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Gay Fantasy Vor beinahe fünfundzwanzig Jahren sind seltsame Dinge in Carver Grove geschehen: Ein Vampirbaby musste von einer Werwolffamilie adoptiert werden, und ein Werwolfbaby wurde einer Menschenfamilie untergeschmuggelt – die bis heute nichts von den kleinen Besonderheiten ihres Sohnes ahnt. Mittlerweile sind die beiden Jungen erwachsene Männer, einander spinnefeind – und müssen zusammenhalten, als erneut merkwürdige Dinge geschehen. Dinge, die tödlich enden könnten. Oder, die Hölle möge es verhindern: Dinge, die dazu führen könnten, dass ein Werwolf und ein Vampir sich küssen. So etwas kann schließlich nicht gut enden, das ist oberstes Naturgesetz, versteht sich von selbst, jeder weiß es … oder? Ca. 85.000 Wörter Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ungefähr 430 Seiten
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Vor beinahe fünfundzwanzig Jahren sind seltsame Dinge in Carver Grove geschehen: Ein Vampirbaby musste von einer Werwolffamilie adoptiert werden, und ein Werwolfbaby wurde einer Menschenfamilie untergeschmuggelt – die bis heute nichts von den kleinen Besonderheiten ihres Sohnes ahnt.
Mittlerweile sind die beiden Jungen erwachsene Männer, einander spinnefeind – und müssen zusammenhalten, als erneut merkwürdige Dinge geschehen. Dinge, die tödlich enden könnten. Oder, die Hölle möge es verhindern: Dinge, die dazu führen könnten, dass ein Werwolf und ein Vampir sich küssen. So etwas kann schließlich nicht gut enden, das ist oberstes Naturgesetz, versteht sich von selbst, jeder weiß es … oder?
Ca. 85.000 Wörter
Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ungefähr 430 Seiten
von
Sonja Amatis
Inhalt
Prolog 1: Das erste Problemchen
Prolog 2: Das zweite Problemchen
Kapitel 1: Epische Rasenmäherkämpfe
Kapitel 2: Vollversammelte Schockereignisse
Kapitel 3: Ansichtssachen
Kapitel 4: Blendende Aussichten
Kapitel 5: Verwirrende Verbindungen
Kapitel 6: Umfassender Welpenschutz
Kapitel 7: Nächtlicher Besuch
Kapitel 8: No-Go Areas
Kapitel 9: Traumbindungen
Kapitel 10: Fragen und keine Antworten
Kapitel 11: Nächtliche Umtriebe
Kapitel 12: Flüstergeheimnisse und Geheimfortschritt
Kapitel 13: Familie und andere Probleme
Kapitel 14: Träumen ist erlaubt
Kapitel 15: Blutrausch
Epilog: Ein Jahr später
oanna beugte sich über das Bettchen ihres Sohnes. Ihr kleiner Christopher. Mit seinen sechs Monaten wusste er nichts von der Welt, in die er hineingeboren wurde.
Zärtlich küsste sie ihm die Stirn und überließ ihn dann seinen satten, zufrieden Träumen.
„Er ist ein Krieger“, sagte Noah stolz und gesellte sich zu ihr, um seinen Erstgeborenen anzuhimmeln. „Schau nur. Er ballt die Fäuste.“
Joanna lächelte bloß und tätschelte ihrem Gefährten die Schulter. Sie hatte es längst aufgegeben ihm zu erklären, dass Babys die Fäuste ballten, ganz ohne kriegerische Gedanken und vollkommen unabhängig davon, ob sie reine Menschen oder Vampire waren. Noah war vollkommen vernarrt in sein Kind. Kein Grund zur Beschwerde, nicht wahr? Sie brauchten jedes bisschen Liebe. Sie lebten in der Hölle, wofür sie sich freiwillig entschieden hatten. Ihre Hölle, das war ein beschaulicher, spießiger, blitzsauberer Vorort von New York. Carver Grove Village war eine Besonderheit: Bis auf sehr, sehr wenige Ausnahmen war jeder der über zehntausend Einwohner dieses Ortes eine übernatürliche Kreatur. Vampire und Werwölfe lebten hier dicht an dicht, was das Leben für jeden von ihnen gleichermaßen anstrengend und kompliziert machte. Die einzelnen Clans waren untereinander verfeindet, Vampire und Werwölfe waren sich ebenfalls spinnefeind. Jeder durfte sich also nur in seinem eigenen, sehr schmalen Revier aufhalten und riskierte sein Leben, sobald er es verließ. Solche Gemeinschaften gab es weltweit, auch in den USA existierten mehrere Dutzend davon. Carver Grove war allerdings besonders groß und dicht besiedelt, was die Anspannungen schon stark erhöhte.
Weil es unmöglich wäre, im jeweiligen Kleinrevier einem Job nachzugehen, die Kinder zur Schule zu bringen, einzukaufen und all die anderen normalen Dinge zu tun, mit denen normale Menschen ihr Leben verbrachten – und sowohl Werwölfe als auch Vampire taten ihr Bestes, um wie normale Menschen zu wirken – durfte jeder übernatürliche Bewohner dieses Ortes in einem ausgeklügelten Programm angeben, wann er sich wo und warum außerhalb seines Reviers aufhalten wollte. Spontane Notfälle ließ dieses Programm leider nicht zu, weswegen es trotzdem häufig genug zu Spannungen und Konfrontationen zwischen den einzelnen Clans und Spezies kam.
Insgesamt war es trotzdem die beste Lösung. Für jeden von ihnen. Weil die Menschheit die Welt überflutet hatte und die Übernatürlichen entweder an unwirtlichen Orten ausharren und versuchen mussten, dort nicht zu verhungern, oder sich eben getarnt unter das Volk mischten. Es war hart, dicht an dicht mit den erklärten Erzfeinden zu leben. Sie hockten mit genau diesen Erzfeinden in einem Boot und niemand wollte, dass der Kahn unterging. Darum verhielten sie sich möglichst brav und angepasst und es war schon lange nicht mehr zu Todesfällen gekommen. Zudem wohnten Wächter unter ihnen. Hochrangige Dämonenkreaturen verschiedener Spezies, wie Hexen, Zyklopen, Dschinns. Sie wachten darüber, dass der Frieden wirklich gehalten wurde und die Menschen auf keinen Fall bemerkten, was in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft geschah.
Für Joanna und Noah bedeutete es, sich jeden Vollmond in einem speziell eingerichteten, magisch gesicherten Panikraum im Keller einzusperren, hinter einem halben Meter reinsten Stahl, und dank diverser Hexentränke den Werwolfrausch halbwegs friedlich auszuschlafen, statt die netten Nachbarn zu überfallen und in Stücke zu reißen. Denn das würde nicht bloß jede Menge Dreck bedeuten, sondern auch das FBI und Spezialkommandos ins Dorf holen. Das wäre so mühsam und die Wächter von Carver Grove wären darüber gar nicht amüsiert, o nein.
Auch die Kleinsten waren bereits vom Werwolf-Gen betroffen. Sie wurden unruhig, unersättlich, aggressiv, und auf dem Höhepunkt der Vollmondnacht bildete sich ein feiner Flaum aus, der ihre winzigen Körper überzog. Die erste Wandlung fand etwa mit einem halben Jahr statt. Süße kleine Flauschbälle, Mini-Wölfchen, die einfach nur entzückend waren … Nun gut, die Kinder waren davon immer erst einmal sehr gestresst, weil sie nicht wussten, was mit ihnen geschah. Joanna war gespannt, ob ihr Sohn sich in diesem oder erst dem nächsten Zyklus wandeln würde. Es war ein bedeutsamer Meilenstein der kindlichen Entwicklung und sie freute sich sehr darauf, ihn mit ihrem eigenen Baby miterleben zu können.
Sie fuhr zeitgleich mit ihrem Liebsten herum, als draußen lautes Quietschen von durchdrehenden Reifen erklang, ein heulender Motor. Scheppern. Rumpeln. Ein gewaltiger Knall, der das Haus erschütterte. Danach … Stille.
