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Dies ist der erste Sammelband der Change for ...-Reihe, in dem die Teile 1-3 gebündelt sind: 1. Change for a kill 2. Change for obsession 3. Change for madness Die jeweiligen Teile sind ungekürzt und inhaltlich unverändert. Wer bereits die Einzelbände gelesen hat, wird hier nichts Neues vorfinden. Dieser Sammelband umfasst ca. 163.000 Wörter - das entspricht ca. 800 Seiten ungehemmtes Lesevergnügen und man erhält drei Bücher zum Preis von zwei Einzelausgaben. Die jeweiligen Klappentexte: Change for a kill: Ein wahnsinniger Mörder treibt sein Unwesen in Shonnam, einer der Hauptstädte der unterschiedlichen Gestaltwandlergruppen. Dylan, ein Gepardenwandler, leitet die Ermittlungen. Nach drei Leichen gibt es allerdings nicht den geringsten Hinweis, darum erhält er Hilfe von außerhalb. Sam ist ein Adlerwandler und besitzt damit andere Fähigkeiten als Raubkatzen, Wölfe oder Bären. Nur aus diesem Grund wird seine Anwesenheit akzeptiert, denn nach einem furchtbaren Krieg zwischen Vogel- und Säugetierwandlern herrscht tiefes Misstrauen zwischen ihren Rassen … Change for obsession: Samuel ahnt nichts Gutes, als er ein weiteres Mal aus heiterem Himmel nach Shonnam gerufen wird. Diese Ahnung wird rasch zur Gewissheit: Dylan ist unter mysteriösen Umständen verschwunden. Als er gefunden wird, legt man ihm einen grausigen Mord zur Last. Und das ist erst der Anfang … Change for madness: Ein Mörder wütet im Territorium der Vogelwandler, sein Hass gilt vor allem den Eulen. Er hinterlässt keine sichtbaren Spuren. Dylan ist sofort bereit zu helfen, als Sam nach ihm ruft – und schon wieder geraten sie beide in höchste Gefahr …
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Kurzbeschreibung:
Ein wahnsinniger Mörder treibt sein Unwesen in Shonnam, einer der Hauptstädte der unterschiedlichen Gestaltwandlergruppen. Dylan, ein Gepardenwandler, leitet die Ermittlungen. Nach drei Leichen gibt es allerdings nicht den geringsten Hinweis, darum erhält er Hilfe von außerhalb.
Sam ist ein Adlerwandler und besitzt damit andere Fähigkeiten als Raubkatzen, Wölfe oder Bären. Nur aus diesem Grund wird seine Anwesenheit akzeptiert, denn nach einem furchtbaren Krieg zwischen Vogel- und Säugetierwandlern herrscht tiefes Misstrauen zwischen ihren Rassen …
Ca. 55.000 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte dieser Roman ungefähr 275 Seiten.
Inhaltsverzeichnis
Zu Buch 2
Zu Buch 3
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Epilog
Hämmernde Beats umfingen ihn. Sie ließen seine Nerven vibrieren und beschleunigten den Puls. Es war so laut, dass er sich selbst nicht mehr denken hören konnte. Zweifellos der Grund, warum Dylan ihn hierher bestellt hatte.
Samuel pflügte sich einen Weg durch die Menschenmassen. Der Boister Club war recht neu und gehörte zu gleichen Teilen dem Felidae-Clan und der Aquila-Familie. Dementsprechend lag er genau auf der Grenze der beiden Territorien; es war der erste und einzige Club dieser Art. Für Samuel, der ein Steinadlerwandler war, wäre es lebensgefährlich, sich ohne Begleitschutz in das Gebiet der Katzenwandler zu begeben. Allerdings standen andere neutrale Treffpunkte zur Verfügung, die er bevorzugt hätte. Die Mordermittlung der Raubkatzen hatte ihn um Hilfe gebeten, Dylan sollte sein Kontaktmann sein. Der Gepardenwandler war ein erfahrener Mann, der auch unkonventionelle Methoden nutzte, sofern sie erfolgsversprechend waren. Samuel hatte von rätselhaften Mordfällen gehört, die verschiedene Raubtiergruppen betrafen – nicht ausschließlich Katzenartige. Die Ermittler tappten offenbar seit Monaten im Dunklen und hatten sich nun an ihn gewandt, um eine neue Perspektive zu gewinnen. Durchaus auch im wörtlichen Sinne – aus der Luft sah ein Tatort oft vollkommen anders aus.
Samuel umkreiste die Bar, die sich mitten auf der Tanzfläche befand, nun bereits zum vierten Mal. Leider hatte man ihm kein Foto von Dylan geschickt. Seine Vorgesetzten hatten ihn mehr oder weniger gezwungen, in diesem Fall zu kooperieren, er hatte sich nicht vorbereiten können. Vermutlich würde er wie ein blutiger Anfänger dastehen, da er nicht einmal irgendwelche Details über die Morde kannte. Nicht auszuschließen, dass dies die Absicht der Raubkatzen gewesen war, um den blöden Piepmatz ans hintere Ende der Hierarchiekette zu verweisen. Der Hass zwischen ihren Völkern ging tief …
Dieser Club war eine irreale Welt, die nichts mit der Wirklichkeit da draußen zu tun hatte. Die jungen Leute, die hier feierten, verhielten sich zumeist friedlich und unterschieden nicht zwischen den Rassen. Doch kein Vogelwandler durfte ohne ausdrückliche Genehmigung durch die strengstens bewachte Tür schreiten, die zur Welt der Katzen und anderen Säugetiere führte, und umgekehrt. Wer ein Sexabenteuer mit einer der anderen Rassen suchte, musste das im Club erledigen – zumeist auf den Toiletten. Der Zweck dieser Angelegenheit mochte den Planern einleuchten, Samuel jedenfalls nicht.
Wie er dieses Geschiebe und Gedränge von Körpern hasste! Samuel war bereits dutzende Male von oben bis unten betatscht worden, anzügliche Blicke und Hände auf seinem Hintern und zwischen den Beinen gehörten offenbar zur Normalität. Kein Wunder, dass die Katzenwandler die Tanzfläche beinahe komplett für sich hatten, die meisten von denen kannten keine Partnertreue und waren rund um die Uhr bereit für sexuelle Ausschweifungen. Ein Verhalten, das vielen Vögeln fremd war. Die Aquilas, die Familie der Adler, lebten strikt monogam.
Allmählich verlor Samuel die Geduld. Noch eine Minute, dann würde er nach Hause fliegen. Wenn die Katzen seine Hilfe wollten, sollten sie gefälligst zu ihm kommen!
Gereizt drehte er sich um, als er am Arm festgehalten wurde, er hatte es satt, wie Freiwild behandelt zu werden. Als er allerdings in dunkelblaue Augen blickte, vergaß er seinen Unmut und erstarrte unwillkürlich. Bei all den bernsteinfarbenen Iriden um ihn herum verwirrte ihn das tiefe Blau. Es gab immer wieder mal Katzenwandler, die dergestalt aus der Art schlugen, ungewöhnlich war es dennoch. Der Mann, der viel zu dicht vor ihm stand, war in etwa so groß wie er selbst – geschmeichelt mittelgroß – und besaß den Körper eines Tänzers. Ausgesprochen schlank und sehnig, kein Gramm Fett am Leib. Leopardenwandler waren für gewöhnlich etwas muskulöser und hatten kantigere Gesichter. Auch ihre Haare waren zumeist von einem dunkleren Blond als sein Gegenüber, dessen streng nach hinten gebundener Zopf einen angenehmen Sandton besaß. Ganz offensichtlich ein Gepard. Samuel hatte einen scharfen Blick für die feinen Details und erkannte für gewöhnlich sofort, welcher Wandlerrasse ein Mensch angehörte.
„Dylan?“, fragte er vorsichtshalber, auch wenn er nicht zweifelte, dass dies sein Kontaktmann sein musste. Er erntete ein knappes Nicken, losgelassen wurde er nicht. Dylan musterte ihn für mindestens eine weitere Minute ebenso intensiv wie er ihn zuvor, was Samuel sich trotz steigenden Unbehagens gefallen lassen musste. Der Gepard stand eng an ihn gepresst, für ihn als Adler war das kaum erträglich. Um sich keine Blöße zu geben, unterdrückte Samuel das Bedürfnis, sich loszureißen. Er war etwas erstaunt, dass sein Kollege zwischen Ende zwanzig und Anfang dreißig zu sein schien, so wie er selbst – er hatte mit einem weitaus älteren Mann gerechnet.
Irgendwann gab Dylan ihn frei, lächelte ein wenig spöttisch und bedeutete mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Ohne sich darum zu scheren, ob Samuel ihm tatsächlich nachlief, bahnte er sich mit der kraftvollen Anmut, die für Geparde typisch war, seinen Weg durch die tanzende Menge.
Arroganter Bastard!, dachte Samuel missmutig. Die behandelten ihn, als wäre er der Bittsteller, der gnädigerweise in diesem Territorium geduldet wurde. Er wurde zur Straße geführt, in das Gebiet der Säugetiere hinein. Ein Trupp schwerbewaffneter Löwen- und Bärenwandler prüften die Genehmigung, die Dylan vorzeigte, suchten ihn mit mehr Gewalt als notwendig auf Waffen ab – er durfte außerhalb des Vogelwandlergebietes keine Dienstpistole tragen – und ließen ihn schließlich mit großzügiger Geste passieren.
Am liebsten wäre er sofort umgedreht und nach Hause geflogen, er hatte schon jetzt die Nase voll! Da er allerdings schon einmal da war, konnte er sich zumindest anhören, was man genau von ihm erwartete.
„Ihr habt die alten Häuser behalten?“, fragte er überrascht, als sie den Parkplatz erreichten, der sich am äußeren Ende des Hügels befand, auf dem der Boister Club errichtet wurde. Unter ihm breitete sich eine hell erleuchtete Stadt aus, soweit das Auge reichte. Zumindest in der Dunkelheit, seine Nachtsicht war eher eingeschränkt. Es sah genauso aus, wie er es von alten Bildern her kannte, aus der Zeit, bevor es Wandler gegeben hatte.
