Change for desire - Sonja Amatis - E-Book

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Sonja Amatis

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Beschreibung

Kurzbeschreibung Dylan und Sam werden nach New York gerufen, wo ein Gestaltwandler tot aufgefunden wurde. Inmitten von Nicht-Wandlern zu ermitteln ist schwierig genug. Eine echte Herausforderung wird es, wenn man es in der Hauptstadt der Vorurteile gegen jeden, der anders ist, vollbringen muss. Eine Herausforderung bietet auch dieser Fall, bei dem nichts so ist, wie es scheint … Ca. 53.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 265 Seiten.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Kurzbeschreibung

Dylan und Sam werden nach New York gerufen, wo ein Gestaltwandler tot aufgefunden wurde. Inmitten von Nicht-Wandlern zu ermitteln ist schwierig genug. Eine echte Herausforderung wird es, wenn man es in der Hauptstadt der Vorurteile gegen jeden, der anders ist, vollbringen muss. Eine Herausforderung bietet auch dieser Fall, bei dem nichts so ist, wie es scheint …

 

Ca.  53.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 265 Seiten.

 

 

 

 

 

Für Julia.

Ich hoffe, du magst deinen Pinguinwandler …

 

Inhalt

 

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

 

 

Prolog

 

Jonas schnappte sich die Frisbeescheibe, kaum dass er zu Hause angekommen war. Schule! Konnte es eine schlimmere Erfindung geben, um unschuldige Kinder zu quälen? Heute war herrlichstes Wetter und er hatte den gesamten Vormittag in einem stickigen Raum verbringen müssen. Wer wusste schon, wie lange das Wetter noch gut bleiben würde? Der Herbst stand schließlich vor der Tür und alle Prognosen der Wetterfachleute besagten, dass die Ostküste auch dieses Jahr wieder mit einem extrem harten Winter rechnen musste.

Mrs. Theodore hatte Jonas mindestens einhundertsiebzig Mal ermahnt, weil er aus dem Fenster gestarrt hatte, statt brav seine Aufgaben zu erledigen. Pah! Aber jetzt, jetzt war er endlich frei. Der goldene Nachmittag lag vor ihm und er wollte ihn mit seinem besten Freund verbringen, wie jeden Tag.

„Diego!“, rief er. Der Jack Russel Terrier war auf den Tag genauso alt wie er selbst, nämlich elf Jahre, drei Monate und vierzehn Tage. Diego war noch fit wie ein Junghund, allerdings leider ein wenig taub. Wenn er tief genug schlief, verpasste er es deshalb, wenn Jonas zur Haustür hineinkam. Auf seinen Ruf hin kam er freudig kläffend angelaufen, sprang an Jonas‘ Beinen hoch und überschlug sich fast vor Eifer, als es ihm gelang, ihm das Frisbee aus der Hand zu rupfen.

„Ja, mein Dicker, gleich geht’s los!“ Jonas nahm seinen Rucksack von der Garderobe und eilte in die Küche. Seine Eltern waren seit Jahren geschieden und weil sein Dad lieber irgendwo in Kalifornien abgetaucht war, als Unterhalt für ihn zu bezahlen, musste seine Mutter zwei Jobs ableisten. Nur so konnte sie sich und Jonas durchbringen und das kleine Haus halten, das sie von ihrer Tante geerbt hatte. Es war schuldenfrei, lediglich die laufenden Kosten wie Strom, Wasser und Versicherungen zerrten am Budget. Da eine Mietwohnung hier in New York deutlich teurer wäre – genau genommen, quasi unerschwinglich in diesem Stadtbezirk – trieb sie sich täglich bis zum Äußersten.

„Wenn ich das irgendwann nicht mehr packen sollte, landen wir unter der Brücke“, sagte sie gelegentlich. Jonas war darum wild entschlossen, einen eigenen Job anzunehmen, sobald es ihm erlaubt war. Er wollte ebenfalls nicht aus diesem Haus weg und er mochte seine Umgebung. Früher – sehr, sehr viel früher – war die Bronx angeblich ein brandgefährliches Ghetto mit Bandenkriegen und täglichen Morden gewesen. In dieser Zeit war das schmale Häuschen erbaut und von seinen Besitzern liebevoll gepflegt worden. Heute war dies ein Nobelviertel für die wirklich reichen Leute und Jonas konnte eine ausgezeichnete öffentliche Schule besuchen. Zwar blickten die Nachbarn auf sie herab, weder er noch seine Mum hatten echte Freunde. Dafür war es ruhig, niemand belästigte sie und solange er höflich war, blieben die Leute auch nett zu ihm. Außerdem genügte es ihm, seinen Diego zu haben.

In der Küche warteten die Sandwiches, die er sich bereits heute Morgen für einen schnellen Aufbruch vorbereitet und eingepackt hatte. Gegen 18.00 Uhr würde er heimkehren müssen, um für sich und seine Mum ein Abendessen zu kochen. Erst danach wollte er sich um die Hausaufgaben kümmern. Rasch stopfte er das Essen, eine Flasche Saft und Leckerlis für seinen Hund in den Rucksack und rannte los.

