Irrlicht 11 – Mystikroman - Anne Alexander - E-Book

Irrlicht 11 – Mystikroman E-Book

Anne Alexander

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Beschreibung

Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle. Daphne Baker erwachte vom schrillen Läuten des Telefons. Schlaftrunken griff sie zum Hörer und meldete sich, doch dann war sie mit einem Schlag hellwach. »Was ist passiert, Laura?« fragte sie erschrocken, als sie die tränenerstickte Stimme ihrer älteren Schwester hörte. Mit der linken Hand schaltete sie die Nachttischlampe ein. »Du mußt mir helfen, Daphne.« Laura Hammond schluchzte. »Richard ist tot. Er wurde erstochen. Er…« »Erstochen?« Daphne hielt kurz den Atem an. »Ja.« Ihre Schwester holte tief Luft. »Es ist so schrecklich. Was soll ich nur tun? Ich…« Ihre Stimme brach. Erst nach einigen Sekunden gelang es ihr weiterzusprechen. »Es war die Maud Willis.

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Irrlicht – 11 –

Die Frau ohne Gesicht

Sie war das Rätsel des alten Herrenhauses

Anne Alexander

Daphne Baker erwachte vom schrillen Läuten des Telefons. Schlaftrunken griff sie zum Hörer und meldete sich, doch dann war sie mit einem Schlag hellwach.

»Was ist passiert, Laura?« fragte sie erschrocken, als sie die tränenerstickte Stimme ihrer älteren Schwester hörte. Mit der linken Hand schaltete sie die Nachttischlampe ein.

»Du mußt mir helfen, Daphne.« Laura Hammond schluchzte. »Richard ist tot. Er wurde erstochen. Er…«

»Erstochen?« Daphne hielt kurz den Atem an.

»Ja.« Ihre Schwester holte tief Luft. »Es ist so schrecklich. Was soll ich nur tun? Ich…« Ihre Stimme brach. Erst nach einigen Sekunden gelang es ihr weiterzusprechen. »Es war die Maud Willis. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.«

Daphne zwang sich, ruhig zu bleiben.

»Du willst doch nicht allen Ernstes behaupten, Maud Willis, oder vielmehr ihr Geist, hätte deinen Mann ermordet? Das ist… Laura, bist du dir sicher, daß Richard tot ist?« Nervös griff sie sich in ihre halblangen schwarzen Haare.

»Ganz sicher«, flüsterte Laura. »Er liegt vor dem Kamin. In seinem Rücken steckt mein Brieföffner. Es ist der Brieföffner, den du mir letztes Jahr aus New York mitgebracht hast.«

Daphne konnte sich sehr gut an den Brieföffner erinnern. Er wirkte wie ein kleines, reich verziertes Schwert. Trotz der lauen Sommernacht begann sie zu frieren.

»Erzähl mir, was passiert ist, Laura«, bat sie. »Jede Einzelheit ist wichtig.« Ihre Schwester war schon immer ziemlich überspannt gewesen und hatte bereits als Kind oft in einer Phantasiewelt gelebt. Dinge, die sie sich nicht sofort erklären konnte, schrieb sie gerne übernatürlichen Einflüssen zu.

Laura stieß heftig den Atem aus.

»Mir ist so kalt«, klagte sie. »Ich hätte meinen Morgenrock anziehen sollen, statt im Nachthemd in die Bibliothek hinunterzulaufen.«

»Bitte, Laura«, mahnte Daphne.

»Also ich wachte von einem unbestimmten Geräusch auf«, begann ihre ältere Schwester. »Du weißt ja, daß Richard und ich seit Joyces Geburt getrennte Schlafzimmer haben. Ich blickte zur Verbindungstür, doch in Richards Zimmer schien alles dunkel zu sein. Plötzlich schwebte eine weiße Gestalt durch den Raum. Vor meinem Schreibtisch blieb sie stehen und griff nach dem Brieföffner. Ich wollte das Licht einschalten, aber die Lampe funktionierte nicht, außerdem war ich wie gelähmt vor Angst. Mein Herz klopfte so laut, daß es mir in den Ohren dröhnte. Langsam drehte sich die Gestalt um. Sie besaß weder Mund noch Nase, trotzdem lachte sie.« Laura holte tief Luft. »Ich bin noch nie sehr mutig gewesen. Ich zog mir einfach die Decke über den Kopf.«

»Bist du sicher, daß du diese Geschichte nicht nur geträumt hast, Laura?« fragte Daphne sanft.

