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Dies ist der 2. Sammelband der Change for ...-Reihe. Er enthält die folgenden Einzelbände: 4. Change for cruelty 5. Change for desire 6. Change for love Wie beim 1. Sammelband handelt es sich um eine ungekürzte Sammelausgabe von den Einzelbänden, die inhaltlich nicht verändert wurden. Die einzelnen Klappentexte: Change for cruelty: Marc feiert seinen Geburtstag nach und lädt Samuel ein. Der ist dankbar für die Gelegenheit, der Situation daheim zu entfliehen und Dylan wiederzusehen. Da sein Liebster in Arbeit ertrinkt – der Polizeichef von Shonnam verlangt, dass sämtliche ungelösten Mordfälle der letzten zwanzig Jahre angepackt werden – bietet er seine Hilfe an. Was er dabei findet ist ein Serienkiller; und er gerät in die Fänge eines noch gefährlicheren Raubtieres: Moody! Change for desire: Dylan und Sam werden nach New York gerufen, wo ein Gestaltwandler tot aufgefunden wurde. Inmitten von Nicht-Wandlern zu ermitteln ist schwierig genug. Eine echte Herausforderung wird es, wenn man es in der Hauptstadt der Vorurteile gegen jeden, der anders ist, vollbringen muss. Eine Herausforderung bietet auch dieser Fall, bei dem nichts so ist, wie es scheint … Change for love: Ein Todesfall im Team. Sechs Tote zugleich. Ein Baby im Anmarsch. Und Geheimagenten im Haus. Bei Sammy und Dylan eskaliert einmal mehr alles gleichzeitig, und die Zeit arbeitet gegen sie … Dieses eBook enthält ca. 154.000 Wörter. Das entspricht ca. 770 pures Lesevergnügen. Man bekommt zudem drei Bücher zum Preis von zwei Einzelbänden.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Kurzbeschreibung
Marc feiert seinen Geburtstag nach und lädt Samuel ein. Der ist dankbar für die Gelegenheit, der Situation daheim zu entfliehen und Dylan wiederzusehen. Da sein Liebster in Arbeit ertrinkt – der Polizeichef von Shonnam verlangt, dass sämtliche ungelösten Mordfälle der letzten zwanzig Jahre angepackt werden – bietet er seine Hilfe an. Was er dabei findet ist ein Serienkiller; und er gerät in die Fänge eines noch gefährlicheren Raubtieres: Moody!
Ca. 46.500 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 220 Seiten.
Für Tina Filsak.
Glaube und hoffe. Ganz besonders dann, wenn Logik und Wahrscheinlichkeit dagegen sprechen.
Inhalt
Zu Buch 5
Zu Buch 6
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Es sollte sich nicht so verdammt gut anfühlen, feindliches Territorium zu betreten. Shonnam war und blieb gefährlich für einen Vogelwandler, selbst dann, wenn man schon häufig die Grenze überquert und die staatliche Erlaubnis hatte, genau das zu tun.
Samuel war tatsächlich froh, der mehr als schlechten Stimmung daheim zu entkommen. Marc feierte endlich seinen Geburtstag nach und hatte ihn wie versprochen ebenfalls eingeladen.
Zwei Wochen waren vergangen, seit er Dylan das letzte Mal gesehen hatte. Zwei Wochen, seit sie zueinander gefunden und sich geliebt hatten, wie Samuel es sich niemals hätte erträumen lassen. Seitdem hatten sie einige Male telefoniert, jeweils bloß kurz, da sie beide mit verzwickten Mordfällen beschäftigt gewesen waren. Es waren freundschaftliche Gespräche, ohne sexuelle Anspielungen, und doch war solche Sehnsucht zu spüren gewesen … Samuel vermisste ihn so sehr, dass es ihn zerriss. Dazu kam die Unsicherheit, wie sie zukünftig miteinander umgehen sollten. Zuvor waren alle Regeln klar gewesen, jetzt mussten sie sich neu positionieren.
Samuel wartete ungeduldig, dass die Wachposten an der Grenze damit fertig wurden, ihn abzutasten und die Papiere zu überprüfen. Sobald sie ihn schließlich durchgewinkt hatten, verwandelte er sich und flog los. Nicht nach Brookdarn, wo Dylan und sein Rudel sonst lebten – und neuerdings auch Robin, den sie adoptiert hatten; obwohl er ein Falbkatzenwandler und kein Gepard war. Robins schwerreicher Vater, ein Nichtwandler, war aus tiefstem Herzen erleichtert, seinen ungeliebten Stiefsohn loszuwerden und hatte von sich aus Geld bereitgestellt, um den Umbau des Rudelhauses in Brookdarn zu finanzieren. Das Gebäude war ursprünglich für drei Personen ausgelegt gewesen und schon lange viel zu klein und eng. Der feine Herr wollte jedem denkbaren Skandal im Vorfeld entgehen. Untragbar, dass sein ehemaliger Sohn sich das Schlafzimmer mit zwei oder drei Geparden teilen müsste … Solange die Bauarbeiten in vollem Gang waren, wohnte das Rudel in einem schicken Hotel in der Innenstadt von Shonnam. Selbstverständlich auf Kosten des reichen Daddys.
Dorthin war Samuel unterwegs, denn Marcs Geburtstagsfeier fand da statt. Er kam sich etwas seltsam dabei vor, ohne Geschenk zu erscheinen. Bei Säugetierwandlern, die in Rudeln oder Herden lebten, hatte sich der Brauch eingebürgert, dass das Geburtstagskind seine Gäste beschenkte statt umgekehrt. Dylan hatte ihm den Gedanken dahinter erklärt: Das Rudel versorgte jedes Mitglied, fütterte und beschützte es. Nur ein Viertel von dem, was jeder Erwachsene verdiente, musste der Gemeinschaft übergeben werden. Wer seinen Geburtstag gesund und heil erleben durfte, was in einem Gebiet wie Shonnam keine Selbstverständlichkeit war, bedankte sich mit einer Feier, bei der gutes Essen und persönliche kleine Geschenke eine Rolle spielten. Es gab keine Verpflichtung, ein solches Fest auszurichten; wenn man allerdings nicht arbeitslos, krank oder anderweitig verhindert war, wurde es erwartet. Bei Kindern bis zum zwölften Lebensjahr wurde der Tag zelebriert, wie Samuel es auch kannte: Mit Kuchen, albernen Spielen und Geschenken für die Hauptperson. Er war gespannt, was ihn heute erwarten würde und unglaublich aufgeregt. Dylan. Er würde Dylan wiedersehen …
„Er kommt“, murmelten Daniel und Ron gleichzeitig, ohne aufzublicken. Jeder hatte den Adler gewittert, der auf sie zumarschierte, geführt von einer riechbar nervösen Hotelangestellten. Die Kleine war eine Steppenwölfin und mit Sicherheit genauso mit Horrorgeschichten über Steinadlerwandler aufgewachsen wie jedes andere Kind in Shonnam. Sams Nervosität war kaum weniger grell wahrzunehmen, besaß allerdings eher eine Komponente von sexueller Anspannung. Dylan unterdrückte nur mühsam das Grollen in seiner Kehle. Dieser Mann war sein. Nicht sein Eigentum, doch niemand durfte ihn für sich beanspruchen. Keiner wäre dumm genug, es zu tun, und dennoch spielten seine animalischen Instinkte verrückt, wenn er an ihn dachte. Zu lange hatte er ihn nicht gesehen, er würde sich sehr beherrschen müssen, um ihn nicht zu verletzen. Etwa, indem er gleich über ihn herfiel, kaum dass Sammy den Kopf durch die Tür steckte. Es würde vom Rudel keinen stören, nicht einmal den schüchternen Robin. Sam hingegen war kein Rudeltier. Niemand, dem Unterwerfung im Blut lag, gleichgültig, ob er sich freiwillig an ihn gebunden hatte oder nicht. Dylan musste vorsichtig sein, um ihn nicht zu brechen. Darum begnügte er sich mit einem flammenden Blick und einem Nicken, als Sam endlich im Raum stand. Das verwirrte seinen Adler kurz, aber er nahm es hin. Er verstand es und passte sich an. Sammy beherrschte dieses Spiel von Beobachtung und Adaption besser als jeder andere, den Dylan kannte. Wie stolz und unerschrocken er sich in diesem Raum bewegte, den Marc für seine Feier gebucht hatte! Und wie gut er aussah in der dunklen Jeans und dem schwarzen Hemd. Er begrüßte jedes Rudelmitglied mit Handschlag und einigen persönlichen Worten, ohne den geringsten Anschein von Verunsicherung wie am Anfang ihrer Bekanntschaft. Er gehörte dazu. Es machte Dylan glücklich, diese Vertrautheit zu spüren.
