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Ein Gay Romance-Sci-Fi-Krimi! Rush und Pax. Zwei Männer in einer postapokalyptischen Zukunftswelt. Der eine ist Zollbeamter am Raumhafen jenes Tores, das in ferne Galaxien führt – bislang allerdings nur, um dort unter schwierigsten Bedingungen zu schuften. Der andere ist Wissenschaftler an selbigem Ort. Die beiden verbindet nichts als ein schrecklicher Vorfall, darum gehen sie einander aus dem Weg. Bis zu dem Tag, an dem plötzlich ein Mörder sein Unwesen zu treiben beginnt … Warnung: Diese Geschichte enthält schwule Männer, aber wenig Sex. Dazu einen hohen Krimianteil. Außerdem Romantik in exakt jener Dosis, die viel zu hoch oder viel zu niedrig sein kann, je nach Erwartung. Es gibt Sci-Fi, doch nur begrenzt Techno-Gebabbel. Nicht zu verschweigen, es sind exakt null Raumschiffe und/oder Weltraumschlachten dabei. Dafür gibt es Aliens. Quietschesüße Aliens. Wer mit irgendetwas davon ein Problem hat, möge vom Kauf oder Ausleihe der Geschichte eventuell absehen. Ca. 90.000 Wörter Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ca. 460 Seiten Weniger lesen
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Ein Gay Romance-Sci-Fi-Krimi!
Rush und Pax.
Zwei Männer in einer postapokalyptischen Zukunftswelt.
Der eine ist Zollbeamter am Raumhafen jenes Tores, das in ferne Galaxien führt – bislang allerdings nur, um dort unter schwierigsten Bedingungen zu schuften.
Der andere ist Wissenschaftler an selbigem Ort.
Die beiden verbindet nichts als ein schrecklicher Vorfall, darum gehen sie einander aus dem Weg.
Bis zu dem Tag, an dem plötzlich ein Mörder sein Unwesen zu treiben beginnt …
Warnung: Diese Geschichte enthält schwule Männer, aber wenig Sex. Dazu einen hohen Krimianteil. Außerdem Romantik in exakt jener Dosis, die viel zu hoch oder viel zu niedrig sein kann, je nach Erwartung. Es gibt Sci-Fi, doch nur begrenzt Techno-Gebabbel. Nicht zu verschweigen, es sind exakt null Raumschiffe und/oder Weltraumschlachten dabei. Dafür gibt es Aliens. Quietschesüße Aliens. Wer mit irgendetwas davon ein Problem hat, möge vom Kauf oder Ausleihe der Geschichte eventuell absehen.
Ca. 90.000 Wörter
Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ca. 460 Seiten
Mörderische Spiele
von
Sonja Amatis
„Haben Sie etwas zu verzollen?“
Rush musterte routiniert die Neuankömmlinge. Minenarbeiter vom Asteroiden Felix 138. Felix war eines der ersten Programme gewesen, mit dem man den Segen des interstellaren Raum-Zeit-Reisens begonnen hatte auszuschöpfen. Was bedeutete, dass man Männer und Frauen auf Asteroiden aussetzte und sie unter Überlebenskuppeln mit künstlicher Schwerkraft einsperrte. Dort ging es ihnen soweit gut, bis sie unter extremsten vorstellbaren Bedingungen bezüglich Temperatur, Schwerkraft, Lichtverhältnisse und einiges mehr härteste körperliche Arbeit in Raumanzügen an der Oberfläche zu leisten hatten. Roboter konnten helfen, aber nicht alles abfangen, dafür waren die Arbeitsschritte zu komplex und erforderten oft Improvisationstalent und Anpassung an plötzlich auftretende Problemsituationen. Dementsprechend glücklich wirkten die verhärmt und sehr zäh aussehenden Männer, wieder daheim auf der Erde sein zu dürfen. Diese dreiundvierzig Arbeiter durften nun einen sechsmonatigen Urlaub auf der Erde genießen, bevor es zum nächsten Einsatz hinausging.
Selbstverständlich hatte Rush Mitleid mit den armen Kerlen, die Unvorstellbares leisten mussten, um Rohstoffe wie Edel- und Schwermetalle, Helium, Schwefel, Phosphor und andere Elemente abzuernten, die für den technischen Fortschritt benötigt wurden. Leider gab es unter diesen Arbeitern häufig Spezialisten, die sich für sehr schlau hielten und kleine Mengen der extrem wertvollen Ware durch das Zeitentor zu schmuggeln versuchten.
Ohne Mühe gelang es Rush, den Schlaufuchs der Truppe ausfindig zu machen. Ein hagerer, dunkelhaariger Bursche von ungefähr fünfundvierzig Jahren, mit imposanter Hakennase und Vollbart, der ein bisschen zu angestrengt in Richtung Boden starrte.
„Wenn Sie mir bitte folgen würden, mein Herr?“, fragte Rush höflich.
Der Hakennasen-Typ – laut Schriftzug auf seinem olivgrünen Arbeitsanzug hieß er Oro – ließ resigniert die Schultern sinken.
„Ich hab nichts Verbotenes bei mir“, erwiderte er mit einem gehetzten Flackern im Blick, der Ärger vorankündigte, sobald seine Kollegen nicht mehr dabei waren.
„Es gibt kein Problem, das ist reine Routine. Wir sind vom Gesetz angehalten, stets ein, zwei Leute herauszupicken, um stichprobenartige Kontrollen durchzuführen. Wenn Sie sich nichts haben zuschulden kommen lassen, müssen Sie rein gar nichts befürchten. Und bei kleineren Verstößen werden Sie als Ersttäter keine großen Schwierigkeiten erleiden.“ Bei wiederholten Straftaten oder schwerem Diebstahl wurden die Übeltäter von den Minenkonsortien gekündigt, darum dürfte Oro noch ein unbeschriebenes Blatt sein.
„Warum schikaniert ihr uns braven Leute?“, fragte ein kleiner Kerl mit extrem breiten Schultern, seltsam massiv und ausgeprägt wirkenden Gliedmaßen und tief grollender Stimme. Die Schwerkraftgeneratoren funktionierten nicht immer zuverlässig, vor allem, wenn die Anlagen aus den Anfangszeiten des Felix-Programms stammten. Auf dem Asteroiden, von dem diese Jungs kamen, war die Schwerkraft vermutlich etwas größer als auf der Erde. Während es den Kollegen jedes Gramm Fett vom Körper gezehrt hatte, unter solchen Bedingungen arbeiten zu müssen, war dieser Mann offenkundig von frühester Jugend an mit erhöhter Schwerkraft aufgewachsen, was den entsprechenden Effekt auf Muskeln und Knochen zeigte. Wahrscheinlich war er der Vorarbeiter und fühlte sich für Oro verantwortlich. Rush analysierte Körperhaltung und Mimik des kaum eineinhalb Meter großen Mannes und kam sofort zu dem Schluss, dass dieser ihm keinen Ärger machen würde. Sicherlich hatte er genug damit zu kämpfen, in der verringerten Schwerkraft das Gleichgewicht zu behalten und normal zu atmen – die Lungen waren an größeren Widerstand gewöhnt.
„Es ist keine Schikane, mein Herr“, erwiderte Rush darum geduldig. „Das ist reine Routine und Vorschrift. Bestimmt ist dies nicht Ihre erste Heimreise?“
Der Mann nickte grimmig, darum führte Rush Oro in einen der speziellen Untersuchungsräume. Den gewöhnlichen Körperscanner hatte er problemlos durchlaufen. Es gab Tricks, wie man metallisches Schmuggelgut und wertvolle Ware aus anderen Materialien vor dem Scanner abschirmen konnte. Die meisten von Rushs Kollegen mussten für die Leibesvisitation Handschuhe überstreifen und manuell abtasten. Je nachdem, wen man dabei vor sich hatte, wurde der Job zu zweit übernommen, um sich gegenseitig zu schützen. Kaum ein auf diese Weise drangsalierter Passagier behielt seine gute Laune und spätestens, wenn sie sich vollständig entkleiden und bei entsprechenden Verdachtsfällen von Ärzten invasiv durchsucht werden sollten, waren Proteste bis hin zu Handgreiflichkeiten an der Tagesordnung.
Rush gehörte zu den wenigen Glücklichen, die auf Hilfsmittel und Begleitschutz nicht angewiesen waren. Jedenfalls nicht auf menschlichen Begleitschutz.
„Sniffle!“, rief er leise, als sein Freund und wichtigster Mitarbeiter nicht sofort aus eigenem Antrieb zu ihm kam. Ein Zeichen dafür, dass er schlief – Sniffles liebste Tagesbeschäftigung. Ein Stück von der weiß gefliesten Wand des kargen und unglaublich deprimierenden Untersuchungsraumes löste sich und klatschte auf den Boden. Ein hohes Trillern ertönte. Dann nahm das weiße Fliesenfragment Form und Farbe an.