„Du bleibst bei ihm!“, rief Joanna und wies auf ihren schlafenden Sohn. Noah protestierte nicht. Er war wesentlich größer und viel stärker als sie. Er musste darum das Kind schützen, mit all seiner Kraft. Joanna würde nachsehen, immer bereit zur Flucht. Nur ein kurzer Überblick, welche Art von Gefahr ihnen drohte. Ob es überhaupt eine Gefahr gab. Wenn Feinde heranmarschierten, mussten sie wissen, wer es war, wie viele, von welcher Seite. Ob es Hoffnung auf Flucht gab, oder ob sie kämpfend untergehen würden. Sollte es zum Äußersten kommen, würde Noah sich selbst opfern und sein eigenes Leben geben, damit Joanna versuchen konnte, mit dem Kind zu entkommen. Es ging hier nicht um Romantik oder Liebe. Es ging ausschließlich um den Fortbestand der Rasse, sonst nichts. Da waren sie vollkommen abgeklärt. Dies war der Hauptgrund, warum sie alle freiwillig in diesem höllischen Hexenkessel ausharrten. Beschauliche Vorstadtidylle war pure Folter und dennoch bot es die besten Aussichten auf Überleben.
Joanna riskierte eine Verwandlung, wurde zu einem Wolf – kein Werwolf, sondern das Tier, das sich nur durch seinen Verstand von seinen natürlichen Vettern unterschied. Es kostete viel Kraft, außerhalb der Vollmondnächte Wolfsgestalt anzunehmen, doch so war sie schneller, bot weniger Angriffsfläche, konnte sich ein rascheres Bild von dem machen, was dort draußen in ihrem Vorgarten geschah.
Ihre hochsensible Wolfsnase nahm keine Witterung von Vampiren oder feindlichen Werwölfen auf. Das war schon einmal beruhigend. Stattdessen roch sie erhitztes Metall, verbranntes Gummi und Abgase. Ein gewöhnlicher Autounfall also? Sie überwand binnen eines Herzschlags die Treppe, wandelte zurück – dankenswerterweise mitsamt ihrer Kleidung, die zuvor aufgrund der Wandelmagie zum Teil ihres Pelzes geworden war –; eilte zum Küchenfenster, das auf die Straße hinausblickte. Ein goldbrauner Ford hatte sich regelrecht um die Linde gewickelt, die in Joannas und Noahs Vorgarten wuchs. Keine Feinde weit und breit. Keine anderen Fahrtzeuge. Nicht einmal die Nachbarn waren zu sehen. Klar, die hatten sich auch alle erst einmal zusammengeduckt und versuchten zu analysieren, ob Gefahr bestand. Außerdem könnte dies eine Falle sein, das musste man den Vampiren jederzeit zutrauen.
„Bleib oben!“, rief sie. „Es scheint ein gewöhnlicher Autounfall zu sein, aber bleib oben!“
Vorsichtig streckte sie den Kopf zur Haustür hinaus. Nahm Witterung auf. Alles schien in Ordnung, darum ging sie auf das Auto zu. Eine Frau hing in unnatürlicher Haltung im Fahrersitz. Der Airbag hatte sie nicht retten können, es war auf den ersten Blick klar, dass sie tot war. Joanna spürte Bedauern, denn diese Frau war sehr jung, Anfang zwanzig vielleicht. Eine bildhübsche Afro-Amerikanerin, die noch ihre gesamte Zukunft vor sich gehabt hatte.
Ein leises Wimmern.
Joanna erstarrte für einen Moment. Ein Baby! Da war ein Baby im Wagen! Jegliches Zögern und jeder Gedanke an Vorsicht verschwanden. Sie musste das Kind retten! Schwungvoll riss sie die Beifahrertür auf. Ja, tatsächlich. Ein Säugling, ein Neugeborenes! Es war winzig, lag in einem Schuhkarton im Fußraum, der in eine rote Wolldecke eingewickelt war. Auf den ersten Blick war das Kleine unverletzt. Dennoch hielt Joanna nun wieder inne und zögerte, denn nicht nur ihre Nase, auch ihre Augen sagten ihr, dass dieses Kind im Gegensatz zu der toten Frau am Steuer kein Mensch war. Es war ein neugeborener Vampir. Oder ein Halbling vielleicht? Ein Mischling aus Mensch und Vampir?
Sie beugte sich tiefer, ließ all ihre Sinne nach Zeichen suchen, die das Rätsel beantworten könnten. Nein, es war ein reinblütiger kleiner Vampir. Ein Junge. Höchstens eine Stunde alt. Die junge Frau war nicht seine Mutter. Wenn Joannas Nase sie nicht täuschte, dann hatte dieses arme Ding das Kind nicht einmal berührt, sondern lediglich die Decke angefasst. An dem kleinen Jungen nahm sie die Witterung von Blut war, von Fruchtwasser, von Vampiren. Soweit, so normal. Warum zur Hölle lag der Kleine jetzt nicht in den Armen seiner Mutter, wurde gestillt, gehalten, bewundert, gewärmt, und befand sich auf dem besten Weg in einen friedlichen Schlummer? Stattdessen blickte er mit tiefschwarzen Augen zu Joanna hoch und wimmerte leise vor sich hin. Wieso hatte man ihn in diesen Karton gelegt, in ein Auto gesteckt und hierhergefahren?
Langsam richtete Joanna sich auf und zog ihr Handy. Als Erstes wählte sie Noahs Nummer.
„Keine akute Gefahr, aber bleib weiter in Verteidigungsstellung“, sagte sie knapp und drückte ihn sofort wieder weg, um die nächste Nummer zu wählen.
„Joanna.“ Das war die Stimme von Rose Huntington. Die Alpha der Werwölfe von Carver Grove. Sie entschied über alle inneren Angelegenheiten der Wolfsclans. Für die äußeren Angelegenheiten war ihr Gefährte zuständig, Willowby Huntington. Die beiden lebten in der Nachbarstraße, sie hatten also den Unfall nicht mitverfolgen können.
„Du musst herkommen“, sagte Joanna grimmig. „Wir haben ein Problem.“
„Wie groß ist dieses Problem?“, entgegnete Rose sachlich.
„Ungefähr siebenundvierzig Zentimeter.“
„Ah ah! Wie viel Inch?“
Joanna zuckte unter dem strengen Verweis zusammen. Sie hasste das imperiale System, an dem sich die menschlichen Bewohner Amerikas festklammerten.
„18,5 Inch“, sagte sie brav.
„Gut. Lebt es?“
„Definitiv. Außerdem hat es bildschöne, weißglänzende Marmorhaut, dunkles Flaumhaar, schwarze Augen und dürfte in etwa eine Stunde alt sein. Vielleicht auch zwei. Es kommt mit einer toten Menschenfrau, die nicht seine Mutter ist.“
„Hast du bei diesem Todesfall mitgeholfen?“
„Es war ein Autounfall. Noah und ich waren im Haus.“ Sie hörte, dass Rose sich inzwischen draußen befand und atmete erleichtert auf. Schon sehr bald würde jemand die Verantwortung für das hier übernehmen. Sie wollte beim besten Willen nichts mit einem Vampirbaby zu tun haben. Oder mit toten Menschenfrauen. Hinter den biederen Vorhängen und Gardinen der Nachbarhäuser regte sich mittlerweile einiges. Glücklicherweise wohnten die wenigen reinblütigen Menschen von Carver Grove nicht in der Nähe und sie hatten für gewöhnlich auch keinen Grund, diese Straße entlangzulaufen oder zu durchfahren. Andernfalls würde hier sehr bald die Polizei stehen, und das wäre definitiv sehr, sehr unangenehm!
Rose erschien, mit drei weiteren hochrangigen Mitgliedern von mehreren verschiedenen Clangemeinschaften im Schlepptau, die sie kurzfristig alarmiert haben musste. Alle waren weiblich. Sie begutachteten den Wagen, die Tote, den Säugling, der sich nach wie vor recht still verhielt.
