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Gay Fantasy Crime! Luca Monteroy hat es nicht leicht. Er ist der jüngste Sprössling einer Liebesverbindung zwischen einem Minotaurus und einer Meerjungfrau. Seine chaotische Familie lebt inmitten einer rein menschlichen Gemeinschaft, die von diesem mythischen Kleinkram nichts erfahren darf – oder von der Tatsache, dass sie ihren Lebensunterhalt mit gelegentlichen, hochkarätigen Diebeszügen und Kunstfälschungen verdienen. Keagan Harley hat es auch nicht leicht. Sein Leben ist langweilig und anstrengend und er sehnt sich nach Veränderung und Abenteuern. Dieser Wunsch wird ihm erfüllt, als er versehentlich mit Luca zusammenprallt, der sich gerade mitten in einem komplexen Diebstahlprojekt befindet. Schlagartig steht für sie beide alles auf dem Kopf – und das mehr als einmal wortwörtlich. Ca. 80.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 400 Seiten.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Luca Monteroy hat es nicht leicht. Er ist der jüngste Sprössling einer Liebesverbindung zwischen einem Minotaurus und einer Meerjungfrau. Seine chaotische Familie lebt inmitten einer rein menschlichen Gemeinschaft, die von diesem mythischen Kleinkram nichts erfahren darf – oder von der Tatsache, dass sie ihren Lebensunterhalt mit gelegentlichen, hochkarätigen Diebeszügen und Kunstfälschungen verdienen.
Keagan Harley hat es auch nicht leicht. Sein Leben ist langweilig und anstrengend und er sehnt sich nach Veränderung und Abenteuern. Dieser Wunsch wird ihm erfüllt, als er versehentlich mit Luca zusammenprallt, der sich gerade mitten in einem komplexen Diebstahlprojekt befindet. Schlagartig steht für sie beide alles auf dem Kopf – und das mehr als einmal wortwörtlich.
Ca. 80.000 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 400 Seiten.
Operation: Fishtank
von
Sonja Amatis
Dieses Buch ist den Aussetzern von herrenlosen Mythologie-Bunnys gewidmet. Caessy, Sylvia, Susanne … Ihr wisst Bescheid.
Aus Lucas Tagebuch:
er Tag, an dem diese Geschichte beginnt, war vollkommen normal.
Zu meiner Entschuldigung sei angemerkt, dass ich den größten Teil meiner Kindheit fest daran glaubte, es wäre vollkommen normal, eine Mutter zu haben, die den größten Teil des Tages in der Badewanne verbringt, einen Vater, der am liebsten im Garten steht und stundenlang friedlich Gras wiederkäut und fünf ältere Geschwister, die entweder das eine, das andere oder auch beides tun.
Denn meine Mom ist eine Meerjungfrau und mein Dad ein Minotaurus.
Schnell noch die üblichen Klischees abarbeiten: Nein, Minotauren ernähren sich keineswegs vom Blut menschlicher Jungfrauen. Es sind Riesen mit gigantischen Muskeln, noch gigantischerer Körperkraft, häufig einem scheußlichen Temperament und dem Kopf eines Rindviechs. Sie ernähren sich von Gras, sie brauchen endlos viel Zeit, um dieses Gras zu rupfen, wiederzukäuen und alle notwendigen Nährstoffe herauszuziehen. Stört man sie dabei oder bedroht ihre Familien, wird es anstrengend für sämtliche Beteiligten.
Meerleute wiederum sind unglaublich lieblich anzuschauen, das ist wahr. Genau deswegen ist es wichtig, dass sie sich selbst verteidigen können. Wenn meine Mom also lächelnd auf dich zukommt, dieses ganz besondere Glitzern in den Augen hat und eine winzige Stahlnadel irgendwo aus ihrem offen wallenden, rotblonden Haar zieht: Oh boy. Fang an zu laufen. LAUF! Denn diese Nadel verwandelt sich in Gedankenschnelle in einen mannslangen Dreizack und sie hat kein Problem damit, dich aufzuspießen und als Deko an die Wand zu hängen.
Wie gesagt, es war ein vollkommen normaler, ruhiger Tag in unserem Haus in einem beschaulichen Vorort von Milwaukee, Wisconsin. So ruhig es eben sein kann, wenn man das einzige Familienmitglied ist, das ausschließlich die menschlichen Anteile beider Eltern geerbt hat, wenn absolut niemand einen für voll nimmt, weil man weder Hörner noch einen Fischschwanz besitzt und sich deswegen nicht verteidigen kann – und das Abendessen unmittelbar bevorsteht.
„Ashton, binde deinen kleinen Bruder los!“, dröhnte Lucas Vater. In seiner natürlichen Gestalt war seine Brust derartig breit und sein Kehlkopf nicht unbedingt für menschliche Sprache gebaut, dass jedes Wort von ihm wie eine Todesdrohung klang. Das beeindruckte Ashton allerdings nicht sonderlich. Er war Lucas nächstälterer Bruder, ihm lediglich eineinhalb Jahre voraus, und ein vollwertiger Minotaurus. Sprich, Muskelgebirge, wohin man schaute, ein schwarzpelziger, prächtig behörnter Stierkopf, und mehr Kraft als ein Kodiakbär. Dass Ashton demnächst sein vierundzwanzigstes Wiegenfest feiern würde, merkte man seinem Verhalten allerdings nicht an. Er liebte es einfach zu sehr, Luca hinterrücks zu packen, in Windeseile an Händen und Füßen zu fesseln, als wäre er ein Kalb, und kopfüber von den Deckenbalken im Wohnzimmer herabhängen zu lassen. Leider gab es wirklich gar nichts, was Luca dagegen tun könnte, und seine anderen Geschwister fanden das ebenfalls ziemlich lustig.
„Komm schon, Dad! Er ist noch nicht mal violett angelaufen und seine Augen poppen noch gar nicht raus. Lass ihn noch ein bisschen!“
„Ich habe nein gesagt, Ashton. Runter mit ihm!“
„Sei kein Spielverderber, Daddy!“ Cathy und Misha, die Zwillinge, tobten durch den Raum. Sie waren beide sechsundzwanzig und Bi-Wandler. Was bedeutete, dass sie sowohl Minotauren- als auch Meerjungfrauengestalt annehmen konnten. Zum Spielen bevorzugten sie die väterliche Seite des Genetikpools. Cathy versetzte Luca einen herzhaften Schubs. Der Kronleuchter begann zu kreiseln und Luca zwangsläufig ebenfalls. Er hasste das! Ihm wurde jedes Mal schlecht davon. Als wäre es nicht lästig genug, Ewigkeiten mit dem Kopf nach unten zu hängen, während ihm das Blut in den Schläfen pumpte.
„Wenn ihr jetzt nicht aufhört, mit dem Kleinen zu spielen, rufe ich Mom runter!“, röhrte ihr Vater ungeduldig über die Schulter. „Ich brauche Luca. Wenn ich die Mangos schneide, zermatschen sie immer.“
Die Erklärung wäre gar nicht notwendig gewesen. Schon die Drohung, Mom aus der Badewanne zu jagen, um hier unten für Ordnung zu sorgen, genügte völlig, dass alle drei gleichzeitig an den Knoten zu zerren begannen. Freundlicherweise fing Ashton ihn auf, bevor Luca mit dem Gesicht voran auf dem Boden aufschlagen konnte. Seine Geschwister hatten ihn tatsächlich erst einmal bei diesem Spiel abstürzen lassen. Die Strafe dafür, dass Mom anschließend Luca hatte zusammenflicken müssen, war eindrucksvoll genug ausgefallen, dass sie danach stets darauf achteten, ihn unverletzt zu lassen.
„Na, alles frisch, Kleiner?“, fragte Cathy und tätschelte ihm liebevoll den Rücken.