„Was zum Teufel ist das?“, rief Oro, hörbar zwischen Faszination und Entsetzen schwankend.
„Ein Wofflin. Haben Sie noch nie etwas von diesen kleinen Kerlchen gehört?“ Rush musste auf seine Stimme achten, damit sie keinen allzu liebevollen Ton annahm. Sniffle hatte sich in eine Art türkisblauen Ball mit hunderten zarter Beinchen verwandelt und krabbelte gerade in Höchstgeschwindigkeit an ihm hoch, um sich wie gewohnt in seine Halsbeuge zu schmiegen. Er wog kaum mehr als ein Wollknäuel und war rundum weich, warm und flauschig. Sanft gurrte ihm der Kleine ins Ohr, ein Zeichen, dass ihm die Gesellschaft unheimlich war und er Rush zur Vorsicht mahnte. Wofflins waren sehr treu und anhänglich, wenn sie sich erst einmal dazu entschieden hatten, sich an einen Menschen zu binden.
Oro starrte Sniffle wie eine göttliche Erscheinung an.
„Ich dachte, das sind Alienparasiten“, murmelte er. „Irgendwelche dämlichen Viecher, so was wie übergroße Kakerlaken, die sich an Raumfahrzeuge heften und beim Passieren des Zeitentors auf die Erde gelangen.“
Rush streichelte beruhigend über Sniffles Kopf – oben war da, wo sich die Augen befanden. Der Kleine hatte warnend zu zischeln begonnen.
„Das ist soweit korrekt, mein Herr. Wofflins hassen es allerdings, als Parasiten oder Kakerlaken bezeichnet zu werden. Sie verstehen die menschliche Sprache perfekt und sind mindestens so intelligent wie wir.“ Sniffle gurrte nun wieder, er stimmte ihm zu und war einigermaßen besänftigt. „In Kurzfassung: Wofflins können jede beliebige Form annehmen, allerdings dabei nicht wirklich ihre Größe verändern, abgesehen vom Ausstrecken der Gliedmaßen. Sie können also zum wilden Löwen werden, bleiben aber dabei etwa in Fußballgröße.“
„Ein ganzes Rudel von Mini-Löwen wäre tödlich“, wisperte Oro ängstlich.
„Sie sind strikte Einzelgänger, wenn nicht gerade Paarungszeit ist. Oder genauer gesagt, sie meiden ihre Artgenossen. Stattdessen suchen sie sich gerne menschliche Freunde. Warum, weiß niemand. Ihre Hilfsbereitschaft ist groß, ihre Riechfähigkeiten phantastisch. Sie können mindestens so gut schnüffeln wie Hunde. Da sie wie gesagt die menschliche Sprache mühelos verstehen, sind sie im Einsatz unseren einstigen vierbeinigen Freunden überlegen.“
„Sind … sind die nicht trotzdem irgendwie gefährlich?“, fragte Oro. Er schwitzte, sein Gesichtsausdruck verriet unverhohlene Angst und er starrte Sniffle an, als könnte der ihn jeden Moment anspringen und ihm das Hirn aussaugen.
„Bitte beruhigen Sie sich. Wofflins ernähren sich ausschließlich von Insekten. Fliegen sind ihre Leibspeise, gegen Maden haben sie nichts einzuwenden und fette Kakerlaken sind besondere Luxushäppchen. Sofern Sie nicht vorhaben, sich in einen Käfer zu verwandeln, haben Sie nichts weiter zu befürchten.“ Das galt für ihre Ernährung auf der Erde. Wovon sie sich auf ihrem Heimatplaneten ernährten und wo dieser lag, verrieten die Wofflins nicht. Genauso wenig wie irgendetwas anderes über ihre Herkunft, ihr Leben oder das Ausmaß ihrer geistigen Fähigkeiten.
Sniffle trällerte, vermutlich begeistert von der Vorstellung, über einen menschengroßen Käfer herfallen zu dürfen. Aus irgendeinem Grund trug das nicht zu Oros Entspannung bei, im Gegenteil. Rush seufzte innerlich und gab es auf, die Stimmung mit beruhigendem Smalltalk aufzulockern.
„Ich wiederhole nun meine Frage“, sagte er stattdessen. „Haben Sie etwas zu verzollen?“
Bleich und zittrig schüttelte Oro den Kopf. Die Reaktion ging weit über das hinaus, was bei Rohstoffschmuggel zur persönlichen Bereicherung zu erwarten war. Die zu befürchtenden Strafen waren bei Ersttätern gering. Die meisten Minensucher sahen es tatsächlich als Sport an, ob es ihnen gelang, den Zoll zu überlisten. Möglichst unauffällig betätigte Rush einen Knopf an seinem Organisator, den er am Handgelenk trug. Speziell für Wachpersonal, Polizei, Feuerwehr und Zoll gab es Organisatoren mit solchen seitlich angebrachten Knöpfen, die dafür sorgten, dass die lokale Sicherheitsstelle einen Warnruf erhielt. Dieses schaute dann über die nächstgelegene Überwachungskamera nach, ob tatsächlich Gefahr im Vollzug war und reagierte entsprechend. Rush konnte seinen Kunden nicht einschätzen, ihm gefiel die Situation immer weniger.
„Ich werde nun meinen Wofflin anweisen, Sie nach Materialien abzuschnüffeln, die dem Einreiseeinfuhrbeschränkungsgesetz von extraterrestrischen Waren und Inhaltsstoffen laut Paragraph 117, Abschnitt a-f, unterliegen. Diese Prozedur ist nicht invasiv, es findet kein Körperkontakt mit der außerirdischen Lebensform statt. Gemäß den Sicherheitsbestimmungen zur Verhinderung und Bekämpfung von Seuchen, Schmuggel, ethischen und anderweitigen Verbrechen, Paragraph 14, kann diese Untersuchung auch ohne Ihr Einverständnis durchgeführt werden.“ Routiniert rappelte Rush die gesetzliche Belehrung über Rechte und Pflichten eines jeden Erdenbürgers herunter, der das Zeitentor zur interstellaren Reise nutzte. Dann gab er Sniffle einen kleinen Schubs. Der Wofflin war gelangweilt von den ganzen Paragraphen eingeschlafen, die er schon tausende Male mit anhören musste und schnarchte ihm hauchleise ins Ohr. Die leichte Berührung genügte, dass er schnarrend wieder zu sich kam.
„Sniffle: Walte deines Amtes“, bat Rush. Um ehrlich zu sein: Entgegen seiner Worte waren wenige Wofflins auf diese Weise einsetzbar. Selbst wenn sie sich mit Polizisten oder Zollbeamten anfreundeten, neigten sie zur Faulheit und Unzuverlässigkeit, weil sie lieber schlafen oder Mücken nachjagen wollten, als Schmuggelwaren und Drogen auszuschnüffeln. Sniffle gehörte zu den rühmlichen Ausnahmen. Er hegte schiere Freude daran, Übeltäter zu entlarven. Darum ließ er sich auch diesmal nicht lange bitten, sondern glitt von Rushs Schulter hinab auf dessen Handrücken und wechselte dabei in seine natürliche Gestalt. Eine blässlich rosafarbene, tintenfischähnliche Gestalt mit vier dünnen Tentakelarmen und einem extrem langen Riechorgan in Rüsselform. Diesen Rüssel schwenkte er in Oros Richtung, wobei er leise und beruhigend summte. Das tat er normalerweise nur bei Kindern und alten Leuten, aber Oro befand sich in gerade noch beherrschter Panik und starrte den Wofflin an, als wäre er eine tödlich giftige Schlange.
Bereits nach wenigen Sekunden begann Sniffle zu fiepen – ein Warnlaut, vor dem sich Rush insgeheim gefürchtet hatte. Er bedeutete Sprengstoff. Sprengstoff!
Unverzüglich hämmerte er auf den Alarmknopf neben der Tür des Untersuchungsraumes und glitt mitsamt Sniffle hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ein Druck auf das Display des uhrengroßen Organisators, und ein Mikrofonstick fuhr aus, mit dem er ohne Umweg mit der Einsatzzentrale des Raumhafens kommunizieren konnte. Das Mikrofon war lediglich in den vollständig isolierten Spezialräumen notwendig.
„Schickt die Sprengstoffroboter in die achtundzwanzig!“, bellte er kurz angebunden. „Alarmstufe Rot!“
Die höchste Alarmstufe sorgte dafür, dass das Raumhafengelände versiegelt wurde, sodass niemand mehr rein- oder rausgelangen konnte. Das Zeitentor wurde geschlossen, an- und abreisende Passagiere mussten sich gedulden, bis die Krise überstanden war. Aktuell war glücklicherweise kein Transport im Gange.
Rush rannte aus dem Sicherheitsbereich hinaus, hinter ihm schloss sich eine schwere Stahltür, die die Untersuchungsräume vom übrigen Raumhafen abschirmten. Ein Blick auf ein Display zeigte, dass Oro das einzige Lebewesen im abgeschotteten Bereich war, keiner seiner Kollegen und keine Passagiere hatten die anderen Räumlichkeiten genutzt.