Einen Typen wie ihn gab es unter den Raubtierwandlern nicht. Ein in sich gekehrter Einzelgänger, der sich seiner Kraft vollkommen bewusst war und trotzdem keine Allüren bezüglich seiner Großartigkeit hegte und jederzeit gerne im Team spielte; der sich anpasste, falls nötig sogar unter Wert verkaufte, ohne dass es seinen Stolz verletzte. Das wäre bei sämtlichen Großkatzen, Wölfen, Bären einfach undenkbar. Bei den Vogelwandlern hatte Dylan einige kennengelernt, die ähnlich tickten. Hier, in Shonnam, war Sam einzigartig. Und er gehörte ihm. Eine Tatsache, die ihn noch immer verwirrte und in Nervosität versetzte, denn die bedingungslose Liebe und Treue über den Tod hinaus war für ihn befremdlich. Eine Bürde, wie er insgeheim befürchtet hatte, war es jedoch nicht. Sam machte es ihm leicht, er klammerte sich nicht an ihn, stellte keine Forderungen, rief nicht fünf Mal täglich an oder gab sich eifersüchtig dem Rudel gegenüber. Im Gegenteil: Gerade umarmte er Tyrell herzlich, ihren gemeinsamen Bruder, und plauderte leichthin mit ihm und Daniel. Mit Dylans ältestem Freund verstand sich Sam überraschend gut. Normalerweise öffnete sich Daniel nicht so problemlos und schnell für neue Bekanntschaften. Auch mit Cory und Aaron, den beiden jüngsten Rudelmitgliedern, sowie Ron hatte er seit dem gemeinsamen Kampf gegen die Hyänen ein besonderes Verhältnis. Ohne Sam wäre Ron tot und Cory ein Krüppel. Lediglich Joe blieb zurückhaltend, was daran lag, dass sie einander bislang selten begegnet waren. Joe war Brückenbauingenieur und ständig unterwegs, zudem ein stiller Typ. Genau wie Marc, die Hauptperson des heutigen Abends. Ihn umarmte Sam mühelos, obwohl er bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem Rudel vor jeder Berührung zurückgeschreckt war. Dass die Jungs ihn überwältigt, gefesselt und mit Folter bedroht hatten, weil sie ihn für einen Feind hielten, hatte dabei nicht geholfen … Ein Glück, dass Sam nicht nachtragend war.
In diesem Moment platzte Rick durch die Tür. Der Löwe war wie stets nicht in der Lage, still oder unauffällig aufzutreten. Seine aggressive Alpha-Raubtier-Aura schwappte in unsichtbaren Wellen durch den Raum, sein laut grollender Bass ließ alle Gespräche verstummen. Er visierte Marc an und gratulierte ihm herzlich nachträglich zum Geburtstag, obwohl er das bereits getan hatte. Marc musste spürbar mit sich kämpfen, um sich nicht instinktiv fortzuducken. Er war ein eigenbrötlerischer Mann, der mehr mit Computern als Menschen anfangen konnte. Dennoch hielt er sich tapfer unter Ricks Aufmerksamkeit. An der Seite des Löwen schwebte Maggie dahin, in ein buntes Kleid gehüllt. Die hochgewachsene, sehr schmale Schleiereulenwandlerin, die beinahe das Opfer eines brutalen Mörders geworden wäre und von Rick gerettet wurde, wirkte wie stets ein wenig ätherisch. Sie hatte indianische Vorfahren, was an ihrem schwarzen Haar und den leicht exotischen Gesichtszügen erkennbar war. Eine Aura von Mystik und Düsternis umgab sie, was für Schleiereulen typisch war. Wie genau sie es geschafft hatte, einen Löwen für sich zu gewinnen, blieb ihr Geheimnis. Jedenfalls schien sie sich in Shonnam wohl zu fühlen und hegte keine offensichtlichen Ambitionen, in naher Zukunft ins Vogelwandlergebiet zurückzukehren. Maggie hatte sich einen Job als Tanztherapeutin gesucht, in einer Klinik für „Wandlungsphysiologische Bewegegungshemmungen“. Viele Kinder und Jugendliche hatten im Laufe ihrer Entwicklung mit Schwierigkeiten zu kämpfen, mal mit ihrer menschlichen, mal mit ihrer animalischen Natur. In den meisten Fällen kurierte sich das Problem von allein aus; manchmal brauchte es allerdings auch professionelle Unterstützung. Da Maggie eine ausgebildete Bewegungstherapeutin war – bei sich Zuhause hatte sie Tanzkurse für Erwachsene angeboten – und es an Fachkräften auf diesem Gebiet mangelte, hatte sie den Posten bekommen. Sie durfte lediglich mit Nicht-Raubtierwandlern arbeiten, um Aufstände der Eltern zu vermeiden. Es herrschten nach wie vor tiefes Misstrauen und Ängste speziell zwischen Eulen und Wolfswandlern. Weil Maggie mit der Säugetierphysiologie nicht vertraut war, kümmerte sie sich außerdem nur um jene Kinder, die mit ihren menschlichen Bewegungsabläufen Schwierigkeiten hatten. Das waren immer noch mehr als genug, um sie beschäftigt zu halten. Rick erzählte häufig, wie stolz er auf sie war, wie gut sie sich in einer Stadt einfügte, in der sie von beinahe jedem erst einmal feindlich gemustert wurde. Zudem war sie selbst traumatisiert, nachdem sie erst vor wenigen Wochen von einem Mörder entführt, brutal über Tage hinweg gefangengehalten und mit Folter und Tod bedroht worden war. Rick hatte sie befreit, doch das konnte nicht der einzige Grund sein, warum Maggie ihm treu blieb. Dylan vermutete, dass die recht spirituell angehauchte Frau vieles verdrängen konnte, was die meisten Menschen fürs Leben psychisch verkrüppelt hätte.
Im Moment umarmte sie Marc, gratulierte ihm herzlich, winkte entspannt in den Raum zu den anderen und verwickelte dann Sam in ein Gespräch. Dylan gönnte es ihr, obwohl er ungeduldig den Augenblick herbeifieberte, in dem er diesen Mann endlich in die Arme schließen durfte. Zu lange hatte er ihn vermisst. Ihre erste und bislang einzige Liebesnacht, die so vieles verändert hatte, schien Ewigkeiten her zu sein …
Als Sammy endlich vor ihm stand und ihn seine warme Witterung goldbraun umhüllte, durchlebte Dylan einen vollkommen verwirrenden Moment: Er hatte Sams Duft nicht nur in der Nase und optisch vor Augen, wie er es gewohnt war, gleichmäßig im beschleunigten Takt seines Herzens pulsierend; sondern er hörte ihn auch. Ein tiefer Klang, der ihn an Kraft, Stolz, rauschende Flügel, unerschütterlichen Mut und innere Ruhe denken ließ. An Sams Treue und Opferbereitschaft, seine unerschöpfliche Energie, wenn er der Spur eines Mörders nachjagte. Seine Wut, wenn er spürte, dass er bei den Ermittlungen etwas übersah. Sein Lachen und seine Aufrichtigkeit.
Seit seiner frühesten Jugend hatte Dylan Gerüche nicht mehr auf der hörbaren Ebene wahrnehmen können. Ein Verlust, den er bis heute bedauerte, denn seine Welt war dadurch ärmer geworden. Das hier war eine unglaubliche Erfahrung, die vielleicht drei Sekunden andauerte. Vermutlich würde sich das niemals wiederholen, doch er würde diesen Klang auch niemals vergessen. Diesen Ton, der Sam in seiner Gesamtheit ausmachte. Zutiefst ergriffen streckte er die Arme nach seinem Liebsten aus, der ihn geduldig beobachtet hatte, ohne ein Wort zu sagen. Er konnte nicht wissen, was gerade mit Dylan geschehen war, dennoch schien er zu spüren, dass es wichtig gewesen sein musste. Seufzend versank Sam in der Umarmung. Wie gerne würde er diesen anbetungswürdigen Mann an Ort und Stelle vernaschen!
„Ich hab dich vermisst“, flüsterte er ihm ins Ohr und presste ihn noch ein wenig näher an sich. Genug, damit Sam spüren konnte, wie gewaltig seine Wiedersehensfreude war. Dabei konnte er sich gleich vergewissern, dass es seinem Adler genauso erging, obwohl bereits seine Witterung keinen Zweifel an dieser Tatsache gelassen hatte.
„Heute Nacht gehörst du mir, mir ganz allein“, raunte er zwischen zwei heißen Küssen, die ihm regelrecht den Verstand raubten. Trotzdem gelang es ihnen in einem gemeinschaftlichen Kraftakt, sich voneinander zu lösen, gleichgültig, wie schwer es ihnen fiel. Natürlich starrten alle sie an, grinsten amüsiert und machten Witze auf ihre Kosten. Weder Sam noch ihn störte das.
Hand in Hand marschierten sie zu dem großen Tisch in der Mitte des Festraumes, suchten sich Sitzplätze und öffneten sich bereitwillig für die Gesellschaft der anderen. Immerhin war das hier Marcs Party.
Es gab gutes Essen, angenehme Musik, Unterhaltung mit Freunden und jede Menge Spaß. Samuel amüsierte sich prächtig, plauderte mit sämtlichen Anwesenden und verzieh Dylan die anzüglichen Berührungen und Bemerkungen, mit denen er ihn zwischendurch bedachte. Irgendwann winkte Marc ihn zu sich heran.
„Du weißt ja sicherlich, dass es bei uns üblich ist, dass das Geburtstagskind seinen Gästen etwas schenkt“, sagte er leicht verlegen. Samuel nickte aufmunternd und Marc fuhr fort: „Die anderen hab ich bereits auf dem Tag selbst beschenkt, beziehungsweise Dylan und Rick, als sie zurückgekommen waren. Du bist der einzige, der noch fehlt …“ Er streckte ihm einen Umschlag entgegen, den Samuel dankend annahm. Es kam ihm seltsam verdreht vor, ohne jeglichen Grund beschenkt zu werden. Fast wie Bestechung, gefälligst Marcs Freund zu sein, auch wenn ihm der Hintersinn dieser Tradition durchaus klar war. Aus diesem Grund verkniff er sich überflüssige „wäre nicht nötig gewesen“-Bemerkungen, die keinen interessierten, und öffnete den Umschlag. Er enthielt einen Gutschein, wie er auf den ersten Blick erkannte.
„Es ist mit Dylan abgesprochen“, versicherte Marc nervös, bevor Samuel nachschauen konnte, wofür der Gutschein galt. „Und es ist keine Pflicht, nur ein Angebot, okay?“
Verwundert klappte Samuel die schlichte und dennoch edel gestaltete Karte aus handgeschöpftem Papier auf.
„Gutschein für ein Sippenbrandzeichen“, stand darin.