„Nein. Und wenn du mich noch einmal kreiseln lässt, lösche ich dein WLAN-Passwort und lasse dich eine Woche nicht mehr rein ins Netz.“ Luca wich blitzschnell aus, als Ashton nach ihm griff. Sein Bruder wollte ihn zwar wahrscheinlich bloß zur Versöhnung umarmen, aber dafür war ihm gerade noch zu schwindelig.
„Etwas so Bösartiges würdest du niemals tun.“ Misha starrte ihn schockiert an. Er war von Lucas Geschwistern der Sanftmütigste, was allerdings nicht viel zu sagen hatte. „Ihre Pailletten aus dem Fenster werfen – okay. Ihre Hutsammlung verbrennen – okay. Passwörter löschen, nur weil du es als unser Familienadmin kannst, das wäre wirklich unangemessen grausam.“
Luca hielt für einen Moment still, um darüber nachzudenken. Das nutzte Ashton aus, um ihn zu grabschen und an seine stahlharte Brust zu drücken.
„Du weißt, dass wir dich liebhaben, hm?“, fragte er, störte sich nicht daran, wie Luca strampelte und wuschelte ihm durch die rotblonden Locken, bevor er ihn wieder auf den Boden absetzte. Ashton war weit über zwei Meter groß, wie alle Minotauren in dieser Familie, womit er Luca um mehr als dreißig Zentimeter überragte. Das Schlimme war, dass man dieser Bande nicht böse sein konnte. Ja, sie waren alle älter als er. Vom Gemüt her waren sie Teenager geblieben. Eigentlich war Luca der einzige echte Erwachsene in diesem Haus, und das konnte äußerst anstrengend sein. Besonders abends, wenn alle ungeduldig auf ihr Futter warteten und deshalb aufdrehten.
„Gib mir das Messer, Dad!“, kommandierte er, sobald er seine Geschwister mit einem Lächeln besänftigt hatte und zur Kochinsel gelangt war.
„Dem Himmel sei Dank!“ Sein Vater drückte ihm das Messer in die Finger, das eher einem Beil glich, und völlig ungeeignet war, um damit Früchte aufzuschneiden. Zumindest, wenn man keine Marmelade daraus kochen wollte. Luca warf das Mordwerkzeug in die Spüle und holte sein bewährtes Küchenmesser aus der Schublade. Es galt, Essen für acht hungrige Leute auf den Tisch zu bringen. Sein Vater und Ashton bekamen Hafer in waschschüsselgroßen Gefäßen, damit sie es irgendwie durch die Nacht schafften, ohne noch einmal in den Garten zu müssen, oder heimlich die Heuvorräte zu plündern. Cathy und Misha bevorzugten ein kleines Schüsselchen Haferbrei mit Früchten, dazu gegrillten Fisch und Salat. Mom und Jaclyn ernährten sich von rohem Fisch und Algen. Jaclyn war eine vollwertige Meerjungfrau und Moms Ebenbild, bloß in jünger. Marianna, die Älteste von ihnen, war wiederum eine Bi-Wandlerin, identifizierte sich aber eher als Meerjungfrau. Man traf sie selten auf der Weide an und sie hielt sich ebenfalls an den gegrillten Fisch. Sie wechselte zudem häufiger als jedes andere Familienglied in rein menschliche Gestalt – das beherrschten sie alle, sonst wäre ihr Leben in dieser menschendominierten Umgebung nicht möglich – und sie griff genau wie Luca gerne mal zu Gewürzen, pikanten Saucen, Essig und Öl, um das Grünzeug interessanter zu gestalten.
Luca bereitete sich nebenher noch einige Pellkartoffeln und Kräuterquark für sich selbst zu. Beim Fisch blieb er sparsam, er mochte ihn nicht sonderlich. Außerdem würde wirklich niemand je versuchen, ihm die Kartoffeln vom Teller zu mopsen. Während er heftig beschäftigt war, für jeden die passende Nahrung in ausreichender Menge zuzubereiten, trieb sein Vater Ashton, Cathy und Misha dazu an, den Tisch zu decken und aufzuräumen, und stampfte dann die Treppe hinauf, um den Rest der Familie zu holen.
Das kostete Zeit. Es gab vier Poolbecken und drei Badewannen im Haus. Die Meerjungfrauen unter ihnen mochten es überhaupt gar nicht, in menschliche Gestalt wechseln und das wunderbare Wasser verlassen zu müssen. Besonders Lucas Mutter schwor, dass ihre Schuppen eintrockneten, wenn sie sich zu lange mit ihrer menschlichen Gestalt abmühen musste.
Erschwerend war in diesem Fall, dass sie sofort wieder einen Fischschwanz ausbildete, wenn ihre Füße nass wurden. Ein einziger Tropfen genügte, und die Wandlung ließ sich nicht mehr aufhalten. Aus dem Grund trugen sie und die dafür anfälligen Vertreter von Lucas Geschwistern Spezialschuhe, und Schutzkleidung bei sich, sobald sie das Haus verließen, da man nie wissen konnte, ob es nicht zu regnen beginnen oder irgendjemand seine Cola verschütten würde. Das Badezimmer zu verlassen war ein Akt für sich, wenn sich dort zwei oder mehr Meerjungfrauen vergnügt hatten und der Boden entsprechend nass war. Sein Vater genoss es, sie einzeln hinaustragen und half mit, die empfindsamen Flossen trocken zu legen. Es gab zwar eine einfachere, sehr schnelle Alternative, doch seine Mom mochte es ebenfalls wahnsinnig gerne, wenn er ihr die Schuppen abtupfte.
Es war pure Liebe und Hingabe, dass diese beiden Kreaturen ein für sie unnatürliches Leben auf sich nahmen, um ihre ungewöhnliche Familie am Laufen zu halten. Lucas Mom saß freiwillig stundenlang in Menschengestalt auf Stühlen, und sein Dad grillte ebenso freiwillig Fisch, bei dem er eigentlich nicht einmal den Geruch ertragen konnte.
Alle waren wiederum dankbar, dass sie eine Unmenge von mühseligen Aufgaben auf Luca abwälzen konnten. Er war schließlich der Mensch. Sie schafften es nicht immer, ihm diese Dankbarkeit zu zeigen … Doch er wusste, sie liebten ihn, und sie brauchten ihn tatsächlich. Ohne ihn war es extrem kompliziert und teils auch gefährlich, inmitten von Menschen zu leben. Niemals, unter gar keinen Umständen, durfte jemand erfahren, dass in diesem Haus mystische Kreaturen wohnten!
Luca blickte über die Schulter, als hell perlendes Gelächter auf der Treppe erklang. Seine Eltern kamen herab, Dad trug Lucas Mom, als würde er den heiligen Gral in den Händen halten, und sie hatte ausschließlich Augen für ihn. Es war ein Ritual, dass er sie abends an den Tisch trug. Der Anblick berührte Luca, seit er alt genug war zu verstehen, wie besonders diese Liebe tatsächlich war.
Marianna und Jaclyn folgten, darum beeilte er sich, die gefüllten Teller zu den Plätzen zu tragen. Ashton half ihm, und Momente später saßen sie vereint um den großen, runden Holztisch.
„Ich muss morgen die wöchentliche Fischbestellung aufgeben, schreibt mir also die Liste, auf welche Sorten ihr Hunger habt“, sagte Luca. „Außerdem sind die Grascobs im Onlineshop im Angebot, da wollte ich großzügig zuschlagen. Braucht sonst noch jemand was?“
„Du machst das schon, Schatz“, sagte seine Mutter lächelnd und pickte mit zierlicher Gestik an ihrem Fisch herum. Für sie war das alles langweiliger Kram. Zum Glück hatte Luca schon seit fünfzehn Jahren die Kontovollmacht über Haus und Familie und sorgte dafür, dass sämtliche Rechnungen pünktlich bezahlt wurden. Langweilig oder nicht, wer Strom, Licht, Wasser und Internet nutzen wollte, musste dafür bezahlen.
„Die Kontodeckung reicht noch etwa für acht Wochen“, fügte Luca hinzu, innerlich seufzend. Sein Vater blickte nachdenklich zu ihm hinüber.