„Oro, bitte verhalten Sie sich vollkommen ruhig“, sagte er über einen Lautsprecher. „Setzen Sie sich hin und atmen Sie tief durch. Sie befinden sich in Gefahr, es wird gleich ein Roboterteam zu Ihnen gelangen, das Ihnen helfen wird. Kooperieren Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit.“ Wenn der Mann keine Dummheiten anstellte oder vor Angst einen Herzinfarkt erlitt, sollte in einer Viertelstunde alles gut sein. Im Moment musste er protokollgemäß davon ausgehen, dass der Arbeiter nicht einmal wusste, wie gefährlich die Materialien waren, die er transportierte, gleichgültig, dass dies unwahrscheinlich war.
Rush eilte zurück zu der Ansammlung von Minenarbeitern, die verstört zusammenstanden und auf das eruptierende Chaos aus heulenden Sirenen, roten Alarmleuchten, umherrennendes Sicherheitspersonal, rollende Roboter und kaum verständliche Lautsprecheransagen starrten. Er kam zum Halt, fing sich, schöpfte Atem und berührte seinen kleinen Gefährten.
„Sniffle, hat noch jemand Sprengstoff bei sich?“, fragte er.
Der Wofflin, der sich verängstigt in seinen Nacken geflüchtet und sowohl Textur als auch Farbe von Haut und Haaren angenommen hatte, kam trillernd und knurrend zum Vorschein, verwandelte sich, schnüffelte kurz und verschwand mit bissig klingendem Kollern, das Verneinung bedeutete.
„Was soll das bedeuten?“, rief der kleinwüchsige Vorarbeiter.
„Bei Ihrem Kollegen wurde Sprengstoff entdeckt, und zwar mehr als lediglich Spurenelemente von den Schürfarbeiten. Ich weiß, der Scanner hätte das anzeigen müssen, wir untersuchen noch, warum das nicht geschehen ist. Ich bitte Sie alle, möglichst ruhig den Ansagen der Sicherheitsbeamten zu folgen. Einer von ihnen wird sie zu einem Schutzraum begleiten. Bitte leisten Sie zu Ihrem eigenen Wohl keinen Widerstand und bleiben Sie dort, bis die Gefahr behoben ist.“ Er winkte Ellira heran, eine der Sicherheitsbeamtinnen, damit sie sich um diese Gruppe kümmerte. Im Hintergrund erscholl entsetzlich nervenzerfetzendes elektronisches Heulen, als zwei Meter dicke, titanbeschichtete Türen aus dem Boden hochfuhren und die Halle abschotteten, in der das Zeitentor stand.
Sniffle verfiel in völlige Starre. Er hatte seine Tarngestalt als Teil von Rushs Körper angenommen und umschlang ihn an Hals und Nacken. Das war der größtmögliche Liebebeweis, denn er nutzte seinen eigenen Leib, um Rush zu beschützen. Umherfliegende Trümmerteile, Messerklingen, selbst Kugeln konnte er abfangen, auch wenn er dabei sein eigenes Leben riskierte.
„Du bist der Beste“, murmelte Rush. Protokollgemäß wollte er die Ankunfts- und Aufenthaltshallen sowie Geschäfte und Servicebereich nach verirrten Passagieren absuchen, die im allgemeinen Chaos die Orientierung verloren hatten. Da erschütterte eine gewaltige Explosion das gesamte Gebäude. Rush ging im Reflex in die Knie und schützte seinen Kopf. Keine Trümmer flogen, doch die Alarmsirenen verstummten. Mit angehaltenem Atem verharrte er, lauschte in die seltsame, irreale Stille, die auf diesen Akt des Wahnsinns folgte. Sein Herz pumpte heftig genug, um fast durch die Rippen durchzubrechen, ihm wurde schwindelig, die Muskeln gaben nach. Eine körperliche Reaktion, die er nicht kontrollieren konnte. Es half zu wissen, was gerade mit ihm geschah, darum blieb er ruhig und konzentrierte sich auf das Atmen. Keine Verletzungen, ihm ging es gut. Gemeinsam mit jedem anderen in diesem Gebäude wartete er angespannt, ob ein zweiter Schlag erfolgen würde. Nicht einmal die Roboter bewegten ein einziges ihrer sensomotorischen Kugellager, genau wie es ihnen für diesen Ernstfall einprogrammiert worden war.
Eine Minute vertropfte wie zähflüssiger Honig. Keine zweite Explosion. Rush zählte zähneknirschend bis hundert, bevor er sich erhob. Langsam atmete er aus und wieder ein, dann kontaktierte er die Zentrale.
„Status“, sagte er. Anscheinend war er der Erste, der dies tat, denn die Antwort erfolgte umgehend.
„Untersuchungsraum achtundzwanzig ist blind, Rush. Kameras und Sensoren sind tot. Über eventuelle Opfer können wir nichts sagen. Das bestellte Sprengstoffspezialteam ist auf dem Weg, Catrish beendet gerade deren Stasisprogramm.“
Ausschließlich Roboter durften den Tatort betreten, wenn irgendwo etwas explodierte, das verlangte das Gesetz. Rush sah sich um. Zumindest rollten die Roboter wieder, während die Schutzräume für die Passagiere unter Verschluss blieben und die höchste Alarmstufe weiterhin beibehalten wurde, lediglich ohne Sirenengeheul. Bevor nicht zweifelsfrei feststand, dass keine zweite Explosion oder anderweitige Gefahren zu befürchten waren, würde man den Raumhafen unter Verschluss belassen. Er wich einer ganzen Gruppe dieser weißglänzenden Metallkugeln aus, die zur Reinigungsabteilung gehörten. Roboter konnten komplexe Aufgaben übernehmen, die für Menschen zu gefährlich, zu schwierig oder auch zu langweilig oder schmutzig waren.
Das Sicherheitspersonal schwärmte allmählich wieder aus und gab den übrigen Raumhafenmitarbeitern und vereinzelten Passagieren, die es noch nicht in einen der Schutzräume geschafft hatten, Anweisungen, wie sie sich verhalten mussten. Die Leute drängten sich verängstigt an den Wänden entlang und wirkten sichtlich schockiert von der Druckwelle und den Erschütterungen, die die Explosion begleitet hatten.
Es gab keine unmittelbare Aufgabe, um die Rush sich im Moment kümmern musste, darum marschierte er wild entschlossen zum Untersuchungszimmer achtundzwanzig. Er war es gewesen, der Oro dort zurückgelassen hatte. Rush musste wissen, ob es ein Unfall oder Suizid gewesen war, dass der Sprengstoff detonierte. Oder vielleicht sogar ein per Fernsteuerung ausgelöster Mord?
Die Herrschaften in der Zentrale würden ihm, einem einfachen Zollbeamten, keinen Zugang zu den Kameraaufzeichnungen geben. Falls er schnell genug vor Ort sein konnte, könnte er das entsprechende Video von außen auf seinen Organisator laden. Jede Kamera in diesen Räumlichkeiten besaß für genau solche Fälle einen externen Memorychip, der mit einem Sicherheitscode von außen zugänglich war. Wenn die Explosion schwer genug gewesen war, könnte allerdings auch dieser externe Chip zerstört worden sein.
Rush beeilte sich nach Kräften. Als er ankam, zerbarst seine Hoffnung wie eine Seifenblase. Die Stahltür des Untersuchungsraumes war nach außen gebogen, das Mauerwerk größtenteils eingestürzt und der halbe Gang mit winzigen Leichenfetzen und Schutt übersät. Zudem befanden sich ein Dutzend Roboter hier, die bereits mit den Untersuchungs- und Aufräumarbeiten begonnen hatten und keinen Menschen durchlassen würden, der nicht zu den Spezialkommandos der Raumhafenpolizei gehörte.
Von denen entdeckte Rush ebenfalls einige im Gang. Als sich ein Mann mit der Aufschrift „Einsatzleitung Raumhafenpolizei“ auf der schwarzen Uniformjacke umdrehte, grollte Rush innerlich vor Wut.
Lothar.
Ausgerechnet Lothar!
Der Kerl würde ihn jedenfalls nicht um der alten Zeiten willen mit in den Fall reinschnuppern lassen, wie er in irgendeinem Winkel seines dummen Gehirns noch gehofft hatte.
„Rush? Was willst du denn hier?“, knurrte Lothar und musterte ihn verächtlich. Dieser zwei Meter große blonde Hüne sah mit jedem Lebensjahr ein bisschen besser aus und wurde zugleich ein noch größeres Arschloch. Sprich, mit seinen fünfunddreißig Jahren hatte sich in beiderlei Hinsicht einiges zusammenmultipliziert, um ihn zum schönsten und unerträglichsten Dreckskerl der gesamten Raumhafenpolizei zu machen. Eventuell sogar der des ganzen Landes, aber da wollte sich Rush aus Mangel an Vergleichswerten nicht festlegen. Er selbst war zwei Jahre jünger, zwanzig Zentimeter kleiner, deutlich dunkelhaariger und auch sonst optisch kein Vergleich zu Lothar. Dass er sehr viel netter war, konnte er ohne Eitelkeit behaupten. Jeder war netter als diese Ratte. Sämtliche tollwütigen Kanalratten mit eingeschlossen.