„Willowby meldet, dass er den Wagen anhand des Kennzeichens aufgespürt hat“, sagte Rose nach einem Blick auf ihr Handy. Ein Nachbar musste ein Bild von Auto und Kennzeichen weitergeleitet haben. „Es wurde in New York City gestohlen. Die Frau ist anscheinend Hazel Palmer, sie wurde von ihrem Ehemann als entführt gemeldet. Eine Grundschullehrerin, die mitten auf einem Supermarktplatz in ein Auto gezerrt wurde. Einem goldbraunen Ford, um genau zu sein. Er konnte den Täter nicht sehen, lediglich, dass es wohl ein Mann gewesen ist.“
„Fein. Wieso hat irgendjemand eine Grundschullehrerin entführt und zusammen mit einem neugeborenen Vampir hierhergeschickt?“, fragte Joanna ungehalten.
„Es scheint völlig verrückt. Andererseits können Menschen ungehindert in Vampirgebiete eindringen, ohne Kontrollen fürchten zu müssen“, sagte Rose nachdenklich. „Wenn jemand ein Neugeborenes von einem Clan zum nächsten bringen will, sagen wir, weil Clan A ein schwangeres Mitglied von Clan B in seinem Gewahrsam hält, und kein Interesse daran hat, für das frisch geborene Kind Sorge zu tragen, während die Verhandlungen noch im Gange sind, dann bräuchte es einen neutralen Boten. In diesem Fall wäre die arme Hazel lediglich auf der Durchfahrt gewesen. Möglicherweise hat sie einen Panikanfall erlitten, oder irgendetwas anderes ist geschehen, das zu dem Unfall geführt hat.“
„Ich habe einen Truck organisiert“, vermeldete Bryonie, die Alpha von Joannas unmittelbarem Clan. „Groß genug, um den Wagen vollständig darin zu verstecken. Heute Nacht setzen wir ihn zusammen mit dem Leichnam in einer einsamen Ecke aus.“
„Sehr schön. Bereitet weiter alles Notwendige zur Vertuschung vor“, befahl Rose. Ihr Handy klingelte. Es war Willowby.
„Ich hatte Kontakt mit allen Vampirclans in siebzig Meilen Umkreis“, grollte er weithin hörbar. „Keiner von ihnen weiß etwas von einem vermissten Neugeborenen. Sie wollen nichts damit zu tun haben.“
Was nachvollziehbar war. Würde ein Vampirclan ein fremdes Kind ungewisser Herkunft aufnehmen und die wahren Eltern plötzlich auftauchen, könnte das zu offenem Krieg führen, selbst wenn die Absichten zuvor gut gewesen waren. Das würde niemand riskieren.
„Sie würden also hinnehmen, dass ein unschuldiges Baby stirbt, wenn sich niemand darum kümmert?“, fragte Joanna ungehalten. Wie aufs Stichwort begann der Kleine zu quengeln. Er war sicherlich hungrig und müde.
„Ich habe jeden Vampirclanführer gefragt, was wir mit dem Jungen machen sollen“, erwiderte Willowby auf diese Frage. „Sie sagten übereinstimmend, dass sie versuchen werden, etwas herauszufinden, insgesamt aber zur Tötung raten würden.“
„Das kann nicht deren Ernst sein!“ Schockiert blickte sie auf den kleinen Jungen nieder. Er war ein wenig bleichhäutiger als ein Werwolfbaby, zudem kleiner und zarter gebaut. Ansonsten ließen sich keine Unterschiede ausmachen. Es war ein schuldloses Kind. Ein Lebewesen und im Gegensatz zum Irrglauben der Menschen garantiert kein Untoter. Im Gegenteil, Vampire waren ebenso lebendig wie jede andere Kreatur auch. Sie hatten keine sonderlichen Probleme mit Sonnenlicht, solange sie sich nicht zu lange darin aufhielten – sie neigten zu Sonnenbrand. Auch waren sie keine blutgierigen Monster, sie benötigten lediglich eine kleine Menge des roten Lebenssaftes, um ihre übernatürlichen Fähigkeiten zu befeuern.
„Mädels.“
Sie fuhren alle zusammen, als die dünne Greisinnen-Stimme hinter ihnen erklang. Sie gehörte Malfalda, einer Hexe, die als Wächterin in der Nachbarschaft lebte.
„Seid so gut und überreicht mir mal den kleinen Schreihals, ja?“
Sie sah wie eine kleine, freundliche Großmutter aus, mollig, faltig, mit grauen Dauerwellenlocken, violetter Strickjacke und braunen Röcken. Dazu graue Wollsocken in Gesundheitslatschen. Niemand wusste genau, was ihre wahre Gestalt war. Da Hexen hochrangige Dämoninnen waren, konnte man allerdings davon ausgehen, dass sie entweder von furchterregender Abscheulichkeit oder von absolut perfektionierter menschlicher Jugend und Schönheit war. Möglicherweise auch beides zugleich. In der Großmuttergestalt war sie jedenfalls gut zu ertragen und jeder vertraute ihr. Natürlich wusste man, dass diese Fassade eine Lüge darstellte und dennoch verfehlte es die gewünschte Wirkung nicht. Soweit Joanna bekannt war, wählten Wächterhexen zumeist diese Form der harmlosen Gestalt, gleichgültig ob sie heimlich über einzelne Kleinfamilien von übernatürlichen Kreaturen wachten, oder offen in großen Clangesellschaften wie Carver Grove hausten. Sie mischten sich sehr selten ein. Wenn sie es taten, dann nur, weil das große Gleichgewicht als solches in Gefahr war. Der Frieden, der zwischen den einzelnen Rassen untereinander sowie mit den ahnungslosen menschlichen Nachbarn herrschte.
Vor einiger Zeit etwa hatte eine Hexe gemeinsam mit einem Zyklop in der Minotaurengemeinschaft Nordamerikas mitgemischt. Details waren nicht bekannt, lediglich, dass eine mischrassige Familie von Minotauren und Meerjungfrauen betroffen gewesen sein sollte. *
Siehe „Operation Fishtank“
Joanna zögerte darum nicht, das Vampirbaby, das nach wie vor in diesem Schuhkarton lag, eingewickelt in die rote Wolldecke, an Malfalda zu überreichen. Prompt hörte der Kleine auf zu greinen, betrachtete die Hexe wie gebannt, die mit ernster Miene forschend in die Vampiraugen blickte.
„Die Mutter ist tot“, verkündete Malfalda nach einigen Momenten. „Niemand wird das Kind fordern. Niemand wird es aufnehmen. Ihr könnt es gefahrlos töten. Alternativ könntest du es adoptieren, Joanna.“
„Machst du Witze?“, fragten alle Werwölfinnen gleichzeitig.
„Keineswegs. Es hätte Vorteile. Die Vampirclans würden diese Geste freundlich aufnehmen. Es würde den Frieden in eurer Region stabilisieren. Der kleine Vampir wiederum würde mit den Werten der Werwolfgesellschaft aufwachsen. Damit wäre er in der Zukunft ein wertvoller Vermittler zwischen den Rassen. Als clanloser, aber reinblütiger Vampir würde man ihn in beiden Welten respektieren, wenn auch nirgends vollständig willkommen heißen. Sein Stand wäre stets schwierig. Deine Entscheidung, Joanna. Du hast genügend Milch, um ihn gemeinsam mit deinem eigenen Sohn aufzuziehen.“
„Nie im Leben!“, rief sie energisch. „Er kann kein Bruder für meinen Chris werden! Und die Muttermilch von Werwölfen kann unmöglich bekömmlich für ihn sein. Wie stellst du dir das vor?“
„Die Körper von Werwölfen und Vampiren sind zu achtundneunzig Prozent menschlich“, hielt Malfalda gelassen dagegen. „Eure Übernatürlichkeit begrenzt sich auf gerade einmal zwei Prozent. Die sind für sämtliche Fähigkeiten wie Wolfswandlung, Vollmondrausch, extreme Kraft und Schnelligkeit und all den anderen Kram verantwortlich. Der Zwerg wird von deiner Milch genauso gedeihen wie von der einer reinblütigen Menschenfrau. Und wenn du das nicht willst, kauf das Pulverzeug, dass die Menschen erfunden haben. Funktioniert ebenfalls.“
„Und trotzdem kann ich ihn nicht an meine Brust legen! Es ist unmöglich!“ Joanna schüttelte sich vor Abscheu und erstarrte zugleich, da Noah hinter sie getreten war. Er hielt Christopher in den Armen, der nach wie vor friedlich schlief. Ein Blick in sein Gesicht zeigte, dass er alles wusste. Was er dazu dachte, offenbarte er hingegen nicht.