„Soweit ich weiß, lebt ihr nicht in Horsten und Nestern, sondern in normalen Häusern, oder?“, fragte Dylan mit spöttischem Unterton.
„In unserem Gebiet gibt es keine Städte mehr, wir leben ausschließlich in kleinen Familiengruppen zusammen.“
„Das trifft auf die meisten von uns ebenfalls zu, Shonnam ist die einzige Großstadt auf unserer Seite. Nun komm, da vorne ist mein Wagen.“
„Steig ein“, befahl Dylan und hielt dem Steinadler höflich die Tür auf. Sam warf ihm einen finsteren Blick zu, setzte sich allerdings ohne zu zögern auf den Beifahrersitz des Geländewagens. Der Mann überraschte ihn – Dylan hatte sich auf einen wenigstens zwanzig Jahre älteren Ermittler eingestellt, nachdem ihnen ein erfahrener Kollege versprochen worden war. Sam wirkte, als hätte er gerade erst die Ausbildung abgeschlossen. Ihm gefiel der athletisch gebaute, breitschultrige Adlerwandler. Die scharf geschnittenen Gesichtszüge, die stolze Nase, das dichte dunkelbraune Haar, das im Nacken jene für Steinadler typischen goldbraunen Strähnen besaß. Selbst der Geruch des jungen Mannes gefiel ihm, was ihm bei Vogelwandlern normalerweise nie unterkam. Er beschloss, freundlich zu ihm zu sein statt lediglich professionell höflich. Wenn sie gut miteinander auskamen, würde das ihrer Zusammenarbeit helfen und vielleicht dazu beitragen, dass sie den Täter zu fassen bekamen, der seit Monaten willkürliche Morde beging. In der Bevölkerung nannte man ihn den Rainman-Killer, da er grundsätzlich bei starkem Regen zuschlug. Dies vernichtete alle Spuren und trieb ihn und sein Ermittlerteam in den Wahnsinn. Niemals sonst hätte er zugestimmt, sich Hilfe von außerhalb der Säugetiergruppen zu holen!
„Ich fahre dich zum Hauptquartier, dort wirst du alles erfahren, was du wissen musst“, sagte er, während er sich durch den dichten Verkehr schlängelte.
„Muss oder darf?“, erwiderte Sam betont. Seine Stimme besaß einen angenehmen tiefen Klang, der Dylan beinah zum Schnurren gebracht hätte. Hoppla, der Typ ging ihm unter die Haut!
„Beides. Du musst die wichtigsten Fakten kennen, unsere finsteren Geheimnisse werden wir natürlich nicht enthüllen.“
Über das entnervte Augenrollen des Adlers hätte er beinahe gelacht, er konnte sich gerade noch zusammenreißen. Der Kleine hatte ja Recht, es gab keine echten Geheimnisse auszuspionieren, weder finster noch sonstige. Den Verfolgungswahn der Obrigkeit teilte er jedenfalls nicht. Wozu auch, wenn ihm solch ein Leckerchen geschickt wurde?
„Entspann dich. Dass du im Feindgebiet gelandet bist bedeutet nicht, dass du steif wie ein Brett dahocken musst“, sagte er anzüglich und klopfte Sam auf den Oberschenkel. Ein unwilliger Katzenwandler hätte ihn dafür angefaucht, der Adler hingegen starrte ihn lediglich vorwurfsvoll an. „Keine Angst, niemand wird dich auffressen, solange du an meiner Seite bleibst.“
„Und was, wenn ein Löwenrudel sich darauf besinnt, dass ein Gepard einen jämmerlichen Begleitschutz abgibt?“, fragte Sam provozierend.
„Autsch. Dann heißt es Mahlzeit!“ Dylan lachte, es war allgemein bekannt, dass Wandler sich untereinander nicht auffraßen und alle gezwungenermaßen zum größten Teil vegetarisch lebten.
Völlig unbegründet war die Frage trotzdem nicht. Geparde waren zwar schnell, aber im Vergleich zu anderen Katzen schwach. Er hatte es schon oft zu seinem Vorteil nutzen können, dass die Großkatzen ihn unterschätzten und für dumm hielten, bloß weil er sich an ihrer Kraft nicht messen konnte. Er amüsierte sich noch ein wenig auf Kosten seines Gastes, traktierte ihn mit zweideutigen Bemerkungen und scheinbar zufälligen Berührungen. Sam schwieg zumeist, er war ein ernster, schweigsamer Typ. Dass er zumindest gelegentlich mit Ironie und Sarkasmus konterte, gefiel ihm. Der Adler könnte ein interessanter Gesprächspartner sein, wenn er erst einmal ein wenig aufgetaut war.
Samuel kannte Shonnam, die riesige Hauptstadt der Säugetierwandler, ausschließlich von sehr alten Fotos. Viele Wandlergruppen lebten außerhalb in weitläufigen Territorien. Hier in der Stadt befanden sich Geschäfte, Fabriken, Sozialeinrichtungen und Arbeitszentren, die das tägliche Leben regelten und für die Versorgung vor allem der Raubtiere sorgten. Beinahe alle Säugetiergruppen besaßen ein eigenes Stadtviertel – auch wenn es teilweise bloß ein oder zwei Straßen umfasste – in dem entweder besonders reiche oder sehr arme Rudel, Herden oder Einzelgänger lebten. Die meisten der oft aus rotem Backstein erbauten Häuser waren in den letzten dreißig bis fünfzig Jahren entstanden. Shonnam wuchs viel zu rasch, vor allem die Slums, die eine Ansammlung von Hütten aus Pappkarton, aufgestapelten Plastikkisten oder irgendwelchem Metallmüll waren. Diese Probleme gab es bei den Vogelwandlern nicht, dort war der Bevölkerungswachstum eher rückläufig.
Dylan brachte ihn ohne Umwege ins UMCPD – United Mammal Changeling Police Departement, das Polizeihauptquartier der Vereinigten Säugetierwandler. Das riesige Gebäude stammte sichtbar noch aus der Zeit vor der Stunde Null und war damit schätzungsweise hundertfünfzig Jahre alt. In dieser Bausünde aus grauem Beton, kaltem Stahl und zahllosen Fenstern tummelten sich zu jeder Tages- und Nachtzeit Ermittler, Polizisten und Mitglieder verschiedener Spezialeingriffstruppen, die gegen Gewalt und Verbrechen kämpften. Ein beinahe aussichtsloses Unterfangen, solange Raub- und andere Säugetierwandler auf engem Raum zusammenleben mussten.
Der Gepard führte ihn in einen Besprechungsraum, wo bereits ein Dutzend Männer und Frauen um einen eckigen Tisch saßen und offenkundig ungeduldig warteten.
„Warum hat das so lange gedauert?“, murrte ein Wolfswandler, den Samuel als Jackson Callahan Lupus, dem Chef der Mordermittlung identifizierte. Dylan ignorierte ihn.
„Unser Gast!“, verkündete er mit großer Geste, als würde er eine bedeutende Persönlichkeit einführen. Samuel kämpfte gegen seine Instinkte, die ihn anbrüllten, sich aus dem Fenster zu stürzen und so schnell und so weit weg wie möglich zu entfliehen. Er kannte beinahe alle Anwesenden von Fotos und Akten und ja, er hatte vorher gewusst, was ihn hier erwarten würde. Sich Auge in Auge mit dem Löwenwandler Bernard Winston Leon zu sehen, dem Bürgermeister von Shonnam, mit Kathryn Daxter Ursus, Bärenwandlerin und Polizeichefin, oder Finn Norton Uncia, einem Vertreter der seltenen Schneeleoparden und oberster Staatsanwalt ...
Sie alle nickten ihm ernst und gewichtig zu.
„Setzen Sie sich, Samuel, wir haben auf Sie gewartet“, sagte Bernard mit tiefer, dröhnender Stimme.
Schweigend nahm er auf dem Stuhl Platz, der ihm zugewiesen wurde. Dylan saß neben ihm, alle anderen befanden sich ihm gegenüber. Das erinnerte gewiss nicht zufällig an ein Tribunal. Hatte man ihn hergelockt, um ihm die Morde in die Schuhe zu schieben? Nein, das war lächerlich. Samuel wartete beherrscht, bis seine Gastgeber genug davon hatten ihn anzustarren und endlich das Spiel eröffneten.
Kathryn war es schließlich, die auf ein kaum wahrnehmbares Nicken des Bürgermeisters hin einen Stapel Akten zur Hand nahm und an ihn weiterreichte. „Bislang ist Ihnen nur das Notwendigste bekannt, Samuel. Wir wollen uns von den Vogelwandlern nicht in die Karten gucken lassen, was verständlich sein dürfte.“
Das war es nicht, immerhin hatten diese Leute ihn hergebeten. Ohne Informationen konnte er wohl kaum ermitteln … Politisches Geschwafel war vermutlich überall auf der Welt gleich.
„Nun, wir haben es mit einer beispiellosen Mordserie zu tun, bei der unsere üblichen Fahndungsmethoden ins Leere laufen. Bislang wissen wir nicht einmal sicher, ob es sich um einen Einzeltäter handelt. Alle Morde werden begangen, während es in Strömen regnet, was sämtliche Spuren und Witterungen zerstört. Zudem konnten wir keine DNA finden, keine Stofffasern, Haare, was auch immer. Wir wissen nicht, zu welcher Rasse der Täter gehört, er schlägt ohne erkennbares Muster zu. Die Presse nennt den Kerl mit Begeisterung den Rainman-Killer, dabei vermuten wir lediglich, dass es sich um einen Mann handelt.“
Samuel blätterte durch die Mordakten und nahm die Tatortfotos heraus, um sie vor sich auf dem Tisch auszubreiten. Die Reihenfolge der Morde war leicht festzustellen, da den Toten je eine Zahl auf die Stirn geritzt wurde. Opfer Nummer eins war ein älterer Mann, bei dem es sich laut Akte zwar um einen Fuchswandler handelte, allerdings war er im Stadtviertel der Braunbären aufgefunden worden. Als Todesursache wurde Genickbruch angegeben, das traf übrigens auf alle Opfer zu. Man hatte den Mann nackt in einem Brunnen aufgefunden. Sein Körper war mit merkwürdigen Ornamenten bedeckt, die ihm offenkundig mit einer Tierkralle eingeritzt wurden. Nummer zwei war eine junge Mutter, eine Pumawandlerin, Nummer drei ein Professor aus der gehobenen Gesellschaftsschicht. Ihn, einen Jaguarwandler, hatte man in der Wildnis bei einem Löwenwandlerrudel gefunden.