„War klar, dass es diesmal nicht lange vorhalten würde“, brummte er. „Der letzte Job hat wirklich nicht viel eingebracht. Das sollten wir diesmal besser frühzeitig angehen. Ich telefoniere nachher mit Jasper.“
Jasper war mehr oder weniger sein Großvater und so in etwa der ungekrönte König der Minotaurengemeinschaft des amerikanischen Kontinents. Luca wusste nie, ob er diesen Mann anbeten sollte, weil er großartig war, oder seine langsame, grausame Ermordung planen, weil Jasper ihn offen als Missgeburt betrachtete und auch so behandelte.
„Sag ihm, dass er nicht schon wieder was in Miami klarmachen soll. Ich hasse diese Stadt!“, sagte Mom leise.
„Natürlich, mein Augensternchen. Ich werde ihm sagen, dass wir niemals wieder Miami betreten. Niemals!“ Dad hatte seine Haferportion bereits vernichtet, deshalb konnte er sie ungehindert anschmachten. Luca versuchte nicht darüber nachzudenken, was in den nächsten Tagen auf ihn zukommen würde. Seine Eltern konnten nun einmal keinen gewöhnlichen Bürojob übernehmen. Oder irgendeinen anderen Job, was das anbetraf. Sein Vater verbrachte mehr oder weniger den ganzen Tag mit Grasen und Wiederkäuen, seine Mutter blieb freiwillig niemals länger als zwei Stunden dem Wasser fern, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Luca war der Einzige, der in der Lage gewesen war, eine normale Schule zu besuchen, und das war bereits ein Albtraum auf so vielen Ebenen gewesen, dass er sich bis heute weigerte, darüber nachzudenken. Allein das Stichwort „Elternsprechtag“ genügte, um fürchterliche Erinnerungen wach zu rufen …
Jedenfalls konnte hier niemand auf gewöhnliche Weise Geld verdienen gehen. Auch er nicht, weil er mit dem Management seiner Familie voll ausgelastet war. Damit sie die enormen Kosten allein für Nahrungsmittel, Strom- und Wasserrechnung begleichen konnten – oh, die Wasserrechnung brachte ihn jedes Mal zum Weinen – finanzierten sie sich mit ein bis zwei Diebstahloperationen pro Jahr. Keine hochspektakulären Gigs, nichts, was landes- oder gar weltweite Aufmerksamkeit erregte. Es genügte, wenn etwa zweihundertfünfzigtausend Dollar im Jahr zusammenkamen, davon konnten sie sämtliche Unkosten für ihre achtköpfige Familie bestreiten. Jasper organisierte alles im Hintergrund für sie, was diese Operationen betraf, er besaß die Kontakte und liebte es, die Strippen zu ziehen.
Es klingelte an der Haustür. Wie üblich reagierte niemand darauf, denn das Öffnen der Tür war ausschließlich Lucas Job. Interaktion mit Lieferboten, Handwerkern, Nachbarn – sprich, mit Menschen jeder Art – war sein Ding. Rasch schob er sich die letzte Kartoffel in den Mund und nahm seine Schüssel mit Obstquark mit. Milchprodukt hin oder her, es bestand ernste Gefahr, dass ihm jemand seinen Nachtisch stehlen könnte. Draußen stand Mrs. Hornflower, eine liebenswürdige, sehr engagierte Dame aus der Nachbarschaft, die in alle möglichen ehrenamtlichen Aufgaben verwickelt war. Die rüstige Mittsiebzigerin klingelte gerne bei ihnen. Wie üblich war ihre Erscheinung eine ziemliche Strapaze für die Augen, denn sie bevorzugte seltsame, leuchtende Farben und große Blumenmuster. Vermutlich war ihr Geschmack in den 70ern steckengeblieben. Dazu gehörte auch ihr Parfüm, in dem sie offenbar badete. Lavendel in einem Übermaß, dass man sie noch in drei Häuserblocks Entfernung riechen konnte.
„Luca, mein Lieber“, flötete sie und streckte ihm ein Klemmbord entgegen. „Ich sammle für die neue Schulkantine. Die Grundschule an der East Side, du weißt schon. Die Kleinen brauchen da dringend Hilfe, es regnet durch das Dach und die Geräte sind auch völlig veraltet. Gutes, gesundes Schulessen ist elementar.“
„Natürlich, Mrs. Hornflower. Ich hole nur schnell das Portemonnaie, ja? Kleinen Moment.“ Er verschloss die Tür vor ihren neugierigen Augen, denn wie üblich versuchte sie zu spionieren. Luca reichte ihr kurz darauf zehn Dollar an und unterschrieb auf der Liste.
„Wie geht es der Familie, Luca?“, fragte sie. „Ich habe Ihre Mom schon einige Tage nicht mehr gesehen.“
„Das Hautleiden ist wieder schlimmer geworden, sie muss starke Medikamente nehmen, ja“, entgegnete er, ohne rot zu werden. „Gerade an den Beinen schuppt es ganz fürchterlich.“
„Ach, das tut mir so leid. Ich setze noch einmal die gute Kamillensalbe für sie an, ja? Sagen Sie ihr das bitte. Oh, und vielleicht schaust du gleich mal in euren Briefkasten. Da scheint sich ein Glühwürmchen drin verfangen zu haben, ich habe es eben darin leuchten gesehen.“
„Oh? Vielen Dank, Mrs. Hornflower, ich schaue nach. Und viel Erfolg für Ihre Aktion.“
„Danke. Es kommt der eine oder andere Dollar zusammen. Ist ja für die Kinder!“ Sie lächelte mit ihren orangefarben geschminkten Lippen, zupfte an ihren dauergewellten, blond gefärbten Haaren herum und winkte ihm dann zum Abschied. Luca wartete, bis sie außer Sicht war, bevor er zum Briefkasten huschte.
Es konnte kein Glühwürmchen sein. Die schwärmten im Sommer, Anfang Februar war es viel zu kalt für Paarungsflüge. Nun, vielleicht hatte ihnen jemand irgendwas Blinkendes in den Briefkasten gesteckt. Luca hoffte darauf, solange es keine Bombe mit Zeitzünder war. Ein Streich, den er Ashton jederzeit zutrauen würde. Der Junge kapierte einfach nicht, dass Dinge, die ihm nicht mal einen Kratzer zufügen würden, einen Menschen wie Luca dauerhaft oder auch final beschädigen könnten.
„Wehe dir, Ashton! Wenn du mich umbringst, komme ich als Poltergeist zurück, verbrenne deine Baseball-Sammelkarten und frittiere alle deine Elektrogeräte! Außer deinem Smartphone, das schraube ich Platine für Platine auseinander und lasse dich zuschauen, wie ich sie einzeln durch den Mixer schreddere!“ Während er sich in wilden Rachefantasien erging, näherte er sich vorsichtig dem Briefkasten. Tatsächlich flackerte darin ein unstetes Licht, doch es wirkte entschieden zu warm für einen Zeitzünder oder andere elektronische Blinklichter. Es wirkte seltsam … lebendig.
„Hu?“ Luca beugte sich über den weißen Kasten – und zuckte heftig zusammen, als das warme Flackerlicht ihm antwortete.
„Booo!“, fiepste es kaum hörbar. Es klang friedlich. Und freundlich. Freundlich genug, dass Luca nach dem Riegel griff und den Kasten öffnete. Im Inneren befand sich ein Lichtwichtelbaby. Die waren unglaublich selten. Die Theorie dazu lautete wie folgt: Wenn der Vollmond am Tag aufging und ein Mond- und ein Sonnenstrahl sich trafen und dabei einen Regenbogen passierten, dann konnte es unter Umständen, die nicht genau geklärt waren, geschehen, dass dieser Lichtstrahl ins Grübeln über seine eigene Existenz geriet und rasch ein Baby gebar. Diese Lichtgeschöpfe hatten in der Regel eine kurzzeitige Existenz von vielleicht zwei, drei Wochen, in denen sie in erster Linie rund um die Welt stromerten und irgendwann verschwanden. Man vermutete, dass sie sich in Nordlichtern auflösten, wofür es allerdings keine Beweise gab. Vielleicht ertränkten sie sich auch in stillen Bergseen beim Versuch, sich mit dem Mondspiegellicht zu vereinen. Oder sie wurden erwachsen und arbeiteten als DJ’s in einem New Yorker Szeneclub. Wer sagte, dass Licht- und Musikfrequenzen unvereinbar sein sollten?