„Nun, es macht keinen welterschütternden Unterschied“, sagte die Hexe und reichte das Baby an Joanna zurück. „Wenn du ihn eklig findest, bring ihn halt um. Drück ihm die Decke aufs Gesicht, bis er aufhört zu zappeln, und verbuddle ihn anschließend unter den Rosen. Verbrennen wäre natürlich besser, aber du scheinst mir etwas zart besaitet, Liebes.“
Hilflos starrte Joanna auf das Kind hinab, das genauso hilflos zu ihr hochschaute. Still. Voller Vertrauen, weil diesem armen Ding nichts anderes übrig blieb. Es musste jedem vertrauen, der es in die Arme nahm. Seine Augen waren riesig. Voller Unschuld. Sie konnte es nicht töten. Nie im Leben wäre sie in der Lage, einen Säugling zu töten!
„Noah …“, stieß sie wimmernd hervor. Der beugte sich zu ihr herab, umschlang sie beschützend und tröstend mit einem Arm.
„Du hast sie gehört“, raunte er ihr ins Ohr. „Es hätte Vorteile, den Jungen aufzunehmen. Du musst ihn nicht umbringen. Ich würde ihn willkommen heißen. Wenn die Vampire uns dadurch in Ruhe lassen, sobald sie das nächste Mal über die Grenzen kommen, wenn es das Leben unseres eigenen Sohnes sichert …“
„Was ist mit den anderen Werwolfclans? Würden sie es freundlich hinnehmen, dass wir einen Vampir …?“
„Würden sie“, sagte Rose fest. „Eben weil er clanlos ist und eure barmherzige Tat die Vampire befrieden würde. Tu es, Joanna. Nimm ihn an! Wenn dein Gefährte zustimmt, steht doch wirklich nichts mehr im Weg!“
„Aber … Was geschieht während des Vollmondrausches, wenn wir nicht nach ihm schauen können?“
„Ich bin eine recht ordentliche Babysitterin“, ließ sich Malfalda vernehmen. „Die ersten Jahre verschläft er das sowieso größtenteils, und später wird er nicht mehr viel Aufsicht benötigen.“
„Dann …“ Joanna schluckte hart, während sie den Kleinen aus dem Karton befreite. Sie wusste, welche Verantwortung sie gerade in den Händen hielt. Ein clanloser Vampir inmitten von Werwölfen. Dieser Junge war zu einer harten, unglücklichen Kindheit verdammt, wenn sie ihn aufnahm. Überstehen konnte er das nur bei voller seelischer Gesundheit, wenn er eine starke Adoptivfamilie hinter sich hatte. Ungewiss war dabei, wie Christopher auf seinen Adoptivbruder reagieren würde, sobald die beiden älter wurden. Würde er ihn auch dann noch lieben, wenn er selbst von jugendlichen Werwölfen gehänselt und gemobbt werden würde? Schlimmstenfalls verdammte sie auch ihren eigenen Jungen zu einer harten, freudlosen Kindheit und Jugend.
Der Kleine regte sich in ihren Armen. Seine Haut war warm und duftete nach Baby. Sie spürte das kleine Herz schlagen. Spürte ihn atmen. Sah, wie er zu suchen begann, wie sich das zarte Gesichtchen verzog, bevor er wieder leise loswimmerte. Er war hungrig. Es brach Joannas Mutterherz, ihn auf diese Weise zu sehen. Milch schwemmte aus ihren Brüsten, im Reflex auf das hungrige Weinen, das allmählich lauter und verzweifelter wurde.
„Tu es“, drängte Rose. „Nimm ihn mit in dein Haus. Gib ihm, was er braucht. Wir stehen hinter euch, Liebes. Dieses Dorf wird euch beistehen, dieses Kind großzuziehen.“
„Sein Name ist übrigens Jamie“, ließ sich Malfalda vernehmen. „Sie hat diesen Namen laut ausgesprochen. Seine Mutter, meine ich, unmittelbar nach der Geburt. Gut, möglicherweise war das auch der Name des Vaters, irgendeiner anderen anwesenden männlichen Person oder sogar des Mörders. Da es ein sehr netter und sehr häufiger Name ist, könnt ihr ihn ja trotzdem übernehmen, wenn ihr wollt. Oder auch nicht. Es macht keinen Unterschied für das große Ganze.“
„Aber er ist ein Vampir …“ Joanna wusste längst, dass sie verloren hatte. Das Kind weinte in ihren Armen und bettelte um Nahrung. Eher würde sie sich selbst die Hände abschneiden, als es zu töten!
„Ja, natürlich ist er ein Vampir. Dafür kann er doch nichts! Er hat nie darum gebeten, als Vampir geboren zu werden. Komm, Liebes!“ Noah schob sie in Richtung Haus. Joanna war verunsichert von seiner Zuversicht. Es hatte Jahre gebraucht, bis er einverstanden gewesen war, ein eigenes Kind zu zeugen und jetzt sprang er Hals über Kopf auf die Möglichkeit an, ein fremdes zu adoptieren? Einen Vampir?
Als sie allein in ihrem Haus waren und Joanna den Kleinen sehr, sehr zögerlich an ihre Brust legte und sich fürchterlich über die Tränen ärgerte, die dabei über ihr Gesicht liefen – all diese Stillhormone machten sie weich wie einen in Milch aufgelösten Keks, verflucht! – veränderte sich Noahs Ausdruck.
„Wir müssen ihn nicht lieben“, sagte er und betrachtete den nun friedlich saugenden Jungen. „Er hat noch keine Zähne, oder?“
„Nein. Keine spitzen Beißer weit und breit. Andernfalls hätte ich dich schon losgejagt, um Milchpulver zu kaufen“, erwiderte sie würdevoll. Vampire besaßen nicht diese völlig übertriebenen Auswüchse, die menschliche Folklore ihnen zuschrieb. Bei ihnen waren die Eckzähne ein bisschen länger und spitzer ausgeprägt, als es sonst bei Menschen üblich war, aber das sah eher nach einer Laune der Natur aus.
„Wir müssen ihn nicht lieben“, wiederholte er. „Er ist eine Lebensversicherung für Christopher. Für uns. Wir werden ihn anständig behandeln und ihm alles geben, was er braucht. Das wird genügen.“
Sie nickte und ließ ihn in diesem Irrglauben. Im Moment war da noch Scheu vor der fremdartigen Natur des Kleinen. Sie wusste, in einigen Tagen würde ihr keine andere Wahl bleiben. Noah konnte vielleicht neutral oder sogar ablehnend aufgestellt sein. Sie hingegen würde Jamie lieben wie ihr eigenes Kind. Dieser Gedanke war eher beängstigend als alles andere. Sie würde einen Vampir lieben …
Einen hilflosen Jungen, dessen eigene Mutter ermordet wurde. Ein Junge, der es immer schwer haben wird im Leben. Der nirgends zu Hause ist, nirgends dazugehört. In meinem Herzen wird er seinen Platz finden. Möglicherweise das einzige Herz, das er jemals erobern wird.
Ihr Handy plingte leise. Joanna zog es aus der Tasche, es war eine Nachricht von Malfalda. Eine Sprachnachricht, um genau zu sein.