Er fokussierte auf die winzigen Details, bis ihm Dylan mit dem Ellenbogen in die Seite stieß.
„Warum wackeln Sie so seltsam mit dem Kopf?“, fragte Kathryn mit einem aggressiven Unterton. Samuel wusste, dass Säugetierwandler nicht nachvollziehen konnten, wie die überlegenen Augen eines Raubvogels arbeiteten, genau wie ihm die Geruchswelten verschlossen blieben, in denen Raubkatzen und Wolfsverwandte lebten.
„Ich muss den Kopf bewegen, um die einzelnen Partien des Bildes scharf zu stellen. Meine Augen funktionieren ähnlich wie ein Vergrößerungsglas“, erwiderte er. Es wunderte ihn, dass die anderen nichts davon wussten, eigentlich müsste das mit zu den Gründen gehören, warum man ihn überhaupt hergeholt hatte.
„Ist es wahr, dass Sie mehr Farben wahrnehmen können als wir?“, erkundigte sich Finn mit lauerndem Blick.
„In menschlicher Gestalt bin ich etwas eingeschränkt, aber ich kann im Ultraviolett-Bereich sehen, ja.“ Man hatte ihn während seiner Ausbildung zum Ermittler durch Brillen blicken lassen, die seine Sicht auf ein normales menschliches Maß herunterfilterte. Es war, als wäre er in eine Nebelwand gelaufen. Alle Farben wirkten viel schwächer, regelrecht ausgeblichen. Verschiedene Farbfelder, wie gelb-blau, waren völlig verschwunden, viele Schattierungen ebenfalls. Er konnte kaum ein paar Meter scharf sehen, insgesamt war es ein erschreckendes Erlebnis.
„Sie werden die Details der Akten morgen studieren können“, ließ sich Jackson vernehmen. „Für heute soll Dylan Sie mitnehmen, Sie werden bei ihm und seinem Rudel in Brookdarn wohnen, einem Halbsteppengebiet rund zwanzig Meilen außerhalb der Stadt. Fürs Erste war das alles, wir wollen Sie nicht mit zu vielen Einzelheiten überfordern. Dylan wird dafür sorgen, dass Sie sich eingewöhnen können. Gehorchen Sie bitte immer und unter allen Umständen seinen Anweisungen, es geschieht zu Ihrer eigenen Sicherheit. Verzichten Sie auf Alleingänge. Ihnen dürfte bewusst sein, dass Vogelwandler es in Shonnam außerhalb des Boister Clubs schwer haben zu überleben. Haben Sie soweit alles verstanden?“
„Ja, Sir.“ Irgendetwas sagte ihm, dass seine Vorgesetzten ihn möglicherweise hassten. Welchen anderen Grund sollten sie haben, ihn auf ein Selbstmordkommando zu schicken?
„Sollte es Schwierigkeiten geben, wenden Sie sich entweder an Dylan oder direkt an mich.“ Jackson überließ ihm eine Visitenkarte mit einer Handynummer. Seine Körperhaltung drückte deutlich aus, dass Samuel sie besser niemals wählen sollte, selbst wenn er gerade bei lebendigem Leibe gehäutet wurde.
„Wir haben mit Ihren Vorgesetzten abgesprochen, dass wir die Zusammenarbeit sofort beenden, sollte Ihr Leben in Gefahr geraten. Sie sind freiwillig hier und müssen nichts riskieren, nur um uns zu helfen. Wir sind Ihnen sehr dankbar und froh, Sie bei uns zu haben.“ Kathryn lächelte, wobei sie zu viele Zähne zeigte. Möglicherweise war es aber auch ein normales Verhalten bei Bärenwandlern, Samuel kannte sich da nicht gut genug aus.
Einige Höflichkeiten und beruhigende Floskeln später führte Dylan ihn hinaus. Es fühlte sich an, als wäre dies sein Marsch zur eigenen Hinrichtung …
Die Fahrt verlief zunächst schweigend, bis Dylans Handy klingelte. Ohne anzuhalten klemmte er sich das Telefon ans Ohr und lauschte. Langsamer fuhr er nicht, obwohl die Straße durch einen stockfinsteren Wald führte und mehr aus Schlaglöchern als Asphalt zu bestehen schien. Samuel hörte lediglich einige Wortfetzen von dem, was jemand in den Hörer brüllte. Es klang, als würde sich derjenige mitten in einem Orkan befinden, die Störgeräusche waren immens.
Fluchend warf Dylan das Handy auf die Rückbank, bremste abrupt und starrte ihn für einen langen Moment sinnierend an. Erneut stellte Samuel fest, was für schöne, ausdrucksstarke Augen dieser Mann besaß. Noch nie war ihm so etwas bei einem Menschen derart intensiv aufgefallen, egal ob Mann oder Frau. Was war bloß in ihn gefahren?
„Probleme?“, fragte er, als das Schweigen unbehaglich zu werden begann.
„Irgendwie schon, ja.“ Dylan seufzte und wandte endlich den Blick ab. „Ich muss sofort nach Castle Creek, da ist eine Massenschlägerei zwischen Antilopen- und Pferdewandlern im Gange. Jeder verfügbare Mann wird gebraucht. Gerade die Antilopen sind in letzter Zeit unglaublich aggressiv, es hat schon mehrfach Tote gegeben. Untypisch für diese Rasse, wie man sich leicht vorstellen kann. Leider kann ich dich unmöglich mitnehmen. Es gab da einen Vorfall vor ein paar Wochen mit einem natürlichen Steinadler und einem Antilopenkitz … In der aufgeheizten Stimmung wird niemand lange fragen, ob Adlerwandler auch zu so etwas fähig sein könnten.“
Sam nickte knapp, er konnte sich lebhaft vorstellen, was seine Anwesenheit bewirken würde. Zumal jeder wusste, zu was Adlerwandler alles fähig sein konnten, wenn es zum Schlimmsten kam.
„Das eigentliche Problem dabei ist: Wenn ich dich erst zu meinem Rudel bringe, verliere ich verdammt viel Zeit.“
Dylan drehte sich abrupt um und angelte nach dem Handy auf dem Rücksitz. Dabei kam er Samuel deutlich näher, als ihm lieb war, darum rutschte er in Richtung Tür.
„Keine Sorge, Kleiner, ich beiße selten und meine Berührung allein hat bislang noch niemanden umgebracht.“
Dylan grinste anzüglich, als Samuel auf den Scherz nicht reagierte und ließ sich wieder in den Fahrersitz fallen, während er bereits eine Kurzwahlnummer drückte.
„Was?“, ertönte eine kratzige Stimme, fast erstickt von Rauschen und Knattern. Es gab zu viele Störgeräusche in der Leitung, eine Unterhaltung war unmöglich. Das sah Dylan nach einigen Versuchen ebenfalls ein, lauthals fluchend drückte er das Gespräch weg und begann hastig eine Textnachricht zu tippen. Seine Geschwindigkeit dabei war beeindruckend, Samuel brauchte immer ewig, um zwei Sätze zusammen zu bringen. Er benutzte sein Handy generell ungern und ausschließlich für berufliche Zwecke.
„Der Empfang ist häufig miserabel, aber so schlimm war es schon lange nicht mehr“, sagte Dylan mürrisch. „Seit Jahren verspricht man uns, die Sendeleistung der Telefonmasten zu erhöhen, und dann passiert doch nichts.“
Dylan schickte seine Nachricht ab. Kaum zehn Sekunden später kam bereits die Antwort in Form eines „O.K.“
„Alles klar. Ich hab meinen Bruder Tyrell informiert, dass du kommst, er wird den anderen Jungs Bescheid sagen. Du kannst gefahrlos hinfliegen, ich komme schnellstmöglich nach. Ah – die Jungs werden ein bisschen angeben, du weißt schon, Knurren, Muskeln spielen lassen. Das ist für uns Katzen normal. Du weißt, wo sich Brookdarn befindet? Warte, ich zeig’s dir auf einer Karte.“
Er breitete eine Karte aus, auf dem der Mittlere Westen von dem zu sehen war, was früher das Gebiet der USA gewesen war. Hier drängten sich sämtliche Tierwandler Amerikas zusammen. Auf den anderen Kontinenten war es wenig besser, die Tierwandler bekamen begrenzten Raum zugewiesen, auf dem sie zusammengepfercht wurden. Da die Lage in Afrika extrem instabil war, befanden sich nahezu alle Wandler dieses Kontinents ebenfalls hier.
Der Weg zu Dylans Rudel war leicht zu finden und die zehn Meilen würde er schnell überwinden können. Samuel nickte ihm bestätigend zu, schnallte sich ab und schnappte sich seine Tasche.
„Pass auf dich auf, Dylan“, sagte er leise. Ohne die Antwort abzuwarten verwandelte er sich und flog los. Praktischerweise wurde seine Kleidung wie auch seine Ausrüstung sofort zum Teil seines Gefieders. Es würde sich zurückverwandeln, sobald er menschliche Gestalt annahm. Aus irgendeinem Grund war er unglaublich erleichtert, aus Dylans Nähe fliehen zu können.