»Nein, es war kein Traum«, erklärte ihre Schwester energischer, als es sonst ihre Art war. »Ein Traum wäre nicht so realistisch gewesen.«

»Schon gut, Laura. Was ist dann geschehen?« Daphnes Blick glitt zur Uhr. Es war kurz nach zwei.

»Ich hatte schreckliche Angst«, stammelte Laura. »Maud Willis hat schließlich schon Richards erster Frau den Tod gebracht. Auch ihr soll sie erschienen sein. Ich machte mir plötzlich Sorgen um Richard, obwohl er es nicht verdient hat. Ich stand auf und ging in sein Zimmer hinüber. Sein Bett war unberührt. Also lief ich in die Bibliothek hinunter, um nach ihm zu sehen. Du weißt ja, daß er oft ganze Nächte in der Bibliothek verbringt und in den alten Büchern liest. Mein Mann… Das Licht brannte. Gleich als ich die Tür öffnete, sah ich Richard vor dem Kamin liegen. Ich rannte zu ihm, kniete mich neben ihn. Ich wollte den Brieföffner aus seinem Rücken ziehen, aber als ich ihn berührte, brachte ich es nicht fertig. Es… Daphne, du mußt mir helfen. Du…«

»Weiß schon jemand, daß dein Mann tot ist, Laura?« Daphne bemühte sich, ihre Stimme so geschäftsmäßig und kühl wie möglich klingen zu lassen. Sie konnte ihrer Schwester nur helfen, wenn sie nicht auch noch die Nerven verlor.

»Nein.« Laura schluckte. »Es ist so schrecklich. Nicht, daß mir Richard auch nur noch das Geringste bedeutet hätte, nach allem was er mir in den letzten Jahren angetan hat, aber… Daphne, er ist tot. Er…« Ihre Stimme überschlug sich fast.

»Laura, bitte, nimm dich zusammen. Als erstes mußt du jetzt die Polizei anrufen. Das ist ungeheuer wichtig.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann, Daphne.« Laura schluchzte. »Ich bin hier so schrecklich alleine. Ich brauche dich. Nur du kannst mir helfen. Nur du…«

»Du kannst es, Laura«, fiel ihr Daphne ins Wort. »Ich bin in Paris. Natürlich kehre ich mit der ersten Maschine nach England zurück, aber trotzdem kann ich nicht vor dem späten Nachmittag bei dir sein. Bis dahin mußt du ohne mich auskommen.« Die junge Frau dachte nach. »Nachdem du die Polizei angerufen hast, versuche euren Anwalt zu erreichen.«

»Sie werden alle behaupten, ich hätte Richard umgebracht«, flüsterte ihre Schwester. »Du kennst die Familie doch. Mich haben sie noch nie leiden mögen. Besonders Claudine hat mir das Leben stets zur Hölle gemacht. Sie kam dazu, als ich mich gestern abend mit Richard stritt. Mortimer haßt mich auch, von Isabel ganz zu schweigen.«

»Du wirst es schaffen, Laura.«

»Ich könnte die Bibliothek abschließen und mit dem Anruf bei der Polizei warten, bis du bei mir bist«, überlegte die junge Frau laut.

»Laura, das geht nicht.«

»Schon gut. Es war nur eine Idee.« Lauras Stimme klang so mutlos, daß es ihrer Schwester förmlich ins Herz schnitt. »Bitte, komm so schnell wie möglich. Bitte.« Bevor Daphne ihr noch antworten konnte, hatte sie bereits aufgelegt.

»Laura! Laura!« Resignierend ließ die junge Frau den Hörer auf die Gabel fallen. Sie machte sich große Sorgen um ihre Schwester. Mit ihren dreißig Jahren war Laura zwar sechs Jahre älter als sie, aber von jeher war sie die Stärkere und Vernünftigere gewesen. Wann immer Schwierigkeiten auftauchten, flüchtete sich Laura in eine Traumwelt. Es gelang ihr einfach nicht, dem Leben mit offenen Augen entgegenzutreten.