„Die gute Rose hat dafür gesorgt, dass man euch einmal im Monat mit gefrorenen Blutwürfeln beliefern wird. Am Anfang braucht der Zwerg rund zwanzig Milliliter pro Woche. Ab dem sechsten Monat werden das vierzig, ab dem zwölften achtzig. Mit drei Jahren hundertsechzig. Auf dem Stand bleibt es dann, bis er in die Pubertät eintritt. Sobald er den Stimmbruch hat und rasant zu wachsen beginnt, wird er eine volle Blutkonserve pro Woche benötigen. Insgesamt recht machbar, wie ich finde.“
Damit hatte sie tatsächlich recht, die fiese alte Hexe. So schwierig war es nun wirklich nicht, ein bisschen Blut in lauwarme Milch zu mischen und dies mit einem Fläschchen zuzufüttern.
Mittlerweile war Jamie eingeschlafen. Joanna legte ihn sich über die Schulter und klopfte ihm behutsam auf den Rücken, damit er die Luft los wurde, die er beim Trinken verschluckt hatte. Das Gefühl, diesen zarten, kleinen Körper an sich zu drücken, rührte sie noch mehr zu Tränen. Verdammt!
Christopher wählte genau diesen Moment, um aufzuwachen. Ohne etwas zu sagen, stand Noah auf und nahm ihn mit, um ihn erst einmal mit einer frischen Windel abzulenken, damit Joanna genügend Zeit haben würde, sich auf die nächste Stillrunde einzustellen.
„Möglicherweise wirst du mich hassen, kleiner Jamie“, wisperte sie dem Jungen zu. „In zwanzig, dreißig Jahren, wenn du erwachsen bist, wirst du mir womöglich Vorwürfe machen, weil ich dich zu einem Leben in Einsamkeit verdammt habe, statt dich einfach zu töten. Vergib mir meine Schwäche. Vergib mir. Ich verspreche, ich werde dich lieben, so gut ich kann.“ Sie legte ihn zurück auf die Wolldecke, die sie mit ins Haus genommen hatten. Nach einem kurzen Moment des Zögerns brachte sie ihn zu Christophers Bettchen. Die beiden Jungen waren noch klein genug, sie würden gemeinsam in diesem Bett schlafen können. Noah runzelte leicht die Stirn, als er zurückkehrte, doch er sagte nichts. Sicherheit war sein Wunsch, Sicherheit für ihren Sohn. Nun, wenn der Garant für diese Sicherheit mit in Christophers Bett schlief, sollte das bestmöglich funktionieren, nicht wahr?
Sie hoffte und betete, dass sie keinen Fehler gemacht hatten. Sie hoffte …
Ja, dies ist noch ein weiterer Prolog. Immerhin gibt es zwei Helden in dieser Story und dies ist der Titel:
alfalda spazierte die Straße entlang. Ein Truck kam ihr entgegen, ziemlich sicher das Monstrum, das die Wölfinnen bestellt hatten, um darin das kaputte Auto mit der ziemlich kaputten Leiche zu verbergen und fortzuschaffen. Das war notwendig, wenn auch herzzerreißend. Hazel hätte nicht sterben dürfen.
Selbstverständlich wusste Malfalda einiges mehr über diese Angelegenheit, als sie laut ausgesprochen hatte. Es war nicht ihre Aufgabe als Hexe, jegliches bisschen Wissen und Wahrheit in die Welt hinauszublöken, sondern wohldosiert mit dieser gefährlichen Macht umzugehen. Wissen. Oh, es gab wenig, was noch gefährlicher sein könnte als das. Im Moment war sie vollkommen zufrieden damit, dass Joanna den kleinen Vampir angenommen hatte.
Nun musste sie das nächste Problem regeln. Zum Glück brauchte sie dafür nicht allzu weit zu laufen. Dieser Körper, den Malfalda aus einer Vielzahl von Gründen benutzte, war nicht sonderlich gut zu Fuß.
Eine Straße weiter fand sie das Paket, das Hazel zuvor panisch aus dem Wagen geworfen hatte. Ein harmlos wirkender Karton mit Löchern. Bislang hatte sich noch niemand dafür interessiert, weil er in einem dichten Gebüsch gelandet war und sämtliche Wölfe der Umgebung zum Haus von Noah und Joanna geeilt waren, um zu schauen, was dort vor sich ging. Sie lugte hinein. Ein winziges Werwolfbaby lag darin. Ein neugeborener kleiner Junge, einige Wochen zu früh ins Licht der Welt gestoßen. Das geschah manchmal, selbst bei übernatürlichen Wesen lief nicht immer alles nach Plan. In diesem Fall war es kein natürliches Ereignis gewesen. Armes Ding.
Kein Wolfsclan würde den Kleinen aufnehmen, genauso wenig, wie die Vampire Jamie adoptiert hätten, und die Gründe dafür waren dieselben. Traurigerweise würden die Vampire keinen Moment lang zögern, den Jungen umzubringen. Ihre mütterlichen Instinkte waren deutlich weniger ausgeprägt als die der Wölfe. Aus sehr unterschiedlichen Gründen wollte Malfalda das nicht zulassen, darum hob sie den Karton hoch und marschierte auf das Haus zu, das sie bereits auserkoren hatte. Es lag eine Straße von Joannas und Noahs Haus entfernt, allerdings grenzten die Gärten aneinander. Extrem praktisch …
In diesem Haus wohnte ein nettes Menschenpaar. Reine, pure Menschen, ohne einen einzigen Tropfen übernatürlichen Blutes. Michael und Lysanne Morrison versuchten schon seit einigen Jahren vergeblich, ein eigenes Kind zu zeugen. Sie waren beide Anfang dreißig, hatten ordentliche Berufe, pflegten ihr Haus, den Garten, einen großen Freundeskreis … Ihre Nachbarn empfanden sie als merkwürdig reserviert, aber immerhin höflich. Dass sie von Werwölfen und Vampiren umgeben waren, hatten diese unschuldigen Seelen bis heute noch kein einziges Mal erkannt und sie würden es auch in Zukunft nicht erkennen.
Malfalda verzichtete darauf zu klingeln, materialisierte durch die geschlossene Tür und marschierte in die offene Wohnküche, die die gesamte untere Etage einnahm. Es war Samstag, noch recht früh am Vormittag. Die Morrisons hatten von dem Autounfall nichts mitbekommen, sie genossen ihren freien Tag. Den Großeinkauf für die Woche hatten sie gestern schon erledigt, den Haushaltskram würden sie nachher gemeinsam angehen. Oder zumindest war das ihr Plan, den Malfalda jetzt ändern würde.
„Ma’am?“ Michael sprang von seinem Platz am Küchentresen auf und stieß dabei fast die halbvolle Kaffeetasse um. „Haben Sie sich verlaufen?“, fuhr er besorgt fort. Malfaldas vollkommen harmlose Gestalt einer hutzeligen kleinen Großmutter ließ den Gedanken, sie könnte eine Gefahr oder eine Einbrecherin sein, schlicht und ergreifend nicht zu. Er vermutete, dass sie an Demenz litt und irgendwie Zugang zum Haus gefunden hatte.
„Ich bringe euch euren Adoptivsohn“, sagte sie mit fester Stimme, ging zum Tresen und stellte den Karton darauf ab.
„Unseren … was?“ Lysanne erstarrte, als Malfalda den Karton öffnete und das schlafende Baby heraushob. Ein hübscher kleiner Kerl war das. Hellbraunes Haar, dunkle Teddyaugen. Ein bisschen zart für einen stolzen Wolf, aber das würde er mit ausreichend Pflege und Zuwendung schnell auswachsen.
„Das wird jetzt irrsinnig mühsam.“ Malfalda seufzte und wedelte zugleich ungeduldig mit der Hand, um die beiden Menschen in Trance zu versetzen. Dann griff sie zum Smartphone, um eine Reihe von Bestellungen bei Gnomazon aufzugeben. Ein Online-Lieferservice, der von Gnomen, Erdwichteln und Kobolden geführt wurde. Mit Riesenrennschnecken, die unterirdisch durch jegliche Art von Gestein diffundieren konnten, lieferten sie alles aus, was mythische Wesen zum Leben brauchten, von Tomatensauce bis zum Luxuskreuzfahrtschiff, von Einhornhaaren bis zu magischen Flügelschuhen.
