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„Chaostheorie. Schmetterlingsschlag in Tokio. Reissack fällt in China. Sicherlich hast du davon schon gehört? Du bist der Sack Reis, Eddy. Du bist der Schmetterlingsflügel.“ Eddy wohnt in New York. Eigentlich mag er sein hektisches Leben als Journalist im Big Apple und seine verrückten Freunde, und der Liebe hat er nach zahllosen Fehlschlägen abgesagt. Doch seit einiger Zeit ist da Sehnsucht nach Veränderung, nach mehr Beschaulichkeit. Nach echten, großen Gefühlen. Nach innerem Gleichgewicht. Als er in Pinewood Cove landet, einem Hinterwäldlerdorf in Montana, begegnet er reichlich merkwürdigen Leuten – und einem aufregenden Ex-Marine namens Bradley. Der schweigsame, baumlange, muskulöse Kerl, der seine Uniform gegen eine Schürze getauscht hat und seinen Lebensunterhalt mit dem Backen weitgerühmter Kürbispasteten und großartiger Sahnetorten verdient, weckt alle möglichen sehr echten Gefühle in Eddy … Bis die Armee der Finsternis anklopft und höflich nach der Uhrzeit fragt. Und dann geht es erst so richtig los … Gayromantische Fantasy-Chaos-Story Ca. 95.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 472 Seiten
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Veröffentlichungsjahr: 2025
„Chaostheorie. Schmetterlingsschlag in Tokio. Reissack fällt in China. Sicherlich hast du davon schon gehört? Du bist der Sack Reis, Eddy. Du bist der Schmetterlingsflügel.“
Eddy wohnt in New York. Eigentlich mag er sein hektisches Leben als Journalist im Big Apple und seine verrückten Freunde, und der Liebe hat er nach zahllosen Fehlschlägen abgesagt. Doch seit einiger Zeit ist da Sehnsucht nach Veränderung, nach mehr Beschaulichkeit. Nach echten, großen Gefühlen. Nach innerem Gleichgewicht.
Als er in Pinewood Cove landet, einem Hinterwäldlerdorf in Montana, begegnet er reichlich merkwürdigen Leuten – und einem aufregenden Ex-Marine namens Bradley. Der schweigsame, baumlange, muskulöse Kerl, der seine Uniform gegen eine Schürze getauscht hat und seinen Lebensunterhalt mit dem Backen weitgerühmter Kürbispasteten und großartiger Sahnetorten verdient, weckt alle möglichen sehr echten Gefühle in Eddy …
Bis die Armee der Finsternis anklopft und höflich nach der Uhrzeit fragt. Und dann geht es erst so richtig los …
Gayromantische Fantasy-Chaos-Story
Ca. 95.000 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 472 Seiten
von
Sonja Amatis
Inhalt
Kapitel 1: (Not) a home
Kapitel 2: (Not) a life crisis
Kapitel 3: (Not) a party
Kapitel 4: (Not) alone at home
Kapitel 5: (Not) a cozy place
Kapitel 6: (Not) an unexpected visitor
Kapitel 7: (Not) a bad day
Kapitel 8: (Not) a good explanation
Kapitel 9: (Not) a decent preparation
Kapitel 10: (Not) a fair fight
Kapitel 11: (Not) an epic battle
Kapitel 12: (Not) just a bit of light
Kapitel 13: (Not) the best of times
Kapitel 14: (Not) a big surprise
Kapitel 15: (Not) an easy decision
Kapitel 16: (Not) a last man standing
Epilog: (Not) saving the best for last
Für Doris Lösel
Ein ganz besonderes Licht
ddy lauschte aufmerksam an der Wohnungstür.
Von innen.
Er verließ nie die Wohnung, bevor er nicht halbwegs sicher war, dass sich niemand auf dem Flur aufhielt. Seine Nachbarn hier im sechsten Stock eines New Yorker Altbaus waren nicht allesamt schrecklich, nein, das war es nicht. Einige von ihnen waren zusätzlich auch noch gemeingefährliche Psychopathen, denen er weder in dunkler Nacht noch am helllichten Tag begegnen wollte.
So wie die ungefähr neunzigjährige alte Dame von schräg gegenüber. Eddy kannte ihren Namen nicht und neunzig war auch bloß eine grobe Schätzung. Sie sah eher aus wie etwas, das vor zweihundert Jahren auf dem Scheiterhaufen gelandet war, sich davon nicht weiter hatte beeindrucken lassen und seither diese Wohnung besetzt hielt. Einfach weil sie es konnte. Sie trug ausschließlich braune Wollsachen, die sie offenkundig vor dem Krieg eigenhändig gehäkelt hatte – dem Bürgerkrieg von 1861, wohlgemerkt. Alles an ihr war verfilzt, verkommen, ausgedünnt, egal ob Haare, Haut, Klamotten oder die Stimme. Sie roch nach Mottenkugeln und billigem Schnaps, und gelegentlich zur Abwechslung auch nach Zwiebeln und Zigaretten. Sie hatte noch nie etwas anderes als „GEH WEG!“ zu Eddy gesagt, egal wie freundlich er sie grüßte, und die Blicke, mit denen sie ihn zu töten versuchte, sobald sie ihn sah, wollte er am liebsten niemals wieder ertragen.
Auch mit dem Junkie-Pärchen drei Türen weiter links hatte er lieber nichts zu tun, wenn es sich einrichten ließ. Waren die beiden Mittvierziger high, dann blieben sie friedlich und still in ihrer Wohnung. Leider waren sie die meiste Zeit über eben nicht high, weil es am Geld fehlte, und soweit die Brüllerei sich interpretieren ließ, waren sie anscheinend beide zu dämlich beziehungsweise zu alt zum Anschaffen, Klauen oder Dealen. Sie prügelten sich in diesem unerwünschten Zustand der Klarheit gegenseitig durch die Bude, und je nachdem, wer den Kürzeren zog, landete anschließend vor der Tür, um ein Heilmittel mit Nirwana-Garantie zu besorgen. Eddy war schon mehr als einmal penetrant für Geld oder Zigaretten angebettelt worden, weil er sich nicht rechtzeitig in die eigene Wohnung gerettet hatte.
Zudem hatte er schon zweimal die Cops ihretwegen gerufen, denn irgendwo in diesem menschlichen Elend lief noch ein kleines Mädchen von etwa fünf Jahren herum. Seit dem zweiten Mal starrte ihn der Kerl jedes Mal mit blutunterlaufenen Augen hasserfüllt an, wenn er Eddy erblickte, obwohl er eigentlich nicht wissen konnte, welcher seiner Nachbarn dumm genug gewesen war, die Polizei zu rufen. Genutzt hatte es sowieso nichts, das Kind befand sich noch immer bei diesen Leuten.
Im Moment war alles ruhig. Kein Geschrei, keine Schritte auf dem Flur und höchstens ein Dutzend verschiedener Fernseher, die durch die dünnen Wände hindurch schallerten. Eddy richtete sich auf und stieß sich dabei heftig den Kopf an seinem Fahrrad, das er senkrecht in den Flurbereich hinter die Tür geklemmt hatte. Er lebte schließlich in New York, verdammte Scheiße. Man hatte ihm sein Fahrrad schon geklaut, als er sich bloß fünf Sekunden lang weggedreht hatte, um den Schüssel für die Haustür zu suchen.
Innerlich fluchend rieb er sich den Kopf. An manchen Tagen hasste er diesen Moloch von einer Stadt. Ursprünglich stammte er aus einem ruhigen Vorort in Virginia. Weil er damals als Teenager dachte, es wäre unglaublich cool, in der großen Stadt zu leben, wo alle Vorteile und großartige Möglichkeiten in Griffweite lagen, war er zum Studium hergezogen und dann hängen geblieben. Hier konnte er arbeiten, hatte 72 Essenslieferdienste in einer Meile Radius zur Verfügung und war gefangen zwischen acht Millionen Psychopathen, Schwerverbrechern, Kleinkriminellen, gescheiterten Existenzen, Möchtegerns, Hoffnungssucher, Glücksjäger, Obdachlosen, Businesstypen, Promis, Superreichen.
Eine Fundgrube also für einen Journalisten, der davon lebte, andere zu beobachten und möglichst geistreiche gequirlte Kacke über sie zu schreiben.
Heute war er nicht auf dem Weg zur Redaktion. Er arbeitete freiberuflich für mehrere Zeitschriften und Online-Portale, was er im Home Office erledigte, ließ sich allerdings auch für die „Cozy Sun- and Holidays“ als Reiseblogger auf Reportagen durchs Land schicken. Dies war ein kleiner Ableger einer großen Zeitschrift mit Frauen ab dreißig als Zielpublikum. Eddy liebte es nur bedingt, über Farmer’s Markets in Idaho, seit vier Generationen gehütete Cheesy Beans-Rezepte aus Nebraska, Food Trucks in New Orleans und Handarbeitszirkel in Kalifornien Fotoreportagen zu erstellen und Interviews mit Bioimkern zu führen, oder Frauen, die ihr Mehl für das selbstgebackene Brot per Hand in einer alten Kaffeemühle mahlten.