Rush atmete tief durch, bevor er erwiderte:
„Ich habe den Toten in diesen Raum gesetzt. Demzufolge habe ich eine Aussage zu liefern, die ihr für die Untersuchung benötigt.“
„Die Zentrale hat mich bereits über jedes Detail informiert. Du hast ihn reingebracht, den Warnbutton gedrückt, von deiner Schnüffelnase Sprengstoff ermitteln lassen und bist rausgerannt. Ende der notwendigen und interessanten Informationen. Also geh weiter Gepäckstücke streicheln und Passagiere belästigen, du bist hier nicht erwünscht.“ Lothar wedelte in seine Richtung, als wolle er eine lästige Schmeißfliege verjagen.
Die anderen Ermittler betrachteten Rush mit variierenden Abstufungen von Mitleid und Verachtung. Jeder wusste, dass seine Aussage wichtig wäre. Dass er beschreiben müsste, was ihm an Oro aufgefallen war, warum er ihn herausgepickt hatte, wie er sein Verhalten interpretierte, welche Motive er spekulierte. Lothar schickte ihn aus purer Arroganz fort, Narzisst, der er war. Vielleicht hatte Rush es verdient, so behandelt zu werden, denn ja, es war seine eigene Arroganz gewesen, die zu … zu den damaligen Ereignissen geführt hatte. Zumindest war Arroganz ein Teil des Problems gewesen. Der Rest – darüber wollte er nicht nachdenken.
Steif drehte er sich um und marschierte davon, bevor er Lothar mit der Faust demonstrieren konnte, wie zärtlich er beim Gepäckstückstreicheln vorging. Sniffle legte eine blitzschnelle Teilwandlung hin, streckte einen furchterregenden Drachenkopf über Rushs Schulter und brüllte Lothar an, in einer Mischung aus Drohgebärde und tiefem, ehrlichem Hass. Wofflins waren grundsätzlich ehrlich und hielten ihre Gefühle nie zurück. Es war ihre bestechendste Eigenschaft. Der Drache sah genauso aus wie die Spielfigur, die Rush aus seiner Kindheit aufbewahrt hatte, während das Brüllen nach wütendem Löwen klang. Rush erhaschte einen befriedigenden Anblick, wie Lothar wachsam zurückschreckte. Leider konnte er es Sniffle nicht gleichtun, darum sah er zu, dass er möglichst schnell verschwand.
Oros Kollegen durfte er nicht befragen, obwohl alles in ihm darauf brannte, genau das zu tun. Seine Aufgabe bestand nun darin, das Raumfahrzeug zu untersuchen, mit dem die Minenarbeiter durch das Zeitentor gefahren waren. Perfekt, um noch ein wenig mehr Aggressionen und schlechte Laune aufzubauen, denn er würde zweifellos Hilfe benötigen … Er wusste, von wem.
„Hast du die Explosion so richtig mitbekommen, ja? In voller Lautstärke?“ Shrinar strahlte ihn an, als wäre der gewaltsame Tod eines Menschen Anlass für eine Party. Pax blickte vom Mikroskop hoch und betrachtete seine quirlige, noch sehr junge Kollegin mit Nachsicht. Shrinar war eine Praktikantin bei der Wissenschaftsabteilung des Raumhafens, sie hatte ihr Studium noch nicht beendet und würde sechs Wochen lang bei ihnen reinschnuppern. Ihr mochte sich die Tragödie, die dort geschehen war, tatsächlich nicht erschließen.
„Willst du mit Amanivar von der Zentrale flirten, ob du die Aufnahme vom großen Knall sehen darfst?“, fragte er. In erster Linie, damit sie ihn in Ruhe weiterarbeiten ließ und sich ein neues Ziel für ihre Begeisterung suchen konnte. Bei den Ermittlungen würden sie teilweise involviert werden, zumindest, wenn sich die Zusammensetzung des Sprengstoffs nicht ermitteln oder die DNA des Opfers nicht registriert sein sollte. Letzteres war praktisch ausgeschlossen, nicht registrierte Bürger erhielten keine Erlaubnis, durch das Zeitentor zu reisen. Der Sprengstoff hingegen … Sollte es eine nicht standardisierte Eigenmischung gewesen sein, wovon man ausgehen konnte, da er beim gewöhnlichen Scannen nicht aufgefallen war, würde einer von Pax’ Team hinzugerufen werden. Vermutlich Hilla, sie kannte sich auf diesem Gebiet am besten aus.
Die Roboter waren nun einmal nicht besser als die Scanner, sie konnten lediglich das eigenständig ermitteln, was sich in ihrer Datenbank befand. Ein bisschen lächerlich war das schon. Seit über vierzig Jahren konnte die Menschheit durch das halbe Universum reisen und dabei Raum und Zeit mit einem Wimpernschlag überbrücken. Ihre Roboter waren trotzdem nichts weiter als bewegungsfähige Maschinen, von echter künstlicher Intelligenz waren sie weiter entfernt als von der Andromedagalaxie.
Pax seufzte und blickte erneut durch das Mikroskop. Die Wissenschaftsabteilung des Raumhafens war eine extrem große staatliche Behörde, mit mehr Personal als Service und Sicherheitsabteilung zusammengenommen. Sie analysierten Gesteinsproben von sämtlichen Felix-Projekten, außerirdische Mikroben, die mit den Raumfahrzeugen eingeschleppt wurden, beurteilten den Wert der abgebauten Rohstoffe, betreuten und warteten das Zeitentor, entwickelten Materialien, um Gesundheit und Leben der Minenarbeiter zu beschützen, bauten Reisetore in neu erschlossenen Minen auf und vieles, vieles mehr.
Entgegen seines Namens reiste man mit dem Tor nicht wirklich durch die Zeit. Es errichtete stabile Wurmlöcher, mit denen man in Sekundenschnelle den Weltraum durchqueren konnte und dabei Entfernungen überbrückte, für die man selbst mit Lichtgeschwindigkeit tausende und abertausende Jahre unterwegs wäre. Die damaligen Entwickler hatten allerdings gewarnt, dass unter bestimmten Voraussetzungen tatsächlich eine Zeitreise in die Vergangenheit durchzuführen wäre. Die Folgen wären mit Sicherheit desaströs, selbst wenn derjenige, der so etwas wagte, sofort umkehren würde, ohne einen einzigen Fuß in die Vergangenheit zu setzen. Möglicherweise würden die kosmischen Kräfte, die dabei wirkten, bereits enorme Veränderungen herbeiführen und damit die Menschheit vernichten, die gesamte Zukunft stören oder die Erde explodieren lassen. Die notwendigen Voraussetzungen stellten zum Glück eine solche Hürde dar, dass ein Versehen ausgeschlossen werden konnte und selbst Absicht eher zum Scheitern verurteilt wäre.
Sein Organisator vibrierte, die Zentrale funkte ihn an. Mit einem entnervten Seufzen nahm er das Gespräch an.
„Pax, das Raumfahrzeug der Gruppe, aus der das Sprengstoffopfer stammt, muss von einem Wissenschaftler mit untersucht werden, für etwaige Partikelproben und so weiter. Devato sagte, das ist Ihr Spezialgebiet.“
Devato war seine Chefin. Beziehungsweise sein Chef. Sie fühlte sich nicht ausschließlich weiblich, deshalb hatte sie einen eher maskulinen Namen gewählt. Wenn sie ihre femininen Phasen hatte, erschien sie mit Lippenstift und lackierten Nägeln auf der Arbeit und ließ sich von ihren Freunden mit „Diva“ ansprechen. Zickig war sie glücklicherweise nicht, gerade in diesen Phasen gab sie sich äußerst einfühlsam und harmoniebedürftig.
„Welcher Zollbeamte ist vor Ort?“, fragte er, versiegelte seine Petrischalen und setzte den Computer in den Ruhemodus.
„Rush.“ Der Mitarbeiter in der Zentrale beendete das Gespräch, während Pax noch ungläubig auf den Organisator starrte. Die erwarteten doch jetzt nicht wirklich, dass ausgerechnet er … Mit ausgerechnet … Rush? Das musste ein dämlicher Witz sein!