Zugleich war er enttäuscht, und das machte ihm Angst …
Samuel landete in der Dunkelheit, in einem kleinen Wäldchen, das zum Großrevier der Acinonyxfamilie, also der Gepardenwandler gehörte. Das schwache Mondlicht reichte gerade, um seine Umgebung zu erkennen, Adler besaßen keine gute Nachtsicht. Es war noch etwa eine halbe Meile bis zum Unterschlupf von Dylans Rudel, der sich auf offenem Präriegebiet befand. Samuel wollte seinen Gastgebern Zeit lassen, ihn zu bemerken und ausgiebig zu beobachten, während er sich annäherte. Ihm missfiel die Vorstellung, Tage, vielleicht sogar Wochen unter Raubkatzen zubringen zu müssen, aber er würde es überstehen. Das Gefühl, von zahllosen Augen belauert zu werden, kribbelte durch seinen Körper. Samuel schritt äußerlich unbeeindruckt weiter, auch wenn seine Instinkte ihm zubrüllten, sofort wegzufliegen. Leises Knurren warnte ihn. War er wirklich willkommen? Gehörte das noch zu der Angeberei, vor der er gewarnt worden war? Dylan hatte ihm versprochen, dass er sicher sein würde, es gab nicht den geringsten Grund, an seiner Glaubwürdigkeit zu zweifeln. Schließlich hatte man ihn um Hilfe gebeten, nicht umgekehrt. Also denn, wenn die Katzen ihm demonstrieren wollten, dass sie die Herren dieses Landes waren, bitte schön, ihm war es gleichgültig. Samuel blieb stehen und drehte sich mit erhobenen Händen langsam um die eigene Achse.
„Mein Name ist Samuel Ashtonville aus der Aquila-Familie, ich bin ein Steinadler. Ich …“
Weiter kam er nicht: Von drei Seiten zugleich sprangen ausgewachsene Geparde auf ihn zu und rissen ihn zu Boden. Samuel versuchte, sich mit einer blitzschnellen Drehung vor den Pranken und Reißzähnen in Sicherheit zu bringen, damit er wenigstens den kurzen Augenblick gewann, den er zur Verwandlung benötigte – doch da wurde er von einer menschlichen Hand am Haarschopf gepackt, der Lauf einer Waffe presste sich gegen seine Schläfe. Er erstarrte zu völliger Regungslosigkeit.
„Dein dämlicher Name interessiert hier niemanden“, flüsterte der Mann über ihm. „Du bleibst jetzt brav, Vögelchen, lässt dich von uns mitschleppen und wirst uns gleich ein Liedchen pfeifen, bis all unsere Fragen beantwortet sind, verstanden? Danach entscheiden wir, ob du weiterleben darfst oder als unser Nachtmahl dienst.“
Samuel brauchte seine gesamte Kraft, um sich zu beherrschen. Noch viel stärker als die Angst tobte heißer Zorn in ihm. Dylan hatte ihn verraten! Das alles war eine Falle gewesen! Warum hatte er ihm das angetan? Wozu diese sinnlose Intrige, die den wackligen Frieden zwischen ihren Völkern gefährdete? Auffressen würden sie ihn nicht, lächerlich, aber sie hatten ihn trotz seiner menschlichen Gestalt als Geparde angegriffen. Entweder interessierten sie sich nicht für die Gesetze von Ehre und Recht, die das verboten, oder sie empfanden ihn als tödliche Bedrohung. Was ebenfalls lächerlich war. Oder?
Während er sich mühte, seinen adrenalingefluteten Körper unter Kontrolle zu halten, wurde er ruppig an der Schulter gepackt und auf den Rücken gedreht. Fünf Männer standen über ihm, allesamt mittelgroß, auf athletische Weise sehr schlank, wie es für Gepardenwandler typisch war. Weiter kam er mit seiner Betrachtung nicht. Seine Arme und Beine wurden gepackt und auseinander gezogen, bis er wie ein X aufgespreizt dalag. Ein Licht flammte auf, vermutlich eine Stabtaschenlampe. Der junge Mann, der ihn mit der Waffe bedroht hatte, trat grinsend in sein Blickfeld.
„Damit du nicht in Versuchung gerätst, uns Kummer zu machen …“
Samuel starrte ihm trotzig entgegen, versuchte sich für den Schmerz zu wappnen, den der Tonfall des Gepards ihm versprach. So hilflos zu sein war erbärmlich, er konnte kaum atmen vor Angst. Selbstverständlich witterten die verfluchten Katzen das, alles was er tun konnte war das Zittern seiner Glieder zu unterdrücken.
„Tapferes Vögelchen“, murmelte jemand anerkennend. Automatisch ruckte Samuels Kopf in die Richtung desjenigen, der gesprochen hatte. Dadurch verpasste er die Bewegung seines Angreifers, der ihm wuchtig in die Weichteile trat. Samuel schrie gepeinigt auf, eine Welle rotglühenden Schmerzes überrollte ihn gewaltsam. Unnachgiebige Hände verhinderten, dass er sich zusammenkrümmen konnte, was zusätzliche Panik schürte. Sehr langsam ebbten die Qualen ab. Tränenblind öffnete er die Augen, während er keuchend um Atem rang. Er erkannte das schmale Gesicht seines Feindes, es schien dicht über ihm zu schweben.
„Man sieht sich, Piepmatz“, hörte er durch das Rauschen in seinen Ohren, bevor sich eine Faust in sein Sonnengeflecht unterhalb des Rippenbogens grub. Samuel durchlebte einen grauenhaften Moment, in dem ihm jegliche Luft aus den Lungen getrieben wurde. Feuerglut fraß sich durch seinen Körper, in dem sich jeder einzelne Muskel, selbst sein Herz, vollständig verkrampfte. Es folgte tintenschwarze Dunkelheit, die sein Bewusstsein verschlang. Langsam, viel zu langsam, bis er endlich erlöst wurde.
Dylan parkte den Geländewagen in der verborgenen Tiefgarage, die sich etwa zweihundert Meter vom Haus entfernt befand. Ein unterirdischer Fluchttunnel verband sie mit dem Keller des Unterschlupfes, den er eigenhändig für sein Rudel erbaut hatte. Zwei schwere, mit einem Zahlencode verriegelte Eisentüren verhinderten, dass Eindringlinge diesen Weg wählen konnten, um sich unbemerkt einzuschleichen, auch wenn solche Hindernisse im Notfall die entscheidenden Sekunden kosten könnten. Totale Sicherheit gab es nun einmal nicht.
Dylan war in finsterer Stimmung. Fünf Stunden hatte es gedauert, bis Antilopen und Pferdewandler auseinandergetrieben worden waren, mittlerweile dämmerte bereits der neue Tag heran. Mindestens sechs Tote und zahllose Verletzte hatte es gegeben, darunter fliehende Frauen und Kinder sowie Angehörige der Eingriffstruppen, die aus sämtlichen Wandlervölkern der Umgebung zusammengerufen worden waren. Richtig hässlich war es geworden, als die Nashornwandler mitzumischen begannen.
Das Schlimmste an der Angelegenheit war, dass sich nicht herausfinden ließ, warum genau diese für gewöhnlich friedlichen Gruppen mit solcher Brutalität aufeinander losgegangen waren. Jeder Inhaftierte, den Dylan und seine Kollegen befragt hatten, gab ähnliche Antworten: Die Gewalt war urplötzlich ausgebrochen, jeder Einzelne schien einfach mitgerissen worden zu sein. Dazu gab es widersprüchliche Mutmaßungen. Mal sollten die Pferdewandler eine junge Antilopenfrau vergewaltigt und ermordet haben, mal wurden die Antilopen beschuldigt, mehrere Pferdefohlen entführt und zu Tode gefoltert zu haben. Von religiösem Wahn und diversen Verschwörungstheorien über Plänen zur totalen Vernichtung ganz zu schweigen.
Frustriert, erschöpft und zutiefst besorgt war Dylan schließlich gefahren, von seinen Vorgesetzten ermuntert. Er musste sich mit Sam und seinem Rudel über diese seltsamen Ereignisse beraten. Es war mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, dass die rätselhaften Morde und diese Massenunruhen zusammenhingen.
Hoffentlich hatte Tyrell sich auf seine Manieren besonnen und ihren Gast freundlich aufgenommen, dachte Dylan niedergeschlagen. Er kannte seinen jüngeren Bruder, Tyrell hasste Vogelwandler aus tiefstem Herzen. Dafür gab es Gründe, die Dylan sowohl verstand als auch teilte, doch davon wollte er sich nicht beeinflussen lassen. Sam hatte damit nichts zu tun … Der Mann war ein fähiger Ermittler mit Erfahrung, das hatte Kathryn zumindest mehrfach behauptet. Zudem ein optischer Leckerbissen. Viel zu verklemmt, klar, wie Adler nun einmal waren. Allesamt Einzelgänger und fast alle strikt monogam. Ein Partner wurde für das gesamte Leben gewählt, auch nach dessen Tod gab es keinen Ersatz. Dabei hätte Dylan zu gerne an diesem süßen Knackarsch geknabbert … Aber er trennte strikt zwischen Arbeit und Vergnügen und Sam hatte deutlich gezeigt, dass er sich bereits belästigt fühlte, sobald man ihn bloß versehentlich streifte.
Dylan stieg die Treppe hoch ins Freie und sorgte mit einer Fernbedienung dafür, dass sich wieder eine Stahlplatte über die Rampe schloss, die in die Tiefgarage führte. Zeit herauszufinden, wie sein sensibler Gast mit dem Rudel zurechtkam.
In diesem Moment drang ein gedämpfter Schrei an seine Ohren. Das war Sam!
Dylan verwandelte sich im Sprung und sprintete mit aller Kraft los. Ron, der gerade den Wachposten am Haus innehielt, hastete zur Tür, sobald er ihn bemerkte, und riss sie für ihn auf, sodass Dylan ungebremst ins Wohnzimmer hechten konnte, wo er erneut menschliche Gestalt annahm. Sechs Augenpaare starrten ihn an, fünf davon erschrocken. Ihn interessierte nur das dunkelbraune, von Schmerz und Zorn verschleierte Paar des Adlers, der halb ohnmächtig in seinen an der Decke befestigten Fesseln hing.