Leider brachte ihm dieser Kram die Miete ein, während seine Artikel und Kolumnen über Kuriositäten und seltsame Leute in New York zwar beliebt waren, aber nicht einmal für einen Schlafplatz auf der Parkbank genügen würden.
Loona, die Chefredakteurin der „Cozy“, hatte auch schon angedroht, ihm einen Auftrag für die Adventszeit zu geben. Das roch zehn Meilen gegen den Wind nach viel, viel Schnee, Truthahn, Lebkuchen, Brownies, Cranberry-Sauce, Waldorfsalat und Eggnog. Viel, viel Eggnog.
Nun, überleben würde er das natürlich und gegen das Geld hatte er auch nichts einzuwenden. Außerdem bedeutete Weihnachten ihm gar nichts, seit er sich mit seiner Familie überworfen hatte … Das war ein anderes Thema und keines, worüber er nachdenken oder reden wollte.
Eddy wagte sich hinaus in die Wildnis jenseits seines winzigen Appartements, in dem er den Straßenlärm so intensiv hörte und spürte, als würde er auf der Verkehrsinsel wohnen. Kein psychopathischer Nachbar begegnete ihm auf seinem Weg zur U-Bahn-Station. Dafür wurde er beim Überqueren der Straße fast von zwei Polizeiwagen über den Haufen gefahren. Ein Obdachloser zog unmittelbar vor ihm blank und hockte sich mitten auf den Gehweg, um dort hinzukacken, als wäre er ein Hund. Er murmelte dabei die ganze Zeit vor sich hin. Eventuell bellte er auch sehr, sehr leise, das war bei dem allgemeinen Lärm nicht zu unterscheiden. Eine elegant in schwarz gekleidete junge Frau rempelte sich durch die Menschenmassen auf dem Weg die Treppe hinab zur U-Bahn. Sie bewegte sich seltsam hüpfend und blieb gelegentlich stehen, um das linke Bein in die Höhe zu klappen. Wie nannte man diese Art von senkrechten Spagat? Vermutlich war sie auf dem Weg zu einer Bewerbung an eine der großen Tanzschulen oder wollte für ein Musical vorsprechen.
In der Bahn war es brechend voll. Drei junge weiße Kerle kreisten ein dunkelhäutiges Mädchen ein und begannen mit den üblichen dummen Sprüchen – „Ganz allein, du Süße? Willste mal Spaß haben?“
Eddy dachte fieberhaft nach, ob er sich mit den Typen anlegen wollte oder es vielleicht doch mit einem Notruf handhaben sollte. Um ihn herum zogen sämtliche Leute die Köpfe ein und schalteten auf Durchzug, mit glasigem Blick und eisernem „Bin nicht da, geht mich nichts an“-Gehabe. Das Mädchen, es mochte vielleicht sechzehn sein, blickte hoch. Sie wirkte angewidert, nicht eingeschüchtert – allein diese Haltung irritierte die Kerle etwas. Die Bahn hielt. Dann ging es plötzlich rasend schnell: Das Mädchen schlug zu, der größte der Kerle ging winselnd zu Boden und würde vermutlich die nächsten zwei Tage Coolpacks für seine gequetschten Eier benötigen. Das reichlich wehrhafte Opfer huschte derweil durch die sich öffnende Tür und verschwand auf dem völlig überfüllten Bahnsteig.
Niemand regte einen Finger, um dem Kerl zu helfen, der sich fiepend und um Luft ringend am Boden krümmte, nicht einmal seine Kumpels. Die Blicke der anderen Fahrgäste blieben glasig ins Nichts gerichtet. Trotzdem waren da unterdrückte Grinser in den Mundwinkeln versteckt. Jeder gönnte es ihm. Jeder!
Vier Stationen später verließ Eddy die Bahn, passierte den unvermeidlichen Geigenspieler auf dem Weg zurück ans Tageslicht, atmete möglichst flach in der Gestankswolke aus gerauchtem Gras, Erbrochenem, Urin und frittiertem Fast Food. New York! Jedes Mal, wenn er sich auf den Weg durch die Stadt machte, überkam ihn die Sehnsucht nach den Reportage-Einsätzen, damit er in irgendeinem Kaff heile Welten aufspüren konnte. Kaum hatte er ein solches Paradies auf Erden gefunden, das die Fieberträume der Konservativen zurück in die Fünfziger beamte, wo Frauen noch brave, stolze Familiensklavinnen und Männer axtschwingende Versorger und Beschützer waren – da sehnte er sich zurück nach New York.
Vermutlich gab es gar keinen Platz auf dieser Welt für ihn, wo er sich so wirklich zu Hause fühlen konnte …
eya, Sweety Pie!“ Ash strahlte über das ganze Gesicht, als er die Tür seiner Penthouse-Wohnung öffnete und Eddy begrüßte. Ashton Kirby war … Eine Kategorie für sich selbst. Ein schwuler Szene-Friseur, pardon, Hairstyle-Artist. Sohn unglaublich reicher und berühmter Eltern. Ein schillerndes Regenbogen-Einhorn mit extremen Depressions-Anfällen, die er mit einer Maske aus hochenergetischem Firlefanz überdeckte. Ein Mann, der eigentlich die leisen Töne liebte und schätzte, es sich nach eigenen Worten selbst aber nicht gestattete, aus Angst, man könnte ihn übersehen und vergessen. Eben weil seine Eltern reich und berühmt waren und er sein Leben damit zugebracht hatte, von gelangweilten Nannys umsorgt von ihnen vergessen zu werden, während die beiden auf roten Teppichen unterwegs waren. Solche Dinge erzählte Ash nur im volltrunkenen Zustand. Er war kaputt und laut und hatte das alles erstaunlich gut im Griff.
Was auch an seiner besseren Hälfte lag. Ash war mit Hilby Bones verheiratet, den jeder, Ash eingeschlossen, immer nur Bones rief, weil Hilby nun mal ein lächerlicher Name war. Seine Eltern waren Spät-Hippies, denen nach Rainbow – Bones‘ ältester Bruder –, Sunny – seine älteste Schwester –, Earthman, Firegirl und Windy nichts mehr eingefallen war. Der Legende zufolge war die Hausgeburt von Bones eine ziemlich wilde Party gewesen, bei der auch die Hebamme am Ende von den Dämpfen der Shisha-Pfeifen zu benebelt gewesen war, um ihren Job noch vernünftig erfüllen zu können. Im Anschluss hatte sie dann ihren Verstand soweit beisammen gehabt, um die Behörden zu verständigen.
Alle Kinder wurden aus der Familie rausgeholt und hatten die übliche Odyssee durch das marode System angetreten. Rund zwei Jahre später war es einer der Tanten mütterlicherseits gelungen, die Geschwister aufzuspüren und zu adoptieren, weswegen es ein Happy End gegeben hatte und Bones in recht geordneten Verhältnissen erwachsen werden durfte. Ein wenig sonderbar war er dennoch, was man ihm einfach zugestehen musste.
„Schätzelchen, was ist das schön, dich hier zu haben! Du bist quasi gar nicht unpünktlich!“ Ash verteilte Luftküsschen, während er Eddy mit den äußersten Fingerspitzen an den Schultern berührte. Er roch nach einem schweren, blumigen Parfüm und sah wie immer spektakulär aus.
Ein paillettenbesetzter, pinkschillernder Zylinder thronte auf seinem ketchuprot gefärbtem, als Undercut gestyltem Haar. Die Augenbrauen waren blau gefärbt, kleine Strasssteinchen funkelten darin. Sein gepflegter, kurz gehaltener Vollbart war platinweiß. Das Ganze stellte ziemlich sicher eine Hommage an die amerikanische Flagge dar, weshalb der pinkfarbene Zylinder vermutlich ebenfalls ein Statement darstellte. Etwas in der Art von: „Fuck you, Amerika, du bist genauso gay, wie du gar nicht sein willst!“
Na ja, irgendwie so ähnlich vielleicht.
Die Designerlatzhose, die Ash um die schmalen Hüften schlackerte, war quasi schlicht in schwarz gehalten, mit lediglich ein paar Glitzerapplikationen an den Knöpfen und natürlich mit den unvermeidlichen aufgerissenen Kniepartien. Am Hintern prangte ein lilafarbenes Glitzerherz, was man aber nur von hinten bemerken konnte. Über der Latzhose zog er sich gerade eine voluminöse Kochschürze in leuchtendem Türkis, auf der über zwei handaufgestickten gekreuzten Kochlöffeln der Schriftzug Ash&Bones prangte – selbstverständlich auch in violetten Glitzerpailletten.
Bones war gelernter Koch. Er arbeitete in einem Cateringservice der gehobenen Klasse, ein Job, den er selbstverständlich dank der guten Verbindungen seines Ehegatten erhalten hatte. Beliefert wurden Hochzeiten, Geburtstage, Taufen und ähnliche Feiern auf Sternenküchenniveau. Wer diesen Service bestellte, zahlte ohne mit der Wimper zu zucken einen hohen vierstelligen Betrag. Dafür gab es eben Trüffelmayonnaise und erlesene Meeresfrüchte, grünen Spargel in Champagnersauce und Topinamburpüree mit gehobelten, schwarzmarinierten Walnüssen statt Hähnchenkeulen und Corn Dogs. Sein Traum war das eigene Restaurant, ebenfalls sterngeschmückt.
