor hatte arbeitsreiche Wochen in seiner Praxis und auf seiner Privatstation im Hôpital Cochin vor sich. Er konnte nicht ständig das Kindermädchen für seinen Freund spielen, den Seelsorger und Psychiater zugleich.
Noch in der gleichen Nacht holte ein Telefonanruf Victor Messan aus dem Bett. Bei einer Patientin waren Komplikationen aufgetreten. Victor stürzte sich in die Arbeit. Er fand kaum eine freie Minute in der nächsten Zeit und hatte keine Gelegenheit, sich um Antoine d'Argont zu kümmern.
Er hörte auch nichts von ihm. Es verlautete nur, dass der Comte Paris verlassen und das Schloss seiner Väter in den Pyrenäen aufgesucht habe. Was er dort trieb, blieb unerfindlich.
Ein ungutes Gefühl wollte den Arzt Victor Messan nicht verlassen. Er suchte ihn immer heim, wenn er an seinen Freund dachte.
†
Eine Sturmnacht Ende Oktober. Der Wind heulte und pfiff um die Zinnen von Château Argont, das tief in den Pyrenäen stand, über der wild brausenden Ariège, direkt an der Grenze zwischen Frankreich und dem Freistaat Andorra. Die nächste französische Stadt war Tarascon.
Das Château lag einsam in den Bergen. Früher hatte es einmal die Passstraße von Tarascon hinüber nach Katalonien beherrscht. Die Herren von Argont waren durch ihr Zollrecht reich geworden. Doch das lag lange zurück. Die Passstraße besaß keinerlei Bedeutung mehr, seit eine moderne Autobahn wenig entfernt durch die Pyrenäen führte. Immerhin waren die Comtes d'Argont klug genug gewesen, ihre Zoll- und Raubrittergelder gut anzulegen.
Sie hatten Grundbesitz und Weinberge anderswo in Frankreich, waren seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch an Industrieunternehmen und Bankenkonsortien beteiligt. Das Château ihrer Väter behielten und unterhielten sie mehr aus sentimentalen Gründen, denn hier lagen die Wurzeln ihres Geschlechts.
Die beiden Weltkriege hatten dem Reichtum der d'Argonts einigen Schaden zugefügt. Und die Familie sehr dezimiert. Antoine d'Argont blieb als einziger männlicher Part des Geschlechts. Dass er sich der Modebranche zuwandte, war nicht zuletzt der Grund dafür, dass sein Vater frühzeitig die Augen schloss.
Jetzt lebte außer Antoine d'Argont nur noch eine ältere Tante, die sich vorzugsweise an der Côte d'Azur aufhielt, wo sie die Spielbanken heimsuchte und ständig an neuen Roulettesystemen knobelte. Diese hatten alle eins gemeinsam: sie funktionierten nicht.
Antoine d'Argonts Vater war es nicht mehr vergönnt gewesen, den Erfolg seines Sohnes als Modeschöpfer zu erleben. Es hätte ihn vielleicht mit manchem versöhnt. Die Mutter war schon gestorben, als Antoine noch die Grundschule besuchte. Mit ihm würde das Geschlecht d'Argont erlöschen, und er war an Clarisse Lassoult gekettet. Er konnte nicht loskommen von dieser, seiner großen Liebe.
In dieser Nacht brachte Antoine d'Argont mit Hilfe des Dieners Martin Joffé den Sarg mit der Toten auf den Söller an der Westseite des Flusses, direkt über dem brausenden, schäumenden Fluss. Denn Château Argont klebte wie ein Adlernest auf dem Felsen, trotzte mit seinen wuchtigen grauen Mauern aus Felsgestein seit Jahrhunderten schon Wind und Wetter und zahlreichen Feinden.
Der Comte und sein Diener schleppten und plagten sich mit dem ungefügen Sarg auf der Wendeltreppe ab. D'Argont hatte den Sarg mit seiner toten Geliebten von Pariser Unterweltlern auf dem Cimetiere du Père Lachaise heimlich ausgraben und rauben lassen. Das Grab wurde wieder geschlossen. Niemand außer den Beteiligten wusste von dem Leichendiebstahl.
Ein Kleinbus, gefahren von zwei Gangstern, die vom Comte gut bezahlt wurden, brachten den Sarg in die Pyrenäen. Auf das Château Argont, wo ihn der bucklige Joffé übernahm. Dieser Joffé war ein seltsamer Mann. Als unehelicher Sohn eines Dienstmädchens auf Château Argont geboren, wurde gemunkelt, dass er ein Bastard des älteren Bruders von Antoine d'Argonts Vater sei, das Ergebnis eines adeligen Fehltritts.