„Komm, mein Dicker!“

Diego folgte ihm schwanzwedelnd auf dem Fuß, die Frisbeescheibe nach wie vor im Maul. Es waren keine zweihundert Meter bis zum Park, der vor ungefähr dreißig Jahren neu angelegt worden war, als man auch viele Bausünden aus der alten Zeit abgerissen hatte. Es gab große Rasenflächen, einen See, in dem man sogar baden durfte und dichte Baumgruppen. Ideal, um Verstecken zu spielen oder herumzuklettern. Jonas hatte eine Lieblingsecke, die ein wenig abseits der Wege lag. Man musste dafür über eine Absperrung klettern, denn eigentlich war der Zutritt verboten. Das lag an einem alten Abwasserkanal, der sowohl mit dem Bronx River als auch dem East River in Verbindung stand. Heutzutage führte er nur noch Regenwasser und es herrschte Absturzgefahr, weil die Betonwände porös waren. Zumindest wurde das von dem Warnschild behauptet. Jonas war schon mehr als einmal auf den Randsteinen balanciert und in den Kanal hineingeklettert, wenn ein Ball oder die Frisbeescheibe hineingefallen war. Passiert war ihm dabei nie etwas. Er mochte es hier, es gab mehr Enten, Wildgänse und Schwäne als am See, Regenwürmer, und einmal hatte er sogar eine Schlange entdeckt. Dank der Absperrung hatte er diesen Teil des Parks für sich allein, die Kinder der reichen Leute standen unter Daueraufsicht und konnten ihm diesen Platz nicht streitig machen. So war es ihm am liebsten. Auf keinen Fall wollte er einem der Idioten aus der Schule begegnen, die auf ihm herumhackten, weil er kein Geld für angesagte Klamotten hatte. Dafür interessierte sich seine Mutter wirklich für ihn und war immer da, wenn er sie brauchte.

Eine Weile amüsierten sich Jonas und Diego mit der Frisbeescheibe. Sein Hund war der ungeschlagene König darin, Geschosse aus der Luft zu fangen. Oft stellte er sich vor, dass sie als Wandlerjäger in die lebensgefährlichen Outbacks in der Mitte Amerikas loszogen. Natürlich kannte er Gestaltwandler ausschließlich durch Comics und aus dem Fernsehen. Erst gestern hatte er den Teil einer Rede irgendeines Politikers aufgeschnappt, dass Wandler absolut durchgeknallte Freaks waren und es in den Grenzbereichen täglich zu tödlichen Kämpfen kam. Der Mann forderte höhere Mauern und viel mehr Stacheldraht und vielleicht sogar Selbstschussanlagen. Jonas stellte sich vor, seine Frisbeescheibe wäre eine Superkillerwaffe, gefährlich nur für Wandler. Sie erzeugte einen für normale Menschen und Tiere unhörbaren Ton. Wandler hingegen, wenn sie sich in diesem verletzlichen Stadium zwischen Mensch und Tier befanden, hörten es und dann platzten ihre Köpfe. Einfach BUMM!

Zusammen mit Diego, dem weltbesten Spürhund, zog er durch den Dschungel, auf der Suche nach diesem unheiligen Gezücht, das wie eine Pestbeule die Erde überwucherte – so hatte der Politiker es beschrieben. Sobald Diego eines der Monster entdeckte, bellte er wie wild, damit Jonas zu ihm kam, es zur Wandlung zwang und erledigte. Genau wie jetzt gerade. Jonas rannte los, um zu sehen, warum sein Hund sich dermaßen aufführte. Dabei kämpfte er sich durch Unterholz und tiefhängende Zweige voran, was ideal zu seiner Dschungelfantasie passte. Mrs. Theodore behauptete hartnäckig, dass die Landschaft in den Wandlergebieten weniger Wald, viel Prärie und gar keinen Dschungel aufwies. Andererseits war sie noch nie selbst da gewesen und er konnte hier im Bronx Park besser einen Urwald als Prärie nachspielen. Ja, sobald er das Wandlermonster erreichte, das Diego gestellt hatte, würde er es mit seiner Frisbeescheibe erlösen und die Mädchen befreien, die das Biest als Abendsnack entführt hatte. Ganz wie Monster das halt zu tun pflegten. Kimberly Ashton war eines der Opfer. Die war sechzehn und Jonas‘ heimlicher Schwarm. Ihr Vater hatte ihr nämlich eine antike Vespa geschenkt. Natürlich würde ein richtig tolles Mädchen wie sie auf Knutscherei verzichten, sobald ihr heldenhafter Befreier sie aus den Monsterklauen gerissen hatte und ihn stattdessen auf ihrer Vespa fahren lassen.