Rush stöhnte innerlich, als die vertraute Gestalt an der Tür des Raumfahrzeugs auftauchte. Lockiges dunkles, ohrläppchenlanges Haar, nahezu schwarze Augen und ein hellbrauner Hautton zeichneten Pax als Mann mit südländischen Wurzeln aus und hoben ihn von den üblicherweise eher blassen Typen ab, die hier sonst zu finden waren. Soweit er gehört hatte, stammten Pax’ Vorfahren aus dem Gebiet des ehemaligen Italiens. Vor etwas mehr als sechzig Jahren hatten alle einstigen Länder ihren Einzelstatus aufgegeben und sich zu einem vereinigten Europa zusammengeschlossen. Das große Unglück, es hatte es unumgänglich gemacht …
Der Raumhafen befand sich im früheren Norwegen. Die alten Identitäten und Grenzen wichen nicht aus den Köpfen. Viele Menschen liebten es, sich mit der Geschichte von damals zu beschäftigen und einige landestypische Traditionen waren nicht totzukriegen.
Diese Aussage traf auch auf Pax zu. Gleichgültig, wie oft Rush ihm bereits die Beulenpest an den Hals gewünscht hatte, er blieb penetrant lebendig und weigerte sich hartnäckig zu kooperieren.
„Mit diesem Raumfahrzeug ist der Tote durch das Tor gekommen?“, erkundigte sich Pax sachlich, sobald er die Stufen hinaufgeklettert und am Fahrersitz vorbeimarschiert war. Der enge Gang bot kaum genügend Platz für sie beide. Wie hassenswert! Sie würden sich eventuell sogar berühren. Rush wich zurück, bemüht, keinen der abgewetzten grauledernden Sitze zu streifen, damit er nicht versehentlich Spuren zerstörte.
„Ja, aus diesem Grund bist du hier“, erwiderte er ebenso sachlich. „Um deiner nächsten Frage zuvorzukommen: Dieses Gefährt untersteht laut Tatortprotokoll weiterhin dem Zoll und nicht der Polizei, weil die Torscanner keinen Sprengstoff entdeckt hatten und dieser Transporter deshalb als irrelevant für die Todesfallermittlung angesehen wird. Was natürlich Schwachsinn ist, denn die Scanner hatten auch bei dem Toten versagt. Ich schreibe die Protokolle nicht, darum haben wir beide das Unvergnügen.“
„Ich bin auf- und niedergerissen vor Entzücken.“ Pax hob brummend seinen Ausrüstungskoffer, ohne darauf einzugehen, wie gut er das Protokoll selbst kannte. Rush wollte sichergehen, dass die Laborratte ihn nicht mit Spitzfindigkeiten zu dem leidigen Zuständigkeitsthema ärgerte. Es war ein Punkt, der tagtäglich am Raumhafen auftrat; die natürliche Folge, wenn so viele unterschiedliche Behörden an einem Ort zusammenarbeiten mussten.
„Rush? Weise mir den Weg. Wo hat der Mann gesessen?“
Schnell rief er über den Organisator – die Jugend nannte dieses absolut unentbehrliche Gerät flapsig Tor 214, da es die zweihundertvierzehnte Generation von Organisatoren war – die Sitzordnung auf, die von der Reisegruppe vor der Nutzung des Zeitentors übermittelt werden musste und nicht geändert werden durfte. Dann wies er auf den entsprechenden Platz in der vorletzten Reihe. Um Körperkontakt mit Pax zu vermeiden, rutschte er hastig auf den Sitz, neben dem er sich gerade befand, und machte ihm auf diese Weise Platz. Es wurde lediglich mit einer hochgezogenen Augenbraue kommentiert, obwohl er damit schlimmstenfalls Beweise zerstörte.
„Ist dein Wofflin in Laune, mir zu helfen? Wenn er bestätigen kann, dass der Tote dort gesessen hat, erspare ich uns beiden den DNA-Test, was fünf Minuten weniger Qualen ausmachen würde.“ Wie üblich gab sich Pax beherrscht, äußerst höflich, unterkühlt und leidenschaftslos, wenn sie friedlich zusammenarbeiten mussten. Rush wusste, dass man bei diesem Kerl nur an der richtigen Stelle triggern musste, dann explodierte er förmlich mit seinem überschäumenden Temperament, von dem man gerade nichts spüren konnte. Manchmal nutzte er das aus. Heute war er nicht in Stimmung. Ein toter Passagier konnte einem nachdrücklich den Tag vermiesen.
„Sniffle?“, fragte er darum und gab dem Kleinen, der über seiner Schulter hing, sich als Teil der Uniform tarnte und selig schlummerte, einen sanften Stups. Verschlafenes Fiepen bezeugte, dass Sniffle davon nicht begeistert war.
Einen Moment später hatte der Wofflin Pax gewittert. Sofort verwandelte er sich, nahm die Form eines körperlosen menschlichen Gesichts an und streckte Pax prustend die Zunge heraus.
„Freut mich auch, dich zu sehen“, knurrte dieser augenrollend. Es klang leicht genervt. Solange sich beide auf dieser Ebene bewegten, war alles so weit in Ordnung. Es hatte schon weitaus drastischere Begegnungen gegeben.
Mit kurzen Worten erklärte Rush seinem Gefährten, was er tun sollte, um zu helfen. Die Antwort war eine lange Abfolge von hochfrequenten Pfeiftönen, die keineswegs als freundliche Schmeicheleien in Pax’ Richtung gedacht waren. Am Ende verwandelte sich Sniffle brav und schnupperte am fraglichen Sitz.
„Er sagt, dass Oro dort gesessen hat“, übersetzte Rush das raue Trillern und Schnauben. „Er wittert hier keinen versteckten Sprengstoff.“
„Gibt es denn wenigstens Restspuren? Eine Probe, die noch nicht von der Explosion beeinträchtigt würde, könnte die Untersuchung weiterbringen.“
Sniffle katapultierte sich kraftvoll durch die Luft – Wofflins konnten in ihrer natürlichen Gestalt mehrere Meter weit springen. Er landete auf dem Nachbarsitz, schön weit von Pax entfernt, und schnatterte übellaunig vor sich hin.
„Er meint, du solltest diesen Job besser selbst machen, schließlich wirst du dafür bezahlt“, dolmetschte Rush und kämpfte hart darum, bloß nicht zu feixen. Pax warf ihm einen stechenden Blick zu, der seine Gedanken laut genug ausdrückte – er zweifelte daran, dass Rush das Geräuschkonzert des Wofflins tatsächlich verstehen konnte, und selbst wenn, dass er es auch richtig wiedergab. Den Zweifel hegten viele, weil Menschen normalerweise nur rudimentär die komplexen Lautäußerungen eines Wofflins interpretieren konnten. Dass Rushs Verständnis weit darüber hinausreichte, lag an Sniffle … Der noch immer fleißig schnaufte und knurrte.
„Damit er dich möglichst schnell loswird, rät er dir, dass du genau dort deinen Abstrich machst.“ Sniffle formte eines seiner Beinchen zu einem länglichen, knallroten Pfeil um und wies auf eine bestimmte Stelle an der Rückenlehne des Sitzes, den Oro genutzt hatte. Schweigend nahm Pax mehrere Proben.
In dieser Zeit blickte Rush sich schnell um, ob dieser Transporter irgendwelche anderen interessanten Informationen versteckt hielt. Zu erwarten war es nicht, die Fahrten durch das Zeitentor dauerten schließlich inklusive Wartefrist keine zehn Minuten. Tatsächlich fand er lediglich eine Hinterlassenschaft der Arbeit – eine leere Verpackung, die einen der typischen Superproteinriegel enthalten hatte, den Minenarbeiter im Einsatz stets mitnahmen, um lebensnotwendiges Eiweiß und Fett sowie ein großes Bündel Mineralien zuführen zu können. Er hielt das graue Faserkonstrukt, das selbst auf einem atmosphärenlosen Asteroiden in Windeseile in Kohlestoffmoleküle zerfiel und auf der Erde lediglich wenige Wochen schaffte, in Sniffles Richtung.
„Hat Oro den gegessen?“, fragte er ihn. Die Verneinung erfolgte prompt, darum ließ Rush die Verpackung auf dem Sitz liegen. Die Reinigungsroboter würden sich darum kümmern, sobald der Transporter freigegeben war.
„Welch ein Glück, dass seine Fehlbarkeitsrate im Test negativ war und wir ihm und seinen Angaben deswegen vertrauen dürfen“, murmelte Pax, der die sterilen Röhrchen mit den Abstrichwattestäbchen verschlossen und in seinem Koffer verstaut hatte.
Sniffle zischte angewidert über diese Bemerkung. Rush hingegen atmete tief durch, bemüht, es nicht an sich herankommen zu lassen. Er. Konnte. Diesen. Scheißkerl. Nicht. Leiden!
„Sonst noch was?“, fragte Pax rasch und kämpfte um einen möglichst freundlichen Tonfall. Die fiese Spitze gegen den Wofflin war ihm unbedacht herausgerutscht, er hatte damit eigentlich auf Rush gezielt. Wofflins fand er bewundernswert. Ihr Nutzen für die Wissenschaft war kaum zu ermessen, zumal es sehr schwierig war, sie, ihr Verhalten und ihre Biologie zu erforschen. Die erste und bislang einzige bekannte intelligente Alienrasse! Faszinierende Kreaturen.