Jedenfalls waren Lichtwichtel vollkommen harmlos. Manchmal ließen sie sich sogar anfassen, in der Regel blieben sie auf Distanz und waren für normale Menschen unsichtbar. Dieser kleine Kerl, der sich ausgerechnet einen dunklen Briefkasten ausgesucht hatte, statt mit den Straßenlaternen zu flirten, beobachtete Luca extrem aufmerksam. Seine strahlenden Sternenaugen waren auf ihn fixiert und er schien ein wenig ängstlich und misstrauisch zu sein.
„Alles okay“, murmelte Luca möglichst beruhigend. Hatte irgendjemand den Kleinen erschreckt? Es sollte nicht möglich sein, ihn zu verletzen. Immerhin bestand er ausschließlich aus Licht.
„Boo“, erwiderte der Wichtel. Er wich nicht zurück, als Luca ihm die Hand ganz nah vor den Körper hielt. Der Wichtel war in etwa so groß wie ein Katzenbaby. Das Zucken in seinem rundlichem Gesichtchen erinnerte tatsächlich auch an ein Kätzchen, das Witterung aufnahm. Er näherte sich den Fingern, stieß einen leisen, vibrierenden Laut aus, der nicht ganz an ein Schnurren herankam, und schmiegte sich dann plötzlich in Lucas Handfläche hinein. Der Wichtel fühlte sich warm und weich an. Ein wenig wie ein federgefülltes Seidenkissen.
„Oh.“ Luca hob den Kleinen behutsam aus dem Briefkasten und drückte ihn an sich. „Suchst du Wärme? Soll ich dich erst mal mit ins Haus nehmen? Da ist es heller. Allerdings musst du aufpassen. Meine Geschwister können ziemlich wild sein.“
„Boo.“ Der Wichtel kuschelte sich in Lucas Halsbeuge und vibrierte dabei friedlich weiter. Offenbar fühlte er sich ganz wohl hier, und sicher genug, dass er bleiben wollte. Vermutlich würde sich das gleich ändern, denn natürlich würde der Idiotenhaufen da drinnen alles versuchen, um Luca das neue Spielzeug abzunehmen. Na ja. Lichtwichtel konnten nicht verletzt werden. Und sie gehörten nicht in Häuser eingesperrt. Es war also vielleicht gut, wenn er sich nicht zu sehr an Luca gewöhnte, sondern fortgescheucht wurde. Gewappnet für jede Art von Angriff kehrte er ins Haus zurück.
Unglaublicherweise stand sein Nachtisch noch immer unberührt auf der Flurkommode. Er nahm die Schüssel an sich und ging ins Esszimmer hinüber, wo eine angeregte Diskussion darüber im Gange war, ob sie lieber eine wertvolle Statue, Gemälde oder eine moderne Installation fälschen und austauschen wollten. Marianna sprach sich gerade leidenschaftlich für den asiatischen Großmarkt aus, es herrschte großes Interesse an japanischen Kriegsschwertern und Ausrüstungen. Darum plädierte sie dafür, dass sie sich künftig auch in der Schmiedekunst und Lederbearbeitung weiterentwickeln sollten, womit sie bei Ashton auf Gegenliebe stieß, während die anderen eher skeptisch waren.
„Was hast du da, mein Schatz?“, fragte seine Mom. „Oh! Ein Lichtwichtelchen. Wie ungewöhnlich.“
„Lass sehen!“, rief Jaclyn sofort und streckte die Hand nach dem Geschöpf aus. Zu Lucas Überraschung zischte der Kleine drohend und streckte Jaclyn die Zunge raus, als diese irritiert zurückwich.
„Wo hast du ihn her?“ Seine Mutter hielt dem Wichtel eine Hand entgegen. Er witterte misstrauisch und drückte sich dann noch enger gegen Luca.
„Er war im Briefkasten, Mrs. Hornflower hatte ihn leuchten sehen. Irgendetwas muss ihn erschreckt haben.“
„Es hatte vorhin kurz geregnet, nicht wahr?“ Mom zückte ihr Smartphone und begann darauf zu tippern, um die Wetterkarte zu prüfen. „Ja, ein kleiner Schauer bei Sonnenuntergang. Und wir haben Vollmond. Offenbar wurde er gerade erst geboren und noch bevor er sich orientieren konnte, war die Sonne untergegangen und der Mond hinter Wolken versteckt. Kein Wunder, dass er sich an den nächstbesten Ort zurückgezogen hat, wo er sich zusammenrollen konnte. Er mag dich, Schatz, wie hübsch! Zünde ihm heute Nacht Kerzen an, vielleicht singt er dann sogar etwas für dich. Der Gesang der Lichtwichtel soll Glück bringen. Bestimmt verschwindet er dann morgen früh bei Sonnenaufgang. Oder noch heute Nacht, sollte der Mond wieder herauskommen.“
Luca nickte und streichelte dem Wichtelchen über den Kopf. Ashton drängte sich heran und versuchte den Kleinen zu packen.
„Au!“ Verdutzt fiel er rücklings zu Boden. „Der hat mir einen Stromschlag versetzt!“
„Verdient“, sagte Marianna mitleidlos. „Mom hat gesagt, der Wichtel gehört zu Luca, solange er bleiben will. Du musst nicht alles antatschen!“
„Setz dich und iss!“ Dad wies auf Ashtons Stuhl. Kleinlaut raffte Lucas Bruder sich hoch und aß brav weiter.
„Gibt es schon eine Entscheidung von Jasper, wohin wir gehen sollen?“, fragte Luca.
„Nein. Ich habe zwar mit ihm telefoniert, aber er hatte nichts auf der Liste, was nicht in Miami lokalisiert wäre. Er will sich umschauen und uns dann morgen früh kontaktieren.“ Mom tätschelte ihm liebevoll die Wange. „Frag ruhig nach, wenn du glaubst, dein Vater hätte es vergessen. Du machst das schon, Schatz.“
Die Geschichte seines Lebens. Es war Lucas Berufung, ein Schatz zu sein und es schon zu machen. Egal was.
„Boo!“, säuselte der Wichtel und tätschelte ihm die andere Wange. Unwillkürlich musste Luca lächeln. Hoffentlich blieb der Kleine bis morgen früh. Er mochte ihn.
Keagan starrte aus dem Fenster. Zu sehen gab es natürlich nichts dort draußen, denn es war dunkel und das Fenster wies zum Garten hinaus, der nicht beleuchtet wurde. Irgendwohin musste er den Blick jedoch fokussieren, um ruhig zu bleiben, statt laut zu schreien, mit Geschirr zu werfen oder ein Loch in die Wand zu boxen und sich dabei die Hand zu brechen. Alles das würde er selbstverständlich gerne tun, bevor er einen Finger an seine Granny legte.
Seine Großmutter litt an fortgeschrittenem Alzheimer. Eigentlich müsste sie längst in einem Heim untergebracht werden, wo sich Profis Tag und Nacht um sie kümmern würden. Dafür war bloß kein Geld da. Keagans Eltern arbeiteten bereits jeder in zwei Jobs, da sie hoch verschuldet waren. Er selbst jobbte an den Wochenenden in einem Hotelshop und verdiente noch ein bisschen was mit Nachhilfe in Englisch. Manchmal wurde er bezahlt, dass er Facharbeiten oder Referate über bestimmte Bücher oder Literaturepochen schrieb. Das war natürlich nicht gerade legal oder guter Stil, aber sie brauchten das Geld, um das Haus nicht zu verlieren. Ein Auto war unabdingbar, auch wenn es ebenfalls viel Geld verschlang. Ohne würde keiner von ihnen zu seinen Jobs gelangen.