Diegos Gebell wurde lauter, Jonas gab den Tagtraum auf, um besser auf die Umgebung achten zu können. Er durfte sich nach Belieben dreckig machen, Löcher hingegen waren ein Problem – seine Mutter hatte keine Zeit, Klamotten zu flicken und für neue gab es kein Geld. Bestimmt hatte Diego ein totes Tier aufgespürt. Vor einigen Wochen war es ein Reh gewesen, das sich im Gitter verfangen hatte, mit dem der Tunneleingang des Kanals an der Stelle abgedichtet war, wo er ein stückweit unterirdisch verlief. Jonas brach aus dem Unterholz hervor und gelangte an die Stelle, wo Diego sich heiser bellte. Er trat an den Rand und hob seine Frisbeescheibe.

„Nimm das, Wandlergezücht!“, rief er triumphierend – und erstarrte. Das war kein Reh. Die toten Augen, die ihn aus dem Tunnel heraus anklagend anstarrten, gehörten einem Mann. Ein Weißer mit kurzen, dunklen Haaren. Jonas beugte sich so tief herab, wie es der bröckelnde Rand der Kanalmauer erlaubte. Die Brust des Toten war regelrecht in Fetzen gerissen. Er sah eine Ratte, die sich aufgerichtet hatte und ihn misstrauisch anvisierte.

„Wahnsinn“, murmelte er kopfschüttelnd. „Den hat garantiert ein Wandler erwischt.“ Er nahm Diego auf den Arm und rannte zurück in Richtung Hauptweg, bis der Hund sich beruhigt hatte. Was sollte er jetzt tun? Als er nach kurzer Überlegung zu keinem Entschluss kam, wählte er die übliche Lösung für solche Momente der Ratlosigkeit: Er zückte sein Handy und rief seine Mum an.

Die befand sich gerade in der Wäscherei und war üblicherweise dankbar für eine Unterbrechung vom elenden Schuften. Das sagte sie zwar nie, aber sie hatte auch noch nie mit ihm geschimpft, wenn er sie störte.

„Hey Mum, ich bin’s“, rief er. „Diego hat eine gruselige Leiche im Park entdeckt. Also kein toter Vogel, da weiß ich ja, dass ich den nicht anfassen darf. Ist ein alter Mann, so wie du, was soll ich machen? Ach ja, ist es okay, wenn es Lasagne zum Abendessen gibt?“

 

 

 

Kapitel 1

 

Dylan atmete tief durch. Er wusste noch immer nicht, ob es eine gute Idee gewesen war, herzukommen. Dabei hatte er sich während der Fahrt sehr viel Zeit gelassen, um genau darüber nachzudenken. Noch konnte er zurück. Er musste nicht klingeln, nur weil er bereits vor der Tür stand. Brian und Erika waren Falkenwandler und besaßen weder überragendes Gehör noch Geruchssinn. Sicherlich hatten sie nichts von seiner Ankunft mitbekommen, andernfalls wären sie ja auch schon an der Tür, um ihn zu empfangen. Den Wagen hatte er einige hundert Meter abseits geparkt, damit sie ihn nicht hörten. Natürlich würden sie sich freuen, ihn zu sehen. Zumindest Erika, die mochte ihn gerne. Bei Brian gab es nach wie vor eine gewisse Rivalität, weil sie beide Sams Partner waren. Mittlerweile hatte sich das auf ein Level freundschaftlichen Anknurrens eingependelt.

Dylan raufte sich das sandfarbene Haar. Eine schwachsinnige Idee war das gewesen, basta! Sams Witterung konnte er nirgends wahrnehmen, warum sollte er auch hier sein? Abgesehen davon, dass Brian sein bester Freund und Kollege war und er ihm vermutlich telefonisch mitgeteilt hatte, wo er sich gerade aufhielt.

Sein Adler war fortgeflogen. Das lag nicht an Dylan oder dem Rudel. Es hatte keinen Streit gegeben und selbstverständlich würde Sam zu ihm zurückkehren. Dylan wusste es und es war lächerlich, dass ein Alpha-Gepard seinem Liebsten wie ein albernes Gänschen nachrannte. Mit hängendem Kopf und geballten Fäusten versuchte er, sich zu einer Entscheidung durchzuringen. Jetzt sofort. Bleiben oder gehen? Klingeln und sich der Lächerlichkeit preisgeben oder rechtzeitig davonmachen, um seinen Stolz zu retten?

Unsinnige Frage. Er würde sich endlich zusammenreißen, umdrehen und aufrecht zu seinem Wagen zurückmarschieren. So, wie es sich für einen Mann gehörte. Was war in ihn gefahren, dass er die einzig richtige Entscheidung nicht sofort erkannt hatte? Warum hatte ihn weder sein Rudel noch sein Team aufgehalten? Sie hatten ihn bei diesem Unterfangen sogar unterstützt. Jackson persönlich hatte die Genehmigung für die Grenzüberquerung ins Vogelwandlerterritorium eingeholt. Echte Freunde hätten ihm das ausgeredet, jawohl!