Das Problem war Rush. Er brachte Pax zum Rasen, selbst wenn er nichts sagte und nicht einmal in seine Richtung blickte. Das bloße Wissen, sich mit ihm gemeinsam in einem Raum aufhalten zu müssen genügte, um das Schlechteste in Pax an die Oberfläche zu bringen.
„Hm? Nein, es gibt nichts mehr. Zumindest nichts, wobei mir ein professioneller Wattebauschschwenker helfen könnte“, erwiderte Rush.
Okay. Das hatte er vermutlich verdient. Pax nickte darum friedlich, packte sich seine Tasche und ging zum Ausgang des Transporters.
„Hey! Ich … Ich kann nichts dafür, dass sich der Kerl in die Luft gesprengt hat“, rief Rush hinter ihm her.
„Mag sein oder auch nicht“, entgegnete Pax wider besseren Wissens. Wenn er eine Diskussion vermeiden wollte, die garantiert ausarten würde, hätte er eher stillschweigend verschwinden sollen … „Ich habe keine Informationen zu dem Vorfall und keine Meinung dazu. Mich interessiert die chemische Zusammensetzung des Sprengstoffs, und wie der Mann es geschafft hat, ihn durch den Scanner zu bringen, damit dies nicht noch einmal geschieht.“ Er sprang die Stufen hinab und eilte durch die Halle, in der die Raumtransporter auf ihren nächsten Einsatz am Zeitentor warteten. Wenn er sich beeilte … Vielleicht war es noch nicht zu spät dafür, stillschweigend zu verschwinden.
Hinter ihm erklangen schnelle Schritte. Das ignorierte er. Rush wollte ebenfalls die Halle verlassen. Kein Problem soweit, nicht wahr? Kein Grund für eine Konfrontation.
Als er die Tür zum Treppenhaus aufstieß – er vermied Aufzüge, sofern er genügend Zeit hatte, um sich Bewegung verschaffen zu können, da er im Labor oft Stunden mit stillem Sitzen oder Stehen verbringen musste – wurde er abrupt an der Schulter gepackt.
„Spinnst du?“, fauchte Pax. Möglichst leise. Sie waren erstens nicht allein im Gebäude, auch wenn sich im Moment dank der aufrecht gehaltenen Alarmstufe wenig rührte, zum zweiten gab es überall Überwachungskameras, die auf aggressive Tonlagen, laute Schreie und hektische Bewegungen reagierten. Er wollte nicht die Aufmerksamkeit der Sicherheitsleute in der Zentrale auf sich ziehen. Darum befreite er sich aus Rushs Griff und drehte sich zu ihm um. Zögerlich war der Gesichtsausdruck, der ihm begegnete.
„Was willst du von mir?“, fragte Pax und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Nichts. Es ist nur … Lothar leitet die Morduntersuchung, wie du vielleicht gehört hast. Der arrogante Wichs… Wichtigtuer will noch nicht einmal meine Aussage aufnehmen, dabei war ich es, der den Mann aus der Menge gefischt und in den Raum gesetzt hat.“
„Daran kann ich nichts ändern“, erwiderte Pax stirnrunzelnd. „Lothar hält mich für ein überzahltes Relikt aus der Steinzeit. Seiner Meinung nach reichen Computer und Roboter für meinen Job aus.“
„Ich verlange ja auch nicht, dass du mit ihm redest. Ich weiß ja noch nicht einmal, warum ich gerade mit dir rede.“
Pax seufzte. „Letzteres ist doch vollkommen klar. Du hast sonst niemand, der dir zuhört, weil dich die Kollegen vom Zoll nicht akzeptieren und die von der Polizei und dem Sicherheitsdienst noch viel weniger. Ein treu sorgendes Eheweib hast du nicht, eine wilde Geliebte wohl eher auch nicht bei all den Überstunden und Sonderschichten, die du einschiebst, und dein Wofflin schläft lieber, als für dich den Seelenmülleimer zu spielen. Damit belästigst du jetzt mich, denn ich kann nicht schreiend weglaufen, ohne dass es der gesamte Raumhafen erfährt.“
Mit jedem Wort wurde Rushs Miene finsterer, was kein Wunder war. Niemand hörte gerne die bittere Wahrheit.
„Ja. Stimmt schon. Ich bin vollständig isoliert, habe jeden einzelnen meiner Freunde verloren und mein neuer Chef hat mich eher aus Mitleid als Überzeugung angestellt. Wenn ich bloß wüsste, was da schiefgelaufen sein könnte?“ In einer übertriebenen Geste tippte er sich mehrmals mit dem Zeigefinger gegen die stoppelbärtige Wange, bevor er noch viel übertriebener die graublauen Augen weit aufriss.
„O nein – das lag ja an dir! Du hast aus einem zugegeben furchtbaren Fehler meinerseits eine Totalkatastrophe gemacht, die mich praktisch alles gekostet hat, wofür ich mir zehn Jahre lang den Arsch abschuften musste!“
Rush wurde stetig lauter. Zischend hob Pax die Hände.
„Gemach! Sei leise und lass diese alten Geschichten endlich einmal …“
Mit hochrotem Kopf ging Rush auf ihn zu. Pax wich zurück. Der Kerl war größer, sehr viel breiter und sportlich in Höchstform, während er als Doktor der extraterrestrischen Geologie und Astronomie sowie quereingestiegener Biochemiker zu viel Zeit an Mikroskopen und Computern verbrachte. Jeder, der eine wissenschaftliche Laufbahn einschlug, wurde dazu gedrängt, auf mehr als einem Fachgebiet zu promovieren – es gab zu wenige von ihnen.
„Alte Geschichten, hm? Für dich vielleicht, für mich ist es Alltag, denn stell dir mal vor, keiner kann mich leiden und irgendwie ändert sich daran auch nichts. Was glaubst du eigentlich, wer du bist, Pax Roujani? Was glaubst du, wer ich bin? Ein Hampelmann vielleicht?“
Der Wofflin trällerte warnend. Ihre beiden Organisatoren piepten – die Geräte sandten Warnsignale an die Zentrale, wenn Blutdruck und Puls einen kritischen Wert überstiegen, was gerade eindeutig geschehen war. Sprich, sie hatten jetzt die gesamte Aufmerksamkeit des Sicherheitsdienstes.
Das schien Rush eher noch wütender zu machen. Seine Augen rollten, er griff wild knurrend nach ihm.
Pax wich noch weiter zurück – und trat ins Leere.
Mit rudernden Armen suchte er Halt. Fand keinen. Schlug mit brutaler Gewalt auf einer Treppenstufe auf. Die Welt drehte sich. Etwas Weißes blitzte vor seinen Augen. Und verschwand. Die nächste Stufe. Noch eine. Und …
Etwas Weiches schlang sich um Kopf und Nacken und dämpfte den letzten übelkeitserregenden Aufprall ab.
Atemloses Brennen in der Brust. Himmel, er brauchte Luft! Keuchend atmete er ein. Ihm war schwindelig, schlecht, er wusste nicht, wo er sich befand und warum das Kissen unter ihm hektisch fiepte und vibrierte. Oder warum seine Beine in die Höhe ragten.
Dann holte ihn der Schmerz ein.
„O Gott!“
Rush spürte, wie ihm schlagartig das Blut in den Beinen versackte. Pax! Innerhalb von einem einzigen Moment war er einfach abgestürzt. Wie eine zerbrochene Lumpenpuppe lag er auf dem Zwischenpodest des Treppenhauses, eine Etage unter ihm. Er rührte sich nicht. Grotesk sah er aus, so verdreht und … und …
Rush schloss die Augen. Das musste ein Albtraum sein! Sein Gehirn weigerte sich schlichtweg, die Realität anzunehmen. Orientierungslos umklammerte er das Treppengeländer und versuchte sich zu erinnern, wie man die Füße bewegte. Was, wenn er ihn umgebracht hatte? Jeder wusste, wie sehr er Pax verabscheute und die Kameras hatten verfolgt, wie er auf ihn losgegangen war. Dabei hatte er ihm nicht wehtun wollen! Ein bisschen durchschütteln, ihn spüren lassen, dass das zwischen ihnen für ihn keine alte Geschichte war, die man ohne Schwierigkeiten vergessen konnte. Ihn aufrütteln, damit er zuhörte, sonst nichts! Für eine Mordanklage würde das nicht reichen, für fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge hingegen schon. Wie sollte er damit leben? Und wenn …
Mitten in seine wilde Panik drangen verzweifelte Fieplaute. Sniffle. Sein Gefährte brüllte ihn an, dass er gefälligst herkommen sollte. Das brachte ihn weit genug zu Bewusstsein, um die Stufen hinabzueilen.