„Tyrell!“, fauchte er, packte seinen Bruder und zerrte ihn von Sam fort. „Was im Namen der Weisheit machst du da?“
Samuel schwankte bei dem Versuch, seinen Kopf erhoben zu halten. Er war im Haus der Geparde zu sich gekommen, dergestalt gefesselt, dass er sich nicht verwandeln konnte, ohne sich dabei die Arme auszureißen, die straff zur Seite und nach hinten gezogen wurden. Da er breitbeinig stehen musste, um das Gleichgewicht zu wahren, zwang dies seinen Körper in eine vorn übergebeugte Haltung, die extrem schmerzhaft und anstrengend war. Ein Sturz würde ihm die Schultergelenke auskugeln. Er war nackt, jeder einzelne Muskel zitterte, da er bereits seit endlosen Stunden so ausharren musste. Die Geparde hatten ihn mit höhnischen Bemerkungen über seinen Körper und ständige latente Vergewaltigungsdrohungen zermürbt. Samuel war niemand, der an mangelndem Selbstbewusstsein litt, doch die erniedrigenden dummen Sprüche – Der hat ja nicht mal Haare auf der Brust, sieht aus wie ein kleines Mädchen! oder: Bah, ist der hässlich, und stinkt wie ein ganzer Hühnerstall! – prallten nicht vollständig an ihm ab. Sein Wissen, dass dies zum Einmaleins des Psychoterrors gehörte, half ihm nicht. Je primitiver und verrohter sich ein Foltermeister gab, desto stärker sprach er die Urängste seines Opfers an. Aus den Gesprächen des Rudels untereinander hatte er heraushören können, dass sie keineswegs einfältige Neandertaler waren, und trotzdem trafen die an ihn gerichteten Sprüche ins Ziel. Um sich die Zeit zu vertreiben, hatten die Männer Karten gespielt. Der jeweilige Sieger einer Partie durfte ihn schubsen, was in dieser Haltung fürchterlich weh tat, ihn verspotten, ihm in schillerndsten Farben ausmalen, was man alles mit seinem Knackarsch anstellen könnte, und einige Minuten nach seinen Absichten befragen. Sein Widerstand war mittlerweile fast gebrochen, er hatte sich heiser geschrien, war völlig am Ende. Auf echte körperliche Folter hatten sie weitgehend verzichtet, lediglich Tyrell, der Kerl mit der Waffe, hatte ihm gelegentlich ins Gesicht geschlagen. Wohl bemessene Hiebe, die wenig Schaden anrichteten und eher als zusätzliche Demütigung gedacht waren. Die Bastarde hatten sich Zeit gelassen und ihr Spiel dabei spürbar genossen. Sie wollten auf Dylan warten, den sie nicht per Handy erreichen konnten, soweit Samuel verstanden hatte. Etwas, was sie anscheinend nicht wirklich nervös gemacht hatte. Sein anhaltendes Schweigen auf alle Fragen hatte sie auch nicht weiter gestört, er schien ihnen damit eher einen Gefallen zu tun. Für seine anfängliche Erklärung, dass er ein Gast war und von Dylan eingeladen wurde, hatte er heftige Schläge kassiert, darum hatte er aufgegeben und auf Dylan gewartet. Das Verhalten und die Fragen des Rudels bewiesen, dass sie nicht wussten, wer er war und was er hier wollte; sie hielten ihn für einen Spion. Das bedeutete wohl, dass Dylans Botschaft an seinen Bruder eine Fälschung gewesen war, die ihn in diese Falle gelockt hatte. Die jungen Raubkatzen hassten ihn, Tyrell ganz besonders. Bei ihm war sich Samuel nicht sicher, ob der ihn tatsächlich nicht kannte und lediglich den Hass auf Adlerwandler auslebte, wie es bei den anderen der Fall war. Die Stunden, die er hatte ausharren müssen, hatten ihn hart an seine Grenzen getrieben. Lediglich der brüllende Zorn auf Dylan ließ ihn durchhalten.
Mit einem Mal kam Dylan in den Raum gesprungen und schrie auf Tyrell ein. War das die nächste Finte? Vielleicht missbrauchte Dylan sein eigenes Rudel, um Samuel für irgendetwas zu bestrafen. Bloß für was? Er kämpfte um sein schwindendes Bewusstsein, diese Antwort war wichtig!
Einer der Geparde kam nah zu ihm heran. Dylan? Von beiden Seiten wurden seine Arme gepackt, grausamer Schmerz fuhr durch seine Schultern, als die Fesseln gelöst wurden. Stöhnend sackte er zusammen. Jemand gab ihm Halt, stützte seinen geschundenen Körper. Eine tiefe Stimme sprach beruhigend auf ihn ein. Samuel wollte mit aller Macht wach bleiben, doch der Sog, der ihn gnadenlos in den Abgrund riss, war zu stark …
Dylan ließ ihn behutsam zu Boden gleiten. Er war froh, dass Sam ohnmächtig geworden war, der Blick des Adlers war kaum erträglich gewesen. So viel Wut hatte darin gelegen, die Frage „Warum hast du mich verraten?“ stand überdeutlich in dem von Schlägen gezeichneten Gesicht.
„Was genau habt ihr mit ihm gemacht?“, fragte er mühsam beherrscht. Er konnte kein Sperma riechen und es gab keine sichtbaren Anzeichen dafür, dass die Jungs sich an Sam vergangen hatten, doch er musste es sicher wissen. Es gab hunderte Methoden, einen Mann zu missbrauchen! Die Haltung, in der er Sam vorgefunden hatte, war wie dafür geschaffen. „Habt ihr ihn angepackt, ja oder nein?“
„Gott, nein! Wir haben bloß mit ihm gespielt, ich schwör’s!“, rief Tyrell sofort. „Gedemütigt meine ich damit. Keiner ist seinem Hintern zu nah gekommen. Oder hat ihn sonst irgendwie … Nichts davon.“ Sein kleiner Bruder hatte sich unterwürfig am Boden zusammengekauert, und auch die anderen drückten sich in den Ecken herum. Dylan konnte keine Lüge wittern, lediglich Angst vor seinem Zorn, und Unverständnis über dessen Ausmaß.
„Ausgezogen haben wir ihn nur, damit er genau davor Panik bekommt, und blöde Sprüche haben wir gemacht. Bruder, du kennst mich, ich könnte niemals jemanden vergewaltigen!“
Dylan ignorierte Tyrells Gestammel und tastete vorsichtig über Sams Gesicht, untersuchte die Blessuren, die Fausthiebe und Ohrfeigen hinterlassen hatten. Wenigstens war nichts gebrochen und aufgrund von Nasenbluten sah es übler aus, als es war. Die Handgelenke waren stark gerötet, geschwollen und von den Fesseln blutig geschrammt. Die Schultergelenke waren anscheinend nicht ausgekugelt, trotzdem würde Sam starke Schmerzen haben und möglicherweise ein, zwei Tage flugunfähig sein, nachdem er grob geschätzt sechs Stunden in dieser Haltung zubringen musste. Ein Glück, dass die Jungs nicht aus Langeweile richtig brutal geworden waren!
Frustriert fuhr Dylan sich über die Stirn. Sein Kopf hämmerte, er war erschöpft von dem langen Einsatz. Wie hatte das hier geschehen können, verdammt?
„Dylan? Wer ist er überhaupt? Kennst du ihn?“, ließ Tyrell sich kläglich vernehmen und riss ihn damit aus seiner Lethargie zurück. Er musste handeln, irgendwie!
„Zieht ihn an, versorgt seine Wunden und bringt ihn in die Kammer“, befahl er Aaron und Cory. Die beiden jüngsten Rudelmitglieder überschlugen sich fast vor Eifer und brachten Sam eilig fort. Es war gut, nicht mehr länger auf den wohlgeformten, nackten, zerschundenen Leib des Adlerwandlers starren zu müssen. Auf jeden Fall half es ihm, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Mit möglichst knappen Sätzen erklärte er seinem zunehmend entsetzten Rudel, wer Sam war, dass er kurzfristig und ohne Vorwarnung hergeschickt wurde und warum Dylan erst so spät hatte kommen können.
„Ich konnte euch nicht vorher von ihm erzählen, da ich ja selbst erst zum Schluss erfahren habe, dass er hergeschickt wird. Verdammte Schlamperei, das Ganze!“
„Wir haben dutzende Male versucht dich zu erreichen“, murmelte Tyrell mit hängendem Kopf und gab ihm sein Handy, ohne ihn dabei anzusehen. „Schau nach. Bei mir ist weder `ne Textnachricht noch ein Anruf eingegangen, ich schwör’s.“
Dylan vergewisserte sich mit wenigen Handgriffen, dass sein zutiefst niedergeschmetterter Bruder nicht log, obwohl dessen Witterung dies bereits deutlich erkennen ließ. Tyrell war ein stolzer, aufrichtiger Mann, der zu niederträchtigem Verhalten gar nicht fähig wäre. Und trotzdem, irgendetwas war heute Nacht gewaltig schiefgegangen und irgendjemand war dafür verantwortlich.
Er zog sein eigenes Handy und legte es ihm in die Hände.
„Schau nach. Die Textnachricht stammt von deiner Nummer“, sagte er leise. „Marc soll das überprüfen. Wer das hier angerichtet hat, wusste ganz genau, was er tut.“
Tyrell nickte und gab das Handy an Marc weiter. Ihr Technikfreak war der älteste Gepard im Rudel, vom Temperament her allerdings völlig ungeeignet, um eine Führungsposition zu übernehmen. Dylan hatte ihn vor zwei Jahren aufgenommen, nachdem Marc, der bis dahin Einzelgänger gewesen war, beinahe von einem Rudel Hyänenwandler umgebracht worden wäre.
Aaron und Cory kehrten zurück und kauerten sich mit tief gesenkten Köpfen nah bei ihm nieder. Würde er jetzt das geringste Zeichen von Unmut zeigen, würden sie sich sofort in Geparde verwandeln und auf den Rücken drehen. Dylan war kein Alleinherrscher, wie es bei Löwenrudeln üblich war, aber in Momenten wie diesen unterwarfen sich seine Gefährten bedingungslos. Nur auf diese Weise konnten sie sich in diesem dicht besiedelten Hexenkessel von vielen Katzenwandlergruppen auf geringem Raum behaupten. Sie mussten einander vertrauen, sonst würde das Rudel auseinanderbrechen. Als Einzelgänger wären ihre Chancen gering.