Andererseits konnte man problemlos ohne Stolz leben, mit schmerzendem Herz hingegen nicht. Wenn er nun noch herausfinden könnte, warum er weiterhin wie festgewachsen vor dieser Tür stand …

„Sag, wartest du auf eine himmlische Erscheinung oder hast du dort auf dem Boden etwas Interessantes entdeckt?“

Dylan stöhnte innerlich. Brian befand sich hinter ihm. Er war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass er die Ankunft des Falken nicht bemerkt hatte. Er wollte nicht verzagt über die Schulter blicken und umdrehen noch viel weniger, darum blieb er weiter wie erstarrt stehen, bohrte sich die Fingernägel in die Handflächen und biss sich gewaltsam auf die Unterlippe. Nichts sagen und warten, was geschah. Vielleicht löste Brian sich ja in Luft auf, wenn er ihn lange genug ignorierte?

Schritte im Kies. Brian kam ohne Hast zu ihm. Seine Witterung verriet eine Mischung aus Neugier, Sorge und Belustigung.

„Ich hab dich schon mindestens drei Tage früher erwartet“, sagte er und berührte Dylan kurz an der Schulter, während er an ihm vorbeischritt und die Haustür aufschloss.

„Komm rein. Erika freut sich, dich zu sehen und wir können dir helfen. Versprochen.“

Dylan nickte stumm und wischte sich sorgsam die Schuhe ab, bevor er das Haus betrat. Er hatte das unglückliche Babyjammern bereits von draußen gehört, allerdings größtenteils ausgeblendet. Nun traf ihn die geballte Unzufriedenheit eines winzigen Steinadlermädchens wie eine Keule und erinnerte ihn daran, dass für Eltern Glück und Horror dicht beieinander lagen. Wie gut, dass er wohl nie eigene Kinder haben würde …

Erika kam auf ihn zu. Sie hatte sich die kleine Melody mit einem Tuch vor den Bauch gebunden, ihre leibliche Tochter schlief selig. Das Quengeln von Emma, ihrer Adoptivschwester, störte sie dabei nicht im Geringsten. Erika trug das Mädchen im Arm, das erschöpft greinte und dabei versuchte, sich die gesamte Faust in den Mund zu stopfen. Brians Frau war blass, sie hatte tiefe Ringe unter den Augen und wirkte deutlich weniger energiegeladen und fröhlich als beim letzten Mal, als Dylan ihr begegnet war. Das war vor rund zwei Wochen, als die Familie aus Shonnam abgereist war; mitsamt Emma und den gültigen Papieren, die die Adoption perfekt gemacht hatten. Zwei Wochen … Ein Monat seit Moodys Tod. Der kranke Bastard, der Sam entführt, grausam gefoltert und dieses unschuldige Kind benutzt hatte, um Sam an Ausbruchsversuchen zu hindern. Alles das nur, weil Moody es auf Sid abgesehen hatte. Dylans Vetter, der ebenfalls ein Syndikatsboss war und dazu dienen sollte, Moodys Macht zu sichern. Letztendlich war es ihnen gemeinsam geglückt, den Luchs zu überlisten und genug Beweise für seine hinterhältigen Pläne zu sammeln, damit Sid ihn mit dem Segen der beiden anderen Syndikate hinrichten durfte.

„Wie schön, dass du da bist“, sagte Erika, drückte ihn mit einem Arm an sich und küsste ihn sogar auf die Wange. Für eine Vogelwandlerin war sie tatsächlich ungewöhnlich körperlich, die meisten ertrugen nicht einmal nebensächlichen Kontakt wie einen Klaps auf die Schulter. Auch Sam hatte sich erst einmal daran gewöhnen müssen. Sam …

Dylan wollte etwas Herzliches zur Begrüßung erwidern. Stattdessen hielt er plötzlich Klein-Emma im Arm, während Erika ihren Mann begrüßte. Anscheinend war der gerade von der Arbeit heimgekehrt, es war sechs Uhr abends. Kurz vor Abenddämmerung.

Emma musterte ihn ebenso verdutzt, wie Dylan sich fühlte. Er witterte das Unbehagen des kleinen Mädchens – und dann Erkenntnis. War sie nicht viel zu jung, um einen Mann wiederzuerkennen, den sie seit zwei Wochen nicht mehr gesehen hatte? Zudem verlor sie Unmengen Speichel und er witterte ihre starken Schmerzen im Mundbereich und leichtere Pein in sämtlichen Knochen, als würde sie mit ihrem ersten Zahn kämpfen. Bei Säugetierwandlern traf dieses Ereignis stets mit der ersten Verwandlung zusammen, also um den sechsten Lebensmonat herum. Die einen früher, die anderen später. Es war zu vermuten, dass dies bei Vogelwandlern ähnlich aussah.

„Hieß es nicht, sie wäre ungefähr drei Monate alt?“, fragte er verwirrt.