Keine fünf Minuten später erschien eine Flotte von drei Riesenschnecken. Ein einziger Wichtel hatte sie unter Kontrolle und zog Paket um Paket aus den magischen Satteltaschen. Er gehörte zum Stamm der Grünlinge, eine Wichtelrasse, die etwas größer und selbstbewusster als viele andere Artgenossen war. In seiner erdbraunen Gnomazon-Uniform sah er ein bisschen aus wie eine verdorrte Bohnenranke.
„Hier unterschreiben, Ma’am … Ich meine, Eure erhabene Scheußlichkeit“, zwitscherte der kleine Kerl und hielt Malfalda ein Klemmbrett unter die Nase. Sie wackelte nachlässig mit dem Zeigefinger, ihre Unterschrift brannte sich mit Höllenfeuer und gestochen scharfen Buchstaben auf dem Bestellbogen ein.
„Bestellen Sie bald wieder bei uns.“ Der Wichtel trillerte, und schon diffundierten die Schnecken wieder durch den Fußboden.
„Michael!“ Sie schnippte energisch mit den Fingern und zwang den Mann dazu, die Pakete auszupacken, während sie magisch den Raum freiräumte, der als Kinderzimmer geplant war. Mit ein wenig Unterstützung fanden ein Bettchen, ein Kleiderschrank mit großzügiger Befüllung an geeigneter Bekleidung, eine Wickelkommode und alle sonstigen Notwendigkeiten ihren Platz. In der Küche tauchte ein Flaschenwärmer auf, Pakete mit Säuglingsnahrungspulver stapelten sich in der Vorratskammer.
„So, Kinder, und jetzt hört mir zu!“, befahl sie und zwang die Aufmerksamkeit des Paares auf sich. „Ihr wurdet von den Behörden heute Nacht verständigt, einen Notfall zu übernehmen. Frühgeburt, Mutter verstorben, weitere Familie unbekannt. Weil ihr keine eigenen Kinder bekommen könnt, habt ihr erst vor wenigen Tagen den Antrag gestellt, als Pflegeeltern eingetragen zu werden. Dass es so schnell gehen könnte, damit habt ihr natürlich nicht gerechnet, darum seid ihr auch entsprechend schockiert, aber mehr als gewillt, euch dieser Verantwortung zu stellen. Ihr werdet niemals herausfinden oder auch nur vermuten, dass euer Pflegesohn, den ihr in zwei Jahren offiziell adoptiert, tatsächlich ein Werwolf ist. Ihr wundert euch nicht, dass sich grundsätzlich einmal im Monat, an jedem Vollmond, Umstände entwickeln, aufgrund derer ihr den Kleinen woanders übernachten lassen müsst. Das Schätzchen wird euch viel Freude bereiten und eure Nachbarn, die bislang so reserviert waren, werden in Zukunft ständig bei euch ein- und ausgehen, was euch sehr gut gefallen wird. Eure eigenen Familien und Freunde müsst ihr natürlich jetzt zügig informieren, das alles war ja völlig frisch, ihr seid jetzt überrumpelt, aber so, so glücklich! Und nun ran ans Werk. Ach ja: Das niedliche Fellknäuel heißt Neville. Dummer Name, wenn man mich fragt, aber das tut wie üblich ja keiner. Habt Spaß!“
Sie schnippte erneut und verließ das Haus, während die Morrisons sich mit einem schlafenden Neugeborenen in den Armen wiederfanden, blinzelnd vor Verwirrung, bis all die magischen Kommandos und Anweisungen angekommen waren und sie ebenso erschrocken wie hocherfreut feststellten, dass sie nun tatsächlich Eltern waren.
Malfalda rief derweil Rose an und informierte sie sehr knapp über alles, was sie arrangiert hatte.
„Ist das jetzt dein Ernst?“, fragte die Wölfin verblüfft. „Du hast einen kleinen Werwolf bei Normalmenschen untergebracht? Wie soll das denn funktionieren?“
„Es wird deine Aufgabe sein, den Kleinen vor jeder Vollmondnacht abzuholen und dafür zu sorgen, dass die Eltern keine Verwandlung, keine Pelzgesichter, keine Reißzähne und keine langen Klauen erblicken. Ganz einfach und logisch. Ihr werdet euch mit den Morrisons anfreunden. Kein Clan kann den fremden Wolf adoptieren, aber alle Clans zusammen können dafür sorgen, dass der Knirps überlebt. Genauso wie der Mini-Vampir.“
„Wer zur Hölle hat das getan?“, fragte Rose leise nach einer schockierten Pause. „Wer hat die beiden Mütter umgebracht? Wer hat Hazel entführt, und wohin sollte sie die Kinder bringen? Warum hat sie den Wolf rausgeworfen? Was soll das alles?“
„Du weißt, dass ich diese Fragen nicht beantworten kann, Liebes. Ausgenommen einer. Na ja, eineinhalb. Hazel hatte Scharren und Kratzgeräusche aus dem Wolfskarton gehört und darüber die Nerven verloren. Deshalb hat sie den Kleinen ins Gebüsch geworfen. Ihr Tod unmittelbar danach war tatsächlich ein reiner Unfall, sie hatte vor lauter Panik und Tränen in den Augen und Angst den Wagen nicht mehr im Griff.“
„Nun gut“, brummte die Wölfin. „Ich statte den Morrisons dann gleich mal einen Freundschaftsbesuch ab. Es ist schon ungeheuerlich, was hier geschieht!“
„Noch viel mehr, als du ahnst“, knurrte Malfalda und beendete das Gespräch. Sie würde jetzt noch Papierkram für die zuständigen Behörden fälschen müssen, damit alle menschlichen Beteiligten glaubten, es wäre ein völlig normaler Vorgang von Pflegeelternschaft. Inklusive Betreuung und Kontrollbesuchen und dem ganzen Unfug. Oh. Und ihre eigenen Vorgesetzten musste sie natürlich auch über den Vorgang verständigen. Zum Glück waren die höllischen Behörden bei weitem nicht so kompliziert und bürokratiebesessen wie die menschlichen. Jedenfalls nicht gegenüber den dämonischen Mitarbeitern.
„Ein bis zwei Problemchen fachgerecht verwaltet“, meldete sie, als der schichtführende Dschinn ihren Anruf über den Ätherkanal annahm.
„Unnötig kreative Lösung“, knurrte dieser, sobald er die Details kannte. „Es wäre so viel leichter für sämtliche Beteiligten, wenn diese Kinder umgebracht worden wären.“
„Meine Methoden machen mehr Spaß.“
„Na ja … vielleicht auch das. Spaß als Kriterium für schicksalsentscheidende Maßnahmen führt in 97,48 Prozent der Fälle zu menschlichem Leid und vermeidbaren Katastrophen.“
„Drückt dich die Unendlichkeit mal wieder?“, fragte sie spitz.
„Halt die Fresse, dämliche Vettel“, beschied er ihr freundlich und ließ die Verbindung abbrechen. Dschinns konnten völlig grundlos empfindlich sein. Schließlich mochten sie menschliches Leid und Katastrophen genauso gerne wie jeder andere Dämon auch.
Glucksend wandte sie sich wieder ihrem Tagesgeschäft zu. Was war das schön, so viel Macht zu besitzen!
amie drückte den widerspenstigen Hebel vorsichtig zur Seite. Das Ding war bereits ordentlich durchgerostet, die Gefahr groß, ihn versehentlich abzureißen. Dafür wiederum würde sein Dad ihm den Kopf abreißen. Der hatte klargemacht, dass er keine Lust hatte, in dieser Sommersaison einen neuen Rasenmäher zu kaufen. Alles war teuer geworden und mit seinem Job als Chief Consultant’s Manager Undersecretary für den obersten Direktor einer großen Versicherungsgesellschaft – oder anders ausgedrückt, er war ein Angestellter, dessen Nutzen niemand kannte, er wurde in erster Linie dafür bezahlt, dass er morgens im Home Office sein Laptop hochfuhr und an dutzenden Besprechungen teilnahm, über die er anschließend ein bis zwei E-Mails an den Protokollführer schickte, sofern es einen gab – verdiente er leider nicht allzu viel. Vor fünfundzwanzig Jahren, als Jamie und sein Adoptivbruder Christopher gerade geboren worden waren, da hatte man mit einem solchen Gehalt noch ein Haus bauen können. Mittlerweile war alles praktisch unbezahlbar geworden.