Keagan hatte es nicht auf das College geschafft. Sämtliche Anträge für Stipendien hatten nicht gezündet, weil es immer jemanden gab, der noch talentierter als er gewesen war. Ohne mindestens ein Teilstipendium hätte er keine Studentenkredite bekommen. Weil seine Eltern nicht in der Lage waren, einen Eigenanteil zu leisten. Weil das Haus bereits mit zwei Hypotheken belastet war, nachdem die beiden mit einem Gemischtwarenladen pleite gegangen waren.
Es war okay. Das Leben war nun mal kein Wunschkonzert und nicht jeder konnte ein Gewinner sein. Er würde nicht ewig in diesem Haus hocken und seine schwer demente Großmutter sauber halten und füttern müssen. Stundenlang, weil sie sich nicht erinnern konnte, was ihr Job war, wenn ein mit Milchreis gefüllter Löffel auf ihren Mund zukam. In einigen Monaten, spätestens in ein bis zwei Jahren war sie tot. Dann konnte Keagan ausziehen und versuchen, irgendwie klar zu kommen. Sich ein Leben aufbauen.
Er freute sich nicht darauf. Seine Granny hatte ihn vom ersten Schritt an begleitet, sie hatte stets mit in diesem Haus gelebt, da ihr Mann früh gestorben war – Keagan hatte seinen Großvater nicht kennenlernen dürfen. Während er also einerseits hoffte, dass dieser langsame Verfall einer Frau, die er zutiefst liebte und verehrte, bald vorbei sein würde, denn es war nichts als Qual und Folter für alle Beteiligten, fürchtete er sich andererseits davor. Denn dann war sie endgültig fort und er musste einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Er wollte sie nicht loslassen müssen!
Darum starrte er eben ins Leere, wenn Ungeduld und Wut in ihm aufwallten. Wenn er es nicht mehr ertragen konnte, stundenlang dazuhocken und zu versuchen, einer verängstigten Frau Nahrung aufzuzwingen, die ihn nur noch sehr selten erkannte und noch seltener in der Lage war, einige verständliche Worte zu brabbeln. Diese lichten Momente waren schrecklich, denn jedes Mal packte ihn die Hoffnung. Hoffnung, der Moment würde anhalten. Denn dann könnte er ihr sagen, wie sehr er sie liebte, und sie würde ihn verstehen. Einmal wollte er es ihr noch sagen.
Doch die Momente versickerten stets, bevor er irgendetwas tun konnte. Schon bald würde das Licht in ihrem Gehirn vollständig erloschen sein. Danach gab es nichts mehr außer Angst und Schmerz, nichts anderes würde sie dann noch empfinden oder wahrnehmen können. Er betete, dass sie sterben würde, bevor sie in dieses Stadium auf dem Niveau eines Pantoffeltierchens angelangt war.
Sein Handy klingelte. Keagan nahm das Gespräch an, ohne auf die Nummer zu achten. Um diese Uhrzeit konnte es sowieso nur sein Chef sein.
„Keagan, hi, hier ist Larry. Ich wollte fragen, ob du am Samstag schon um vier Uhr kommen kannst. Ich hab da einen Termin mit meinem Sohn und würde gerne eine Stunde früher los als sonst.“
„Kein Problem, wenn du mir die Stunde bezahlst.“
„Ich leg dir auch noch einen Schokoriegel drauf. Bis übermorgen dann!“
Er brummte etwas, das als freundlicher Abschied gewertet werden könnte. Granny starrte ihn aus großen Augen an.
„Hast du den Zaun gestrichen?“, fragte sie ihn mit verwaschener, schleppender Stimme.
„Nein, Granny. Ich bin nicht Tom Sawyer. Hunger?“ Er drückte den Löffel mit dem Milchreis gegen ihre Lippen. Erstaunlicherweise akzeptierte sie ihn und ließ sich das Essen in den zahnlosen Mund schieben. Ihr Blick zeigte, dass der Funken von Bewusstsein und Erinnerung an Menschlichkeit schon wieder erloschen war. Unruhig nestelte sie an den Knöpfen ihres Kleides. Also brachte Keagan das Essen in die Küche und beschloss, es für heute Abend gut sein zu lassen. Er schob sie vor den Fernseher und ließ Landschafts- und Tierdokus laufen. Das funktionierte meistens, sie wurde darüber schläfrig und ließ sich widerstandslos ins Bett bringen.
Derweil schaute er sich das Referatthema an, zu dem er bis Sonntagabend fünfzehn Seiten Papier liefern sollte, um dafür ein paar Dollar zu kassieren, die die Mühe nicht aufwiegen konnten. „Schall und Wahn“ von William Faulkner. Na ja. Nicht gerade Keagans Lieblingswerk, aber zumindest kein Shakespeare, und er konnte sich episch ausbreiten. Divergente Erzählperspektiven, depressive, im Untergang begriffene Charaktere in einer im Untergang begriffenen Epoche inmitten der bereits untergegangenen Südstaaten. Brillante Sprache, kaum verständlicher Inhalt. Viel zu hoch über dem Horizont eines normalen High School-Schülers, der einfach nur überleben wollte. Die Beschreibung traf eigentlich auch auf ihn zu, obwohl er bereits zweiundzwanzig war. Auch er wollte einfach nur überleben und wusste nicht, wie er das schaffen sollte.
O Gott, wie sehr wünschte er, er könnte aus diesem Gefängnis ausbrechen, das sein Leben war! Einfach mal was anderes machen. Etwas Aufregendes erleben. Neue Leute kennenlernen. Lachen. Spaß haben. Das wäre toll …
Granny begann leise zu schnarchen. Zeit, sie ins Bett zu verfrachten. Dann konnte er wenigstens auf den Comic-Kanal wechseln und sich eine Fertiglasagne in die Mikrowelle schieben, bevor er sich an der kurzen Inhaltsangabe für ein Buch abmühen wollte, das sich am besten mit „Vier Tage im Leben kaputter Menschen“ überschreiben ließe. Bloß dass man ihn dafür nicht bezahlen würde. Sein Lohn war abhängig von der erzielten Note, hundert Dollar gab es nur für ein „A“.
„Na komm, Granny“, sagte er und hob die knochendünne, fragile alte Frau ächzend aus dem Sessel. Laufen konnte sie schon lange nicht mehr.
Sie nuschelte mit geschlossenen Augen etwas, das nach „tanzen“ klang.
„Natürlich gehen wir tanzen, Granny. Wir tanzen die ganze Nacht und singen all deine Lieblingslieder, bis wir heiser sind und die Füße wehtun und die Sonne längst wieder aufgegangen ist. So wie du es immer tust.“
Sie kicherte atemlos glucksend gegen seine Schulter, während er sie in ihr Zimmer schleppte. Keagan lachte mit ihr. Er mochte die Idee. Wen störte es, dass Granny seit mindestens sechzig Jahren nicht mehr getanzt hatte? Darum sang er „Love me tender“ von Elvis Presley, als er ihr das Nachthemd und eine neue Windel überstreifte. Beinahe war er sicher, dass sie lächelte. Falls er sich das nur einbilden sollte – hm, dann war es ihm auch egal.
Aus Lucas Tagebuch:
u weißt, dass deine Geschwister dich lieben, wenn sie deine Angreifer und Mobber verkloppen statt ihnen zu helfen. Das Problem ist, wenn deine Geschwister drei Köpfe größer als deine Angreifer und Mobber sind und ungefähr 270 Mal so stark.