„Das habe ich dem Kinderarzt heute morgen auch gesagt“, erwiderte Erika, die ihn derweil ins Wohnzimmer lotste, wo er sich zumindest mit dem kleinen Bündel Unglück hinsetzen konnte. Brian bekam Melody in die Arme gedrückt, die weiterhin friedlich schlief. „Der Arzt meinte, dass sie in diesem albanischen Waisenhaus mangelernährt und schlecht behandelt worden sein muss, wodurch sie in ihrer Entwicklung stark zurückgeblieben ist. Von Größe, Gewicht, motorischen Fähigkeiten, Reflexe und so weiter hätte er sie ebenfalls auf drei Monate geschätzt. Doch sie arbeitet eindeutig an ihrer ersten Verwandlung.“

„Welch ein Glück, dass sie jetzt bei euch ist“, sagte Dylan und versuchte das gequälte Jammern und Zappeln des Kindes zu ignorieren. Genau wie den Gedanken, dass Moodys Wahnsinn zu etwas wirklich Gutem geführt hatte – nicht nur Emma war gerettet, Moody hatte das Waisenhaus mit viel Geld bestechen müssen, wodurch sich die Situation der anderen Kinder nachweislich zumindest kurzfristig verbessert hatte. Brian hatte entsprechende Nachforschungen angestrengt.

„Ich nehme sie gleich wieder, aber ich brauche mal für einen Moment Pause, okay?“, sagte Erika und verschwand in Richtung Küche.

„Oh, ist in Ordnung. Sie ist nicht das erste Baby, das ich halte.“ Dylan dachte an seinen kleinen Bruder zurück. Als Tyrell seine erste Verwandlung durchstehen musste, hatte er ihm beigestanden, und das in einem Alter, wo er nicht gewusst hatte, was da gerade geschah. Außerdem war Emma genau wie Melody offiziell Sams Patenkind. Ein wichtiger Job bei den Vogelwandlern, mit sehr viel Verantwortung. Weil Sam sein Partner war, machte das Dylan automatisch ebenfalls zum Patenonkel. Er hätte sich gerne aus der Sache rausgehalten, bis die Mädchen groß genug waren, um mit ihnen Kissenschlachten zu veranstalten, doch wie so meistens war das Leben kein Wunschkonzert.

„Du bist hier, weil du dir Sorgen um Sam machst, richtig?“, fragte Brian unvermittelt. Dylan nickte hilflos beschämt.

„Er ist völlig überraschend abgehauen“, erzählte er. „Am Abend vorher war alles in bester Ordnung. In der Nacht hatte er keine schlimmeren Albträume als sonst, ist lediglich einmal richtig aufgewacht und war Sekunden später schon wieder eingeschlafen. Beim Frühstück wurde er plötzlich unruhig, starrte die ganze Zeit aus dem Fenster und murmelte was von „Muss allein sein!“ und dass es ihm sehr leid tut. Einen flüchtigen Kuss später war er bloß noch ein Punkt am Himmel. Das war vor einer Woche.“

„Habt ihr je darüber geredet, wie er als Vogelwandler tickt?“, fragte Brian ruhig.

„Nicht wirklich. Er hat vom ersten Tag an gesagt, dass er gelegentlich eine Auszeit braucht und dabei komplett einsam sein muss. Solche Momente hat er sich häufiger genommen. Mal für zehn Minuten, mal ein halbes Stündchen, wo er sich an menschenleere Orte zurückgezogen hat. Ich dachte, das genügt ihm.“

„Für eine Weile reicht das, ja. Wir Vogelwandler, zumindest die Sorte, die nicht zu den Schwarmbildnern gehören, brauchen oft tage- und wochenlange Auszeiten. Wir sind in unserer Tierform weiter vom Menschen entfernt als Säugetierwandler. Das birgt riesiges Problempotential, wie du bereits mitbekommen hast – Autismus ist bei uns keine Krankheit, sondern eher Normalzustand, Psychopathie ist ein epidemisches Phänomen, viele sind flugunfähig, Suizidversuche quasi ansteckend … Mit den Ausflügen in die totale Isolation halten wir unser seelisches Gleichgewicht. Sam macht das normalerweise regelmäßig zwei Mal pro Jahr. Als ihr euch zum ersten Mal begegnet seid, lag sein letzter Trip bereits ein knappes halbes Jahr zurück. Sprich, er war wirklich überfällig.“

„Wer seinen Seelenpartner gefunden hat, verschwindet in der Regel nicht mehr so lange, meist nur zwei bis drei Tage statt mehrere Wochen am Stück“, sagte Erika, die Bierflaschen und eine Schale mit geröstetem Brot auf den Tisch stellte. Es folgte ein heißer Eintopf aus Mais, verschiedenen Gemüsesorten und Kidneybohnen, der angenehm gewürzt roch.

„Soll ich sie wieder übernehmen?“, fragte sie und streckte die Arme nach Emma aus.