Nebenher amüsierte Bones eine stetig wachsende Fangemeinde mit Masterclass-Kochkursen, die er online abhielt und dafür den edlen Produkten und Rezepten angepasst stark gehobene Preise verlangte.
Er verkleidete sich dabei wie ein viktorianischer Earl oder irgendwas ähnliches aus dem britischen Adel. Ash war wenig hilfreich beim Kochprozess, dafür enthusiastisch in seinen schillernden und ständig wechselnden Outfits, während er in der Küche herumsprang, dumme Fragen stellte, naschte, mit Bones flirtete … Daraus wurden Outtakes gemacht, die frei erhältlich waren und für einen stetigen Nachschub an Kochschülern sorgten. Nicht einmal, weil das Angebot so unglaublich originell war und auch nicht, weil ein Paradiesvogel wie Ash der Einzige war, den es in der Influencer-Szene gab. Sondern weil er und Bones authentisch waren. Sie nutzten ihre Rollen nicht bloß, um sich zu verkaufen, sie lebten sie tatsächlich aus. Sie mussten sich verkleiden und unsichtbare Masken tragen, um sie selbst sein zu können, so traurig das auch sein mochte.
Eddy hörte Bones erzählen, während er Ash durch die schicke Industrial Style-Penthousewohnung folgte, die so um die drei Millionen Dollar gekostet haben mochte – konservativ geschätzt.
„So, ihr lieben Mäuschen, dann schauen wir mal, ob unsere Schneckis hübsch durchgeschmurgelt sind. Ja, seht ihr, wie die Kräuterbutter jetzt schäumt? Genau jetzt sind sie absolut perfekt! Und die Farbe ist auch genau richtig. So, ihr Zuckerschnäuzchen, dann rühren wir mal schnell weiter an unserem Weinschaum-Sößchen. Wem das zu schnell gegangen ist, kann sich wie immer die Schritt-für-Schritt-Anleitung als PDF herunterladen, voll bebildert und wie üblich für diejenigen mit Masterclass-Zugang nur für 59,99 statt 249 Dollar! Wir akzeptieren sämtliche Karten und PayPal, ihr kennt das ja, ihr Herzchen. Ah! Da kommt Ash zurück. Lauft, Schneckis, lauft!“
Bones brachte mit breitem Lächeln die Pfännchen mit den überbackenen Weinbergschnecken in Sicherheit. Wie üblich sah er auch heute spektakulär aus: Rote Kniebundhosen, enganliegende, goldbestickte Weste, ein weißes Rüschenhemd, ein reich verzierter Gehrock mit Stickereien, Emblemen, goldenen Details, die allesamt gut durchdacht und zur Schau gestellt waren, vom Spitzentaschentuch, das aus der Westentasche hervorblitzte, bis zur goldenen Taschenuhr an der Kette, Manschettenknöpfe, Kragenbinde. Selbstverständlich war der hohe Zylinder, ohne den kein britischer Gentleman voll bekleidet wäre, und der gepflegte üppige Vollbart hatte ebenfalls zu viktorianischen Zeiten dazugehört.
„Unser heutiger Gast ist Eddy, ein kulinarisches Genie, der auch das kleinste Pfefferkorn zu viel aus dem großen Römerbräter herausschmeckt. Profijournalist, Meister der Worte, herausragender Fotograf und langjähriger Weggefährte. Dafür verzeihen wir ihm seinen bedauerlichen Mangel an Modegeschmack, den ich großzügig als klassisch-sportlich beschreiben würde. Er wird heute mit uns zusammen verkosten und sein Urteil fällen, wie uns das Menü gelungen ist. Ash, nimmst du wohl deine manikürten Giergriffel aus der Schokomousse!“ Er klapste Ash auf die Finger, der ihm dafür erst die Zunge rausstreckte, dann hinter ihn schritt, ihm einen Kuss in den Nacken drückte und dabei schneller als der Wind ein Stück Stremellachs mopste.
Derweil betrat Eddy die Küche, die mit jedem Schnickschnack und Schnösel, den man sich vorstellen konnte, ausgestattet war, und winkte fröhlich in die Kamera. Er wusste, es waren zwölf fremde Augenpaare auf ihn gerichtet, die er nicht sehen konnte. Vermutlich winkten die Leute ihm zurück. Er gab ungefähr einmal im Monat den Gastjuror in den Kochkursen, jedes Mal, wenn eine neue Masterclass startete, und das bereits seit über zwei Jahren. Darum kannte er den Drill und er störte sich auch nicht an den despektierlichen Kommentaren über seine eher blasse Erscheinung, die garantiert im Chat durchliefen.
Wenn Ash ein Paradiesvogel war und Bones immer noch mindestens ein Ara, dann war er wohl eine Saatkrähe. Er wusste es ja selbst und hatte sich bewusst dafür entschieden, seine Persönlichkeit gedämpft zu präsentieren. Dementsprechend trug er ein schwarzes Hemd auf blauer Jeans, schwarze Sneaker, keinerlei Schmuck, Tattoos, Piercings oder Make-up. Das dunkelbraune Haar war einfach nur kurz, mehr Frisur brauchte er nicht – egal, wie oft Ash ihm Zeitschriften und Bilder unter die Nase hielt, um ihn endlich aufzumotzen. Er wusste, seine Freunde hatten ihn dennoch lieb. Sie kannten sich seit dem College und hatten zu viel miteinander durchgemacht, als dass Äußerlichkeiten eine Rolle spielen würden.
„Eddy, Darling, erzähl den schönen Menschen da draußen an ihren Monitoren, was du denkst.“ Bones bedachte ihn mit Luftküsschen an den Wangen vorbei, bevor er ihn zurück frontal vor die Kamera schob und ihm einen erlesenen Porzellanteller mit winzigen Kostproben des fertiggestellten Menüs anreichte. Er hasste Weinbergschnecken, darum aß er davon bloß eine Löffelspitze, bevor er die von ihm erwartete geistreich-begeisterte Miene aufsetzte, tat, als würde er seine Geschmacksknospen bei der Arbeit bewundern, um dann eloquent über zarte Knoblauch- und Kräuteraromen zu dozieren, die den Gaumen parfümierten. Beim Fischgang lobte er die Leichtigkeit der intelligent eingesetzten Säuren, die für genau die richtigen Kontrastpunkte zum Wildlachsaroma sorgten. Auf diese Weise probierte er sich durch die Gänge, aß, redete, gestikulierte, tanzte spontan vor Freude ein paar Pirouetten mit Ash über den ersten und zweiten Miniaturnachtisch: Neben dem Champagner-Basilikum-Sorbet mit angeeisten Melonenperlen gab es noch ein Himbeer-Haferflocken-Crumble mit dünner Schokomousse-Schicht, Mandelkruste, Baiser-Krönchen und angeflämmten Zartbitterflocken. Das war der rustikalste und bodenständigste Teil des gesamten Essens und tatsächlich der Teil, der ihm am besten schmeckte.
Danach sagen sie zum Abschluss Arm in Arm die Hymne dieser Show, die Bones selbst gedichtet hatte. Da Ash einen bildschönen Tenor besaß und Bones eine gekonnte Stütze mit seinem Bariton bildete, brauchte Eddy lediglich brummelnde Basstöne zu liefern, um sich einzufügen. Er sang gerne, solange ihm niemand zuhörte. Also nie. In New York lauschte immer irgendjemand. Damit war der Kurs für heute beendet, die Kasse dürfte eifrig klingeln und alles war so, wie es sein sollte.
„Schätzchen, was ist los mit dir?“ Ash blickte Eddy auf diese Art an, als würde er über den Rand einer vergoldeten Professor-Brille schauen, obwohl er keine Brille trug. Sie saßen auf mit Fake-Kuhfell bespannten Designerstühlen, die erstaunlich bequem waren. Ash und Bones nippten an ihrem Prosecco, während Eddy eine Tasse Weihnachtspunsch-Tee genoss. Das war ihre übliche Art, eine abgeschlossene Masterclass-Kochreihe zu feiern.
Verwirrt setzte Eddy seine Tasse ab.
„Was meinst du?“, fragte er.
„Ich bin mir nicht sicher, Darling. Du wirkst so … leer. Wie ein angepikster Luftballon. Wusch! Keine Luft mehr drin. Alles schlaff. Also immer dann, wenn du denkst, keiner schaut dich an.“ Ash legte den Kopf zur Seite. Sein weich modulierter Gay-Singsang war noch intensiver als sonst und korrespondierte mit den Leuchteffekten, die die Designerlampen mit den Strasssteinen in Ashs Augenbrauen auslösten – es war grell und verstörend.