„Wie geht es ihm?“, fragte Dylan sanft und berührte die beiden sehr jungen Männer an den Schultern. Sie waren Brüder, Teenager, die von ihrer Mutter viel zu früh auf die Straße gesetzt worden waren.
„Er ist versorgt, wach und scheint stinksauer zu sein.“ Aaron blickte zu ihm auf, und als Dylan ihm ermutigend zunickte, breitete sich das für Aaron typische Grinsen auf seinem Gesicht aus. „Bei Adlern weiß man das natürlich nie genau, die sind ja ständig so grantig.“
Seufzend wuschelte Dylan ihm durch die sandfarbenen Haare, ein deutliches Signal an das gesamte Rudel, dass er ihnen verziehen hatte. Innerlich stählte er sich für die Auseinandersetzung mit Sam. Der Adlerwandler würde sich hoffentlich überzeugen lassen, dass die erlittene Folter nicht weiter böse gemeint gewesen war und Dylan keinen Verrat beabsichtigt hatte …
Samuels Muskeln wollten noch immer nicht aufhören zu krampfen und seine Rückenwirbel standen in Flammen. Eigentlich brannte sein gesamter Körper. Es würde erträglicher werden, sobald er sich verwandelt hatte – das weniger komplexe Gehirn des Steinadlers quälte sich zumindest nicht so stark mit Sinnfragen, auch wenn er seine menschlichen Erinnerungen und Gedanken nicht verlor. Da er darauf hoffte, dass Dylan zu ihm kommen und mit ihm reden würde, wartete er auf ihn und verzichtete auf die Verwandlung. Die beiden jugendlichen Raubkatzen, die ihm geholfen hatten, waren offenkundig beschämt über ihr eigenes Verhalten gewesen und hatten kaum gewagt ihn anzufassen. Der jüngere der beiden hatte sogar eine Entschuldigung gestammelt. Vielleicht gab es also eine Erklärung für all das, was geschehen war. Vielleicht war es ein schrecklicher Fehler gewesen statt einer gezielten Attacke gegen ihn. Zumindest war er nicht gefesselt. Er befand sich in einem winzigen, fensterlosen Raum, mit extrem dicken Wänden, die kein Geräusch von außen hineindringen ließen. Die schwere Eisentür beschönigte nicht, dass es sich um ein Verlies handelte, erhellt von einer einzelnen Neonleuchte an der Decke. Samuel lag bäuchlings auf einer Metallpritsche, es gab keine weiteren Gegenstände, nicht einmal eine Toilette oder ein Waschbecken. Er hatte nichts als die Hoffnung, dass man ihn nicht hier drinnen verrotten lassen würde.
Falls das geschah, was würde es für den Frieden zwischen Vogel- und Katzenwandlern bedeuten?
Nichts, dachte Samuel bitter. Er war zu unwichtig, um einen Krieg zu begründen. Seine Leute würden nicht einmal Nachforschungen anstellen, sofern man seine Leiche innerhalb eines vernünftigen Zeitraumes aushändigte. Die Behauptung, dass er überwältigt und von irgendeiner Säugetiergruppe umgebracht wurde, würde reichen. Ohne charakteristische Spuren an seinem Körper gäbe es keine Möglichkeit mit Sicherheit zu sagen, durch wessen Hand er gestorben war. Ja, es würde zu Spannungen kommen, Hilfsgesuche würden zukünftig abgelehnt werden. Das war’s.
Während Samuel wartete, zermarterte er sich das Hirn, überdachte jegliche Konfrontation zwischen Adlern und Geparden, von der er jemals gehört oder die er selbst erlebt hatte. Selten, wie die Gepardenwandler waren, gab es da nicht viel. Dennoch, vielleicht existierte tatsächlich ein Grund, warum Dylans Rudel ausgerechnet ihn gewählt hatte, um Rache zu nehmen.
Nein, da war nichts. Es sei denn … Samuel glaubte sich vage an etwas zu erinnern. Etwas, das vor vielen Jahren geschehen war. Falls seine Vermutung stimmen sollte, dann … Es würde Tyrells Hass erklären, und die Missbrauchsdrohungen.
Die Tür öffnete sich nahezu lautlos, als Dylan hereinkam. Allein.
Mutlos wandte Samuel den Kopf zur Wand. Er wollte nicht wirklich wissen, ob sein Verdacht stimmte. Im Moment wäre er sogar dankbar, wenn man ihn jetzt töten würde, die Schmerzen waren weiterhin so intensiv, dass es ihm den Atem nahm. Er war sich sicher, dass Dylan ein ehrenwerter Mann war, der nichts von Auge um Auge, Zahn um Zahn hielt. Andernfalls hätte er ihn schließlich hängen lassen können, statt ihn hierher zu bringen.
„Sam?“ Dylan war mittlerweile dicht an ihn herangetreten und kniete sich neben ihm zu Boden. Sehr behutsam legten sich starke Finger auf Samuels entblößten Rücken – die jungen Geparde hatten seine Anziehsachen in eine Ecke gelegt und ihm lediglich eine dünne Decke übergeworfen.
Samuel zuckte unwillkürlich unter der Berührung zusammen. Es fühlte sich viel zu gut an, Dylans Nähe zu spüren, das durfte nicht sein!
„Hab keine Angst, du hast nichts zu befürchten. Weder von mir noch von meinem Rudel.“
Die Decke wurde hochgezogen, was ihm das irrationale Empfinden von Schutz gab.
„Bin ich ein Gefangener?“, wisperte Samuel mühsam.
„Nein. Ich weiß, wie der Raum wirkt, aber du bist nicht eingesperrt, die Tür ist nicht verriegelt. Es ist der einzige Raum, in dem du für dich allein sein kannst, dieses Haus hat keine Gästeschlafzimmer.“
Die Frage, wo er ursprünglich untergebracht werden sollte, verkniff er sich. Reden war anstrengend. Denken auch.
„Wie geht es dir?“, fragte Dylan nervös nach einem langen Moment unbehaglichen Schweigens. Samuel schnaufte bloß, eine solch dumme Frage verdiente keine Antwort.
„Du … Ich gebe dir gleich etwas gegen die Schmerzen, es wird dir helfen einzuschlafen und dich zu … Na ja, zu erholen.“
Sehr langsam wandte Samuel den Kopf und blickte in das Gesicht des Gepards. Erschöpft und bleich war es, tiefe Sorge lag in den blauen Augen.
„Es tut mir leid, so wahnsinnig leid, das alles hätte nicht geschehen dürfen“, stammelte Dylan. Kein verborgener Triumph, kein Zeichen von Lüge.
Jeglicher Zorn versickerte und ließ Samuel ohne Schutz und Verteidigung zurück.
„Warum?“, flüsterte er rau.
„Ich weiß es nicht. Aber ich verspreche dir, ich werde es herausfinden. Der Schuldige wird bluten.“
Tausende Fragen brannten Samuel auf der wunden Seele, doch er war zu schwach, sie zu stellen.
„Geh!“, stieß er verzweifelt hervor. Er konnte sich nicht länger beherrschen, wollte sich aber nicht vor diesem Mann entehren. Das letzte verbliebene bisschen Stolz erlaubte es nicht.
Dylan legte ihm in einer tröstlichen Geste eine Hand auf den Kopf, was er mit einem halb erstickten Aufschluchzen abwehrte.
„Geh!“ Hastig verbarg Samuel das Gesicht in der Armbeuge, als die Tränen bereits zu fließen begannen. Nur mit angehaltenem Atem konnte er die Flut noch zurückhalten, er krümmte sich unter den Schmerzen, die das verursachte. Erbärmlich zitternd wartete er, bis Dylan den Raum verließ und die Tür schloss. Erst dann konnte er aufgeben.
Der Anfall war heftig und kurz. Die gewaltsame Reaktion seiner zerrütteten Nerven hielt vielleicht zwei Minuten vor und ging in einen erschöpften Dämmerzustand über. Dylans Rückkehr nahm er lediglich am Rande seines Bewusstseins wahr. Die Spritze, die ihm in den Oberarmmuskel gesetzt wurde, störte ihn nicht weiter. Er hörte, wie Dylan leise auf ihn einsprach, ohne ein einziges Wort zu verstehen. Als das Mittel endlich wirkte und die Schmerzen verschwanden, entspannte Samuel sich dankbar, wenig später wusste er nichts mehr.
Dylan blieb bei ihm, bis er sicher wusste, dass der Adlerwandler tief eingeschlafen war.
„Und?“, fragte Tyrell, sobald er ins Wohnzimmer zurückkehrte. Die anderen Rudelmitglieder hatte Dylan schlafen geschickt, es war eine lange Nacht gewesen.
„Er ist verletzt, aber nicht zerstört. Adler sind hart im Nehmen und nicht allzu emotional, ich denke, er wird mir zuhören, sobald er aufwacht. Ich hatte das Gefühl, dass er mir glaubt, dass es keine geplante Attacke gewesen ist.“
„Glaubst du es mir auch?“, fragte Tyrell leise.
Dylan umarmte ihn schweigend. Sie mussten zusammenhalten, sonst waren sie allesamt verloren.
Sam saß sehr steif und aufrecht an seinem Platz und fixierte Dylan, ohne zwischendurch zu blinzeln. Obwohl der Adlerwandler versichert hatte, dass er die Erklärungen akzeptierte und mit ihm einer Meinung war, dass diese technisch aufwändige Attacke mit den Morden zusammenhängen musste, wirkte er extrem angespannt.
Marc war es nicht gelungen, die gefälschte Nachricht zurückzuverfolgen. Sie waren allein, Dylan ließ sein Rudel nach der aufregenden Nacht ausschlafen und hatte sie bei ihren Arbeitgebern entschuldigt, dass sie später kommen würden. Das war bei allen Wandlergruppen nicht weiter ungewöhnlich, darum waren keine Probleme zu befürchten.