„Lass nur.“ Dylan schnappte sich eine der Bierflaschen und nahm einen großen Schluck. „Ich hab bereits gegessen. Hau rein und genieße es, zwei Hände dafür frei zu haben. Vielleicht ist der Kampfzwerg danach vor Erschöpfung eingeschlafen?“

„Oh, sie hat Ausdauer.“ Erika lächelte dankbar und füllte Brian eine Schale mit dem Eintopf. Der balancierte seine schlafende Tochter geschickt auf den Beinen und begann, entspannt zu essen.

„Dass Sam jetzt bereits so lange weg ist, liegt das daran, dass er sich vorher zurückgenommen hat und dermaßen viel passiert ist? Oder hab ich vielleicht doch etwas falsch gemacht?“, fragte Dylan unsicher. „Hab ich ihn zu stark nach der Sache mit Moody beschützen wollen?“ Das war seine größte Sorge. Er wollte Sam am liebsten in Watte einpacken, damit ihm niemals mehr ein Leid widerfahren konnte, das war für einen starken Mann wie Sam garantiert nicht die richtige Behandlung.

„Es liegt nicht an dir, das kann ich dir versprechen“, erwiderte Brian entschieden. „Sam ist der Typ, der auf Höflichkeit pfeift und geradeheraus sagt, was ihn stört. Er hätte es dich auf jeden Fall wissen lassen.“

„Und wenn er Angst hätte, mich dadurch zu verscheuchen? Ich meine, ich kann mir zu hundert Prozent sicher sein, dass er immer und unter allen Umständen zu mir steht, treu ist und zurückkommt, egal was passiert. Umgekehrt hat er diese Sicherheit nicht.“ Das war der wahre Grund, warum er hergekommen war, wie er sehr genau wusste. Sam würde heimkehren, daran hegte er keine Zweifel. Er brauchte jemand, der ihm die Absolution erteilte und sagte, dass er keinen Fehler gemacht hatte. Wie jämmerlich er doch war!

Brian seufzte und schüttelte lächelnd den Kopf.

„Die Ehrlichkeit ist nichts, was Sam sich aussuchen könnte. Er kann die Klappe halten, klar, aber nicht für lange. Irgendwann platzt es aus ihm heraus. Glaub mir, er hätte es dir gesagt, wenn er sich zu sehr gegängelt, überbehütet oder entmündigt gefühlt hätte. Außerdem ist er ein Adler. Er hätte mehr Angst davor, dich in einer Beziehung zu halten, die dir nicht gut tut, als ohne dich leben zu müssen. Und zuguterletzt: Er hat mich angefunkt, als er abgehauen ist. Darum wissen wir überhaupt erst davon. Es gibt einen Code für jeden Vogelwandler, der solche Auszeiten genetisch benötigt: Wer in einem Arbeitsverhältnis steht, muss einer Vertrauensperson Bescheid geben und ein Codezeichen senden. Eine 1 steht für: Bin bald zurück, alles ist soweit in Ordnung. Eine 2 für: Es ist ernst, könnte länger dauern und eine 3 für: Es ist verdammt ernst, wahrscheinlich komme ich nie mehr zurück. Code 3 ist der Aufruf, sofort die Kavallerie loszuhetzen und den drohenden Selbstmord zu verhindern. Code 2 heißt, dass der Arbeitgeber entscheiden darf, ob er den Betreffenden bei sich behält oder feuern will, sollte er länger als drei Monate verschwinden. Bei Code 1 ist man verpflichtet, nach spätestens zwei Wochen zurückzukommen. Jede entsprechende Vogelwandlergattung hat einen eigenen Fond, der von Vertrauenspersonen verwaltet wird. Aus diesem Fond werden die Auszeiten bezahlt, das heißt, man bekommt weiterhin sein Geld und verliert auch keine Urlaubstage. Finanziert wird das vom Gehalt jedes Einzelnen, das wird automatisch wie Steuern abgezweigt. Ein System, das dazu führt, dass die meisten Leute es nicht als zusätzlichen Urlaub ausnutzen. Vor allem, weil das Geld nicht ausgezahlt wird, wenn man zu häufig und zu lange verschwindet. Klappt gut! Schwarmvögel haben andere Nachteile und eigene Systeme, um damit umzugehen.“

„Welchen Code hat Sam geschickt?“, fragte Dylan angespannt.

„Code 1. Ihm geht es gut, versprochen.“

Dylan stellte die Bierflasche ab und wischte sich müde mit der freien Hand über das Gesicht, während er mit der anderen die quengelnde Emma an sich drückte. Irgendetwas an diesem Gespräch oder vielleicht auch der Gesamtsituation fühlte sich surreal an.