Das kam unerwartet. Er wusste, dass Tätowierungen wie auch Brandzeichen bei Säugetierwandlern üblich waren, unabhängig von den Gattungen. Erst vor kurzem hatten Dylan und er einen Fall lösen können, bei denen die frischen Tätowierungen der Todesopfer der entscheidende Hinweis gewesen waren. Bislang waren ihm bei Dylan und seinem Rudel noch keine Abzeichen aufgefallen.
Als hätte Dylan diesen Gedanken gewittert, streifte er sich plötzlich das grüne Hemd über den Kopf und wandte ihm den Rücken zu. Unterhalb des linken Schulterblatts befand sich ein winziges Brandmal in Form einer Gepardentatze, vielleicht einen Daumennagel breit.
„Das hat jedes Rudelmitglied“, sagte er leichthin und zog sich wieder an.
„Wir haben darüber diskutiert“, mischte sich Marc erneut ein. „Du bist Tyrells Halbbruder, darum wirst du stets mit uns verbunden sein. Gleichgültig, wie sich das mit Dylan und dir entwickeln sollte … Und das Zeichen ist sowieso nur ein Symbol. Wer gehen will, kann das jederzeit tun und in ein anderes Rudel wechseln, ein eigenes gründen oder allein leben.“
Samuel spürte, wie alle angespannt auf seine Antwort lauerten. Ganz besonders Dylan. Ja, es war ein Symbol, das letztendlich keine Bindungskraft besaß. Oder irgendeine andere Kraft. Doch ähnlich wie ein Ehering steckte tatsächlich sehr viel Macht dahinter – die Macht des kollektiven Bewusstseins. Wenn jeder beim Anblick des Zeichens wusste, wer zu wem gehörte …
Samuel schaute auf, sah in die blauen Augen, die ihm die Welt bedeuteten, lächelte und nickte still. Worte waren überflüssig. Die machten die Dinge bloß unnötig kompliziert.
Das gemeinschaftliche Ausatmen sämtlicher Rudelmitglieder stimmte ihn glücklich.
Rick zückte sein Handy und brüllte hinein:
„Hast du Zeit und Lust, spontan vorbeizukommen?“
Auf einmal war sich Samuel nicht mehr vollständig sicher, ob das eine gute Idee gewesen war.
„Das ist Marcs Party, muss das jetzt sofort …?“, setzte er an. Dylan grinste breit.
„Du bist da und hast gerade Zeit. Morgen früh ruft dich vielleicht das Revier an und verlangt deine Rückkehr, weil zehn Psychopathen gleichzeitig ihr Unwesen treiben. Warum also nicht jetzt sofort?“ Er nahm ihn in die Arme und küsste ihn zärtlich. „Außerdem ist Robin ebenfalls da“, wisperte er. „Der Kleine hat höllische Angst vor dem Brandeisen und konnte sich bislang noch nicht dazu überwinden. Wir haben ihm versprochen, dass er das nicht machen muss, wenn er es nicht kann, aber er will so verdammt gerne dazugehören … Wenn er dir zuschauen kann und merkt, dass es nichts weiter Schlimmes ist, könnte das wirklich helfen.“
„Großartig. Ich soll also entspannt lächeln, während mir jemand ein glühendes Eisen auf den Pelz drückt?“, flüsterte Samuel zurück, halb im Scherz, halb ernst. „Und was, wenn ich mich blamiere und wie ein Baby zu heulen anfange?“
„Dann weiß Robin, dass das garantiert nichts für ihn ist und lässt es sein. Oder versucht es mit einer Kurznarkose, wie wir ihm auch bereits angeboten haben.“
Dylan grinste, bevor er ihm einen weiteren heißen Kuss verpasste und danach deutlich widerstrebend losließ. „Keine Sorge. Das mit dem entspannten Lächeln klappt vermutlich nicht, es ist trotzdem keine große Sache. Ich kenne dich schließlich auch schon ein bisschen. Du heulst garantiert nicht los, nicht bei einem solch kleinen Brandmal. Die Stelle wird auch betäubt.“
„Wenn du es sagst …“ Samuel seufzte innerlich. Ja, irgendwie war das keine gute Idee gewesen. Trotzdem würde er um nichts auf der Welt davor kneifen wollen.
Etwa eine halbe Stunde später erschien ein Waschbärwandler, der vom Rudel freundlich begrüßt wurde. Sein Name lautete Tobias, wie Samuel bereits erfahren hatte, und er war der einzige Tätowierer Shonnams, der eine offizielle Lizenz für Brandzeichen besaß. Es gab anscheinend genug Leute, die es auch ohne Lizenz und damit deutlich billiger anboten, doch sollten Komplikationen auftreten, stand man mit seinem Problem allein da.
Dylan sprach mit ihm, wies sowohl auf Samuel als auch mit vager Geste auf Robin. Der Kleine wirkte, als wollte er mit der Wand verschmelzen, seine Panik war nicht zu übersehen.
„Soll ich mit ihm reden?“, fragte Rick an Samuel gewandt. Einer der wenigen Momente, in denen der Löwe tatsächlich fast unhörbar leise flüstern konnte.
„Lass nur, das hätte keinen Sinn“, wisperte Samuel zurück. „Du würdest ihn höchstens noch mehr verschüchtern, sorry. Vielleicht genügt es, wenn er bei mir zuschaut.“ Dabei war ihm selbst ein wenig flattrig zumute und er hätte eine normale Tätowierung vorgezogen. Anscheinend erriet Tyrell seine Gedanken, denn er lehnte sich über den Tisch näher heran und sagte: „Das mit dem Brandzeichen stammt aus der Zeit, als Dylan und ich das Geld von der Vogelwandlerregierung bekommen hatten. An dem Abend, als wir gemeinsam mit Daniel in Brookdarn eingezogen waren, hatten wir das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Wir wollten unsere Freiheit, unser eigenes Stück Land und das sichere Dach über dem Kopf feiern und wussten nicht recht wie. Toby war da gerade beim Nachbarrudel unterwegs und hat das jüngste Mitglied tätowiert, wie wir zufällig wussten. Als er gehen wollte, haben wir ihn abgepasst und gefragt, ob er für uns ein Angebot hätte.“
Daniel, der neben ihm saß, lachte auf und fuhr dazwischen: „Wir waren echte Idioten und fühlten uns wie die Könige! Es war schon spät am Abend und Toby hatte schlicht keine Lust, sich mit drei übermütigen Teenagern rumzuärgern. Also sagte er, wohl um uns loszuwerden, dass er uns lediglich ein Brandzeichen anbieten könnte, ansonsten wäre er für das nächste halbe Jahr ausgebucht. Wir haben uns blöd angeglotzt und spontan Ja gesagt … Dylan musste einen Pfotenabdruck auf Papier hinterlassen, damit ist Toby wortlos abgezogen. Wir dachten, den sehen wir nie wieder, aber am nächsten Abend klopfte er mit einem frisch geschmiedeten Siegeleisen an unsere Tür. Danach haben wir uns nicht bloß wie Könige, sondern mindestens wie Kaiser gefühlt.“
Toby winkte in diesem Moment Samuel zu sich heran.
„Du machst das schon“, rief Tyrell und klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. Noch einmal tief durchgeschnauft, dann stapfte Samuel in den Nebenraum, in dem Toby derweil die notwendigen Vorbereitungen getroffen hatte. Es war beruhigend, dass dies keine große Show werden sollte, bei der jeder zuschauen konnte; auch wenn den scharfen Nasen und Ohren keine Regung hier drinnen verborgen bleiben würde. Sollte er sich tatsächlich blamieren, würden alle es wissen …
Robin drückte sich unglücklich im hinteren Teil des Raumes herum. Er hätte ihm gerne versichert, dass es keinen Grund zur Sorge gab, doch selbst in seinem aufgelösten Zustand konnte Samuel keine Lüge vor ihm durchbringen.
„Kurz zum Ablauf“, sagte Toby und hielt das Eisensiegel hoch, das noch nicht erhitzt war und darum vollkommen harmlos wirkte. „Du erhältst eine örtliche Betäubung. Ein Spray, das für einige Minuten vorhält. Während ich dir das Siegel aufdrücke, musst du absolut still halten, dafür wird Dylan sorgen. Das Ganze ist auch für Männer mit stahlharten Nerven erschreckend, darum wird dieser Punkt nicht diskutiert – es zischt, es ist heiß, es stinkt und Feuer löst Urinstinkte aus, die schwer zu kontrollieren sind. Gefährlich ist es nicht, Kreislaufreaktionen sind dennoch nicht auszuschließen. Ich verpasse dir eine Verbrennung zweiten Grades. Das bedeutet, es werden nicht alle Gewebsschichten durchdrungen und du wirst für zwei bis drei Tage leichte Schmerzen haben. Ich könnte dir das Ding auch länger aufdrücken, aber dadurch würde sich die Gefahr schwerwiegender Infektionen aufgrund abgestorbener Hautpartikel extrem erhöhen. Da die Wundstelle nicht größer als ein Centstück ist, sollte ein tapferer Adler wie du keine Probleme haben. Außerdem gehört eine professionelle Wundversorgung zum Servicepaket dazu. Noch Fragen?“
„Ja“, erwiderte Samuel rasch, „und zwar zur Lokalisation des Mals. Unterhalb des Schulterblatts ist bei mir eher ungünstig, weil ich an dieser Stelle anschließend keine Federn mehr ausbilden kann.“
„Wir hatten uns damals für diesen Punkt entschieden, weil wir es über dem Herzen haben wollten, es aber auf der Brust in Gepardengestalt ungünstig gewesen wäre, um bequem liegen zu können“, sagte Dylan.
„Mir wäre die Brust eindeutig lieber.“
„Und mir ist es scheißegal, Hauptsache, wir diskutieren jetzt nicht die ganze Nacht“, brummte Toby. Er verkabelte ein seltsames Gerät, auf dem er das Siegel ablegte. Sofort begann sich das Eisen zu erhitzen und glühte schon bald in feurigem Rot. Ein beunruhigender Anblick …
Samuel setzte sich auf den Stuhl, den Dylan ihm bereit gestellt hatte, und öffnete sein Hemd. Toby desinfizierte einen großzügigen Bereich der Brust und sprühte genau über dem Herzen etwas auf, das scharf roch und schnell für Taubheit sorgte.