„Ich weiß immer noch nicht, wovon du sprichst“, murmelte er unbehaglich. „Ist doch alles wie immer! Oder hab ich vorhin nicht gut genug gesungen?“
„Eddy.“ Ash ließ alle Maskerade fallen. Kein weicher Singsang. Keine abgespreizten Finger. Kein Schätzchen, Darling, Spätzchen, sonstige -chen. In diesem Moment war er wieder der Junge aus reichem Hause, der im College wochenlang Nacht für Nacht in Eddys Bett gekrochen war, um an seiner Schulter zu weinen. Weil er plötzlich aus dem Klammergriff seiner Eltern befreit war und nicht wusste, was er mit dieser Freiheit anfangen sollte. Weil er überfordert von den grenzenlosen Möglichkeiten war. Weil er endlich seine schwule Persönlichkeit ausleben wollte und nicht wusste, wo er da überhaupt anfangen sollte. Weil er absolut gar keine Lust auf das Jurastudium hatte, zu dem sein Vater ihn gedrängt hatte, sondern lieber etwas Kreatives machen wollte. Auch dieser Junge hatte stets mühelos durch Eddys Maskerade schauen können. Wenn er tat, als wäre alles perfekt und sein Leben großartig, bestenfalls ein bisschen langweilig, dann wusste Ash es einfach besser.
Dementsprechend zuckte Eddy schuldbewusst unter diesem Röntgenblick zusammen. Er wusste, Ash hatte keinerlei Geduld mit solchen Selbstlügen.
„Ach, ich weiß es doch auch nicht!“, murmelte er, den Blick auf den Inhalt seiner Tasse gerichtet, als könnte das wässrige Rot ihm irgendwelche Antworten bieten. „Ich steh mir einfach nur selbst im Weg, glaube ich.“
„Lass es raus, Baby. Dann fühlst du dich besser“, sagte Bones und tätschelte ihm liebevoll den Arm.
„Es ist nur … Es ist … Keine Ahnung … Ich fühle mich, als würde ich im Moment auf der Zuschauerbank sitzen. Ich beobachte die Welt von meinem beschissenen Appartement aus, ich beobachte Menschen in der Straßenbahn und schreibe Kolumnen über ihr Leben, obwohl ich sie ja gar nicht kenne. Oder gerade weil ich sie gar nicht kennen kann. Ich liebe die Möglichkeiten der großen Stadt, nutze sie aber nicht, weil … Keine Ahnung. Hab keine Lust auf Theater und Musicals und keine Kohle fürs Shopping und Clubs sind mir viel zu anstrengend geworden, weil man mit dreißig nun mal nicht mehr so einfach die Nacht durchsaufen und -tanzen kann wie einst mit achtzehn. Ich hatte seit bestimmt zwei Jahren keinen guten Sex mehr, sondern immer nur Horror-Dates. Eigentlich will ich dringend Urlaub von all den Irren haben! Dann fahre ich quer durchs Land und interviewe irgendwelche Hinterwäldler über ihre heimbeschulten Kids und aus welchen Materialien sie sich ihre Schuhe selbst zimmern und denke mir: O Mann, was für Loser! Und dann wiederum bin ich total neidisch, weil ihr Leben viel ruhiger und erfüllter zu sein scheint. Ich will auch Ruhe und Erfüllung und weiß nicht wie das geht und ich will endlich mal wieder was Echtes fühlen und nicht bloß anderen zuschauen, die Spaß und tollen Sex und ein prima Leben haben und weiß immer noch nicht wie das geht und ich will einen anderen Job und weiß nicht welchen und ich will … Ich weiß doch auch nicht, was ich will!“ Leicht zittrig hielt er inne nach diesem Ausbruch. Die Worte waren regelrecht aus ihm herausexplodiert. Wo waren die denn jetzt so plötzlich hergekommen? Mit weit aufgerissenen Augen starrte er seine Freunde an, als könnten die ihm helfen, damit er nicht in seinem eigenen Trübsal ertrank.
Ash und Bones wechselten einen langen, bedeutsamen Blick, bevor sie ihn wie auf ein stilles Kommando ansahen und gleichzeitig: „Quarter Life Crisis!“ riefen.
„Ach kommt schon, Leute.“ Stöhnend schüttelte Eddy den Kopf. „Es ist doch nicht immer alles gleich eine große Existenzkrise, nur weil ich mal eine schlechte Phase habe!“
„Diese Phase hast du schon länger“, hielt Ash dagegen. „Und ja, es ist eindeutig eine Existenzkrise. Du bist unzufrieden mit deinem Leben und weißt nicht, wohin es mit dir gehen soll. An für sich ist alles da, du hast ein Dach über dem Kopf, einen vollen Kühlschrank, wunderbare Freunde, einen abwechslungsreichen Job, mit dem du dir das Land und die Leute anschauen kannst. Also entweder bist du hoffnungslos untervögelt, was ich nicht ausschließen will, oder du brauchst wirklich eine größere Veränderung und womöglich sogar eine komplette Neuausrichtung deines Lebenskompasses.“
„Untervögelt würde mir besser gefallen. Das ist leichter zu beheben“, murmelte Eddy und widerstand der Versuchung, sich die Hände vor das Gesicht zu pressen wie ein kleines Kind, das das Monster im Kleiderschrank nicht sehen wollte und sicher war, dass es ihn auf diese Weise auch nicht sehen konnte.
„Na siehst du, Schätzchen.“ Bones streichelte ihm liebevoll über den Kopf. „Das wird schon wieder, versprochen. Sollen wir dich nächstes Wochenende mit ins Blind Eye nehmen?“
Das Blind Eye war ein neuer, angesagter Gay Szeneclub. Modern, das Publikum teuer und erlesen, die Hinterzimmer schon zwei Monate nach Eröffnung berüchtigt.
„Da käme ich im Leben nicht rein.“ Eddy wies an sich herab. „In meinem Kleiderschrank gibt es nichts, was mich durch die Tür in die geheiligten Hallen bringen könnte.“
„Schätzchen.“ Ash schnalzte mitleidig mit der Zunge. „In meinem Kleiderschrank gibt es hunderte feine Sachen, mit denen ich dich selbst durch die sieben Kreise der Hölle bringen würde. Inklusive einiger spektakulärer Perücken aus Büffelbauchhaar, für die Lady Gaga dir ein Privatständchen singen könnte. Um das Eintrittsgeld mach dir keine Sorgen, du bist eingeladen. Und weißt du was? Wir warten nicht bis zum nächsten Wochenende, du kommst heute Abend mit! Wenn du morgen früh immer noch untervögelt sein solltest, dann fress ich den Yorkshire unserer Nachbarin zwei Etagen tiefer. Klar? Schätzchen, morgen früh weißt du mit Sicherheit, wo deine wahren Probleme liegen. Nichts lässt einen Mann klarer denken als ein gut gebohnertes Hintertürchen!“
Der Meinung war Eddy nun nicht unbedingt. Andererseits wollte er wirklich so gerne mal wieder guten, anständigen Sex haben, ohne dafür schreckliche und zumeist auch schrecklich peinliche Dates überstehen zu müssen. Einschlägige Apps zogen bei ihm leider ausschließlich Sugar Daddys an, in der Regel Mitte Vierzig aufwärts. Die Kontaktaufnahme sah jedes Mal gleich aus:
18.04: „Wow, du siehst geil aus! Ich will dich von oben bis unten ablecken und verwöhnen!“
18.09: „Was machst du so?“
18.14: „Was für Unterwäsche trägst du? Trägst du überhaupt welche?“ > Zwinkerzwonkersmiley
18.20: „Hallo? Halloooooo!“
18.21: „Willst du nicht mit mir reden?“
18.27: „Komm, du geiles Fickstück, lass uns Dirty Talk machen! Ruf mich an!“
18.31: > Ungefragtes Dick Pick, das Eddy daran erinnerte, Zucchini und Champignons auf die Einkaufsliste zu setzen.
19.52: „Falls du ein unartiger Junge bist, lege ich dich auch gerne übers Knie.“ > Zwinkerzwonkersmiley im Dreifachpack
Alternativ: Einladung zu einer Pornoseite, auf der jeder seine Sexvideos hochladen konnte.
Erstaunlich war die Anzahl von Profilfotos von mittelalten Männern, die in die Kamera grinsten und dabei einen anscheinend frisch gefangenen Fisch hochhielten. Das hatte vermutlich eine Aussage. Vermutlich über Länge und Umfang bestimmter Körperteile. Eddy wollte es gar nicht so genau wissen, deshalb verzichtete er darauf, diese Steilvorlage für eine weitere Kolumne auszunutzen.
Immerhin hatte er diverse Dates dafür ausgeschlachtet. Genau wie den Liebeskummer nach seinen letzten gescheiterten Beziehungen. Vielleicht hatte Ash ja recht. Vielleicht hatte er wirklich gerade eine Existenzkrise. Weil er untervögelt war. Weil er sich seit Jahren nicht mehr verliebt hatte. Weil er die Großstadt liebte, aber neidisch auf die Landeier war. Weil selbst die billigsten Motels auf dem Land bessere Wasserrohre und mehr Platz boten als sein völlig überteuertes Apartment. Weil er gerne durch die Haustür treten wollte, ohne um seinen Besitz, seinen Verstand und sein Leben fürchten zu müssen.