„Ich brauche ihn“, stieß er gegen seinen Willen hervor. Ein Geständnis, das nie geplant gewesen war, nicht einmal vor sich selbst. „Mein ganzes Leben lang war ich daran gewöhnt, allein klar zu kommen und mich um meinen kleinen Bruder, Daniel, mein Rudel, mein Team und überhaupt jeden anderen zu kümmern, der Hilfe brauchte. Ich bin ein Anführer, der sagt, wo es langgeht. Das war gut, das war richtig, und wenn ich mal ins Straucheln kam, hat sich das gesamte Rudel schützend um mich geschart, bis ich wieder stark genug war, um meinen Job zu machen. Und dann kam Sammy. Ein Kerl, der sich nicht beschützen lässt. Der sich für andere aufopfert, aber kein Alpha ist – sonst hätte ich zwangsläufig gegen ihn gekämpft. Er hat mich nie herausgefordert, sondern eingeladen, ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Er unterwirft sich bedingungslos, wenn es sein muss, passt sich perfekt an – und plötzlich merkt man, dass man seinem Schritt folgt statt umgekehrt. Bei ihm darf ich schwach sein und zugleich stark bleiben. Ich kann ihm blind vertrauen … Er ist mein Partner, auf so vielen Ebenen. Ich brauche ihn, Brian. Es ist verdammt viel Scheiße passiert in der kurzen Zeit, seit ich ihn kenne, das hab ich noch lange nicht alles weggesteckt. Mein Rudel genügt nicht, um mich aufzufangen. Diesmal nicht. Sid, mein Vetter, ihr wisst schon, er hat etwas sehr Kluges gesagt. Er meinte: Vollkommen bedingungslos und mit unzerbrechlicher Treue geliebt zu werden, das verändert einen Menschen. Und ja, Sammy hat mich verändert. Ich brauche ihn.“

Dylan ließ nach diesem Ausbruch den Kopf nach hinten auf die Couchlehne sinken und schloss die Augen. Besser, er hielt jetzt die Klappe, bevor er sich noch einige dutzend Male mehr wiederholte. Emma wählte diesen Moment, um ebenfalls ihrer Erschöpfung nachzugeben und mitten im Quengelschrei einzuschlafen. Für etwa eine Minute herrschte vollkommene Stille. Dylan spürte die Blicke, mit denen Brian und Erika ihn betrachteten, er witterte ihre Sorge und Rührung und noch etwas anderes, das er nicht zuordnen konnte.

„Nun mach schon“, sagte Erika schließlich. Dylan schaute auf und sah, wie Brian sein Handy hervorkramte.

„Es gibt die Möglichkeit, denjenigen, der auf Auszeit ist, zurückzubeordern“, murmelte er. „Macht man nur in echten Notfällen. Jeder ist verpflichtet, sein Handy mitzunehmen und mehrmals täglich draufzuschauen. Wer sich nach einem solchen Notruf nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden meldet, verliert seine Ansprüche auf Lohnfortzahlung.“

Wie hypnotisiert starrte Dylan auf Brians Finger. Ein Knopfdruck und Sam würde zu ihm kommen … Himmel, was für eine verlockende Vorstellung! Dennoch winkte er abwehrend, als Brian ihn anblickte.

„Nein, warte, nicht!“, rief er hastig. „Es ist kein Notfall. Das ich Sehnsucht habe, gibt mir kein Recht, ihn aus seiner Meditation zu reißen, oder was immer es ist, was er gerade tut. Er kommt bestimmt in zwei, drei Tagen von allein angeflogen, ist dann vollständig entspannt und …“

Brian drückte auf eine Taste und lächelte schmal.

„Es ist ein Notfall, glaub mir. Das Alpha-Raubtier, das ich damals im Boister Club kennengelernt habe, hätte niemals zugegeben, irgendjemanden oder etwas so sehr zu brauchen, dass er nicht ohne Hilfe klar kommt. Sam hatte eine komplette Woche für sich. Wenn das nicht reicht, ändert ein weiterer Tag auch nichts.“ Mit flinken Fingern tippte er eine kurze Textnachricht, während Erika aufstand, um das Fenster zu öffnen.

„Sam benötigt garantiert keine vierundzwanzig Stunden“, sagte sie lächelnd und schnappte sich Melody, die gerade aufwachte und leise zu muckeln begann. „Bin Windeln wechseln und stillen. Nimm dir vom Essen, Dylan, ich hab mehr als genug übrig.“

Mit einem Nicken gab Dylan seine Zustimmung, weil er nicht wusste, wie er eine weitere Ablehnung höflich hätte begründen sollen. Außerdem duftete es wirklich gut und schlimmstenfalls würde er die gesamte Nacht hier sitzen und warten. Brian füllte ihm eine Schale mit Eintopf und übernahm Emma. Die Kleine war zum Glück erschöpft genug, um den Wechsel von einem Arm zum nächsten zu verschlafen. Dylan versuchte sich derweil zu entspannen. Er war froh und dankbar, hergekommen zu sein. Blieb die Sorge, dass Sam ihm diese Aktion übelnehmen könnte …

 

 

Kapitel 2

 

Samuel ging in den Sturzflug über, raste auf die blanken Felsen zu. Der Wind rauschte durch sein Gefieder und er fühlte sich lebendig und stark. In seiner Tiergestalt war vieles leichter zu ertragen. Es half, seine Sorgen zu verdrängen und alles aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Seit seiner Entführung war noch nicht genügend Zeit vergangen, um mit der gewohnten Leichtigkeit fliegen zu können. Moodys Leute hatten ihm die Nase und diverse Rippen gebrochen. Diese Wunden waren verheilt, dennoch arbeitete er noch an seiner Kraft und Ausdauer. Wenigstens konnte er dies mit Disziplin und Willensanstrengung in Ordnung bringen. Das, was sonst kaputt gegangen war …