Dylan positionierte sich hinter Samuel und ergriff seine Arme. Nicht zu fest, es ging nur darum, ihn im Notfall zu sichern, damit er wirklich still hielt.
„Bereit?“, fragte Toby. Samuel nickte leicht beklommen. Toby ergriff das Siegeleisen mit einer seltsamen Vorrichtung und brachte sich in Stellung. Samuel spürte die Hitze, die von dem Brandeisen ausstrahlte. Er fixierte den Mann vor sich, starrte in dessen schwarze Augen, ohne zu blinzeln. Dann war es soweit. Druck. Hitze. Gestank von verbrannter Haut. Es zischte übelkeitserregend. Ein hohes Wimmern erklang aus Robins Richtung – der Kleine wusste, er war als Nächster dran.
Dylan sorgte gewissenhaft dafür, dass Samuel nicht unwillkürlich zuckte, doch das war kaum notwendig. Die örtliche Betäubung wirkte, er spürte lediglich ein leichtes Brennen und unangenehme Hitze. Nach endlos erscheinenden drei Sekunden zog Toby das Eisen zurück. Er begutachtete sein Werk zufrieden, während Dylan losließ. Zumindest die Arme, er legte ihm die Hände in einer beruhigenden Geste auf die Schultern.
„Sieht hervorragend aus“, verkündete Toby stolz. „Das wird eine bildschöne Narbe geben. Alles sauber, glatt, genau wie es sein soll.“
Samuel betrachtete das Brandmal mithilfe eines Spiegels, den Toby ihm vorhielt. Es stach in zornigem Rot von der übrigen weißen Haut ab. Dylans Zeichen. Er gehörte nun offiziell zum Rudel. Zur Familie. Viel zu lange hatte er keine Familie mehr gehabt, ohne zu wissen, wie sehr er genau das vermisst hatte. Die vergangenen vier Monate hatten ihn stärker und schneller verändert als irgendein anderer Zeitabschnitt seines Lebens zuvor. Er ergriff Dylans rechte Hand, die noch immer auf seiner Schulter lag, und drückte sie.
„Danke“, wisperte er aufgewühlt, schaute zu seinem Seelengefährten hoch. Ihm begegnete dieselbe Mischung aus Dankbarkeit, Stolz und Wärme, die er ebenfalls empfand.
Toby räusperte sich und zerstörte damit den innigen Moment, den sie teilen durften.
„Ehrlich, sobald ich fertig bin, könnt ihr Jungs euch gerne gegenseitig auffressen oder anbeten oder was auch immer. Aber jetzt muss ich erst einmal dieses Mal versorgen, klar?“
Samuel hielt brav weiter still, während Toby ein kühlendes Gel auftrug. Die Betäubung hatte inzwischen aufgehört zu wirken, dementsprechend pochte und puckerte es in der Wunde. Der brennende Schmerz war nicht unerheblich, doch da die betroffene Fläche so klein war, ließ es sich mithilfe des Gels gut ertragen. Sie wurde mit einem sterilen Verband abgedeckt, dann nickte Toby Dylan zu.
„Du weißt ja, wie es geht. Ich komme morgen Abend gegen zwanzig Uhr hier ins Hotel und schaue mir das Ganze noch mal an. Solltet ihr unterwegs sein, gebt mir bitte freundlicherweise vorher Bescheid.“
Samuel regte sich unbehaglich – um diese Zeit sollte er eigentlich längst wieder Zuhause im Vogelgebiet sein. Aus irgendeinem Grund fand er nicht den Willen, das anzumerken, darum schwieg er und wechselte lediglich einen Blick mit Dylan. Der grinste schmal, sagte auch nichts dazu.
„Okay, Kleiner – Robin, richtig?“ Toby wandte sich nun an den jungen Mann, der verschüchtert in einer Ecke kauerte.
„Du hast gesehen, gehört und gewittert, dass das keine große Sache ist. Also, wenn ein Adler das ohne mit der Nase zu zucken hinkriegt, schafft eine stolze Falbkatze wie du das mit links, oder?“
Das war sicher gut gemeint, doch Samuel wusste, dass Robin absolut nicht stolz auf seine Wandlergattung war. Seine Mutter hatte des Geldes wegen einen stinkreichen Nicht-Wandler geheiratet. Der wiederum wollte die schöne Falbkatze lediglich als Schmuckstück. Ihr Sohn war ein peinliches Ärgernis, mit dem der Stiefvater sich nie hatte arrangieren können. Es war bekannt, dass der Dreckskerl Robin schwer misshandelt hatte, ohne das je eingegriffen wurde. Dazu war er als Hochbegabter unter lauter Nicht-Wandlern aufgewachsen, die ihn für seine Herkunft wie seine Intelligenz hatten leiden lassen. Als Vertreter einer Gattung, die wenig wehrhaft und ausgesprochen niedlich war – Falbkatzen waren nicht umsonst die Ahnherren der Hauskatzen – war aus ihm jemand geworden, der sich vor seinem eigenen Schatten fürchtete. In der Gegenwart Fremder konnte er kaum seinen eigenen Namen stammeln und auch sonst war er ein ziemlich bemitleidenswertes Kerlchen, das Schutz und Hilfe brauchte, um durchs Leben zu kommen. Dylan hatte ihn deswegen in sein Rudel adoptiert, fest entschlossen, genau das zu ändern.
Bevor sein Partner den Jungen unter Druck setzen konnte, räusperte sich Samuel.
„Kann ich das übernehmen?“, fragte er stumm, allein mit Blick und Mimik. Dylan zögerte, aber es war nicht wirklich eine Frage von Autorität als Alpha des Rudels, um das hier zu regeln, darum nickte er ihm zu.
Samuel stand auf und wies einladend auf seinen Stuhl.
„Setz dich, Robin“, sagte er freundlich, doch entschieden. Mit unglücklicher Miene nahm der Junge Platz.
„Ich glaube nicht, dass ich das kann“, flüsterte er beschämt, beide Hände in sein hellblaues Shirt verkrallt.
„Du würdest es gerne schaffen, oder?“
„Natürlich.“ Ohne zu zögern nickte Robin. „Ich kann mich bloß nicht beherrschen … Ich werde heulen und schreien und zittern und drei Mann wären nicht genug, um mich still zu halten. Vielleicht pisse ich mir sogar in die Hose und …“
„Du weißt, was eine selbsterfüllende Prophezeiung ist?“, unterbrach Samuel das hilflose Gestammel.
„Ja! Ich weiß, dass die Panik daher kommt, dass ich erwarte, in Panik zu verfallen, ich weiß das selbst.“ Robin zitterte bereits jetzt erbärmlich, Tränen rannen über seine aschfahlen Wangen. Samuel schnappte sich einen zweiten Stuhl, schob ihn dicht an Robin heran und setzte sich ihm nah genug gegenüber, dass sich ihre Nasen beinahe berührten.
„Sieh mich an!“, befahl er mit zwingendem Tonfall und fixierte ihn, ohne zu blinzeln.
Robin gehorchte und für ein, zwei Minuten wurde es still im Raum. Toby und Dylan verhielten sich ruhig, lediglich die Atemzüge des Jungen waren zu hören. Zunächst waren sie viel zu rasch, dann wurden sie langsam immer ruhiger. Das Zittern verebbte, während der Kleine ihn hilflos wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange anstarrte. Samuel hatte das noch nie zuvor ausprobiert, zumal es bei Vogelwandlern nicht funktionierte. Es hieß, dass jeder Raubvogelwandler in der Lage wäre, normale Menschen und willensschwache Säugetierwandler zu hypnotisieren. Das hatte er für ein Gerücht gehalten und er wollte eigentlich auch nicht ausgerechnet heute Nacht damit anfangen, der Sache auf den Grund zu gehen. Andererseits brauchte Robin Hilfe und es schien tatsächlich zu funktionieren …
Als er spürte, wie jegliche Anspannung aus Robins hagerem Körper wich, sagte er mit tiefer, beschwörender Stimme:
„Ich zähle jetzt bis drei, Robin. Danach schließt du die Augen und lässt dich von Dylan und mir festhalten. Toby wird dir das Siegel aufdrücken und du wirst es ruhig und ohne Gegenwehr geschehen lassen. Hast du mich verstanden?“
„Ja“, erwiderte Robin stark verlangsamt, beinahe lallend.
„Gut so. Eins-zwei-drei!“ Er konnte es selbst kaum glauben, als Robin die Lider schloss und aufrecht sitzend stillhielt, während Dylan ihm das T-Shirt auszog. Damit Toby ungehinderten Zugang zum Rücken erhielt, drückte Dylan ihn nach vorne, in Samuels Arme. Gemeinsam hielten sie ihn fest, auch wenn der junge Mann nicht den geringsten Widerstand bot, beinahe zu schlafen schien.
„Ich hatte keine Ahnung, dass du so etwas kannst“, brummte Dylan ihm ins Ohr, der neben ihm am Boden kniete.
„Ist mein erstes Mal“, erwiderte Samuel schief grinsend. „Und vergiss jeden Scheiß, den du je über Hypnose gehört hast. Ich könnte ihn zu nichts zwingen, was er nicht selbst will. Klar, ein Profi hat da sicher ein paar Tricks drauf, an die ich nicht einmal denken kann, aber im Prinzip ist er wach und bei Verstand. Na ja, ungefähr halbwach. In einem Stadium, wo das Gehirn empfänglich für Vorschläge ist. Ich könnte ihn wirklich nichts tun lassen, was ihm widerstrebt.“
„Reicht völlig aus, soweit ich das überblicke“, sagte Dylan.