Da war dieses eine Mal, ich muss etwa zehn gewesen sein. Paddy O’Riley hatte den Pick auf mich. Weil ich klein und dünn und seltsam war und immer der Klassenbeste … Das Übliche halt. Er hatte mich schon einige Male mit dem Kopf in die Schultoilette getunkt. An diesem Tag meinte er, er könne mein Rad zerstören und mir ein blaues Auge schlagen, weil ich mich geweigert hatte, ihm hundert Dollar als Wegezoll zu zahlen. Ich meine – hallo? Wo hätte ich so viel Kohle herholen sollen? Ihm war es egal. Mir an für sich auch. Seltsame kleine Nerdjungs ohne Freunde sind Freiwild. Das muss man nicht mögen, lediglich als Tatsache akzeptieren. Meine Geschwister waren anderer Ansicht. Sie haben mich den gesamten Nachmittag bearbeitet, bis ich ihnen verraten habe, wer mich verprügelt hat.
Mom musste aus dem Pool kommen und Dad die Weide verlassen, um ein tödliches Massaker zu verhindern. Es war anschließend sehr viel Meerjungfrauengesang notwendig, damit alle Beteiligten vergaßen, wie schlimm es tatsächlich gewesen war. Oh – ja, das ist Teil der Meermenschenmagie, sie können das Bewusstsein und das Gedächtnis der Leute manipulieren. Es sah danach wie ein Unfall aus, der nie aufgeklärt werden konnte. Paddy musste lediglich ein halbes Jahr im Rollstuhl sitzen …
Und ich musste meiner Familie intensiv erklären, wie die Welt da draußen funktioniert. Es ist nicht okay, zehnjährige Jungen halbtot zu prügeln, auch dann nicht, wenn das Arschgeigen sind, die den kleinen Bruder gemobbt haben. Mom hat danach begonnen, mir einige Tricks zur Selbstverteidigung beizubringen, die auch ohne übernatürliche Körperkraft funktionieren. Es war der Tag, an dem meine Familie verstanden hat, dass rein menschlich zu sein eben kein Selbstläufer ist. Menschen sind kein bisschen weniger monströs als Dämonen, sie haben bloß weniger Hörner.
Es war der Tag, an dem ich erfuhr, wie sehr mich meine Familie tatsächlich liebt. Ich kann mich auf diese Idiotenbande verlassen, wenn es wirklich darauf ankommt. Es war einer der schönsten Tage meines Lebens, an dem Paddy sechsundzwanzig Knochenbrüche erlitt und beinahe alle Zähne verloren hat. Auch wenn er glaubt, es wäre ein Motorradfahrer gewesen, der ihn getroffen hat und danach abgehauen ist: Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass er seither panische Angst vor Kühen hat. Und vor Fischen. Paddy ist gar nicht so doof, wie er aussieht …
Die Nacht war recht kurz gewesen. Luca hatte die Augen nicht von dem kleinen Wichtel wenden können, der mit glücklichem Staunen im Gesichtchen von einer Kerzenflamme zur nächsten geflogen war, mit gelegentlichen zarten „Boo“-Lauten und verträumtem Getänzel rund um das Bücherbord. Irgendwann musste er dann doch eingenickt sein, denn als er vom Alarm seines Handys hochgeschreckt wurde, brauchte er eine ganze Weile, um sich zu orientieren.
Es war schon hell. Schade. Er hätte sich von dem Lichtwichtelchen gerne verabschiedet und ihm zugesehen, wie er in Richtung Sonnenaufgang davonflog. Aber nun, man konnte nicht alles haben. Hoffentlich ging es dem Kleinen gut dort draußen! Luca raffte sich stöhnend hoch. Er musste sich beeilen, damit er geduscht und anzogen den morgendlichen Großkampf im Haus Monteroy angehen konnte. Müde schlappte er ins Bad, von dem es in diesem Haus immerhin sechs gab. Er teilte sich seines mit Ashton, der grundsätzlich als Letzter aus dem Bett fiel, weil er die Nächte damit zubrachte, wie ein Verrückter Minecraft und andere Spiele zu zocken. Er konnte kaum die Augen offenhalten, so müde war er. Irgendwie fühlte sich sein Kopf schwer und dumpf an. Irgendetwas war tatsächlich ziemlich seltsam.
Luca griff nach oben, um sich durch die Haare zu schubbern. Die fühlten sich allerdings merkwürdig weich an … Und gar nicht nach Haar … Er riss die Augen auf und starrte in den Spiegel. Der Lichtwichtel saß auf seinem Kopf, strahlte ihn fröhlich an und begegnete seinem Blick.
„Boo!“, hauchte er zärtlich und kuschelte sich tiefer in Lucas Locken.
„Wow. Äh – hallo! Du bist ja noch da!“, rief Luca entzückt. Hast du den Sonnenaufgang etwa verschlafen?“
An die andere Möglichkeit wagte er gerade nicht zu denken. Dass der Kleine ihn so sehr mögen könnte, dass er bei ihm bleiben wollte, das wäre wirklich unwahrscheinlich. Und unwahrscheinlich schön natürlich auch. Da war die Frage, ob Lichtwichtel überhaupt jemals schliefen, völlig irrelevant.
Weil es dennoch weitergehen musste, zog er sich aus und schaltete die Dusche an.
„Das ist Wasser. Es ist nass und warm. Also in diesem Fall ist es warm, es kann auch sehr kalt sein. Willst du es mal ausprobieren, was du davon hältst?“ Er pflückte den Wichtel von seinem Kopf, nahm ihn fest in den Arm und stieg unter den Wasserstrahl.
Die leuchtenden Knopfaugen wurden riesig vor Verblüffung, als Wasser auf den Wichtel herabregnete. Dann begann er fröhlich zu gluckern und zu gurren, löste sich aus dem Griff und flog hinein und hinaus aus dem Strahl. Während Luca sich routiniert reinigte, spielte der Kleine sichtlich beglückt. Als er die Dusche ausschaltete, reagierte der Wichtel deutlich mit Enttäuschung, darum ließ er das Wasser weiterlaufen, zog sich an, putzte die Zähne, rasierte sich – und schaltete das Wasser dann endgültig aus.
„Nein, nein, nein!“, sagte er entschieden, schnappte sich den motzenden Wichtel aus der Luft, der immer wieder zurück zur Dusche zeigte und seine Ärmchen schüttelte, und hüllte ihn in ein Handtuch. „Hier sind jede Menge hungrige Mäuler zu stopfen und ein hochkomplexer Zeitplan einzuhalten.“
„Guuu?“ Fragend gluckste der Kleine ihn an.
„Guuu, so ist es.“ War er eigentlich bekloppt, dass er sich mit einem Lichtwesen unterhielt, das seine Sprache nicht verstand, in Lauten, die er selbst nicht verstand?
„Wenn ich wüsste, ob du noch länger bleibst, würde ich dir einen Namen geben“, sagte Luca, während er die Treppe hinab in die Küche ging. Getreideschrot, Rübenschnitzel und Mineralienzusätze für die Rindviecher der Familie. Algensalat in Salzlake mit ein paar Shrimps für die Flossenträger. Ein kräftiges Vollkornmüsli mit Äpfeln, Heidelbeeren und Bananenchips als Crunch für das einsame Menschlein. Der Wichtel schwirrte die ganze Zeit um ihn herum, sobald Luca ihn aus dem Handtuch entlassen hatte, wäre beinahe im Kühlschrank eingeschlossen worden, weil er unbedingt hineinklettern wollte, stupste mehrfach den Salzstreuer von der Arbeitsplatte und lachte gurrend, als Luca mit ihm schimpfte. Er nieste laut, als ihm offenbar Hafermehl in das Näschen stieg und sah dabei so unglaublich und anbetungswürdig niedlich aus, dass Luca einfach nicht anders konnte: Er musste ihn an sich drücken.
„Okay!“, sagte er. „Du hast gewonnen. Ich gebe dir einen Namen. Und wenn du in einer Viertelstunde beschließen solltest, dass es dir hier zu langweilig ist und du in die Sonne fliegen möchtest, dann ist es eben so.“ Er dachte nach. Gar nicht so einfach, einen geeigneten Namen für ein mystisches, ätherisches Wesen zu finden, das so süß wie ein Schokokeks war.