Jamies Mom arbeitete ebenfalls im Home Office, sie organisierte Patientendateien einer Gemeinschaftsarztpraxis, übernahm die Korrespondenz mit den Krankenversicherungen und schickte Rechnungen an die Patienten. Außerdem arbeitete sie ehrenamtlich für die Werwolfgemeinschaft, schrieb Behördenbriefe für jene Alten, die sich nicht in der Lage sahen, die Digitalisierung mitzumachen. War für so manche Hundertfünfzigjährige und noch ältere Leutchen eine unzumutbare Bürde, wofür jeder Verständnis hatte.
Der verfluchte Rasenmäher stotterte leise, statt anzuspringen, dabei hatte Jamie es mit sehr viel Zartgefühl versucht.
Eine Bewegung aus dem Augenwinkel war die einzige Warnung, die ihm blieb. Er warf sich zur Seite, wusste, für Flucht blieb ihm keine Zeit mehr. Was er tun konnte, war den Rasenmäher zu schützen, damit dieser nicht zu Bruch ging.
„GROAAAR!“ Ein riesiger Wolf warf Jamie zu Boden und begrub ihn unter sich. Sie rollten übereinander, untereinander, kämpften beide verbissen um die Vorherrschaft. Jamie kümmerte sich nicht um die zahllosen Kratzer, die er von den Krallen erlitt. Erbarmungslos boxte er auf den Wolf ein. Jedes natürliche Lebewesen wäre längst unter seiner mythisch-vampirischen Körperkraft tot zusammengebrochen, mit Knochenbrüchen im gesamten Leib. Für einen Werwolf bestand diese Gefahr nicht. Diese Beulenpest namens Chris, die Jamies großer Bruder war, wusste das ganz genau. Außerdem wusste er, dass auch Jamie absolut unverwüstlich war, weswegen er ohne jede Scheu oder Rückhalt über ihn herfiel.
„Hör auf, du verfluchter Flohpelz! Ich muss Rasen mähen!“ Mit beiden Händen zugleich hielt er das geifernde Maul seines Bruders von sich fern. Eine Hinterpfote latschte gewaltsam in Jamies Unterbauch. Er zuckte zusammen, was Chris die Angriffsmöglichkeit eröffnete, auf die er gelauert hatte: Er ließ sich auf ihn niederfallen, drückte ihm die Arme runter, umfasste mit den Reißzähnen Jamies Kehle. Damit war er offiziell besiegt, was er ungeduldig hinnehmen musste.
Gerade wollte Chris sich verwandeln, als er sich plötzlich versteifte und etwas von ihm abrückte. Er begann zu hecheln und machte auf freundlichen Familienhund. Dieser blöde Schauspieler!
Hinter ihnen, von jenseits der Hecke, erklang Geklapper.
„Guten Morgen, Jamie! Wie schön, dass du dir immer noch Zeit nimmst, mit eurem alten Hund zu spielen!“
„Guten Morgen, Mrs. Morrison!“, rief er zurück. „Ja, er ist solch ein braver, guter Junge.“ Im viel zu hohen Gras liegend tätschelte er Chris‘ Schnauze. „Eigentlich wollte ich ja Rasenmähen, aber mit dem alten Jungen zu toben ist ja auch irgendwie wichtig.“
Chris grollte leise, um ihn zu ermahnen, es nicht auf die Spitze zu treiben. Jamie lächelte bloß. Das musste Chris jetzt hinnehmen. Selbst schuld, wenn er ihn in Wolfsgestalt attackierte!
„Ich sollte Neville wohl auch mal an die Arbeit schicken, unser Rasen hat es ebenfalls bitter nötig. Bis später, Jamie!“ Mrs. Morrison winkte freundlich lächelnd, während Jamie innerlich stöhnte. Er konnte Neville auf den Tod nicht ausstehen, und das war noch harmlos ausgedrückt. Chris hingegen war zwar nicht gerade mit dem Nachbarswolf befreundet, der unter merkwürdigsten Umständen von den Morrisons adoptiert worden war – die beiden wussten bis heute nichts davon, dass sie einen Werwolf großgezogen hatten – aber er unterhielt sich recht freundlich mit ihm, wenn sie aufeinanderstießen.
Als die Nachbarin endlich abgezogen war, verwandelte sich Chris und ließ ihn los.
„Guter alter Junge?“, fragte er empört. Jamie streckte ihm die Zunge raus. Ja, sie waren beide erwachsen. Das hatte noch nie etwas für ihren Umgang miteinander zu bedeuten gehabt.
„Statt mich von der Arbeit abzuhalten, könntest du mir helfen, dieses doofe alte Ding zum Laufen zu bringen“, schlug er vor und wies auf den Rasenmäher.
„Vergiss es! Du willst ja bloß dafür sorgen, dass ich derjenige bin, der den Starthebel abbricht, damit du es Dad brandheiß petzen kannst!“ Chris rieb sich über die Rippen und verzog das Gesicht ein wenig. Da hatte Jamie ihn wohl besonders heftig erwischt. Gut! Der Spinner hatte es eindeutig verdient.
„Na, wenn du nicht helfen willst, dann hau ab und mach deinen eigenen Kram fertig. Kann nicht jeder faul herumhängen, so wie du!“
„Willst du frech werden, du Wanze? Na, dann komm her!“ Chris packte ihn am Kragen und holte mit der Faust aus. Unerschrocken starrte Jamie ihm entgegen, forderte ihn mit Blicken heraus, es zu wagen, ihm die Nase zu brechen.
„Jungs!“ Ihre Mom kam aus dem Haus, einen Korb voller violetter Petunien in den Armen, und bedachte sie mit einem Warnblick der Stufe 2. Stufe 1 bedeutete lediglich, dass sie ihre Pläne überdenken sollten. Stufe 2 signalisierte mütterliche Ungeduld. Bei Stufe 5 war alles zu spät. Ihre Mutter war leidgeprüfte Veteranin, die beide Hände voll damit zu tun gehabt hatte, zwei lebhafte Kinder mit übernatürlichen Fähigkeiten großzuziehen. Natürlich besaß sie selbst diese Fähigkeiten ebenfalls, der Trick war bloß, dass die Nachbarn nichts davon mitbekommen durften. Wie oft hatten Chris und Jamie sich gegenseitig durch das Viertel gejagt, Chris in Wolfsgestalt, Jamie mit all der fantastischen Geschwindigkeit und den Reflexen eines Vampirs. Unzählige Male hatte irgendein Werwolf in der Nachbarschaft sie beide im allerletzten Moment am Kragen erwischt und zurückgezerrt, bevor sie die unsichtbaren Grenzen zu den Vampirgebieten überschreiten konnten. Wie oft waren sie nachts ausgebrochen, um in der Dunkelheit umherstreifen zu können! Nachts – und nur und ausschließlich nachts – konnte Jamie Fledermausgestalt annehmen und häufig genug war dann eben kein Werwolf zur Stelle gewesen. Stattdessen hatten die Vampire sie gejagt, was Jamie und Chris gemeinsam genossen hatten, um sie stillschweigend und kopfschüttelnd zurück über die Grenze zu scheuchen. Mehr war tatsächlich nie passiert. Damals hatten sie in ihrem kindlichen Leichtsinn gedacht, das wäre selbstverständlich …
Jamie wartete, bis Chris unterwegs war, um ihren Dad beim Einkaufen zu unterstützen und Mom nochmal im Haus verschwunden war, bevor er dem Rasenmäher einen wohlkalkulierten Tritt versetzte. Spotzend und knatternd erwachte der widerspenstige Motor zum Leben. Endlich! Das hätte natürlich auch gründlich schiefgehen können. Möglichst rasch begab er sich an die Arbeit. Niemand konnte sagen, wie lange dieses dumme Ding funktionieren würde.