Toby brannte gerade das Siegel in Robins Rücken, ohne dass der junge Mann darauf in irgendeiner Weise reagierte. Er hing weiterhin vollkommen entspannt in ihrem Griff, atmete ruhig und gleichmäßig.
„Sammy, sollte dir das Ding mit der Mordermittlung jemals zu langweilig werden – okay, oder auch zu aufregend – und du Lust auf Veränderung verspüren, kannst du jederzeit bei mir anfangen“, murmelte Toby, während er die Brandwunde verpflasterte. „Ich hab häufig genug mit Kindern und Halbstarken zu tun, die sich selbst vor der Tätowiernadel wie die Babys ins Hemd pissen.“
Zurecht, wie Samuel fand. Zumindest bei Kleinkindern stieß ihn die Vorstellung ab, dass sie mit Tätowierungen gequält wurden. Andererseits mochte es gerade in der Prärie überlebensnotwendig sein, ihnen ein Zeichen zu geben, dass sie irgendwohin gehörten. Darum brummte er lediglich unbestimmt und schwieg.
„Fertig!“, verkündete Toby kurz darauf, zog die sterilen Handschuhe aus und begann, seine Sachen einzupacken.
„Robin, kannst du mich hören?“, fragte Samuel behutsam, darauf konzentriert, seine Anspannung nicht weiter wachsen zu lassen. Nein, er wusste nicht wirklich, was er hier gerade machte, aber das durfte er sich nicht anmerken lassen.
„Jaaaa …“, erwiderte Robin, wieder stark verlangsamt.
„Ich zähle bis drei. Du wirst aufwachen und dich an alles erinnern, was geschehen ist und was wir gesagt haben. Es gibt keinen Grund dich zu schämen, dass du dieses Hilfsmittel brauchtest, um Ruhe bewahren zu können. Im Gegenteil: Du kannst stolz auf dich sein, dass du dich dafür entschieden hast und wenn du es nicht gewollt hättest, wäre die Hypnose nicht wirksam gewesen. Die Schmerzen, die du für die nächsten zwei, drei Tage durchstehen musst, die sind wesentlich schlimmer als der Akt des Einbrennens selbst. Sie sind die wahre Prüfung. Ich bin sicher, du wirst das schaffen. Du bist stark, Robin, und irgendwann wirst du das auch begreifen. Immerhin bist du klüger als wir alle zusammen, also hast du keinen Grund, dich für klein und minderwertig zu halten. Hast du das verstanden?“
Sobald Robin bejaht hatte, zählte Samuel bis drei. Ein Ruck ging durch den schmalen Körper, dann richtete Robin sich langsam auf. Beinahe, als wäre er aus dem Tiefschlaf aufgewacht, blinzelte er verständnislos von einem zum anderen.
„Hab ich es wirklich?“, fragte er schließlich aufgeregt.
„Yep. Du bist jetzt offiziell einer von uns.“ Dylan zog den Jungen hoch und ließ sich von Samuel dabei helfen, zwei Spiegel dergestalt auszurichten, dass der Kleine zumindest den Verband auf seinem Rücken sehen konnte.
„Warte noch ein Minütchen, bis der Schmerz bei dir angekommen ist, danach glaubst du es uns. Übermorgen kann das Zeug ab, dann kannst du dein Mal in aller Ruhe bewundern“, sagte Toby, packte die Spiegel zu seinen anderen Sachen und ging mit einem fröhlichen Gruß davon.
„Danke“, stammelte Robin und umarmte Samuel linkisch. Ein wenig überfordert von so viel unerwarteter Körperlichkeit hielt er still. Er hatte das Richtige getan, wie es schien, auch wenn er rein nach Instinkt gehandelt hatte. Zumindest schien Robin es ihm nicht übel zu nehmen, was durchaus hätte geschehen können.
„Gehen wir zurück zur Party“, meinte Dylan, klopfte Robin noch einmal herzlich auf die Schultern und erlöste Samuel damit. Party klang nach einer guten Idee. Essen, plaudern, Spaß haben, das hatte ihm bereits vorhin bestens gefallen. Obwohl er langsam Lust bekam, sich mit Dylan in ein ruhiges Zimmer zurückzuziehen …
Es war ein Genuss, Sam zuzusehen, wie er mit jedem Atemzug ein bisschen mehr Selbstkontrolle aufgab. Das bedingungslose Vertrauen zu spüren. Die Liebe und Hingabe in seinen Augen zu lesen. Sein Adler war solch ein wunderschönes Geschöpf. Allein die starken, ausdauernden, schlanken Muskeln, die weiche Haut, die goldbraunen Nuancen in Iriden und Haaren, die sich in seinem Adlergefieder wiederfanden, sobald er sich verwandelte … Alles das schenkte er Dylan, ohne etwas für sich selbst zu verlangen, und nahm mit Dankbarkeit und Staunen, was er zurückerhielt. Nie zuvor hatte Dylan etwas Ähnliches erlebt. Er hatte Sex mit diversen Wandlergattungen genossen, in erster Linie mit Geparden, Leoparden, Wölfen und Jaguaren. Mit den wenigsten Männern hatte er zwei Mal etwas gehabt und mit jedem einzelnen war es ein harter Kampf gewesen. Er stand nun einmal nicht auf unterwürfige Kerle, die sich bereitwillig dominieren ließen. Sex war für ihn seit seinem ersten Mal gleichbedeutend mit Kampf um die Oberherrschaft. Teilweise waren er und sein jeweiliger Partner anschließend völlig erschöpft, zerkratzt und blutig gebissen gewesen. In den meisten Fällen hatte er den Sieg davongetragen und sich danach kaum noch genug für den Kerl, den er gefickt hatte interessiert, um sich den Namen merken zu wollen.
Und nun hatte er Sam unter sich, den er nicht erst gewaltsam niederringen musste. Der sich ihm freiwillig hingab, ohne sich zu unterwerfen. Dylan musste ihn locken, umwerben, ihm helfen, den eigenen Stolz Stück für Stück aufzugeben. Zu wissen, dass Sam es für ihn tat, dass niemand anderes jemals von diesen Lippen kosten, die glatte Haut liebkosen, all die aufregenden Witterungen erschnuppern, die tiefsten Geheimnisse ergründen, die salzige Lust von Sammys Erektion lecken durfte … Es war berauschend. Jedes noch so kleine Zittern der Muskeln, das köstliche Winden des erregten Körpers, der Schleier des hilflosen Verlangens in Sams Augen: Es gehörte ihm allein. Ein Geschenk, um das er nicht kämpfen, doch das er sich verdienen musste.
Dylan war behutsam, als er in die heiße Enge eindrang. Sam war nach wie vor unerfahren, es war erst ihr zweites Liebesspiel überhaupt. Das er keinerlei Schmerzen empfand, dafür extrem viel Vergnügen, wie es sonst nur Männern mit langjähriger Übung vergönnt war, musste ein weiterer Vorteil dieser Gefährte-fürs-Leben-Sache sein, die absolutes Vertrauen begründete. Kein Grund, sich zu beschweren … Das hier ging weit über schnöden Sex hinaus, es war es wert, Liebesspiel genannt zu werden.
Als Sam stöhnend kam, musste Dylan sich extrem beherrschen, um keine albernen Liebesschwüre zu stammeln. Das wollte er ihm nicht antun! Sextrunkene Geständnisse waren wertlos …
Als er sich tief in ihm verströmte, umhüllte ihn plötzlich wieder der unvergleichliche Klang, der zu Sams Witterung gehörte – gemeinsam mit einer flüchtigen Geschmackssensation, die alles übertraf, was er jemals gekostet hatte. Eine Geruchswahrnehmung auf vier Ebenen! Während sämtliche Sinnesnerven unablässig feuerten, verfiel Dylan in einen regelrechten Rausch. Wahnsinn! Für eine Ewigkeit von zwei Herzschlägen schwebte er zwischen Ekstase und Bewusstlosigkeit und als er zu sich kam, rannen Tränen über seine Wangen.
Sam hielt ihn fest, streichelte ihm beruhigend über den schweißnassen Rücken. Er wirkte selbst vollkommen aufgewühlt und schien glücklicherweise zu verstehen, was in Dylan gerade vorging – dass er in Ordnung war und das Ganze lediglich eine körperliche Reaktion auf diesen irrsinnigen Orgasmus. Sam sprach kein Wort, wofür er ihm dankbar war. Worte machten die schönsten Stimmungen zuverlässig kaputt. Nach dieser welterschütternden Erfahrung wollte er einfach bloß still daliegen, vor sich hinschweben, seinem Liebsten nah sein und friedlich einschlafen. Erklärungen, Diskussionen, das Wissen, dass sie sich in ein paar Stunden bereits wieder trennen mussten – das konnte bis morgen warten. Zufrieden schnaufend kuschelte er sich noch enger an Sams starken Körper. Genau das liebte er am meisten an ihm: Dass er für ihn nicht ununterbrochen der Alpha und Beschützer sein musste, sondern sich fallen lassen und selbst Geborgenheit suchen durfte.
Eine kurze Schmerzwahrnehmung von Sam erinnerte ihn an die Brandwunde. Dylan rückte ein wenig, um keinen Druck darauf auszuüben.
Du gehörst jetzt zu uns, dachte er zärtlich und küsste ihn sanft. Wenn er sich nicht irrte, teilte er diesen Gedanken gerade mit Sam. Vielleicht war es aber auch nur das, was Dylan sich wünschte … Jedenfalls war er glücklich und vollkommen zufrieden mit der Welt, als er einschlief. Eine Gnade, die ihm selten genug vergönnt war.