War ihm noch zu helfen? Vermutlich nicht. Immerhin ließ er zu, dass Ash ihn in seinen riesigen begehbaren Kleiderschrank zerrte und ihm fröhlich schnatternd pinkfarbene Perücken aufsetzte. Aus Büffelbauchhaar. Wäre er ein Nebendarsteller in einem Horrorfilm, würde ihn der wahnsinnige Kettensäge-Mörder schon im Prolog mit der abstrusen Maske in kleine, handliche Stückchen häckseln …
s war ein merkwürdiges Gefühl, nicht er selbst sein zu müssen.
Eddy betrachtete seine Silhouette im Schaufenster eines Getränkeshops, der neben dem Clubeingang lag. Sie warteten in der Schlange darauf, endlich ihre Chance zu bekommen, ob sie heute zu den Auserwählten gehören würden, die Eintritt ins Blind Eye erhielten. Für Ash und Bones gab es nicht den geringsten Zweifel, sie waren schon dutzende Male hier gewesen und wurden nach eigener Aussage mittlerweile mit Wangenküssen von den Türstehern begrüßt. Viele andere trotteten derweil abgewiesen und gedemütigt davon, nicht wenige davon waren mindestens genauso bunt und sexy gekleidet wie sie.
„Nach welchen Kriterien geht das hier?“, fragte er Ash ein wenig nervös.
„Das Gesamtpaket muss stimmen, Baby. Es reicht nicht, sich ein Glitzerjäckchen überzustreifen, ein wenig Kajal um die Augen zu schmieren und so zu tun, als wäre man damit schon eine Queen. Du erinnerst dich, was gleich dein Job ist, ja?“ Ash musterte ihn streng.
„Auf keinen Fall und unter gar keinen Umständen lächeln“, entgegnete Eddy brav – er und Bones hatten ihm das ja höchstens drei Dutzend Mal eingeprügelt. Mit Wattebäuschchen, versteht sich.
„Und warum nicht?“, hakte Ash immer noch sehr streng nach.
„Weil es arschkalt ist und eine echte Lady nun mal friert und es deshalb nichts zum Lächeln hier draußen gibt. Außerdem ist es stinklangweilig, ewig in der Schlange stehen und warten zu müssen.“
„So ist es. Du wirst problemlos durchkommen, Schätzchen. Schon weil du solch ein Kunstwerk geworden bist.“ Ash strich ihm bewundernd über die goldglitzernde Weste, über die Eddy ein Fake-Felljäckchen trug, das Hermelinpelz nachempfunden war. Die hautenge schwarze Lederhose quetschte seinen Hintern und noch edlere Teile so hart zusammen, dass man vermutlich Eisen darauf schmieden könnte, und die goldleuchtenden Stiefel mit dem Fellbesatz fügten sich nahtlos in das Gesamtoutfit ein. Make-up gab es kaum, sah man von Smokey Eyes und einem klitzekleinen Hauch goldglitzerndem Lidschatten ab. Dazu die goldfarbene Kurzhaarperücke – ob dafür Büffel rasiert werden mussten, war nicht explizit überliefert. Wer machte wohl solch einen Job? Also Büffel rasieren … War schon absurd.
Ash benötigte keine Perücke, sein eigenes Haar war spektakulär genug. Er hatte sich in eine weiße Netzstrumpfhose, tomatenrote Lederhotpans und einen roten, bauchfreien Flauschpulli gezwängt, womit er seinem aktuell angesagtem Farbschema treu blieb. Bones wiederum hatte den englischen Adelsmann abgelegt und versuchte sich an einer Latzhose Marke „all you can Regenbogen-Paillette“, kombiniert mit schwarzem Denim. Dazu handbestickte grüne Plateauschuhe mit Flamingomotiv und eine lachsfarbene Langhaarperücke, um seine Geheimratsecken zu verstecken. Er wirkte jung und flippig und versuchte nicht einmal zu überspielen, wie kalt ihm war. Sie froren schließlich alle in ihren viel zu dünnen, viel zu offenbarenden Partyklamotten.
Unmittelbar vor ihnen wurden drei junge Leute von den Türwächtern abgewiesen. Sie waren schrill und bunt aufgetakelt, wirkten dabei, als hätten sie Geld. Bei ihnen war sich Eddy eigentlich sicher gewesen, dass man ihnen Einlass gewähren würde.
„Möchtegerns!“ Ash schnaubte verächtlich. „Die sind im Leben nicht queer!“
„Warum sollten sie denn sonst in einen solchen Club gehen wollen?“, fragte Eddy verwirrt.
„Na, weil der Laden angesagt ist, und weil sie denken, sie könnten hier mal was ganz Abgefahrenes erleben, warum sonst?“ Bones schüttelte geringschätzig den Kopf. „Die haben einfach nur Langeweile, diese Idioten. Reiche Kids, die glauben, besser als der Rest der Welt zu sein.“
Zumindest waren sie sehr überzeugt, ungerecht behandelt zu werden, so wie sie schimpften und sich gegenseitig bestätigten, dass man sich solche Willkür nicht gefallen lassen musste.
Eddy wurde gerade bewusst, wie unglaublich lange er in keinem Club mehr gewesen war. Damals im College hatten Ash und Bones ihn häufiger mitgeschleppt. Aus eigenem Antrieb hingegen hatte er nie Lust gehabt, sich aufzubrezeln und Party machen zu gehen. Clubs, Alkohol, Dark Rooms, anonymer Sex … Gott, das war eigentlich alles überhaupt nicht sein Ding. Er war ja schon mit Gay Bars und Queeren Cafés überfordert, in denen man ihn wie Freiwild behandelte, sobald er dort als Single auftauchte. Natürlich mochte er Sex, und ja, er hatte auch schon One-Night-Stands gehabt und sich in Dark Rooms herumgedrückt. So mit Anfang zwanzig, als er noch mit Ash und Bones um die Häuser gezogen war. Mittlerweile bevorzugte er Dates mit Kerlen, von denen er wenigstens den Namen wusste, und er träumte eher von Romantik und langjährigen Beziehungen als einer Prostata-Intensivuntersuchung durch irgendeinen anonymen Muskelprotz, von dem er aufgrund der miesen Beleuchtung nicht einmal die Hautfarbe bestimmen konnte. Oder anders ausgedrückt: Was zur Hölle machte er gerade hier? Er gehörte auf seine mickrige Couch, die er bloß aus Platzmangel nicht mit einer Katze teilte, mit einem E-Reader in der Hand. Weil sein Appartement zu klein für Bücherregale war.
Bevor er panisch werden und fliehen konnte, hakten Ash und Bones ihn links und rechts unter und zerrten ihn nach vorn, denn sie waren jetzt die nächsten in der Reihe, die begutachtet werden sollten, ob sie den Eintritt ins Allerheiligste verdient hatten.
Die beiden Türsteher waren edel in weiße Smokings gekleidete Thor-Doppelgänger. Sie musterten sie kurz, bevor sie sich stumm vorbeugten und sowohl Ash als auch Bones mit Wangenküssen begrüßten – echten Küssen, nicht die Luftimitate.
„Wo wart ihr zwei Schnuckis denn die ganze Woche?“, fragte einer der beiden mit tief röhrendem Bass. „Und was habt ihr uns da Bezauberndes mitgebracht?“ Er begutachtete Eddy auf ähnliche Weise wie eine Platte mit Hähnchenschenkeln auf einem Geburtstagsbüffet.
„Arbeit, mein Hase, viel zu viel Arbeit, um Zeit für die schönen Dinge zu haben“, flötete Ash. „Das hier ist ein Liebchen von uns. Er braucht dringend Bewegung, darum haben wir ihn klargemacht.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob er bei uns reinpasst“, brummte der andere Superheldenverschnitt abschätzig.
„Ich kann dir versichern, Edward passt perfekt zu uns. Er ist halt noch ein bisschen schüchtern. Introvertiert. Sucht man sich ja auch nicht aus. Ein, zwei Cocktails, und er tanzt auf der Empore.“
Ob es nun an den despektierlichen Blicken oder der Nennung seines ungeliebten Vollnamens lag, Eddy hatte keine Lust mehr, dumm herumzustehen, während es in der Schlange hinter ihm unruhig wurde.
„Ash, Darling, sagtest du nicht, der Laden hätte Klasse?“, fragte er in seinem tuntigsten Nörgelton. „Mir ist hier draußen kalt an Stellen, über die ich nicht öffentlich diskutieren mag.“ Die beiden Kerle, die in jedem James Bond-Film die perfekten Bodyguards für den Hauptbösewicht mimen könnten, zuckten amüsiert.