„Pax?“, wisperte er ängstlich. Rush erwartete eine Blutlache und tote Augen. Stattdessen starrte ihn die Laborratte aus einem vor Schmerz verzerrten, leichenblassen Gesicht an. Kein sichtbares Blut. Er könnte innerlich schwer verletzt sein. Er schien desorientiert, stöhnte leise und tastete um sich, als würde er Halt suchen. Das sprach dafür, dass seine Wirbelsäule intakt sein sollte. Rush atmete auf. Nichts weiter passiert! Unter seinem Kopf befand sich ein dickes, flauschiges Kissen, das Schädel und Genick beschützt hatte. Ein Kissen mit Augen und einem schnabelförmigen Mund, aus dem eine vorwurfsvolle Schimpfkanonade ertönte – Sniffle wollte endlich befreit werden und nannte ihn einen dämlichen Vollidioten.
„Tut mir leid, Kumpel, komm her.“ Schnell hob er Pax’ Kopf an, was ein halb erschrockenes, halb schmerzerfülltes Zischen zur Folge hatte, und rettete Sniffle aus seiner misslichen Lage.
„Hast du dich verletzt?“, fragte Rush besorgt. „Wahnsinn, das war eine schnelle Reaktion! Du wirst immer besser!“ Er streichelte über Sniffles Rücken, der sich inzwischen in seine natürliche Gestalt zurückverwandelt hatte und die Liebkosungen schnarrend und räkelnd genoss. Umsichtig tastete Rush nach Hinweisen auf Verletzungen. Natürlich waren Wofflins quasi unverwüstlich, doch Pax hatte Gewicht und war mit viel Schwung auf den armen Sniffle gefallen. Außerdem …
„Mir geht es nicht so gut, danke der Nachfrage“, murmelte es neben ihm. „Könntest du mir bitte helfen? Falls es keine Umstände macht?“
Ach ja. Pax lag auch noch da herum. Sniffle kicherte hämisch und verzog sich in Form eines altmodischen Cowboyhutes auf Rushs Kopf.
„Irgendwas gebrochen, Doc?“, fragte er und beugte sich zu Pax hinab. Der zuckte leicht vor ihm zurück, was Rush unbehaglich empfand, aber nicht kommentierte.
„Keine Ahnung. Bewegen tut weh. Atmen tut weh. Ich spüre noch alles, demzufolge ist die Wirbelsäule wohl intakt.“
„Hier ist die Zentrale!“, quäkte eine Stimme aus Pax’ Organisator dazwischen. „Der Körperscan ist abgeschlossen. Sie haben erstaunlicherweise keine Brüche oder innere Verletzungen, dafür großflächige Prellungen. Das Sicherheitsteam habe ich bereits zurückgezogen, im Augenblick werden die Leute anderweitig benötigt. Davida vom sanitären Notdienst ist unterwegs, um Ihnen zu assistieren, Pax. Rush, Sie bleiben bitte vor Ort. Sobald Pax versorgt ist, werden Sie beide im Büro von Lavender erwartet.“
Die stellvertretende Leiterin des Raumhafens. Exakt die Dame, die Rush überhaupt nicht ausstehen konnte und damals für seine sofortige Entlassung plädiert hatte. Wie großartig konnte der Tag noch werden?
Mit wesentlich mehr Nachdruck als notwendig packte er Pax unter den Achseln und zwang ihn in eine sitzende Position, zur Sicherheit an die Wand gelehnt. Der schrie vor Schmerz auf und starrte ihn höchst vorwurfsvoll an.
„Hab dich nicht so kleinkindhaft!“, schnauzte Rush entnervt. „Hast doch gehört, alle Knochen sind heil.“
„Blöder Arsch.“ Winselnd fuhr Pax sich über die linke Schulter. Auf der Seite war er vermutlich zuerst aufgeprallt.
„Du hättest besser aufpassen können“, fuhr Rush gnadenlos fort. „Ist ja nicht so, als hätte ich dich zusammengeschlagen. Wenn ich das gewollt hätte, wäre es bereits vor zwei Jahren geschehen.“
„Du gehst wie ein tollwütiger Stier auf mich los und dass ich instinktiv fliehen wollte, ist also meine Schuld?“, zischte Pax kurzatmig.
„Was denn sonst? Wenn du …“
„Haltet die Klappe, Jungs. Beide.“
Davida kam lässig die Treppe herabgestiegen. Für eine Frau war sie extrem groß, an die zwei Meter, und hinter ihrem Kreuz könnte sich sogar Lothar verstecken. Das war hilfreich im Sanitätsdienst, sie trug Verletzte ohne Hilfe aus Gefahrenbereichen heraus. Mit ihr anlegen wollte sich niemand, darum schwiegen Pax und Rush gehorsam. Schnell machte er Platz und wandte sich ab. Er wollte nicht zusehen, wie Pax Laborkittel und Hemd ablegen musste, es genügte zu hören, wie er bei jeder Bewegung jammerte.
„Halleluja!“, rief Davida. „Man sieht ja sogar die Kanten der Stufen. Das wird rabenschwarze Hämatome ergeben. Hey, Rush! Hör auf, beschämte Jungfrau zu spielen und mach dich lieber nützlich.“
Übellaunig gesellte er sich zu ihr. Ein Blick auf Pax, der mit nacktem Oberkörper an der Wand kauerte und seinen geschundenen Rücken präsentierte, ließ ihn heftig schlucken. Man konnte tatsächlich exakt die Stufenkanten erkennen. Die Haut war rot und schwarz angelaufen und begann bereits anzuschwellen. Es war ein Wunder, dass die Wirbelsäule heil geblieben war und ja, jetzt konnte er Pax jedes Gewinsel verzeihen – das musste höllisch wehtun.
„Bei kleineren Prellungen ist das gute alte Chloraethyl immer noch fein, oder jede Art von Eisspray. Bei einem solchen Ausmaß bevorzuge ich körperangepasstes Hydro-Coolgel.“
„Dieses Zeug, das bei Kontakt mit der Haut anfängt Kälte abzugeben und gar nicht so wahnsinnig glücklich ist, wenn man versucht es abzukratzen?“ Rush hatte bereits einige Male damit Bekanntschaft schließen müssen und es gehasst. Auch wenn er zugeben musste, dass es sehr gut und vor allem sehr lange wirkte. Man musste keine Kühlpacks austauschen, es wurde kein Tauwasser abgegeben, dass die Kleidung durchnässte und es hatte zahlreiche Vorteile gegenüber Eisspray. Der größte war, dass Allergien fast nie vorkamen und Hautverbrennungen durch zu starke Kälte ausgeschlossen waren.
„Leg dich auf den Bauch, Pax“, kommandierte Davida. „Je braver du stillhältst und je glatter sich dein Rücken präsentiert, desto schneller ist das Ganze vorbei und du darfst nach Hause.“
„Ich muss arbeiten“, protestierte Pax sehr matt. Wimmernd und ächzend ließ er sich dabei helfen, sich flach niederzulegen.
„Du wärst vor fünf Minuten beinahe hopps gegangen, hätte der süße Wofflin dort dir nicht den Hals gerettet, und das im wörtlichen Sinne. Das Kältegel wird die Schmerzen eindämmen, trotzdem gehörst du schnellstmöglich nach Hause in dein Bett. Wenn ich das Gefühl habe, dass du nicht kooperierst, lasse ich dich in die Klinik einweisen. Verstanden?“
Pax brummte unartikuliert. Protest hatte sowieso keinen Zweck … Rush verspürte ungefragt etwas Mitleid mit ihm. Das wollte er beim besten Willen nicht, aber nun ja – es hätte wirklich schiefgehen können. Einfach so. Vollkommen sinnlos. Gleichgültig, wie wütend er auf diesen Mann war, er wollte nicht, dass er starb. Schon gar nicht durch einen Unfall, weil er auf der Flucht vor Rushs Zorn vergessen hatte, dass da eine Treppe hinter ihm war. Und nein, er wollte auch nicht, dass er Schmerzen litt. Darum half er Davida, die Päckchen mit dem wahnsinnig teuren Hydro-Coolgel aufzureißen und die verschiedenen Flüssigkeiten, die in Kammern voneinander getrennt waren, kräftig durchzumischen. Dadurch entstand eine zähflüssige, weißliche Masse, die etwa eine Minute lang formbar blieb. Man durfte sie nur mit Handschuhen anfassen, andernfalls blieb es an den Fingern haften. Pax erschauderte, als Rush ihm die Masse über die linke Schulter und teilweise dem Oberarm formte.
„Ja, gut so“, sagte Davida. „Es wird seine Bewegungen leicht einschränken, was absolut richtig ist. Die nächsten zwölf Stunden sollte unser Doc ausschließlich atmen, schlafen und so selten wie möglich aufstehen, um die anderen Körperbedürfnisse zu befriedigen. Essen ist überbewertet, Trinken kann dir der Hausroboter bringen und wenn du es damit nicht übertreibst, musst du auch nicht zu häufig pinkeln. – Pass auf, Rush. Wenn du ihm das Zeug unter die Achseln schmierst, beschenkst du ihn mit einem kostenlosen Waxing.“
Rush unterdrückte ein unfaires Feixen bei dem Gedanken, wie sich Pax in zwei oder drei Tagen flennend die Achselhaare ausriss, um das Coolgel loszuwerden.