Knapp über dem Boden breitete er seine gewaltigen Schwingen aus und stoppte den freien Fall, um sacht zu landen. Ein Blick in den Himmel verriet, dass er für heute Schluss machen sollte, bevor es zu dunkel für ihn wurde, um heil zu seiner kleinen Hütte zurückzukehren. Im Familienerbe der Targoutte-Steinadlersippe befand sich einiges an Landbesitz. Unter anderem gehörte Sam ein kleines Stück Wald hoch in den Bergen, mitsamt einer Hütte, die bereits sein Großvater genutzt hatte, um sich in unregelmäßigen Abständen in die Einsamkeit zurückzuziehen. Ein bisschen unwillig verwandelte sich Sam, obwohl er die einfache Klarheit als Adler gerne noch weiter genossen hätte. Sein erster Griff ging routinemäßig zum Handy, um zu kontrollieren, ob er Anrufe verpasst hatte. Ihn verfolgte sein schlechtes Gewissen, wenn er dem Trieb nachgab, alles und jeden im Stich zu lassen. Dieses Mal war es noch viel schlimmer als üblich. Brian und seine Arbeitskollegen wussten wenigstens, wie sein Verhalten zu verstehen war; genug von ihnen mussten sich einem ähnlichen Lebensrhythmus unterwerfen. Dylan hingegen …

Samuels Puls schnellte in die Höhe, als er das rote Lämpchen am Handy leuchten sah. Er hatte eine Nachricht! Hastig rief er sie auf und las:

Privater Notfall. Komm sofort zu meinem Haus. Brian.

O Gott, war etwas mit Erika oder den Kindern passiert? Er vertrödelte keine Zeit, verwandelte sich und flog los. Es würde noch etwa zwanzig Minuten lang hell genug sein, bevor das Fliegen für ihn schwierig bis unmöglich werden würde. Brians Haus war zwölf Kilometer in direkter Luftlinie entfernt. Wenn er Klauen und Schnabel zusammenkniff, Schmerzen und Erschöpfung ignorierte, günstige Abwinde nutzte und sich mächtig anstrengte, um auf der Ebene konstant hundert Stundenkilometer zu erreichen, war das leicht zu schaffen.

Mit kraftvollen Schlägen schraubte er sich in die Höhe. Gleichgültig, wie müde sein Körper nach dem langen Tag war, er würde sich durchzwingen. Zum Glück war der Himmel wolkenfrei, wodurch er ein oder zwei Minuten Tageslicht gewinnen würde. Zwar war seine Adlersicht bereits in der Dämmerung stark eingeschränkt, doch er wollte ja keine Kaninchenbabys im hohen Gras ausspähen, sondern lediglich geradeaus auf das Haus zufliegen.

Als das Heim seiner Freunde in Sicht kam, war er nahezu blind unterwegs. Zum Glück wohnten Brian und Erika isoliert, es gab keine anderen Häuser in unmittelbarer Nähe. Aus der Erinnerung an frühere Situationen dieser Art wusste er, welches Fenster für ihn offenstehen würde und fokussierte das helle Lichtviereck an entsprechender Stelle. Gellendes Babygeschrei schlug ihm entgegen. Kein hungriges Genörgel, keine kleinliche Unzufriedenheit, sondern das verzweifelte Gebrüll eines Kindes, das echte Schmerzen litt. Samuel segelte möglichst mittig durch das Fenster, streifte den Rahmen nur leicht und verwandelte sich sofort, sodass er in menschlicher Gestalt auf den Füßen landete. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich anzupassen. Brian und Erika kauerten am Boden. Auf einer dicken, flauschigen Decke befand sich Emma, die aus Leibeskräften schrie. Ihr Gesichtchen war beinahe violett, ihre kleinen Fäuste zitterten. Neben ihr lag ihre Schwester Melody und weinte leise mit. Bevor Samuel etwas sagen oder tun konnte, wurde er hinterrücks gepackt. Zeit zum Erschrecken blieb keine – Dylans Duft hüllte ihn ein und es waren seine vertrauten Hände, die Samuel umdrehten und an den schlanken, starken Körper seines Seelengefährten zogen.

„Dylan! Was ist los?“, fragte er nach etwa einer halben Minute Glückseligkeit, in der er nichts anderes hören oder sehen konnte. Was hatte er ihn vermisst!

„Emma probt ihre erste Verwandlung“, erwiderte Dylan und gab ihn mit spürbarem Widerstand frei.

„Jetzt schon?“ Stirnrunzelnd kniete Samuel neben dem kleinen Mädchen nieder und tastete nach ihrem Nacken.

---ENDE DER LESEPROBE---