„Bringt den Kleinen mal schön ins Warme, Jungs, und zeigt ihm, wie viel Klasse wir zu bieten haben“, sagte der erste Typ und trat beiseite, mit einem Zwinkern und überdeutlichem Interesse im Blick. Das wiederum war … nett. Eddy erinnerte sich nun, warum er früher eigentlich sehr gerne mit seinen Freunden losgezogen war. In der richtigen Gesellschaft konnte es definitiv nett sein, Aufmerksamkeit zu erregen. Begierlichkeiten zu wecken. Abgecheckt zu werden. Zu spüren, dass man attraktiv für jemanden sein konnte, der selbst so abgefahren gut aussehend war, dass man ihn für einen Halbgott halten könnte. Wow!
Seine Stimmung stieg schlagartig, während er Arm in Arm mit seinen besten Freunden den Club betrat. Wummernde Bässe empfingen sie. Das Licht im Vorraum, wo sich die Garderobe befand, blendete Eddy, weswegen er kurz die Augen schloss. Es war … grell … und es war laut …
… und es piepte.
Eddy riss verwirrt die Augen auf.
Er lag in einem Bett. Es war nicht sein Bett. Ihm war allerdings auch sofort klar, dass er keinen heißen Kerl neben sich zu suchen brauchte, denn über ihm schwebte eine Infusion mit Kochsalzlösung, rechts daneben ein Monitor, und die kalten Leuchtstoffröhren an der blankweißen Zimmerdecke fand man so auch nicht in einem Dark Room. Jedenfalls hoffte er das sehr. Vielleicht für Leute, die auf seltsame Doktorspielchen standen? Nein, das war Unsinn. In dem Fall würde er auf einem Gynäkologenstuhl sitzen und nicht mit einem weißen OP-Hemdchen in einem Krankenhausbett liegen. Was war denn passiert?
Er wandte den Kopf, als er eine weitere Lärmquelle identifizierte: beherztes Schnarchen. Neben dem Bett befand sich ein breiter Lehnstuhl. An für sich nicht breit oder bequem genug, dass zwei erwachsene, gut gebaute Kerle wie Bones und Ash sich dort gemeinsam reinfalten und sitzend einschlafen konnten. Irgendwie war ihnen das Kunststück dann aber doch gelungen. Ihre Köpfe lehnten gegeneinander. Bones‘ Perücke war verrutscht und hing halb über Ashs Stirn, was seltsam anrührend aussah. Sie trugen noch ihr Cluboutfit und wirkten darum völlig deplatziert in dieser sterilen Umgebung.
Eddy versuchte sich aufzusetzen. Es funktionierte problemlos, was schon einmal dagegensprach, dass ihm auf der Tanzfläche der Blinddarm geplatzt war. Halt, den hatte er ja mit dreizehn schon entfernt bekommen. Mitten in einem Footballmatch, zu dem sein Vater ihn geschleppt hatte, waren auf einmal die fürchterlichsten Schmerzen seines Lebens losgegangen. Sein Dad hatte ihm erst nicht geglaubt und gedacht, Eddy würde sich anstellen, weil er keine Lust auf das Spiel hatte, und er war sehr wütend deswegen geworden. Als Eddy dann allerdings heulend und anhaltend schreiend vom Stuhl gefallen war, wurde sogar das Spiel deswegen unterbrochen und die Sanitäter waren die Ränge hochgeeilt. Keine volle Stunde später lag er bereits auf dem OP-Tisch. Warum genau es keine vorherigen Symptome gegeben hatte, wusste niemand, jedenfalls war das vollkommen vereiterte Ding geplatzt und Eddy hatte vier Wochen im Krankenhaus zugebracht. Danach war sein Collegefond weg gewesen, den seine beiden Großelternpaare für ihn angelegt hatten, denn natürlich waren die Krankenhauskosten so hoch gewesen, dass seine nicht versicherte Familie andernfalls auf der Straße gelandet wäre.
Hm. Er versuchte sich zu fokussieren. Nichts tat ihm weh, sah man von diffusen Kopfschmerzen ab. Nach einer Alkoholvergiftung fühlte sich das nicht an. Ein bisschen schwindelig und flau war ihm, und recht müde. Merkwürdig war das alles. Wie waren sie vom Club denn hergekommen? Warum? Eddy strengte sich an, doch keine Erinnerungen wollten aufpoppen. Im einen Moment hatten sie das Blind Eye betreten, im nächsten war er hier aufgewacht. Und was störte da eigentlich an seiner Nase?
Sein Arm bewegte sich merkwürdig träge, als er ihn zum Gesicht hob. Dort fand er eine Sauerstoffsonde vor. Sobald er daran zog, begann der Monitor sofort zu fiepen, darum schob er sie erschrocken zurück, wodurch wieder die relative Ruhe einkehrte.
Ash und Bones schreckten trotzdem hoch.
„Na, schau mal an, wer aufgewacht ist! Guten Morgen, Schneewittchen!“, rief Ash mit einem breiten Lächeln, das noch etwas zerknittert und benommen ausfiel.
„Das war doch Dornröschen, die tausend Jahre geschlafen hat, oder?“, murmelte Bones. Auch er wirkte unangemessen erleichtert darüber, Eddy wach vorzufinden.
„Ich bin mir fast sicher, dass es nur hundert Jahre waren“, stieß er hervor. „Also bei Dornröschen. Bei mir hoffentlich bloß ein paar Minuten? Was ist los, wie komme ich hierher?“
„Erinnerst du dich an nichts?“, fragte Ash.
„Nein! Wir wollten doch in den Club gehen. Ich weiß, dass wir an den beiden sexy Türstehern vorbeigekommen sind, und danach – nichts mehr. Filmriss. Bin ich gestolpert und hab mir den Kopf angeschlagen?“
„O nein! Bärchen, das ist jetzt nicht wahr! Du hattest so, so viel Spaß! Es war eine Supernacht! Du hast getanzt wie ein Gott, Eddy. Bei einigen deiner Moves ist es selbst mir eng im Höschen geworden, dabei steh ich gar nicht auf dich!“, rief Ash entsetzt. „Du hast mindestens drei Stunden lang die Bühne gerockt und mit ungefähr zwanzig Kerlen geflirtet. Warte, wir haben ein paar kurze Shots von dir gefilmt …“ Ash fummelte nach seinem Handy.
„Es war wirklich geil“, fuhr Bones derweil fort. „Mann, was hatten wir Spaß! Du hattest ungefähr zehntausend Angebote, aber du wolltest lieber tanzen. Dann war es mal Zeit für ein Päuschen und wir sind an die Bar, um Cocktails zu schlürfen, wo du natürlich ebenfalls umschwärmt wurdest wie die letzte Sommerblüte vom Bienenschwarm.“
„Es war solch ein Glück, dass du die ganze Zeit bei uns geblieben bist, Eddy“, sagte Ash, der mit seinen manikürten, rot lackierten Nägeln über das Handydisplay fuhr. „Als dein Blick plötzlich glasig wurde und du anfingst zu lallen, obwohl du kaum die Hälfte von deinem schönen Fruchtcocktail getrunken hattest, war uns sofort klar, was los ist. Wir haben Zeter und Mord gebrüllt, und dann bist du uns zusammengeklappt, und wir durften netterweise im Krankenwagen mitfahren und hach, das war schon alles sehr aufregend … Schau, das bist du.“
Eddy nahm das Handy entgegen. Wummernde Bässe drangen aus dem Lautsprecher. Er stand auf einer weißen Empore in seinem Outfit, in dem er sich selbst kaum erkannte, und tanzte wie entfesselt mit einem Hüftschwung, bei dem ihm tatsächlich heiß wurde – vor Scham. Halleluja! War er wirklich dermaßen abgegangen, während hunderte Leute ihm zugeschaut hatten? Und seit wann hatte er solch einen Knackarsch? Klamotten machten definitiv einen Unterschied.
„Ich habe wirklich gar keine Erinnerung“, sagte er verwirrt.
„Seien Sie froh, dass das Ihr einziges Problem ist, Mr. Hayden“, erklang eine fremde weibliche Stimme. Eine Ärztin war unbemerkt in den Raum getreten und betrachtete ihn sehr ernst. Unwillkürlich fühlte Eddy sich schon wieder beschämt, so als hätte seine Mom ihn dabei erwischt, wie er etwas Unartiges tat. Himmel, wenn seine Eltern wüssten, wie er hier abgegangen war …
Eddy hatte keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. Seine Mom mit ihrer toxischen Borderline-Haltung, dass absolut jeder Schuld an ihrem Unglück trug, nur sie selbst nicht, das hatte er nicht mehr ertragen können. Die Vorwürfe seines Vaters, wieso er nicht endlich etwas aus seinem Leben machte, genauso wenig. Seine Homosexualität war tatsächlich bloß die Kirsche auf der Sahnetorte, der letzte Nagel im Sarg, in dem die Eltern-Kind-Beziehung beerdigt lag. Es hatte ihn zwei Jahre Therapie gekostet, diesen Schritt zu schaffen und mit seiner Familie zu brechen. Ob er jemals damit völlig ins Reine kommen würde, wusste er noch nicht, zurzeit fühlte sich gut an, es einfach zu ignorieren und zu genießen, dass er nicht mehr mit diesen Menschen telefonieren oder sie an den Feiertagen besuchen musste.