„Fein. Ich nenne dich erst einmal Keks. Bis mir was Besseres einfällt. Wie gefällt dir das? Keks.“
Ein alberner Name. Zum Glück verstand der Wichtel ihn nicht und freute sich anscheinend einfach bloß, dass Luca ihn anschaute und zu ihm sprach. Jedenfalls flog er auf ihn zu, schmiegte sich an seine Wange, was sich beinahe wie ein enthusiastischer Kuss anfühlte, und surrte dann davon. War das der Abschied gewesen?
„Konzentrier dich!“, ermahnte er sich selbst und setzte Kaffee auf. Seine Eltern, Ashton und Jaclyn vertrugen kein Koffein. Cathy, Marianna und Misha hingegen hatten kein Problem damit und genossen ihn genau wie er stark und schwarz zum Frühstück. Sein Vater kam gähnend in die Küche und wuschelte ihm als Morgengruß durch die Haare.
„Fleißig, hm?“, brummte er, und verteilte die bereits fertigen Frühstücksschüsseln.
„LUCA!“, brüllte Ashton durchs Treppenhaus. „KOMM SOFORT HER!“
„Ich hab nichts gemacht!“, rief Luca, in erster Linie an seinen Vater gewandt, ließ aber dennoch alles fallen und eilte die Stufen hinauf. Ashton stand vor dem gemeinsamen Badezimmer und wies anklagend auf das Wasser, das durch die geschlossene Tür quoll.
„Wie zur Hölle hast du das denn geschafft?“, fragte er.
„Keine Ahnung!“ Erschrocken riss Luca die Tür auf. Noch mehr Wasser strömte ihm entgegen. Sowohl die Dusche als auch das Handwaschbecken liefen auf Anschlag. Der Lichtwichtel huschte gurrend und lachend durch die Luft, tauchte in das Waschbecken, schüttelte sich, dass die Tropfen umherflogen, sauste dann zum Wasserstrahl der Dusche und ließ sich berieseln. „Keks!“, rief Luca verdattert.
„Keks? Du hast den Wichtel jetzt nicht ernsthaft Keks getauft? Und wieso ist der überhaupt noch da?“, fragte Ashton. Luca ignorierte ihn. Stattdessen watete er in das Bad und stellte die Armaturen aus.
„Das geht nicht!“, sagte er zu Keks, der ihn vorwurfsvoll anschaute. „Das Wasser macht alles kaputt.“
„Was geht hier vor?“, erklang die Stimme seiner Mutter. Sie zog ihren Dreizack aus dem Haar und ließ ihn zur mannslangen Waffe heranwachsen. Damit konnte sie dem Wasser gebieten, wodurch die Überschwemmung in Windeseile erledigt war. Bei kleineren Wassermengen benötigte sie nicht einmal den Dreizack, sondern wedelte lediglich mit der Hand. Also ja, eine Meerjungfrau als Mutter hatte definitiv auch seine coolen Momente. Luca erklärte rasch, wie alles zusammenhing.
„Erstaunlich“, murmelte seine Mom. „Ich habe noch nie gehört, dass Lichtwichtel anhänglich sein könnten. Oder Spaß an Wasser haben. Sollte sich eigentlich irgendwie ausschließen … Er kann in den Pools planschen, wenn er verspricht, keine Überschwemmungen mehr zu veranstalten.“
„Mom, er ist ein Lichtgeschöpf und dazu ein Baby. Er versteht unsere Sprache nicht und Verbote schon mal gar nicht.“
„Das ist nicht mein Problem, oder? Er hat dich als Freund adoptiert, also bist du für ihn verantwortlich.“ Mom verließ kopfschüttelnd den Raum.
Ashton feixte im Hintergrund. „Schnapp dir deinen Keks und dann raus mit euch. Ich will duschen und dann frühstücken.“
„Keks?“ Luca streckte die Arme aus.
„Booo!“ Der Wichtel warf sich schwungvoll gegen ihn und ließ sich hinaustragen. Mit einem Fußtritt schloss Luca die Tür, noch bevor Ashton es ihm zubrüllen konnte.
„Du kannst gerne im Wasser spielen“, sagte er und trug Keks in den kleinsten Poolraum des Hauses, der zumeist für Gäste genutzt wurde. Manchmal kamen Meerleute zu Besuch, die ein wenig Privatsphäre zu schätzen wussten. „Schau, hier kannst du plantschen. Aber bitte keine Wasserhähne mehr aufdrehen.“ Es war ein Rätsel, wie der Kleine das überhaupt geschafft hatte. Luca erwartete nicht, dass Keks ihn verstand. Er freute sich einfach mit ihm, als der Wichtel sich quietschend und gurrend in den Pool warf. Es störte ihn offenkundig auch nicht, dass es sich um Salzwasser handelte. Für einige Momente schaute er ihm beim Toben zu, dann ging er zurück in sein Zimmer, um sich trockene Sachen anzuziehen – Socken und Jeans waren bei der Aktion nass geworden – und lief dann hinab zu seiner Familie, die sich inzwischen vollständig um den Frühstückstisch versammelt hatte.
„Er liebt den kleinen Pool“, sagte er, als Mom ihn erwartungsvoll anschaute.
„Ziemlich absurd. Aber warum nicht? Solange er nicht zu viel Unfug macht, ist er ja auch durchaus bezaubernd und er wird nicht lange bleiben.“
„So ist es. Wie sieht es aus? Hat Jasper sich geäußert?“ Luca trank einen großen Schluck Kaffee. Lebenselixier. Wundervoll! Sofort entspannte er sich und die Welt wirkte viel freundlicher, heller und interessanter.
„Ja. Es wird recht komplex diesmal.“ Dad räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der gesamten Familie zu gewinnen. „Heute Nachmittag um 15.00 Uhr geht es zum Flughafen. Schaffst du das, Luca? Jasper hat uns die Tickets schon gebucht, du musst bloß für den Rest sorgen.“
„Kein Problem, das ist ausreichend Zeit.“
„Auch mit deinem Wichtel, der dich so sehr ablenkt?“, fragte Mom kritisch.
„Ich habe noch nie versagt, oder? Ich beabsichtige nicht, heute damit anzufangen.“
„Sehr gut.“ Sein Dad klopfte ihm freundlich auf die Schultern, behutsam wie stets. Als Luca ein Baby war, hatte er nie gewagt, ihn in die Arme zu nehmen, aus Angst, ihn zu zerbrechen. Dass er rein menschlich geraten war, konnte man zum Glück von Anfang an erkennen, andernfalls wäre er in den Minotaurenpranken zerquetscht worden.
Er reichte Luca sein Tablet an, auf dem die Nachricht von Urgroßvater Jasper geöffnet war. Die Pläne waren diesmal tatsächlich komplex, zeitintensiv und fordernd.
„Chicago also. Ich werde eine geeignete Unterkunft für uns finden. Wir waren ja vor fünf Jahren schon einmal dort“, murmelte er.
„Wir besprechen die Details gleich nach der Morgenroutine, damit jeder sich mit seinen Aufgaben vertraut machen kann“, sagte Dad. „Ich mach mich schon mal auf den Weg. Iss in Ruhe auf, Luca.“
Es polterte über ihren Köpfen.