Tagsüber brauchten sie glücklicherweise keine Wachposten, zumindest in den insgesamt recht friedlichen Zeiten, wie sie es im Moment genießen durften. Lediglich nachts mussten sie auf der Hut sein vor jugendlichen Löwen- und Hyänenwandlern, die sich häufig zu kleinen Gruppen zusammenschlossen und ohne eine Bleibe, Arbeit oder irgendeinem Lebenszweck marodierend durch die Lande zogen. Noch schlimmer waren jene, die sich auch als Erwachsene bewusst für ein solches Leben entschieden und als Söldner für Verbrechen aller Art anboten. Da sie durchweg nachtaktiv waren, stürzten sie sich bevorzugt auf tagaktive Wandler, wie eben auch die Geparde.
Dylan trank den letzten Schluck Kaffee. Man sah Sam kaum an, dass er Schmerzen hatte, er verbarg es eisern. Vielleicht würden sie also doch noch wenigstens einen der Tatorte besichtigen können. Je eher sie ihre Arbeit aufnahmen, desto besser. Der Adlerwandler hatte alle Frühstücksangebote abgelehnt, ausgenommen einer Tasse schwarzen Kaffee. Dylan stellte das benutzte Geschirr in das Spülbecken, Aaron und Cory würden sich nachher darum kümmern. Die beiden hatten zurzeit Schulferien – sie waren siebzehn, beziehungsweise achtzehn Jahre alt –und waren daher für Haushalt, Kochen und alles, was sonst anfiel zuständig.
Als Dylan gerade in sein Arbeitszimmer gehen wollte, um seine Notizen zu den Mordfällen zu holen, klingelte sein Handy. Es war die Nummer von Rick, einem seiner Kollegen. Das konnte eigentlich nur eines bedeuten …
„Ja?“, meldete er sich knapp.
„Wir haben eine weitere Leiche“, brüllte Rick. Der Löwenwandler schaffte es einfach nicht, leise zu telefonieren, selbst wenn sein Leben davon abhing. „Es ist ein junges Mädchen von den Steppenwölfen am Lyrtha-See, gerade mal zwölf. Genauso zugerichtet wie alle anderen. Schnapp dir die Federfresse und komm sofort her!“
Dylan warf einen Blick zu Sam hinüber, der keine drei Meter entfernt saß. Ausgeschlossen, dass er die Beleidigung nicht gehört hatte, Adler hatten gute Ohren, soweit er wusste. Der junge Mann fixierte ihn genauso starr wie zuvor.
Eigentlich kann ich ihn gleich nach Hause schicken, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit kriegen wir garantiert nicht mehr hin, dachte er niedergeschlagen. Bevor er etwas sagen konnte, stand Sam auf und ging mit festen Schritten zur Tür.
„Kommst du?“, fragte er ungeduldig. „Du hast den Mann gehört, meine Anwesenheit wird geduldet.“
Dylan seufzte ergeben. Hätte er doch bloß auf seine Mutter gehört, dann wäre er Buchhalter, Bankangestellter oder etwas Ähnliches geworden und dürfte heute friedlich an einem Schreibtisch sitzen …
Samuel fühlte sich unbehaglich inmitten der herumlungernden Steppenwölfe, die ihn misstrauisch beäugten. Schlimmer noch war allerdings Dylans Team. Es setzte sich aus drei Leoparden, einem Fuchs, einer Wölfin und einem Löwenpaar zusammen. Man spürte deutlich, dass sie ihn allesamt ablehnten. Der Krieg zwischen Adlern, Habichten, Falken und beinahe jeder Gruppe des Felidae-Clans hatte zu viel zerstört, es würde vielleicht noch hundert Jahre dauern, bis wieder Freundschaften unter ihnen denkbar waren.
„Jünger als ich dachte“, flüsterte die Löwin nicht allzu leise in Richtung ihrer Kollegin. Sie war selbst für ihre Rasse groß und kräftig, das struppige sandfarbene Haar trug sie in einem kurzen Zopf gebändigt.
„Deutlich hässlicher als befürchtet“, erwiderte die Wölfin verächtlich. Beide Frauen grollten warnend, als Samuel an ihnen vorbeischritt. Diese Worte waren Salz in den Wunden, die er vergangene Nacht erlitten hatte, doch das würde er nicht offen zeigen. Jedes Zeichen von Schwäche würde ihn umbringen. Schlimm genug, dass die Wölfin vermutlich haargenau wittern konnte, wo er körperlich verletzt worden war.
Dylan führte ihn zu der Leiche, ohne sein Team eines Blickes zu würdigen. Zwei Gerichtsmediziner, erkennbar an ihren blauen Uniformen, traten respektvoll beiseite, um ihnen Platz zu machen.
Das tote Mädchen lag am Ufer eines flachen Sees, aus dem es offenkundig herausgefischt worden war. Sie war nackt, ihr Körper mit all den seltsamen Ornamenten und Symbolen bedeckt, die Samuel bereits von den Fotos der anderen Opfer kannte. Auf ihrer Stirn prangte anklagend die Ziffer vier.
„Wieder Wasser, auch wenn er diesmal nicht im Regen zugeschlagen hat“, murmelte Dylan, der sich neben dem Mädchen niedergekniet hatte.
„Es verwischt seine Fährte, trotzdem ist es auffällig, dass er sein Verhaltensmuster geändert hat.“ Der Fuchswandler deutete auf die verschlungenen Ornamente, die mit einem scharfen Gegenstand in die Haut des Opfers eingeritzt waren.
„Man erkennt deutlich, dass es derselbe Täter sein muss, die Ausführung ist identisch mit der bei den anderen. Es wurde dasselbe Werkzeug benutzt. Von der Form und Tiefe der Wunden kann man eigentlich von einer Tierkralle ausgehen, in diesem Fall müsste es allerdings DNA-Spuren geben. Okay, kurz gesagt, es ist und bleibt derselbe Mörder.“
„Trotzdem gibt es Abweichungen vom gewöhnlichen Muster. Kein Regen, das Opfer ist deutlich jünger als die anderen.“ Dylan erhob sich und trat dicht an Samuel heran. „Kannst du fliegen?“, fragte er so leise, dass Samuel es ihm regelrecht von den Lippen ablesen musste. Er nickte stumm. Arme, Schultern und Rücken waren noch immer eine einzige Qual, aber er würde es schaffen. Falls nicht, konnte er sofort einpacken und nach Hause zurückkehren. Das wäre durchaus verlockend, doch seit gestern Nacht nahm er die Angelegenheit persönlich. Er konzentrierte sich, lief los, spürte die Verwandlung, die seinen gesamten Körper zerriss und umformte und schwang sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft.
Er stieß einen schrillen Schrei aus, halb vor Schmerz, halb aus Erleichterung darüber, den feindlich gesonnenen Raubtierwandlern entkommen zu sein. In etwa hundert Meter Höhe glitt er kraftsparend auf den Aufwinden dahin, nah genug am Boden, um selbst winzigste Details erkennen zu können.
Es hatte seit Tagen nicht geregnet, wenn der Mörder also keine Spuren hinterlassen hatte, musste er sich auf dem See befunden haben, als er über sein Opfer hergefallen war. Gewiss war das Mädchen schwimmen gegangen. Aber warum hatte es keine Abwehrverletzungen an den Armen? Ausgeschlossen, dass es seinen Angreifer nicht bemerkt hatte, Steppenwölfe besaßen auch in menschlicher Gestalt hervorragendes Hör- und Sehvermögen.
Taucheranzug?, dachte er und zog enge Kreise über den See. Innerhalb kürzester Zeit machte er die Stelle aus, an der das Mädchen sich dem Wasser genähert hatte, etwa drei Kilometer von dem Punkt entfernt, an dem sie gefunden worden war. Man konnte ihre Fährte noch im kniehohen Gras sehen, das hier am Ufer wuchs. Samuel landete, verwandelte sich und holte sein Handy aus der Tasche.
„Drei Kilometer südöstlich, Uferbereich“, instruierte er Dylan knapp. „Sie ist aus nördlicher Richtung gekommen und offenbar aus eigenem Antrieb in den See gestiegen.“
Während er auf Dylan und die anderen wartete, zog er Handschuhe an und untersuchte die Kleidung des Mädchens, die sorgsam zusammengefaltet unter einem Busch gelegen hatte. Jeder hätte sie dort gefunden, es war kein echtes Versteck gewesen. Ihr Handy und etwa zwanzig Dollar waren unangetastet geblieben. Sie besaß Ohrlöcher, trug jedoch keine Ohrringe oder anderen Schmuck. Samuel fand keine Blutspuren oder den geringsten Hinweis, dass die Kleine nicht allein hergekommen war.
Einige Minuten später hörte er drei Fahrzeuge, die etwa zweihundert Meter entfernt geparkt wurden. Dylan kam in Raubtiergestalt zu ihm, wobei er sein Team weit hinter sich ließ.
Angeber, dachte Samuel mit einem innerlichen Lächeln. Er zeigte Dylan, was er gefunden hatte.
„Hier wurde sie nicht ermordet, aber wir sind trotzdem einen kleinen Schritt weiter“, sagte der Gepardenwandler und nickte ihm anerkennend zu. „Wir hätten bestimmt ein oder zwei Stunden gebraucht, um diese Stelle aufzuspüren.“
„Sie ist aus nördlicher Richtung gekommen, weißt du, was sie dort wollte?“, fragte Samuel den Steppenwolf, der das Team als Verbindungsperson zum heimischen Rudel begleitete. Er schien ein Anwalt zu sein, jedenfalls wirkte er mit seinem steifen grauen Anzug wie einer.
„Keine Ahnung. Ich muss ihre Eltern befragen, tut mir leid. Ihre Mutter hatte einen Nervenzusammenbruch, als wir ihr erzählten, was Keyla zugestoßen ist“, erwiderte der Wolf. „Ein sehr liebes Mädchen, ich kannte sie gut. Brav, anständig, alle mochten sie.“
Er verhielt sich von der Körpersprache her ebenso ablehnend Samuel gegenüber wie alle anderen auch, bemühte sich jedoch sichtlich, professionell zu bleiben.
„Keylas Eltern wohnen jedenfalls nicht in der Nähe. Vielleicht hatte sie eine Freundin besucht und wollte sich auf dem Rückweg etwas Abkühlung verschaffen.“
„Die Adresse bräuchten wir und alles, was sich über Keylas Bewegungen vor ihrem Tod herausfinden lässt“, mischte sich die Löwenwandlerin ein.