Daphne wählte die Nummer der Rezeption und bat den Nachtportier, für sie einen Flug nach London zu buchen, dann stand sie auf und packte ihre beiden Koffer. Sie wußte, daß ihr Chef alles andere als begeistert sein würde, wenn sie Hals über Kopf Paris verließ, aber in diesem Fall ging ihre Schwester vor. Sie konnte Laura schließlich nicht im Stich lassen.

Nachdem sie alles erledigt hatte, setzte sich die junge Frau in den weichen Sessel am Fenster ihres Hotelzimmers und blickte auf das nächtliche Paris hinunter. Ihre Gedanken glitten in die Vergangeheit zurück.

Laura und Richard Hammond hatten vor zehn Jahren geheiratet. Schon damals hatte sie nicht allzuviel für den Mann ihrer Schwester übriggehabt und ihm mißtraut. Aber Sir Richard hatte Laura das Blaue vom Himmel herunter versprochen und sie derart umworben, daß es ihr vorgekommen sein mußte, als würde sie an seiner Seite im ewigen Glück leben.

Die Wirklichkeit hatte dann aber anders ausgesehen. Schon kurz nach der Hochzeit hatte Laura feststellen müssen, daß sich fünfundzwanzig Jahre Altersunterschied nicht so einfach überbrücken ließen und sie zudem auf Hammond Hall, dem Stammsitz der Familie ihres Mannes, keineswegs willkommen war. Man behandelte sie selbst jetzt noch wie einen Eindringling und warf ihr insgeheim vor, Richard nur seines Geldes wegen geheiratet zu haben.

Daphne blickte zur Uhr. Selten war ihr eine Nacht so lang erschienen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als jetzt an der Seite ihrer Schwester zu sein. Laura brauchte sie, hatte sie stets gebraucht.

Die junge Frau stand auf und ging zum Telefon. Sie wählte die Nummer von Hammond Hall, aber am anderen Ende der Leitung meldete sich niemand. Resignierend kehrte sie zu ihrem Sessel zurück, um auf den Morgen zu warten.

*

Nach einem hastigen Frühstück saß Daphne kurz nach sechs in dem Taxi, das sie zum Flughafen Orly bringen sollte. Trotz der frühen Morgenstunde hatte sie bereits ihren Chef in London erreichen können. Mr. Lancaster war sofort mit ihrer Rückkehr nach England einverstanden gewesen. Er wollte sich selbst mit den Pariser Geschäftspartnern in Verbindung setzen, um die Verhandlungen, die sie während der letzten Tage in seinem Namen geführt hatte, zu verschieben.

Daphne hatte während der letzten Stunden noch zweimal versucht, ihre Schwester zu erreichen, aber jedesmal war sie nicht nach Hammond Hall durchgekommen. Sie verstand nicht, daß Laura nicht noch einmal angerufen hatte und befürchtete das Schlimmste. Hoffentlich hatte ihre Schwester der Polizei nichts von Maud Willis erzählt. Niemand würde ihr abnehmen, daß der Geist einer Toten ihren Mann ermordet hatte.

Mit geschlossenen Augen lehnte sich die junge Frau zurück, um darüber nachzudenken, was sie über Maud Willis wußte. Sie befanden sich noch immer in der Pariser Innenstadt. Die Straßen waren bereits um diese Tageszeit total verstopft. Das Taxi kam fast nur im Schritttempo vorwärts.

Maud Willis war vor vierzehn Jahren wegen Mordes an ihrem Ehemann zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden und zwei Jahre später einem Herzleiden erlegen. Bis zuletzt hatte die Frau ihre Unschuld beteuert und sogar Richter Hammond als Zeugen dafür angeführt. Sie hatte behauptet, ihm in der Mordnacht begegnet zu sein, doch Sir Richard hatte es unter Eid abgestritten. Man hatte ihm geglaubt. Als Richter war er über jeden Zweifel erhaben gewesen.

Noch während Mauds Untersuchungshaft war ihre Tochter Jenny an Leukämie gestorben. Am Tag ihrer Verurteilung hatte Maud Sir Richard bittere Rache geschworen, und so war es kein Wunder gewesen, daß man sie in der Nacht nach ihrem Tod in Hammond Hall gesehen haben wollte. Als gesichtlose Frau irrte sie seitdem angeblich durch das alte Gemäuer, laut ihre Unschuld beteuernd und voller Anklagen gegen Sir Richard.