„Das ist mein Zimmer“, grollte Cathy und ließ es wie eine Morddrohung klingen. „Wenn dein komischer Wichtel irgendetwas kaputtmacht, mache ich dich kaputt, klar?“
Schweigend ließ Luca seinen Löffel fallen und sprintete die Treppe hoch. Verdammt! Als Kind hatte er sich unbedingt ein Haustier gewünscht, bis ihm klar wurde, dass seine Familie mehr als genug Stress und Action bot und er gar keine Zeit für ein Tier hatte. So niedlich der Lichtwichtel ja auch war, bei seinem komplizierten Leben konnte er definitiv nicht noch mehr Anstrengung gebrauchen! Er stürmte in Cathys Zimmer …
… Und schmolz dahin. Nichts war kaputt, Keks hatte lediglich einen Kleiderbügel fallen gelassen. Cathy besaß noch einige Puppen aus der Kindheit, die ordentlich auf einem Regal hockten und sowieso immer nur zur Tarnung angeschafft wurden. Die staatlichen Behörden waren einige Male ins Haus gekommen, um zu prüfen, ob die Kinder, die auf Home Schooling angemeldet waren, auch angemessene Bildung erhielten. Bei der Gelegenheit waren die Kinderzimmer inspiziert worden. Puppen und ähnliches Spielzeug waren wichtig für das Gesamtbild.
Einer dieser Puppen hatte Keks den Strohhut geklaut und sich selbst aufgesetzt. Damit posierte er vor dem Spiegel und warf sich selbst Luftküsse zu. Woher kannte er solches Verhalten?
„Hat er irgendwas … Oh!“ Cathy war ihm gefolgt und blieb ebenfalls wie gebannt in der Tür stehen. „Awww, das ist ja niedlich!“ Sie zückte ihr Handy und fotografierte Keks. Beziehungsweise sie versuchte es.
„Schau mal, man kann ihn nicht knipsen.“ Sie hielt Luca das Handy hin. Tatsächlich, der Strohhut schien von allein in der Luft zu schweben. Lediglich ein ganz feiner Lichthauch war zu erkennen, als wäre dort ein Blitzlicht verwischt worden.
„Ist ja schräg. Na egal. Er kann den Hut haben, wenn er will. Die Puppen sind ja sowieso bloß Babykram.“
Keks fuhr zu ihr herum und rief laut vernehmlich: „Duuuu!“ Das klang dankbar. Dann warf er sich Luca in die Arme und schmiegte sich an ihn.
Leise gurrend schloss er die Augen.
„Offenbar ist er müde nach der ganzen Aufregung.“ Cathy lächelte verzückt. „Ich gebe es ungern zu, aber dein Krümel ist schon hammerniedlich.“
„Keks. Ich habe ihn Keks genannt. Wobei das ein vorläufiger Name sein soll.“
„Jajaja. Geh frühstücken. Wir müssen langsam los.“
Wie zur Hölle sollte Luca sich jemals wieder bewegen? Der Wichtel schlief!
Der frühe Morgen war stets eine anstrengende Angelegenheit im Hause Monteroy. Luca hatte mit seiner Familie einen elaborierten Plan, von dem nicht ohne Not abgewichen werden durfte.
So ließ er sich jeden Morgen von den Nachbarn sehen, wie er im Morgenmantel die Tageszeitung von der Wiese klaubte. Im Winter wurden in jedem Raum die Lichter angeschaltet, im Sommer ließen sie die Fenster offenstehen. Seine Mutter sang so oft wie möglich, wenn die Fenster offen waren, damit man sie auf der gesamten Straße hören konnte.
Hatten sie das Frühstück geschafft, verließ Dad zusammen mit Ashton das Haus. Sie nahmen den SUV und fuhren mit ihrer Tarngestalt los. Die Tarngestalt ließ sie optisch auf bullige 1,90 m schrumpfen, immer noch muskulös, aber nicht mehr auf die beängstigende Weise. Selbstverständlich war von Hörnern oder Stierköpfen nichts zu sehen. Die Nachbarn glaubten, beide würden in einer Fabrik für Motorteile arbeiten, Dad als leitender Vorarbeiter, Ashton als Angestellter.
Als Nächste verließ Mom das Gelände, stets freundlich grüßend und winkend, wenn sie dabei ihre Nachbarn sah. Mit dem kleinen Sportwagen ging es angeblich in eine Musikschule, wo sie als Gesangsausbilderin zukünftige Opernsänger trainierte. Jahrelange Übung sorgte dafür, dass sie graziös wie eine Elfe auf den High Heels lief und mit ihren grauen Kostümen und etwas Tarnmagie dämpfte sie die übernatürliche Schönheit auf ein menschlich erträgliches Maß herab.
Marianna, Misha und Cathy fuhren mit den Rädern in Richtung Bahnhof. Sie besuchten vorgeblich das lokale College und arbeiteten an den Wochenenden hart, um ihre Ausbildung zu finanzieren. Lauter Details, die Luca erzählte, wenn er auf der Straße stehenblieb, um dem alten Mr. Richmond von schräg gegenüber mit den Einkäufen behilflich zu sein, wenn er Mrs. Hornflower für ihre zahllosen ehrenamtlichen Projekten Geld überließ oder den Hund der Familie Berg einfing. Ein fröhlicher Golden Retriever, der sich häufiger losriss.
Von ihm glaubte die Gemeinde, er würde von zu Hause aus ein kleines Start Up-Unternehmen im Internet führen. Ging man auf die Website, die er dafür als Tarnung erschaffen hatte, sah es langweilig und überzeugend genug aus, um sich nicht weiter damit beschäftigen zu wollen. Niemand in der Umgebung benötigte Fachberatung bei der Installation von einem hochspezialisierten Programm, das für elektronische Steuereinheiten zur Überwachung von Windparks gestaltet war. Luca hatte reichlich Skizzen, Tabellen und Blaupausen für diese Steuereinheiten hinterlegt, alles technisch korrekt und ausgefeilt, sodass es auch dem Blick von Fachleuten standhalten konnte. Tatsächlich erhielt er ein-, zweimal im Jahr Anfragen, ob er weitere Kunden annehmen konnte, was er mit entsprechendem Bedauern verneinte und die Leute an „Kollegen“ empfahl.
Jaclyn wiederum hielt sich vor der Außenwelt versteckt und erschien nur gelegentlich offen auf der Straße, vorzugsweise zu Thanksgiving und um Weihnachten herum. Von ihr nahmen die braven Leute der Nachbarschaft an, sie wäre vor über drei Jahren ausgezogen, um mit ihrem Mann an der Ostküste zu leben. Dieser fiktive Gatte war Meeresbiologe und häufig auf Reisen, deshalb existierten von ihm lediglich Fotos. Jaclyn arbeitete vorgeblich in einem Forschungslabor und hatte auch bloß wenig Zeit für die Familie daheim. Oder das Gebären von Kindern, was das anbetraf. Es wäre einfach unrealistisch, wenn so viele erwachsene Kinder noch bei den Eltern lebten und keines Ambitionen für einen frühen Auszug oder eine junge Ehe zeigte. Es konnte ja niemand wissen, wie schwierig es für Minotauren wie Meerleute war, einen geeigneten Partner zu finden …
Die diversen Fahrzeuge mussten unauffällig untergebracht werden, was einen Wechsel der Nummernschilder beinhaltete, falls einer der Nachbarn mal ebenfalls das kleine Parkhaus nutzen sollte, in dem Mom und Dad ihre Autos unterstellten. Es gab dort keine Videoüberwachung, darum funktionierte es seit vielen Jahren. Anschließend wechselten sie ihre Kleidung und die tarnende Illusionsgestalt und kehrten allesamt nach Hause zurück. Dabei nutzen sie nicht die Haustür, sondern stiegen von hinten auf das extrem weitläufige Grundstück ein.
Dieses komplizierte, zeitraubende Theaterschauspiel war notwendig, damit man sie für relativ normal hielt und nicht allzu angestrengt versuchte, sie zu beobachten. Luca nötigte zudem Dad und Ashton dazu, gelegentliche Nachbarschaftshilfe zu leisten, etwa wenn Rasenmäher oder Autos kaputtgingen. Bei Mom glaubte man, sie habe ein schweres Hautleiden, „so ähnlich wie Neurodermitis“, weswegen sie sich nicht mehr in die Gemeinschaft integrieren konnte, weil es starke Schmerzen und Juckreiz verursache.