Dylan warf Samuel einen merkwürdigen Blick zu, bevor er plötzlich sagte:„Du kennst meine Leute noch gar nicht beim Namen, entschuldige bitte. Diese Löwendame hier hört auf den Namen Annika, ihr Lebensgefährte heißt Rick. Unsere Wölfin dort heißt Esther, der Fuchs David und die zwei prachtvollen Leoparden da drüben …“, er wies auf die beiden schlanken, hochgewachsenen jungen Männer, die eineiige Zwillinge waren und Samuel mit kaum verborgener Abscheu begegneten, „das sind Larry und Mike. Leute, ich weiß, ihr mögt den Gedanken nicht, mit einem Adler zusammenzuarbeiten. Es war nicht meine Idee, aber ihr seht, er hilft uns. Also reißt euch zusammen und zeigt eure höfliche Seite, klar?“
Samuel stutzte. „Sag das noch mal!“, befahl er ruppig.
„Was, alles?“
„Nein, den Part mit das war nicht meine Idee. Mir wurde von meinen Vorgesetzten gesagt, dass du mich explizit angefordert hast.“
Dylan blinzelte verwirrt, seine Überraschung wirkte echt.
„Nein, hab ich nicht. Jackson – mein direkter Boss – hatte mir kaum eine Stunde, bevor ich dich aufgegabelt hatte, Bescheid gegeben. Ich war nicht allzu überzeugt von dem Plan, doch er zeigte mir deine bisherigen Ermittlererfolge und bestand darauf, dass wir neue Ansätze und vor allem jedes bisschen Hilfe brauchen, um den Mörder zu stoppen.“
Sie starrten einander an, bis Esther sich räusperte und murmelte: „Jungs, das ist alles merkwürdig, keine Frage. Vor allem wenn man dazu bedenkt, dass Sammy beinahe von deinem Rudel gerissen worden wäre. Wir sollten uns trotzdem später damit befassen, hm?“
Dylan schüttelte den Kopf und gab sich einen Ruck.
„Esther, du folgst mit David Keylas Fährte und versuchst zu bestimmen, woher genau sie gekommen ist. Larry, Mike, ihr befragt die Steppenwölfe. Findet so viel wie möglich darüber heraus, mit wem Keyla in den letzten Tagen Kontakt hatte, was sie alles getan, gesagt oder auch unterlassen hat. Anni, du kümmerst dich um die Leiche der Kleinen. Mittlerweile ist hoffentlich jemand von der Pathologie da. Die Presse wird sicher auch bald kommen, wimmle sie bestmöglich ab. Jackson wird nachher eine Konferenz geben, denke ich. Rick, übernimm hier die Spurensicherung und bring ihr Handy ins Labor. Helen soll eine Liste der Kontakte und Anrufer erstellen und natürlich der Textnachrichten. Sam, verwandle dich bitte wieder und such weiter die Gegend ab. Ich bleibe an deinen Fersen.“
Alle nickten knapp und folgten ohne Diskussion ihren Befehlen. Samuel war erstaunt, dass Löwenwandler sich von einem Gepard kommandieren ließen, so etwas hätte er nicht für möglich gehalten. Selbst die Wölfin, die Dylan ein Stück überragte, den muskulösen Körper einer Kriegerin besaß und nicht wirkte, als würde sie sich irgendetwas gefallen lassen, gleichgültig von wem, reagierte augenblicklich. Beeindruckend – bei den Raubvögeln wäre eine solche Zusammenarbeit unmöglich. Niemand wäre bereit, sein Ego zugunsten des Allgemeinwohls zurückzustellen. Das war die große Stärke der Säugetiere. Und ihre größte Schwäche.
Dylan hielt den Blick auf den Adler gerichtet, der hoch oben am Himmel kreiste. Sie befanden sich mittlerweile im Revier der Leopardenrudel, die am Nordufer des Sees lebten. Eine Tatsache, die ihm großen Kummer bereitete, denn niemand hasste Adlerwandler mehr als Leoparden. Kein Wunder, war doch der Krieg zwischen Säugetier- und Vogelwandlern über eine Blutfehde zwischen einem Leopardenrudel und einer Adlersippe ausgebrochen …
Dylan hatte keine Schwierigkeiten, Sam zu Fuß zu folgen, auch nicht in menschlicher Gestalt. Der Adler flog in Kreisen über den See, in methodischen Zirkeln, kalkuliert und sehr gründlich. Gelegentlich kam er tiefer, um unter Bäume zu gelangen, die dicht beieinander standen. Wenn es irgendetwas zu entdecken gab, würde Sammy es zweifellos finden.
Er konnte nicht umhin, die kraftvolle Eleganz zu bewundern, mit der sich der Adler schwerelos bewegte. Wanderfalken mochten schneller sein, Eissturmvögel artistischer, Bartgeier präziser fliegen, dennoch, Steinadler waren schöne Geschöpfe.
Dylan schnitt eine Grimasse. Er wusste selbst, vor ein paar Tagen noch hätte er diesen Anblick als bedrohlich empfunden und jeden Gedanken an Bewunderung für Adler weit von sich geschoben. Seltsam, mit welcher Leichtigkeit Sam ihm den Kopf verdreht hatte, und das ohne es selbst zu wollen.
Ein lauter Knall schreckte ihn aus seinen sinnlosen Grübeleien – ein Schuss! Jemand schoss auf den Adler! Es folgten drei weitere Schüsse, bis Dylan in Gepardengestalt lospreschte, um den Wahnsinnigen aufzuhalten, der auf einen von der Regierung angeforderten Mordermittler anlegte. Er hielt nur kurz inne, als von oben ein schriller Schrei ertönte und Sam mit mindestens zweihundert Stundenkilometern in Richtung Boden stürzte. Da hatte er den Schützen auch schon erreicht und holte ihn mit einem gewaltigen Satz von den Beinen. Hilflos sah er mit an, wie Sam einem Stein gleich fiel – um im letztmöglichen Moment die Flügel auszubreiten, kurz an Höhe zu gewinnen und dann hinter einem Dickicht zu verschwinden. Ein fremder Mann schrie auf. Dylan verwandelte sich, entriss dem regungslos daliegenden Leopardenwandler das Gewehr und raste zum Dickicht hinüber. Er fand den Adler, der majestätisch auf der Brust eines zweiten Leopardenwandlers hockte, um jede Regung des Mannes mit einer warnenden Drohgebärde zu unterbinden. Angesichts der tödlichen Klauen blieb der Leopard ganz ruhig und verzichtete auf Verwandlungsversuche. Neben ihm lag ein weiteres Gewehr. Natürlich, es waren Bockflinten, die jeweils zwei Schuss abgeben konnte. Demnach hatten beide ihr Pulver verschossen, im doppelten Sinne. Auch wenn diese Flinten nicht mehr mit Schwarzpulver gestopft werden mussten.
Sam nahm menschliche Gestalt an, sobald er Dylan bemerkte, und gab sein Opfer frei. Obwohl er äußerlich unbewegt schien, witterte Dylan Blut, Schmerz und Zorn an ihm – er war eindeutig getroffen worden. Hoffentlich war es keine ernste Verletzung!
„Wie können Sie es wagen, in unser Gebiet einzudringen, zwei Männer anzugreifen und dabei diesen … diesen Verbrecher da zu verteidigen?“, brüllte der Leopardenwandler, den Dylan überwältigt hatte.
„Er ist ein Mordermittler, genauso wie ich.“ Er zog seine Dienstmarke, Sam tat es ihm mit einer steifen Bewegung gleich. Die Männer wurden augenblicklich nervös – sie hatten allein dadurch, dass sie auf einen Wandler in Tiergestalt geschossen hatten, ein Verbrechen begangen. Es war im Augenblick zweitrangig, deshalb überging er es.
„Eine Steppenwölfin wurde ermordet, ein zwölfjähriges Kind. Wir haben jedes Recht, uns überall aufzuhalten, um nach Spuren zu suchen.“
Die Männer zuckten sichtlich zusammen. Es schienen Brüder zu sein, beide waren um die sechzig und litten an einem Problem, das viele Raubkatzen betraf, die das mittlere Alter allmählich hinter sich ließen – mit dem Rückgang des Jagd- und Paarungstriebes setzten sich die geruhsameren Vorlieben ihrer Tiergestalt durch, die auf Essen, Schlafen und harmlose Vergnügen ausgerichtet waren. Viele blieben immer länger in der Tierform, bis sie die Fähigkeit verloren, sich zurückzuverwandeln. Diese beiden waren schwer übergewichtig, ihre Reflexe langsam, ihre Sinne in Menschengestalt schwach. Unwahrscheinlich, dass sich hinter ihren runden Gesichtern ein grausamer Serienmörder verbarg, doch man durfte nie irgendetwas leichtfertig ausschließen.
„Wieso wissen Sie nicht, dass wir unterwegs sind?“, fragte er, inzwischen wieder beherrscht. „Es wurde allen Rudeln, Herden und Einzelgängern Bescheid gegeben, dass ein Mordermittlerteam mit einem Adlerwandler an dem Fall dran ist. Allein dadurch sind jegliche Attacken auf Vogelwandler, die nicht von sich aus angreifen, absolut verboten.“
„Wir … wir sind seit Tagen auf der Jagd“, stammelte jener Leopard, der einige harmlose Kratzer von Sammys Klauen davongetragen hatte. „Wir sind ohne Handy unterwegs, einfach losgezogen, um Kaninchen zu jagen. Ganz wie früher, um nicht gänzlich einzurosten, nicht wahr, Hank? Die Kiesgrube, wo wir gemeinsam gearbeitet haben, ist geschlossen worden. Dadurch haben wir nichts mehr zu tun, außer mit den Enkeln zu spielen und …“
„Wenn Sie seit Tagen durch das Revier streifen, haben Sie möglicherweise etwas gesehen, was uns weiterhelfen könnte“, mischte Sam sich ein. Er hielt sich die rechte Seite, wo sich mittlerweile ein Blutfleck ausbreitete.