Als sie damit fertig waren, ihm den Rücken kalt einzupacken, konnte Pax sich tatsächlich ohne Hilfe anziehen und aufstehen. Er war noch immer sehr bleich und wirkte zittrig, doch insgesamt hielt er sich tapfer.
„Laut Körperscan hast du auch an Hüfte und Oberschenkel Prellungen erlitten.“ Davida tippte auf ihrem Organisator herum. „Weniger heftig als am Rücken, angenehm ist es garantiert nicht.“
„Ich habe Eisspray zu Hause, sowie eine Ansammlung geeigneter medizinischer Salben. Ich werde mich dort selbst um dieses Problem kümmern“, erwiderte Pax steif. „Vielen Dank, meine Liebe. Mir geht es wirklich viel besser.“
„Nichts zu danken, dafür bin ich da!“, brummte Davida und sammelte die leeren Hydrogelverpackungen ein.
„Für einen Job, der gut erledigt wurde, hat man immer Dank verdient, so viel Zeit muss sein.“ Pax schenkte ihr ein Lächeln, bei dem Davida, die nicht umsonst als Walküre des Raumhafens bekannt war, errötete. Tatsächlich errötete! „Sollen wir, Rush?“
Er blinzelte überrascht, bis ihm klar wurde, wovon die Rede war – die Disziplinaranhörung bei Lavender. Die ihn möglicherweise endgültig den Job kosten würde, abhängig davon, ob Pax ihn eines tätlichen Angriffs beschuldigte. Und ob die stellvertretende Raumhafenleiterin bereits ausreichend Kaffee gehabt hatte und eine tödliche Explosion im laufenden Betrieb nicht weiter tragisch oder belastend empfand.
Er beobachtete, wie ungelenk und mühsam sich Pax bewegte, trotz der schmerzlindernden Kühlschichten auf seinen Wunden.
Ich bin am Arsch, dachte er resigniert.
Sniffle gurrte ihm beruhigend ins Ohr. Na ja. Egal was geschah, solange er Sniffle hatte, war er wenigstens niemals allein.
Es klopfte.
Pax hatte sich in einem Konzert von Vivaldi befunden, während er bäuchlings auf seinem intelligenten Sitzmöbel lag, das ihm vollautomatisch in jeder Position den perfekten Halt bot. Moderne Musik war ihm in seinem Zustand zu hektisch. Die Vier Jahreszeiten hingegen beruhigten ihn jedes Mal, wenn er sich von irgendetwas ablenken wollte. Natürlich hatte der große Künstler noch andere Werke hinterlassen als ausgerechnet das, doch Pax war bei klassischer Musik ein ziemlicher Banause. Einige Werke mochte er, der Rest wurde ignoriert. Sollten sich die echten Fans darum kümmern! Eine Geisteshaltung, die seine sehr feinsinnige, künstlerisch veranlagte Mutter als unverzeihlich empfand, darum schenkte sie ihm auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit Musikprogramme von Konzerten der alten Meister. Pax ließ sie gewähren, das half dem Seelenfrieden.
Nun lag er also hier, die halb verrutschte Brille übertrug nur noch akustisch das Donnern der „Sommer“-Sequenz. Er japste vor Schmerz, weil er sich viel zu hastig bewegt hatte und kam in Zeitlupe auf die Beine. Es klopfte noch immer an seiner Haustür, in zunehmender Ungeduld. Er hätte eben doch ein kombiniertes Schmerz- und Schlafmittel schlucken sollen, genetisch auf ihn und seine körperlichen Spezifikationen zugeschnitten. Dann läge er jetzt in komatösem Schlaf und hätte das Geklopfe nicht gehört. Oder wenigstens die Hämatome an Hüfte und Oberschenkel mit Eisspray versorgen sollen, denn diese brachten ihn gerade um, während Rücken, Schultern und Arme unter dem kühlenden Gel bloß sanft puckerten. Er war wirklich nur ein paar Treppenstufen herabgefallen. Warum fühlte er sich, als hätte ein Raumtransporter auf ihm geparkt? Und warum trug er nichts als eine Boxershorts und eine Coolgel-Schicht?
Sein wild entschlossener Gast in spe hämmerte mittlerweile anscheinend mit beiden Fäusten gegen die Tür.
„Jajaja!“, brummte Pax und tippte auf den Spion in Augenhöhe. In uralten Zeiten war das ein primitives Guckloch gewesen. Heutzutage befand sich dort ein handflächengroßes Display, das auf Fingerdruck eine Videokamera aktivierte und ihm anzeigte, wer vor der Tür stand.
Es war Rush.
Stirnrunzelnd zögerte Pax, unfähig zu entscheiden, wie er handeln sollte. Lavender, ihre manchmal bezaubernde, manchmal sehr strikte stellvertretende Raumhafenleiterin, hatte regelrecht geschäumt vor Empörung über den kleinen Treppenzwischenfall. Pax hatte sie nach Kräften beruhigt, ihr versichert, dass es ihm gut ging und mehr als die Hälfte der Schuld bei ihm lag. Immerhin hatte er Rush provoziert und unbedacht Emotionen getriggert, nachdem dieser durch den Schock über die tödliche Explosion bereits entnervt gewesen war. Was eine harmlose Rangelei geblieben wäre, hatte eine etwas drastische Wende genommen. Es sollte nie wieder geschehen und warum vergaßen sie diese Dummheit nicht einfach, schließlich gab es wesentlich Wichtigeres zu tun.
„Man könnte meinen, Sie wären dankbar für die Chance, ihn auf billige Weise endgültig loszuwerden“, hatte Lavender zu ihm gesagt.
Ja, das hätte man meinen können. Pax wäre der Erste, der vor Begeisterung jubeln würde, sollte Rush jemals aus eigenem Antrieb kündigen. So hingegen, dass er auf eine Weise gefeuert wurde, die wieder irgendwie mit ihm, Pax, zusammenhing … das lehnte er strikt ab. Die Ereignisse von damals verfolgten ihn bereits im ausreichenden Maße.
Letztendlich waren sie mit finsteren Blicken und erhobenem Zeigefinger davongekommen. Eine strenge Ermahnung, dass sich ein solcher Vorfall besser niemals wiederholen sollte. Rush hatte ihn seltsam angestarrt, als sie das Büro verlassen hatten und war regelrecht davongerannt, während Pax ins Labor gehumpelt war, seine Proben in das Kühlfach verstaut, die Kollegen beruhigt und danach seine Sachen gepackt hatte.
Erneutes Hämmern.
Rush war wirklich entschlossen, mit ihm zu reden. Pax seufzte und tippte den Code an der Tür ein, um ihn einzulassen. Es war wohl einfacher, wenn er es hinter sich brachte, was auch immer Rush von ihm wollte.
Rush musterte den beinahe nackten, völlig zerrupft und geschunden aussehenden Mann vor sich. Schwarz schillernde Hämatome an den Beinen. Nicht weniger dunkle, aber vom Hydrogel abgedeckte Wundmale an Armen und Schultern. Bleich und deutlich schmerzgeplagter, als man sein sollte, wenn man brav seine Medizin genommen hätte. Pax war Wissenschaftler, warum hatte er diesen Segen verweigert? Und wieso tummelten sich nicht gleich ein halbes Dutzend Haushalts- und Hilfsroboter zu seinen Füßen? Nirgends war das typische Surren dieser unentbehrlichen Helfer zu hören und ein Blick über Pax’ Schulter in den Bungalow hinein offenbarte mehr Unordnung, als die mechanischen Freunde zulassen würden.
Ansonsten war hier auf den ersten Blick alles Standard. Die heutigen Überlebenden des großen Unglücks erhielten vom Staat ein Wohnhaus, das den jeweiligen Lebensumständen entsprach. Wer heiratete oder eine Familie gründete, hatte Anspruch auf ein größeres Haus, Singles lebten in gewöhnlichen Bungalows wie diesem. Ein großer Wohnraum mit abgetrennter Kücheneinheit, ein winziger Schlafraum, ein funktionales Bad. Auf Wunsch gab es ein Stück Land dazu, von dem mindestens die Hälfte für ein Gewächshaus mit Obst- und Gemüseanbau ausgelegt sein musste, was akribisch kontrolliert wurde. Die staatliche Grundversorgung sicherte jedem Menschen die Möglichkeit zu überleben. Wer mehr wollte, sich moderne Technik und Unterhaltungsprogramme und Hilfsroboter, bessere Medikamente, keine Reglementierung bei Nahrungsmitteln und Bekleidung wünschte, musste entsprechende Leistung bringen und arbeiten, um die notwendigen Kredits zu erhalten.