Sie duschten gemeinsam, was in einem weiteren heißen Liebesspiel ausartete. Samuel trödelte danach ein wenig mit abtrocknen, Wundverband erneuern und anziehen herum. Er wollte nicht nach Hause, beim besten Willen nicht. Noch hatte er etwas Zeit, bevor er sich auf den Weg zurück ins Vogelwandlergebiet machen musste. Diese wenigen Stunden würden ihm wie Wasser zwischen den Fingern zerrinnen, wie er bereits aus trauriger Erfahrung wusste. Abschied nehmen fiel ihm jedes Mal schwerer, diesmal würde es unerträglich werden. Was er heute Nacht mit Dylan geteilt hatte … Sie waren sich nie näher gewesen, hatten sich in tiefster Seele berührt. Der bloße Gedanke, ihn nun wieder für Wochen, vielleicht sogar Monate zurücklassen zu müssen, riss ihn regelrecht in Stücke.
Als er das Bad verließ, fand er Dylan auf dem kleinen Balkon des Hotelzimmers, wo er ein üppiges Frühstück eindeckte.
„Essen wir nicht mit den anderen zusammen?“, fragte er, ebenso verwirrt wie erfreut. Er mochte jedes einzelne Rudelmitglied von Herzen gerne, doch jede Sekunde, die er mit Dylan allein verbringen durfte, war ein kostbares Geschenk.
„Die Jungs haben beschlossen, dass sie heute Morgen ausnahmsweise ohne uns klar kommen“, erwiderte Dylan vergnügt. „Marc und Tyrell haben uns das Frühstück geschickt, mit besten Wünschen nach einer langen Nacht und so weiter. Wer weiß, was sie glauben belauscht zu haben … Diese Kindsköpfe.“ Sein lodernder Blick, mit dem er Samuels Körper hungrig maß, strafte seine gelassenen Worte Lügen. Begehrt zu werden fühlte sich großartig an. Vor allem, nachdem sie bereits ausgiebig übereinander hergefallen waren. Wie sehr wünschte er, es würde niemals enden!
Sie sprachen kaum, saßen gemeinsam in einen Lehnstuhl gekuschelt und fütterten sich gegenseitig mit köstlichen kleinen Gebäckstücken, die mit Schlagsahne und Marmelade gefüllt waren und genau die richtige Häppchengröße besaßen. Ideal, um sie dem Liebsten zwischen die Lippen zu schieben und sich süße Küsse zu stehlen, während er kaute. Vermutlich waren sie für genau diesen Zweck kreiert worden. Dazu gab es Obst, ebenfalls in handliche Häppchen vorgeschnitten, Kaffee zum Munterwerden und verschiedene Säfte.
„Welch ein Glück, dass Robins ekliger Stiefpapa derart reich ist“, murmelte Samuel mit Blick auf die riesige Parkanlage, die zum Hotel gehörte. Solchen Luxus hatte er schlicht noch nie erlebt, es war ausgesprochen angenehm.
„Finde ich auch. Und weißt du, was auch ein Glück ist? Jackson hat vorhin angerufen, als du noch im Bad warst. Er wollte nicht recht mit der Sprache rausrücken, was los ist, aber er fragte ausdrücklich, ob wir beide in etwa einer Stunde ins Quartier kommen könnten.“
„Wenn es um einen komplizierten Fall ginge, hätte er das sicherlich gesagt und uns sofort da haben wollen“, erwiderte Samuel zögerlich. Er wollte seine viel zu kurze Zeit mit Dylan nicht vergeuden. Noch viel weniger wollte er sich zu früh freuen, dass es tatsächlich um einen Fall ging, bei dem er gebraucht wurde und er so noch länger hier bleiben könnte. Freude über einen Mord war zudem immer unangemessen, gleichgültig, welchen angenehmen Nebeneffekt er daraus ziehen könnte.
„Ich weiß nicht, worum es geht, ehrlich. Sicherlich würde Jackson sich einfach nur freuen, dich wiederzusehen, er schätzt dich sehr. Andererseits würde er uns nicht deswegen herbeizitieren … Hast du denn überhaupt noch Zeit?“
„Ich wollte heute Nachmittag auf dem Revier vorbeischauen, wie es läuft. Dringend notwendig wäre es nicht, ich muss mich erst morgen früh wieder zum Dienst melden. Sollte sich vorher eine Krise ergeben, würde mich Brian sofort anrufen.“
Sie ließen es dabei bewenden, beendeten ihr Frühstück und gingen hinab in den großen Speisesaal, wo der Rest des Rudels noch zusammensaß. Ausgenommen Joe und Ron, die bereits zur Arbeit aufgebrochen waren, da sie die längste Anfahrt hatten. Von den beiden hatte sich Samuel nicht verabschiedet, darum richtete er ihnen Grüße aus, sobald er diesen traurigen Akt bei den anderen erledigt hatte. Auf Wiedersehen sagen war wirklich unerträglich.
„Vielleicht bleibt er noch länger“, meinte Dylan, was die niedergeschlagenen Mienen sofort aufhellte. „Jackson will uns beide sehen. Versprechen kann ich es natürlich nicht.“
Samuel freute sich über die allgemeine Begeisterung, die auch Robin mit einschloss. Der Junge lächelte sogar scheu in seine Richtung, was er bislang noch nie getan hatte. Und für den Bruchteil einer Sekunde blickte er einer der jungen Kellnerinnen hinterher. Von echtem Selbstbewusstsein war der Kleine noch meilenweit entfernt, aber es gab tatsächlich Hoffnung für ihn. Samuel dachte an seine eigene verfahrene Lebenssituation. Vielleicht gab es auch Hoffnung für ihn selbst?
„Sammy!“ Esther ließ die Akten fallen, die sie gerade in den Händen hielt, rutschte über ihren Schreibtisch hinweg und sprang Sam in die Arme. Da die Wolfswandlerin kein zartes kleines Persönchen war, musste er lachend um sein Gleichgewicht kämpfen, damit sie nicht beide zu Boden gingen. Seit er ihr und Dave bei seinem ersten Besuch in Shonnam das Leben gerettet hatte, scheute sie sich nie zu zeigen, wie fest sie ihn ins Herz geschlossen hatte. Im Gegensatz dazu fiel Daves Begrüßung – ein lakonischer Klaps auf die Schulter – geradezu sparsam aus. Für einen zurückhaltenden Typ wie den Fuchs war das dennoch gleichsam enthusiastisch. Larry und Mike, die Leopardenzwillinge, winkten Sam lässig zu, sie waren mit irgendwelchem Papierkram beschäftigt. Jackson, der Chef der Truppe, war ebenso wenig zu sehen wie Carl, der Neue in ihrem Team. Carl konnte Sam nicht wirklich gut leiden, wie Dylan wusste, obwohl er ihn zumindest zu respektieren schien. Es war nichts Persönliches. Der Wolf hatte grundsätzliche Schwierigkeiten mit Vogelwandlern, da seine jüngere Schwester als Kind beinahe von Eulen umgebracht worden wäre. Sie saß im Rollstuhl, ihr Gesicht und Körper waren von riesigen Narben entstellt. Die Schule hatte sie abgebrochen, nun hockte sie arbeitslos zu Hause und versackte in Selbstmitleid. So drückte Carl es zwar nicht aus, aber Dylan interpretierte es aus seinen Erzählungen. Kein leichtes Schicksal … Darum war es schon viel verlangt, dass Carl mit Sam zusammenarbeitete und was er von Ricks neuer Lebensgefährtin hielt, wollte Dylan gar nicht wissen.
Der Löwe begrüßte Sam lautstark, als hätten sie sich wochenlang nicht gesehen.
„Sammy, wie geht’s? War die Nacht schön kurz? Habt ihr ausreichend Unfug getrieben? Und wie geht’s dem Brandmal?“ Rick bedachte ihn mit einen seiner herzlich gemeinten, knochenbrechenden Schulterhieben, unter dem Sam beinahe in die Knie ging. „Wie stehen eigentlich die Dinge daheim? Habt ihr jetzt viel zu tun, seit deine Chefin verknackt wurde?“, fuhr er fort, ohne sich darum zu scheren, dass Sam die vorherigen Fragen noch gar nicht beantwortet hatte. Dieses Thema hasste Sam, darum hatte Dylan es nach kurzem Antesten vermieden, genauso wie das restliche Rudel. Das hatte den Adler wohl in falsche Sicherheit gewogen, entsprechend überrumpelt wirkte er.
„Rick“, begann Dylan mahnend, doch Sam winkte ab.
„Ist okay“, meinte er. „Es läuft nicht gut, die Stimmung im Revier ist stark unterkühlt. Natürlich weiß jeder, dass mein Partner Brian und ich keine Schuld daran tragen, dass Diana die Verbrechen ihres Mannes und ihres Geliebten gedeckt hatte. Taten, die mit nichts zu entschuldigen sind. Hätte sie die beiden nicht geschützt, wären eine Menge Menschen nicht gestorben. Maggie und Erika, Brians Frau, wären nicht entführt und gefoltert worden und Natalie, unsere absolut unentbehrliche Büroperle, würde nicht wegen Beihilfe zum Mord in Untersuchungshaft sitzen.“
Natalie war die Schwester des Täters, den Sam zusammen mit Dylan und Rick gestellt hatte. Ihren Verlust schätzte Dylan zumindest auf zwischenmenschlicher Ebene als deutlich höher ein als den von Diana, denn Natalie war die gute Seele der Mordermittlung bei den Vögeln gewesen.