Die Ärztin sah allerdings seiner Mom ähnlich genug, dass er sich plötzlich wieder wie ein kleiner Junge fühlte, der sich zu Tode schämte. Er hörte in seiner Erinnerung die leise, verletzte Stimme:
„Eddy, ich habe dir doch hundert Mal gesagt, dass du den Müll mit rausnehmen sollst, bevor du zu Peter fährst, um da diese völlig sinnlosen Spiele zu zocken. Warum kannst du nicht diesen kleinen Part erfüllen, um den ich dich bitte? Du bist so verantwortungslos. Jetzt sitze ich hier und muss weinen, weil mein einziges Kind ausschließlich an sich selbst denkt. Keine zwei Minuten hätte es gedauert, mir den Kummer zu ersparen. Eddy, du tust mir weh mit deiner selbstsüchtigen Rücksichtslosigkeit. Willst du nicht wenigstens versuchen, es zukünftig besser zu machen?“
„Mr. Hayden“, sagte die Ärztin. Laut, streng und alles andere als verletzt, glücklicherweise. „Ich bin Dr. May und für Sie zuständig. Sie haben großes Glück gehabt, junger Mann. Wer immer Ihnen die K.O.-Tropfen in den Drink geschüttet hat, wollte es offenbar wissen. Laut Ihren Freunden haben Sie ja kaum an dem Cocktail genippt und Ihr Alkohollevel war tatsächlich fast bei Null. Trotzdem hatten Sie enorme Mengen Rohypnol im System und haben darauf mit einer sehr heftigen und unschönen Atemdepression reagiert. Das bedeutet, Sie haben eine Weile lang kaum noch selbstständig geatmet, weil das Medikament das entsprechende Zentrum im Gehirn zu stark gedämpft hat. Inzwischen sieht die Sauerstoffsättigung aber wieder fein aus und Sie sind auch wieder bei uns, hm?“
„Ich schätze, ja?“, murmelte Eddy kleinlaut.
„Das ist nicht deine Schuld, Hase“, sagte Ash und tätschelte ihm die Hand. „Irgendein bösartiger Dreckskerl wollte dein Nein nicht akzeptieren. Ich wünsche ihm Dauerdurchfall und geplatzte Hämorrhoiden! Und kein Toilettenpapier weit und breit.“
Die Mundwinkel der Ärztin zuckten amüsiert, während sie Werte vom Monitor auf ein Tablet eintipperte.
„Amen“, sagte sie. „Das dürfen meinetwegen alle Leute haben, die Roofies in Clubs verteilen. Schon weil sich darum dann meine Kollegen von der Proktologie kümmern müssten. So, Herr Hayden, gleich kommt noch die Kollegin von der Neurologie und testet kurz ein paar Reflexe, und danach könnten Sie meinetwegen in die Obhut Ihrer Freunde entlassen werden. Die Amnesie ist leider normal und wird sich vermutlich auch nicht beheben lassen, ansonsten sind Sie ja glücklich davongekommen. Melden Sie sich möglichst zeitnah bei einem Psychotherapeuten, würde ich anraten.“
„Wozu das?“, fragte Eddy verwirrt. „Es ist doch gar nichts passiert?“ Der Blick der Ärztin wurde erneut sehr streng, was ihn zum Schweigen brachte.
„Ein Fremder hat Sie vergiftet, mit der vermutlichen Absicht, Ihnen sexuelle Gewalt anzutun. Auch wenn ihm das nicht gelungen ist, Sie hätten heute Nacht durchaus sterben können. Das ist schon ein bisschen mehr als nichts, was Ihnen da passiert ist, ob Sie sich daran nun erinnern oder nicht. Verhalten Sie sich in den kommenden vierundzwanzig Stunden möglichst ruhig, bleiben Sie in Gesellschaft und sollten noch einmal Atembeschwerden, anhaltendes Erbrechen oder irgendwelche neurologischen Probleme auftreten, suchen Sie umgehend die Notaufnahme auf. Ah, Min-Jun.“ Eine weitere Ärztin betrat den Raum, eindeutig asiatischer Abstammung. „Bleibt es heute Nachmittag bei unserem Tennismatsch?“
„Ich habe Revanche verdient“, entgegnete die Neurologin, die sich beiläufig als Chung Min-Jun vorstellte. „Ich werde dich heute vernichten, Kristin!“ Mit dieser kriegerischen Ansage wandte sie sich Eddy zu, leuchtete ihm in die Augen, bearbeitete ihn mit einem Hämmerchen, um diverse Reflexe auszulösen, ließ ihn aufstehen und durch den Raum laufen, was in Flatterhemd und Netzhöschen eine ziemlich peinliche Angelegenheit war – zum Glück kannten Ash und Bones ihn in jeder Lebenslage. Nachdem er einige Übungen wie stillstehen mit geschlossenen Augen absolvieren musste, war sie zufrieden.
„Sie dürfen nach Hause, Mr. Hayden“, verkündete sie. „Und wenn ich einen Rat geben darf, trinken Sie in Zukunft nichts in dem Club, in dem Sie zuvor getanzt haben. In dem Gedränge an der Bar reicht es nicht einmal, das Glas die ganze Zeit festzuhalten, man hat Ihnen schneller etwas reingeschüttet, als Sie piepsen können. So. Kristin, Mrs. Smith-Collins von Zimmer 3 hat sich verschlechtert, wir müssen das Cortisol definitiv erhöhen.“
„Wir gehen rüber. Mr. Hayden, die Schwestern geben Ihnen gleich Ihre Papiere, die sind schon vorbereitet. Alles Gute!“
Die beiden Ärztinnen verließen gemeinsam den Raum, während Eddy bewusst wurde, dass er gleich in seinem Cluboutfit die Klinik würde verlassen müssen.
„Du bleibst heute bei uns“, sagte Ash streng. „Oder vielmehr bei Bones“, fuhr er mit einem Blick auf sein Handy fort. „Jesses, es ist schon halb acht. Um halb elf hab ich einen Termin mit Taylor, die sich die Spitzen nachschneiden lassen will. Die meisten anderen Kunden für heute kann ich sonst nach hinten schieben, aber Taylor … Hm. Sie hätte natürlich Verständnis, bloß überhaupt keine Zeit, sie würde sich einen anderen Stylisten suchen, und ob der oder die dann das richtige Händchen für Taylors sensible Haarstruktur hätte … Woah. Ja. Ihr Süßen, ich würde schon mal mit dem Taxi vorausfahren, damit ich mich selbst restaurieren kann. Kurz duschen, stylen, zwei, drei Caffé doppio, dann bin ich wieder einsatzfähig. Ich kann mich dem Mädel ja kaum widmen, wenn ich selbst wie ein verwesendes Mufflon stinke. Pass auf unseren Schatz auf, Bones, und natürlich auf dich selbst.“ Ash gab seinem Liebsten einen Kuss auf die Lippen, trat zu Eddy heran, hauchte ihm einen Kuss auf den Scheitel, drückte ihn kurz an sich und rauschte dann davon. Nach wie vor blumig nach Parfüm duftend und rundum spektakulär wie immer. Ob er mit „Mädel“ und „Taylor“ tatsächlich DIE Taylor meinte, an die Eddy gerade dachte, wollte er eigentlich gar nicht wissen. Ash hatte jedenfalls einige Superpromis in seiner Kundenliste, auszuschließen war da gar nichts.