Jener Onkel Antoines hatte zur Résistance gehört und war 1944 im Schlosshof von der Besatzungsmacht standrechtlich erschossen worden. Martin Joffé erblickte wenige Wochen später das Licht der Welt. Der Titel des Comte fiel nach dem Tod des älteren Bruders an Antoines Vater und ging später auf ihn selber über.
Der ungeschlachte Joffé bewegte sich trotz seines Buckels äußerst behänd. Er war für einen Buckligen sehr groß. Über Einsachtzig maß er, und er hatte Schultern, mit denen er kaum durch die Tür passte, große, klobige Hände und büschelartiges, graugelbes Haar. Sein linkes Auge war übergroß und sah aus wie das eines toten Fisches.
Ein oft geflickter Kittel bekleidete Joffés grobe Gestalt. Unter Fratzen und Grimassen trieb er seinen Herrn zu größerer Eile an. Er vermochte nur abgehackt und stammelnd zu sprechen.
»Schnell ... beeilen. Blitz muss treffen. Sie wiederbeleben.«
Der Comte nickte. Antoine d'Argont wirkte viel frischer und kräftiger als damals, als er sich im Café de ›l Opéra von Victor Messan verabschiedete. Die Hoffnung, seine Geliebte ins Leben zurückrufen zu können, hatte ihm Auftrieb gegeben und neue Kräfte vermittelt. Der große, schlanke Comte keuchte und ächzte.
Der Sarg war schwer, klemmte an den Biegungen der Wendeltreppe. Antoine d'Argont lief der Schweiß in Strömen herunter. Doch er hielt kaum inne, um ihn sich abzuwischen. Viel zu sehr fieberte er dem Ergebnis der Beschwörung entgegen, um sich eine längere Ruhepause zu gönnen.
Im Söller gab es kein elektrisches Licht. Brennende Fackeln steckten in den eisernen Haltern an den Wänden und erhellten den Turm und die Treppe mit rötlichem Licht. Die Schatten der beiden ungleichen Männer mit dem Sarg tanzten verzerrt und grotesk an den Wänden.
Endlich erreichten die beiden die Plattform des Söllers. Ein Dach schützte sie nach oben hin. Doch von den Seiten pfiff der Wind ungehindert hindurch, an den vier Eckpfeilern vorbei, die das Schieferdach trugen, und blies den Regen herein. Der Himmel war von Sturmwolken bedeckt. Kein Stern schimmerte.
Kalt war es. Statische Spannung lag in der Luft. Bald würde sie sich in einem Gewitter entladen. Auf dem Söller hatten d'Argont und sein Diener bereits alles Gerät aufgebaut, das für die Totenbeschwörung benötigt wurde. Ganz so, wie es der Magus, ein seltsamer, verrufener Einsiedler, dem Schlossherrn gesagt hatte.
Ein Metallgitter lag auf zwei Holzböcken mitten auf der Söllerplattform. Von diesem Metallgitter führte ein Stab, einem Blitzableiter ähnlich, nach oben, weit über das Dach hinaus. Dieser Stab trug an seinem Ende eine große kupferne Kugel, die aus zwei Hälften zusammengesetzt war. Das Vakuum in der Kugel presste die beiden Hälften zusammen. Was die Kugel außer einem Totenschädel sonst noch enthielt, wusste nicht einmal d'Argont.
Ihm wäre sicher auf seinem Château manches aufgefallen, hätte nicht der Schmerz um Clarisse ihm den Verstand benebelt und hätten später nicht all seine Gedanken ihrer Wiedererweckung gegolten. Um diese zu erreichen, war der Comte sogar bereit, mit dem Teufel zu paktieren.
Hinter dem Metallgitter war ein Schwarzer Altar aufgebaut, mit einem auf dem Kopf stehenden Kreuz, an dem eine noch lebende Fledermaus hing. Ein dünner Draht führte von dem Blitzableiter und der Halbkugel zu dem Tier.
Vier Fackeln brannten auf der Plattform des Söllers. Ihre Flammen blies der Sturm manchmal fast aus, wenn er aufheulte wie ein wildes, beutegieriges Tier. Es war, als ob die Natur selbst teilnähme an dem Frevel, der sich hier vorbereitete, sich wider ihn empörte.
Der Comte und sein Diener stellten den Sarg mit der Toten neben den blanken Gitterrost. Antoine d'Argont atmete schwer. Er sah einen Blitz in der Ferne aufzucken, hörte bald darauf das Grollen des Donners. Das Gewitter brach los, und es näherte sich. Bis der erste Blitz in die kupferne Hohlkugel schlug, mussten die Vorbereitungen abgeschlossen sein.
»Hilf mir, den Sarg zu öffnen, Martin!«, überschrie der Comte das Heulen und Tosen des Sturms.