„Nun, alle wissen, dass wir nichts dafür können, und trotzdem werden Brian und ich gemieden. Es ist unlogisch, ich meine, wir haben unseren Job gemacht, sonst nichts. Das gesamte Revier hatte mitgeholfen und es wäre noch erheblich Schlimmeres geschehen, hätten wir keinen Erfolg gehabt oder versucht, Dianas Beteiligung zu vertuschen …“ Sam seufzte und schüttelte resigniert den Kopf. „Es sagt keiner etwas laut und jeder versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Dennoch ist die Stimmung vergiftet und es wird sicherlich noch einige Zeit dauern, bis sich die Gemüter wieder beruhigt haben und alles normal läuft.“
Dylan würde am liebsten diesen Idioten die Köpfe zusammenschlagen, bis sie zu Verstand kamen, doch das wäre sinnlos und es gab nichts, was er dazu sagen konnte. Es war absolut menschlich, wie Sams Kollegen reagierten und niemand trug tatsächlich Schuld an der Sache. Ausgenommen Harold und Dorian, deren Verbrechen einen unbescholtenen, begabten jungen Mann und dessen Schwester Natalie dazu getrieben hatten, schlimme Taten zu begehen. Aus Rache, und um das Unrecht aufzudecken, das ihnen und ihrer Familie widerfahren war.
„Gibt es denn einen Ersatz für deine Chefin?“, fragte Esther, was einen unbehaglichen Moment bei Dylan verursachte – er hatte seinem Team erzählt, dass er Sam für den würdigsten Ersatz halten würde, nachdem er ihn bei seinen Leuten erlebt hatte.
„Ja, man hat einen Habichtswandler namens George dafür nominieren können, nachdem sich eine Weile lang kein Freiwilliger finden ließ“, antwortete Sam arglos. „Er macht seinen Job bislang recht gut, was vermutlich in erster Linie daran liegt, dass er bisher in Brasilien gelebt hatte und darum ohne Vorurteile zu uns gekommen ist.“
„Recht gut heißt …?“, erkundigte sich Rick.
„Er ist ein Arsch, das heißt es.“
„Ehrlich, du hättest den Posten annehmen sollen.“ Dave räusperte sich nervös, als sich alle Augen auf ihn richteten. „Du bist ein Alpha und Dylan meinte, du hättest genau die Art Überblick und Motivierungsfähigkeiten, die ein Teamleiter braucht. Es ist ungerecht, dass du übergangen wurdest.“
„Ich bin kein Alpha“, sagte Sam entschieden und fixierte dabei Dylan mit seinem starren Adlerblick. „In einem Rudel wäre mein natürlicher Platz der eines Betas. Ich gebe dem Alpha alles, was ich habe, um ihn zu unterstützen. Ich kämpfe an seiner Seite für das Rudel, wenn es sein muss, bis zum Tod. Bin dafür geboren ihm zu folgen, egal wohin er strebt. Ihn zu stoppen, sollte er in die Irre gehen. Ihn zu beschützen, vor Gefahren wie auch vor sich selbst. Wenn es zwingend erforderlich wäre, würde ich auch die Führung übernehmen, um sie abzugeben, sobald es möglich und er wieder bereit dafür ist. Ich stehe ungern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und ohne gelegentliche Phasen völliger Einsamkeit könnte ich gar nicht überleben. Ich bin ein introvertierter Beta und zugleich ein geborener Einzelgänger. So sehr ich gute Gesellschaft schätze und die Zusammenarbeit mit Brian als meinen Partner und guten Freund bestens funktioniert … Ich wäre gar nicht in der Lage, Dianas Job zu übernehmen. Darum nein, ich fühle mich nicht übergangen. Ich bin dankbar, dass jemand gefunden wurde, der perfekt dafür geeignet ist.“
„Sagtest du nicht gerade, dieser George wäre ein mieser Arsch?“, fragte Esther.
Sam lächelte schmal. „Genau das macht ihn perfekt. Mein Revier ist vollgestopft mit einer Mischung aus notorischen Einzelgängern und Schwarmvögeln. Ein verständnisvoll-freundlicher Daddy-Typ hätte keine Chance, uns alle unter Kontrolle zu halten. Diana war ähnlich gestrickt: knallhart und eiskalt, erfolgsorientiert, doch im Zweifelsfall für jeden da. Rund um die Uhr, ohne Einschränkung.
„Okay …“ Dave wirkte nicht restlos überzeugt, aber da Dylan und Rick ihm zunickten, die beide erlebt hatten, wie in Sams Gebiet gearbeitet wurde, ließ er es auf sich beruhen. „Ich schätze, wir dürfen uns ganz einfach freuen, dass du Zeit hast, uns unter die Arme zu greifen?“
„Ob das für irgendjemanden erfreulich ist, bleibt abzuwarten.“ Jackson kam in den Raum geplatzt, er schleppte eine gewaltige Kiste voller Fallakten mit sich. „Roy schickt liebende Grüße, Sammy, er hat leider keine Zeit, mit dir persönlich zu plaudern. Unser hochverehrter Staatsanwalt Finn hat nämlich gerade sein Bestes versucht, um ihn fertig zu machen. Sieht so aus, als wäre unsere Rate an Cold Cases jenseits von Gut und Böse angelangt.“ Jackson klopfte auf die Kiste, die er mittlerweile auf den nächstgelegenen Schreibtisch gewuchtet hatte. „Das hier ist lediglich Nummer eins von rund fünfzig weiteren ihrer Art. Alles Mordfälle aus Shonnam und Umgebung der letzten zwanzig Jahre, die nicht gelöst, eindeutig einem Syndikat oder internen Rudelangelegenheiten zugeordnet werden konnten. Roy bittet darum – ja, es ist ausdrücklich ein Bitte, kein Befehl – dass Dylan und Sam sich zusammentun und diese alten Fälle aufrollen. Anscheinend war er mehr als beeindruckt von deiner Show mit dem Mord an der Zebrawandlerin, Sammy. Du weißt schon: Draufgucken, sanft lächeln, Mörder aus dem Hut ziehen, fertig.“
„Ich kann nicht zaubern und es war auch ein bisschen mehr notwendig als ein flüchtiger Blick“, sagte Sam abwehrend. „Es gibt keine Garantie, dass ich irgendetwas für euch tun kann, was ihr nicht selbst genauso gut oder besser hinbiegen könntet.“
„Keiner erwartet ein Wunder von dir, Kleiner.“ Jackson schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter. „Dein Ding ist diese fiese Kombi aus Logik und Psychokram, plus deine völlig andere Perspektive. Genau diesen Joker sollst du ziehen, okay? Jeder noch so kleine Erfolg, den du uns auf diese Weise liefern kannst, jeder neue Gedankenansatz, egal wie obskur und vielleicht auch irreführend, ist mehr als willkommen. Roy hat sich die letzten Wochen ein paar Mal zu oft mit den Syndikaten angelegt. Er muss tief stapeln, nett zu Staatsanwalt und Bürgermeister Bernard sein und ein paar Achtungserfolge aus unserer Abteilung vorweisen … Sonst könnte er abgesägt werden.“
Dylan schluckte hart. Wenn eine Naturgewalt wie Roy Kashuri Tigris den Posten als Polizeichef verlieren sollte, nur weil die Syndikate das verlangten, wäre Shonnam gänzlich dem Untergang geweiht. Der Willkür der großen vier Bosse ausgeliefert. Bis jetzt zogen Dreckskerle wie Moody und Sid im Geheimen die Fäden.
Beim Gedanken an diese Bastarde, an das, was diese beiden ihm und Sam angetan hatten … Er hatte immer noch Albträume davon, genau wie Sammy. Das wusste er aus den Telefonaten, auch wenn sie es eher vermieden, darüber zu reden.
Sam warf ihm gerade einen forschenden Blick zu, wie Dylan schlagartig bewusst wurde, während alle anderen krampfhaft so taten, als würden sie seinen aufgewühlten Zustand nicht wittern. Sein Adler kümmerte sich nie um höfliches Getue und fand es bestenfalls irritierend, wenn die körperlichen Probleme anderer Leute mit Scherzen verharmlost wurden. Seine bedingungslos ehrliche, offene Art machte ihn unter den Raubtierwandlern angreifbar. Für Dylan war es einer seiner wertvollsten Charaktereigenschaften, die er wirklich zu schätzen wusste.
„Ich will gerne versuchen zu helfen, gleichgültig auf welche Weise. Vorausgesetzt, mein Chef ist einverstanden, dass ich hierbleibe“, sagte Sam. Er schaute dabei starr in Dylans Richtung, jedes Wort ein heiliger Eid, ein Versprechen, das ausschließlich ihm galt; auch wenn er nicht protestierte, als Jackson die Aussage für sich beanspruchte.
„Ich wusste, ich kann mich auf euch verlassen, Jungs. Mit deinem neuen Chef hab ich bereits telefoniert, Sam, er gibt grünes Licht für die Fortsetzung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit. Du darfst bleiben, so lange du nützlich sein kannst, Zitat Ende. Ihr bekommt ein gesondertes Büro im Erdgeschoss, wo ihr schön Platz haben werdet, die Akten auszubreiten. Roy wollte euch zuerst in den Keller sperren, wo ihr den ehemaligen Lagerraum C7 für euch gehabt hättet. Aber das konnte ich ihm gerade noch ausreden.“
Sam nickte dankbar – er war klaustrophobisch, dort unten wäre er nicht glücklich geworden. Es war keine hochakute Phobie, doch Fahrstühle und fensterlose Räume mit niedrigen Decken taten ihm nicht gut und behinderten seine Konzentration.
„Wenn ihr irgendetwas brauchen solltet, Jungs, sei es Kaffee, Snacks, Hilfe bei Recherchen, Unterstützung aus dem Labor, Experten für irgendwelchen Hokuspokus, Nackenmassagen, warme Fußbäder … Ihr bekommt es. Versprochen. Der Rest vom Team arbeitet offiziell am aktuellen Fall weiter, aber sobald ihr etwas aufwirbelt, das einer heißen Spur ähneln könnte, stehen wir sofort bereit.“
Jedes Wort bewies, wie ernst die Sache war. Dylan realisierte allmählich, dass sie Roy tatsächlich verlieren könnten. Das durfte einfach nicht geschehen! Er hatte die Polizei weiter nach vorne gebracht als jeder seiner Vorgänger. Gegen die Syndikate war er machtlos, doch er beugte sich nicht ihrer Herrschaft und kämpfte für Gerechtigkeit. Für jedes einzelne Opfer von Gewalt. Für die Sicherheit der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft – Frauen, Kinder, Alte. Ohne ihn wäre Shonnam deutlich schlechter dran!