„Ich fühle mich wirklich gut“, sagte er eine Viertelstunde später, als er in seinem hautengen Lederhöschen und der Perücke auf dem Kopf zusammen mit Bones zum Aufzug ging, die Papiere in den Händen und sich vollkommen bewusst, dass halb New York auf den Beinen war und sie beide anstarren konnte. Was tatsächlich kaum jemand tat, denn natürlich war man hier im Big Apple Kurioseres gewohnt als zwei aufgetakelte Schwuppen. Er schämte sich trotzdem und wusste beim besten Willen nicht so genau, wofür jetzt eigentlich. Vermutlich auch dafür, dass er zu blöd gewesen war, auf seinen Drink aufzupassen. Und dass er seinen Freunden so viel Kummer gemacht hatte. „Wirklich, mir geht es gut. Du kannst mich ruhig nach Hause bringen, ich komme total klar.“
„Vergiss es“, sagte Bones und kratzte sich gähnend am Bauch. „Du hast heute unsere Schlafcouch abonniert. Ich muss erst gegen Mittag zur Arbeit und werde das mit Ash koordinieren. Mein Chef weiß schon Bescheid, dass ich vermutlich ein bisschen später komme. Falls Ash nicht aus seinen Terminen rauskommt, melde ich mich heute krank. Ist auch kein Problem. Du bleibst jedenfalls nicht allein.“ Er starrte ihn müde an. „Sei froh, dass du dich an nichts erinnerst, Hase. Du wärst uns fast hops gegangen. Das waren sehr, sehr unschöne Stunden. Und nein, das ist nicht übertrieben und nein, das ist nicht zu viel Mühe. Du warst immer für uns da, Eddy. Immer. Egal wie oft Ash oder ich heulend zusammengebrochen sind, du warst da, um die Scherben aufzufegen. Du hast uns zusammengebracht. Uns geholfen, so zu werden, wie wir wirklich sein wollen, ohne uns zu schämen, ohne uns von unseren Familien, der Gesellschaft, irgendwelchen Konventionen zurückhalten zu lassen. Dass wir zwei heute erfolgreich und glücklich sind, verdanken wir ausschließlich dir. Das haben wir dir vielleicht nie so deutlich gesagt. Vergessen haben wir es nicht. Du bist nicht zu viel, Eddy. Wir sind für dich da. Wenn du uns brauchst, dann stehen wir hinter dir und geben, was immer wir haben. Okay?“
Eddy nickte bloß beklommen, weil ihm nichts einfiel, was er auf diese Ansage erwidern sollte. Es war vielleicht ein bisschen viel Pathos am frühen Morgen, in einer nach Desinfektions- und Putzmittel riechenden Aufzugskabine mit seltsamen Flecken auf dem Boden, über deren Ursache und Herkunft er wirklich nicht nachdenken wollte. Andererseits hatte sein Freund ihm in der Nacht zusehen müssen, wie er anscheinend beinahe erstickt wäre. Er sagte darum lieber nichts, drückte ihn bloß an sich. Weil er dankbar war, nicht allein sein zu müssen. Weil Bones einfach großartig war. Weil Eddy noch nicht herausgefunden hatte, wie er sich nun fühlen sollte damit, dass offenkundig irgendein Spinner geplant hatte, seinen bewusstlosen Körper zu vergewaltigen. Ein Spinner, der jetzt enttäuscht irgendwo in New York in seiner eigenen Wohnung hockte. Hoffentlich allein, weil er sich auch kein Ersatzopfer krallen konnte. Wenn man länger darüber nachdachte, wurde es einem ziemlich kalt, darum konzentrierte Eddy sich lieber auf andere Dinge. Zum Taxistand laufen etwa. Es war beschissen kalt und der Schneeregen in Kombination mit scharfen Windböen machte keinen Spaß.
Doch, er war froh, dass er solche tollen Freunde hatte. Froh, dass ihm nichts passiert war. Froh, dass er sich sehr bald aus dieser verdammten Hose rauspellen und seine gewohnte Jeans wieder anziehen durfte. Froh, weil Bones bei ihm war, der ihm garantiert ein grandioses Frühstück zusammenklöppeln würde.
Ihm ging es gut, nicht wahr? Auch wenn er sich an die beste Nacht der letzten zehn Jahre nicht erinnern konnte. Ihm ging es gut. Hoffentlich.
as Handy klingelte Eddy aus seinem Schlummer. Ein Blick auf das Display zeigte, dass es bereits 18.00 Uhr abends war – und dass es sich um seine Chefin handelte, die ihn anrief. Er wusste schon im Voraus, sie würde ihm mitteilen, wohin er als Nächstes reisen sollte. Unschlüssig, wie er darauf reagieren sollte, ließ er den Anruf durchklingeln, ohne ihn anzunehmen, sondern starrte bloß erschöpft auf das Display. Jedes Klingeln zerrte an seinen Nerven. Er wollte wirklich nur, dass es aufhörte und war so dankbar, als es endlich geschah. Sein Kopf war wie mit Watte ausgestopft und er fühlte sich völlig erschöpft. Als hätte ihn jemand mit einer Planierraupe überrollt.
Tatsächlich fiel es ihm jetzt deutlich schwerer, sich zu erinnern, was gestern und heute geschehen war. Die Fahrt zum Club, das Warten in der Schlange, das Erwachen in der Klinik, die Fahrt zurück zum Penthouse, das Frühstück mit Bones … Alles das waberte hinter Nebeln.
Er blickte auf, als er Bewegung spürte, Schritte hörte. Ash und Bones erschienen und setzten sich links und rechts neben ihn auf die Couch, die zur Schlafstatt ausgeklappt war.
„Hey, Schneckchen. Hier ist Kaffee.“ Ash reichte ihm einen neongelben Becher an. Schwarz, leicht gezuckert, so wie Eddy es mochte. „War das deine Chefredakteurin?“, fragte er und wies auf das Handy, das Eddy nach wie vor in den Händen hielt.
„Ja, Loona.“ Er seufzte leise und nahm einen großen Schluck von dem schwarzen Lebenselixier. Behaglich seufzend genoss er es, wie sich das Koffein durch seine Adern pflügte und den Nebel in seinem Hirn zersetzte. „Ich rufe gleich zurück. Gerade eben war ich noch nicht wach genug, mir meinen Nächstauftrag geben zu lassen.“
„Mach das auf jeden Fall. Eine Reise in irgendein verschneites Hinterwaldnest, wo du mit Idylle und Traditionen beworfen und deftig durchgefüttert wirst. Absolut widerwärtig. In deinem Fall das Beste, was dir passieren kann, hm?“ Bones klopfte ihm freundlich auf die Schulter und lächelte aufmunternd. Sie verzichteten beide darauf, ihn zu fragen, wie er sich fühlte. Allein dafür liebte er diese Jungs.
„Schau mal, ob du nicht über Weihnachten dableiben kannst, Schnäuzelchen“, sagte Ash. „Du bekommst ja doch jedes Jahr wieder melancholische Aussetzer, ob du dich nicht mit deinen alten Herrschaften versöhnen solltest. Alternativ bist du selbstverständlich herzlich zu unserer kleinen Party eingeladen.“
Die zwei veranstalteten alljährlich an Heiligabend eine Dinnerparty mit genügend Weihnachtszeug und Tand und Lampen, Kerzen, Lichterketten, um selbst den Time Square zu überstrahlen. Rund zwanzig bis dreißig Freunde und Bekannte, die auf Sterneniveau essen und an Champagner nippen und sich zu gedämpfter Musik, gespielt von einem eigens engagierten Starpianisten, über fröhliche Belanglosigkeiten unterhalten durften. Eddy war jedes Jahr eingeladen, nahm jedoch nie teil, weil er nicht das Gefühl hatte, in diese Runde hineinzupassen. Er wollte nicht diskutieren, darum lächelte und nickte er einfach nur.
„Na komm, ruf sie zurück“, sagte Bones. „Bring es hinter dich. Danach bestellen wir die fettigste Pizza von Manhattan, mit vierfachem Extrakäse und allem, was glücklich macht, knallen uns mit Popcorn auf die Couch und schauen Kevin allein zu Haus. Hm? Was sagst du?“
„Deal!“, rief Eddy sofort. Er empfand diesen Film als ein Verbrechen an der Menschheit und dem guten Geschmack, und würde ihn sich niemals allein anschauen. Zusammen mit Ash und Bones wurde daraus allerdings der größtmögliche Spaß, bei dem sie zu dritt vor Lachen brüllten und die Charaktere auf dem Bildschirm anfeuerten. Es war die gute Gesellschaft, die in diesem Fall den Spaß ausmachte.
„Hm – nichts gegen weiße Arschloch-Kids, die den Palast ihrer reichen Idioten-Eltern gegen verarmte Underdogs verteidigen, aber wollen wir nicht lieber Stirb langsam Teil 1 anschauen?“, fragte Ash. „Mir ist heute nach Bruce Willis, der barfuß durch Scherben rennt.“
„Was immer du willst, Schnurzelbärchen“, säuselte Bones und küsste ihn hart auf den Mund. „Solange wir uns nicht diesen unromantischen Episodenfilm anschauen müssen, den alle so unglaublich romantisch finden, nur weil eine achtzehnjährige Baby-Keira Knightley vom besten Kumpel ihres Mannes Liebeserklärungen auf einem Schild hingehalten bekommt, nachdem er sie vorher immer angepöbelt hat.“
„Ach komm. Das Pärchen, das sich nach dem Pornodreh zum Date verabredet, ist immer mein Highlight“, entgegnete Ash und schnappte mit den Zähnen nach Bones‘ Unterlippe, der sich hastig in Sicherheit brachte. „Baby-Keira ist zuckersüß. Und all die weißen alten Säcke, die sich in ihre Angestellten verknallen. Der Typ, der in England kein Mädel abbekommt und deshalb nach Amerika fliegt, wo ihm die heißesten Girls reihenweise ins Bett fallen, weil er diesen tollen Akzent hat, und seinem besten Kumpel direkt auch ein Ami-Mädel mitbringt … Komm schon, das ist prima!“
„Das Porno-Pärchen ist toll, yow. Aber nicht heute. Eddy, Darling, okay, wenn wir das Fernsehprogramm switchen?“, fragte Bones. Eddy nickte. Stirb langsam würde er sich sogar allein ansehen. Weil es nun keinen Grund mehr gab, es noch länger rauszuzögern, rief er Loona zurück.
„Eddy! Alles okay bei dir?“, fragte sie.
„Natürlich, bestens“, brummte er, weil jede andere Antwort lange und umständliche Erklärungen erfordern würde.
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