Neville beobachtete Jamie durch einen Spalt in der Hecke, die ihre Grundstücke voneinander trennte, während er den abgestorbenen Fliederbusch ausgrub. Seine Mom hatte ihn darum gebeten, und danach sollte er noch den Rasen mähen. Genau wie Jamie, diese Pestbeule.
Obwohl sie ihr gesamtes Leben in angrenzenden Gärten nah beieinander gewohnt hatten, hatten sie sich erst recht spät kennengelernt. Die ersten Jahre durfte Jamie ausschließlich dann ohne elterliche Aufsicht das Haus verlassen, als sein Bruder alt genug geworden war, um ihn im Notfall verteidigen zu können – auch wenn alle erwachsenen Werwölfe den politischen Wert eines clanlosen Vampirs in ihrer Gemeinschaft begriffen und akzeptierten, für Kinder und Jugendliche galt dies nur begrenzt. Anscheinend waren Vampire in der Kindheit noch recht anfällig, vergleichbar mit einem normalen Menschen. Die schnelle Wundheilung existierte zwar schon von Geburt an, die Knochen waren allerdings weich und auch die Haut war empfindlich. Christopher hatte dementsprechend lernen müssen, sich bei den Spielen mit seinem Bruder zurückzunehmen.
Erst mit etwa zehn Jahren waren Neville und Jamie ernstlich aufeinandergestoßen. Es war in Carver Grove üblich, übernatürliche Kinder die ersten Jahre zu Hause zu unterrichten und erst ab etwa der fünften Klasse in eine Schule zu schicken. Andere Gemeinschaften besaßen auch Grundschulen. Diese Möglichkeit, also qualifizierter Unterricht durch studierte Lehrkräfte, existierte nur für jene mythischen Kreaturen, die in Clanstrukturen lebten und zusammenhielten. Diejenigen, die in einzelnen kleinen Familienverbänden oder allein lebten, konnten weder ihre Kinder zur Schule oder Universität schicken noch einem normalen menschlichen Beruf nachgehen. Häufig genug hatten diese Kreaturen zudem besondere Bedürfnisse, wie etwa Minotauren, die den größten Teil des Tages damit zusammenbrachten, Gras zu fressen und wiederzukäuen, oder Meeresbewohner, die sich vorzugsweise in Salzwasserbecken aufhielten.
Für Vampire und Werwölfe gab es eigene Schulen, Universitäten und sogar Ausbildungsstätten. Weil ihre Anzahl zu gering war, um voneinander getrennt leben zu können, mussten sie sich gemeinsam arrangieren. Darum lebten sie auch dicht an dicht, ihnen blieb bei aller Rivalität schlicht und ergreifend nichts anderes übrig.
Neville hatte sich immer gut mit Christopher verstanden. Jamie hingegen … Vom ersten Moment an hatte es da nichts als Stress gegeben. Bis heute hatte sich daran nichts geändert. Sie hielten notgedrungen den Frieden, wenn sie sich begegneten, doch da war weder Freundschaft noch Respekt möglich. Sie konnten einander nicht ausstehen! Da waren Dinge in ihrer Jugend passiert, die rückblickend wie entsetzliche Albträume anmuteten. Dinge, die ihm nie jemand geglaubt hatte. Unverzeihliche Dinge.
Zum Glück begegneten sie sich nicht mehr häufig, seit Neville von zu Hause ausgezogen war, und Jamie ließ ihn heutzutage in Ruhe. Seine ahnungslosen Eltern wussten nicht, was für ein College das gewesen war, das er damals besucht hatte. Sie glaubten nach wie vor, er wäre ein vollkommen normaler Mensch, der heutzutage „irgendwas mit Computer“ machte und eine kleine Junggesellenwohnung fünf Straßen weiter bezogen hatte. An den Wochenenden kam er vorbei und half ihnen mit Haus und Garten, im Gegenzug wusch seine Mom ihm die Wäsche. Nach wie vor glaubten sie auch fest daran, er würde eines Tages eine nette Frau finden, sie heiraten und Kinder zeugen. Obwohl – Neville vermutete, dass zumindest seine Mom ahnte, dass er nicht bloß Frauen spannend fand, es schien sie nicht zu sehr zu bekümmern. Noch hatte er keinen Anlass gefunden, sich mit seiner Pansexualität zu outen. Das war solch ein mühsames Ding bei Menschen, während bei Übernatürlichen aufgrund der Witterung jedem sofort klar war, wenn jemand sein Gegenüber attraktiv fand. Tatsächlich war zumindest Bisexualität bei Werwölfen extrem verbreitet.
Dass die Nachbarsjungen Jamie und Christopher so hartnäckig im Elternnest hockten und keineswegs an Auszug dachten, begriffen Nevilles Eltern nicht. Nun, das mussten sie ja auch, für sie war die Welt der Übernatürlichen geheim und so sollte es bleiben.
Neville arbeitete als Computerexperte für die Werwolfgemeinschaft. Es gab viel zu organisieren und zu tun, um die Clans vor den Behörden geheim zu halten, die Institute zu verwalten und noch vieles mehr. Auch Jamie und sein Bruder hatten Jobs dieser Art. Christopher arbeitete als Verwaltungsangestellter in New York City und war häufig beruflich unterwegs, kam eigentlich nur an den Wochenenden nach Hause, während Jamie Lehrer geworden war und an der hiesigen Schule unterrichtete. Vampire wurden für diesen Beruf bevorzugt, sie fielen nicht während des Vollmonds aus.
Nach allem, was Neville hörte, war Jamie beliebt bei den Kids. Er hasste den Kerl trotzdem!
Noch während er den ausgegrabenen Flieder in Stücke sägte und dabei wesentlich mehr Energie als notwendig aufwandte, kam eine Nachricht auf seinem Handy an.
„In einer Stunde Vollversammlung im Edgerton-Haus. Keine Ausnahmen! Keine Entschuldigungen! Absolute Teilnahmepflicht!“
Die Nachricht stammte von Rose und Willowby. Edgerton-Haus war ein riesiger Hallenkomplex auf dem Gebiet der Vampire. Wenn dort eine Vollversammlung einberufen wurde, betraf das sowohl sämtliche Werwölfe als auch alle Spitzzähne. Teilnahmepflicht wiederum hieß, dass irgendetwas vorgefallen sein musste, das sie alle betraf und möglicherweise eine Gefahr für die übernatürliche Gemeinschaft darstellte.
Es dauerte rund zwanzig Minuten, um dorthin zu gelangen. Neville ließ darum alles fallen und eilte zum Rasenmäher. Seine Mom würde ihn einen Kopf kürzer machen, wenn er nicht wenigstens noch den Vorgarten fertig bekam, bevor er sich mit einem Notfall auf der Arbeit davonschleichen konnte. Da kannte sie leider auch keine Gnade, keine Entschuldigungen und keinerlei Ausnahmen …
ollversammlungen waren ein extrem seltenes Großereignis. Schon weil jeder es freiwillig zu vermeiden versuchte, Werwölfe und Vampire in einen Raum zu stopfen. In diesem Fall war es eine Halle, in der sämtliche mythischen Bewohner von Carver Grove, rund sechstausend an der Zahl, Platz fanden. Aufregung herrschte vor. Die Clans stellten sich gruppenweise zueinander, ließen jeweils möglichst viel Abstand zu den anderen Clans. Zwischen Vampiren und Werwölfen verlief eine Trennlinie von mindestens einem Meter, schnurgerade, wie mit dem Lineal gezogen, obwohl sie keiner von ihnen saß. Es gäbe genügend Stühle, doch die wurden nicht genutzt, waren im Nebenraum hochgestapelt geblieben. Da jeder nur wisperte, herrschte ein bienenartiges Summen im Raum. Das verstummte schlagartig, als Rose und Willowby Huntington die Bühne betraten, der sie alle zugewandt waren.
Von der anderen Seite kamen Ezechiel und Rachel heran, die obersten Führer der Vampirgemeinschaft.