Jackson drückte Dylan die schwere Aktenkiste in die Arme und wünschte ihnen beiden viel Glück. Bevor er und Sam das Treppenhaus erreicht hatten, rief er ihnen hinterher:
„Jungs, achtet vor allem auf die spektakulären Sachen. Jetzt wäre der ideale Zeitpunkt, um einen unentdeckten Serienkiller aus dem Hut zu zaubern.“
Sam folgte seinem unterdrückt vor sich hinmurmelnden Partner die Treppe hinab.
„Serienkiller, pah!“ Dylan schüttelte gereizt den Kopf. „Sollen wir uns vielleicht einen Axtmörder backen, damit es auch garantiert gut mundet?“ Er stampfte durch die Abteilungen im Erdgeschoss, wo Betrugsfälle und Diebstähle bearbeitet wurden, bis zu einer Tür am hintersten Ende. Die öffnete er mit einem energischen Schulterrempler, statt sich von Sam helfen zu lassen.
Der Raum war etwa doppelt so groß wie das Büro, das Dylans Team nutzte. Früher hatten hier Meetings stattgefunden. Jetzt befanden sich dort drinnen zwei Schreibtische, jeweils mit Computern, Microfilmlesern, Mikroskop und einigen weiteren technischen Hilfsmitteln ausgestattet. An jeder freien Wand stapelten sich Kisten wie die, die Dylan mitgebracht hatte. Es waren auf jeden Fall mehr als bloß fünfzig. Jede bis zum Rand vollgestopft mit ungelösten Morden.
„O mein Gott“, murmelte Sam und starrte kopfschüttelnd auf die zahllosen Akten. „Damit könnten wir uns die nächsten zweihundert Jahre beschäftigen und hätten vermutlich noch nicht einmal alles kurz angelesen. Geschweige denn die Fälle gelöst. Soll das irgendwie ein Witz sein?“
„Leider nein.“ Dylan pflückte willkürlich eine Fallakte aus seiner Kiste und öffnete sie. „Das Ganze ist politisch“, erklärte er. „Politisch bedeutet in Shonnam in neun von zehn Fällen, dass die Syndikatbosse unruhig sind. Unruhe dürfte im Moment eigentlich nur von einem ausgehen, die anderen sind in ihrer Position gefestigt.“
„Moody?“, fragte Sam.
„Exakt. Moody. Der Dreckskerl hat die Vorherrschaft über die nördliche Unterstadt gehalten, obwohl er seit seiner Invisiblevergiftung nicht mehr der Alte ist.“
„Ich habe ihn erlebt, Dylan. Selbst auf dem Sterbebett, als er kaum noch atmen konnte, hat er tödliche Intrigen gesponnen. Ich weiß, wie gefährlich der Kerl ist.“
„Nein, Sam. Du ahnst nicht einmal im Ansatz, wie gefährlich dieser Mann wirklich ist, denn du hast ihn lediglich als todkrankes, fast gelähmtes, wandlungsunfähiges Wrack kennen gelernt“, widersprach Dylan sehr ernst. „Wandlungsunfähig ist er angeblich immer noch, aber ansonsten wieder voll im Rennen. Ich bin mir äußerst sicher, dass er derjenige ist, der Roy attackiert, auch wenn ich mir keinen Grund dafür denken kann. Lass uns seinen Namen vergessen und versuchen, Roys Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Bitte, hilf mir. Es war schon schlimm, als Katherine sich als Polizeichefin ins Aus geschossen hat, doch da war Roy rechtzeitig da, bevor die Syndikatbosse die Lage ausnutzen konnten. Wenn wir ihn verlieren … Gott! Das wäre noch schlimmer, als Moody zu erschießen und damit einen Nachfolgerkrieg auf den Straßen auszulösen.“
„Womit du vermutlich nicht sagen willst, dass es klug wäre, Moody zu erschießen?“, murmelte Sam. Er zückte sein Handy und schickte eine Textnachricht an Brian. Dylan konnte sie nicht vollständig mitlesen, doch der Sinn war klar: Sam informierte seinen Partner, dass er in Shonnam bleiben würde, weil er hier dringender gebraucht wurde als daheim. Natürlich würde Brian es auch anderweitig erfahren, aber es wäre mehr als unfair, es ihm nicht selbst zu sagen.
Dylan begann sich auf die Details des Falls zu konzentrieren, den er wahllos herausgepickt hatte.
„Marsha Trillinger, einundachtzig, Pferdewandlerin“, las er laut vor. „Sie wurde in ihrer ausgebrannten Wohnung aufgefunden. Die Autopsie ergab, dass ihr Genick und der rechte Oberschenkelhals gebrochen waren, dazu gab es Prellungen des rechten Arms und Verletzungen am Brustbein sowie den Rippen, die vom Feuer nicht vertuscht wurden. Sie lag auf ihrem Bett, darum ist es schwer zu sagen, inwieweit die Verletzungen von einem vorhergehenden Sturz rührten oder ob sie verprügelt worden ist. Dringend tatverdächtig ist der Enkel der alten Dame, Henry Trillinger. Er hatte Reste von Brandbeschleuniger an den Händen und Unterarmen und am Todestag eindeutig Körperkontakt mit seiner Großmutter gehabt. Allerdings hat er sie täglich besucht. Sämtliche Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn sind sich einig, dass Henry sie aufrichtig geliebt und hingebungsvoll betreut hat. Mit den Chemikalien könnte er auch auf seiner Arbeit auf einem Schrottplatz in Berührung gekommen sein – du glaubst nicht, was sich in alten Autos finden lässt. Es gibt kein Motiv und die Psychologen waren sich sicher, dass seine Trauer aufrichtig ist und er bei der Verneinung der Frage, ob er ihr etwas angetan habe, nicht gelogen hat. Weitere Verdächtige gibt es nicht und Hinweise auf einen Raubmord fehlen.“
Dylan breitete die Tatfotos aus und Sam setzte sich neben ihn, um sie intensiv zu studieren.
Rund drei Stunden lang gingen sie gemeinsam die Fotos, sämtliche Aussagen und Laborergebnisse durch, diskutierten Details, entwarfen Szenarien. Irgendwann blickten sie sich an und Dylan wusste, dass sein Partner dasselbe dachte wie er selbst.
„Eine gebrechliche alte Dame“, sagte Sam und nahm das Bild, das Marsha zu Lebzeiten zeigte. „In schlechten Verhältnissen aufgewachsen, als Kind stark mangel- und unterernährt. Im Alter machte sich das durch schwache Gesundheit und Neigung zu Stürzen bemerkbar.“ Er tippte auf die entsprechenden Zeilen im Arztbericht.
„Ohne Unterstützung der Familie wäre sie längst im Pflegeheim gelandet“, sagte Dylan.
„Richtig. Sie brauchte Hilfe im Haushalt, bei fast allen alltäglichen Verrichtungen, beim Einkaufen und so weiter. Ihr Enkel Henry hat sich täglich vor und nach der Arbeit um sie gekümmert. Sie war in seiner Jugend für ihn da, als sein Vater abhaute und er hat bei ihr gewohnt, als seine Mutter Jennifer ermordet wurde, als er noch keine vierzehn war.“
„Zum Glück ein geklärter Fall“, brummte Dylan und übernahm den Handlungsfaden. „Das waren bis jetzt die Fakten. Dann lass uns mal spekulieren.
Henry kommt wie gewohnt morgens zu seiner Großmutter, um ihr das Frühstück zu richten und ihr beim Anziehen zu helfen. Die alte Dame liegt tot am Boden. Vielleicht ist sie gestürzt, als sie zur Toilette wollte, oder das Telefon hatte geklingelt. Dabei hat sie sich sowohl den Oberschenkel als auch das Genick gebrochen.“
„Es gibt mindere Verletzungen am Schädel und Oberarmknochen“, sagte Sam und wies auf die Röntgenbilder der Leiche, die der Akte beigefügt waren. „Nichts davon tödlich oder ein Hinweis auf regelmäßige Misshandlungen, darum tauchen sie wohl nicht im Autopsiebericht auf.“
„Okay. Also, die geliebte Granny liegt regungslos da. Henry findet sie, verfällt in Panik und versucht sie wiederzubeleben. Er ist ein kräftiger Junge und hat nicht wirklich Ahnung von dem, was er da versucht, darum bricht er ihr bei seinen Bemühungen Rippen und Brustbein in Bereichen, die nicht unbedingt mit einer Herzmassage in Verbindung zu bringen sind.“ Dylan tippte auf die entsprechenden Verletzungen im Röntgenbild. „Wäre nicht der erste arme Tropf, der von Anatomie keinen blassen Schimmer hat.“
„Außerdem war sie möglicherweise nur mit dem Nachthemd bekleidet, das beim Sturz verrutscht sein könnte“, meinte Sam. „Falls er sich geschämt hat, die Brust seiner Großmutter zu berühren, würde das ebenfalls das Bruchmuster erklären.“
„In einer Situation, in der er denkt, er müsse ihr Leben retten, vor Scham pingelig werden? Dann müsste sie zu Lebzeiten aber extrem prüde gewesen sein. Oder er ist noch dämlicher als gedacht“, erwiderte Dylan.
„Egal.“ Sam zuckte nachlässig mit den Schultern und fuhr fort: „Irgendwann kommt der Junge zu Verstand, wenigstens halbwegs, und begreift, dass sie tot ist. Er legt sie aufs Bett und denkt verzweifelt darüber nach, was er jetzt tun soll.“
„Weil er ein guter Junge ist, der seine Granny wirklich geliebt hat, doch nicht allzu clever …“