Daphne gestand sich ein, daß sie ihrem verstorbenen Schwager ohne weiteres zutraute, damals ein falsches Zeugnis abgelegt zu haben. Nachzuweisen war es ihm jedoch niemals gewesen, wenngleich vor einigen Jahren eine Frau behauptet hatte, die Geliebte Sir Richards gewesen zu sein. Sie lebte in derselben Gegend, in der Maud Willis in jener Nacht den Richter gesehen haben wollte.

Einige Tage später hatte sie jedoch behauptet, sie hätte sich nur wichtig machen wollen. Kurz darauf war sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Die junge Frau blickte auf ihre Armbanduhr. Sie steckten immer noch mitten in der Stadt.

»Können Sie nicht versuchen, den Verkehr zu umgehen?« fragte sie ungeduldig den Fahrer.

»Wie denn, Madame?« Um die Lippen des Mannes zuckte ein ironisches Lächeln. »Soll ich meinem Taxi vielleicht Flügel anschrauben?«

»Keine schlechte Idee, Monsieur«, bemerkte Daphne und lehnte sich wieder zurück.

Endlich hatten sie Paris hinter sich gelassen und befanden sich auf der Straße nach Orly. Daphne schaute aus dem Wagenfenster. Es regnete. Der Himmel wirkte grau in grau. Das Wetter paßte zu ihrer Stimmung. Eine entsetzliche Angst preßte ihr Herz zusammen.

Mit jeder Minute, die verging, nahm diese Angst zu. Sie spürte, daß sich Laura in großer Gefahr befand. Sie glaubte, ihre Schwester vor sich zu sehen. Was hätte sie darum gegeben, schon jetzt bei ihr zu sein!

Plötzlich konnte sie das triste Grau des Himmels nicht mehr ertragen. Sie schloß erneut die Augen und dachte an Lauras Kinder. Robert, Richards Sohn aus erster Ehe, war jetzt elf Jahre alt. Wie seine siebenjährige Schwester Joyce besaß er große dunkle Augen und schwarze Haare. Laura hatte niemals einen Unterschied zwischen den Kindern gemacht. Sie liebte Robert, als sei er ihr eigener Sohn.

»Mon Dieu!« schrie der Fahrer plötzlich auf. Im selben Moment wurde das Taxi auf der regennassen Straße von einem Lastwagen zur Seite gedrängt.

Daphne prallte so heftig mit dem Kopf gegen die Scheibe, daß sie sofort das Bewußtsein verlor. Sie spürte nicht einmal mehr, wie der Wagen die Böschung hinunterrutschte und sich überschlug.

*

»Sie kommt zu sich.«

Daphne schlug die Augen auf. Sie blickte in fremde Gesichter, die sich besorgt über sie beugten.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte ein älterer Mann. Gleich den anderen trug er einen weißen Kittel.

Die junge Frau versuchte sich aufzurichten. Erst dabei wurde ihr bewußt, daß sie in einem hohen, schmalen Bett lag. Aufstöhnend ließ sie sich wieder auf das Kissen zurücksinken. Sekundenlang schien sich das Bett zu bewegen. Die Gesichter um sie herum verwandelten sich in bizarre Fratzen.

»Sie müssen ganz ruhig liegen bleiben«, sagte der Mann, der sie gefragt hatte, wie sie sich fühlte. »Sie haben eine mittelschwere Gehirnerschütterung.« Er stellte sich als Dr. Manet vor und nannte den Namen des Krankenhauses, in das man sie gebracht hatte.

»Eine Gehirnerschütterung?« wiederholte Daphne zweifelnd. »Ich… Laura!« Wieder wollte sie sich aufrichten, aber wieder schaffte sie es nicht. »Ich muß zu Laura.« Sie stöhnte. »Ich muß das Flugzeug nach England erreichen. Meine Schwester braucht mich. Sie…«

»Tut mir leid, Mademoiselle Baker, aber vorläufig sind Sie nicht reisefähig«, sagte Dr. Manet. »Auch mit einer mittelschweren Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen. Sie werden mindestens eine Woche in der Klinik bleiben müssen, dann können wir weitersehen.«

»Das geht nicht.« Die junge Frau versuchte, gegen das Schwindelgefühl anzukämpfen. Sie mußte zu Laura, durfte sie jetzt nicht im Stich lassen. »Es ist wichtig, daß ich nach England fliege«, beharrte sie. »Meine Schwester befindet sich in einer schwierigen Situation.«

»Ihre Schwester wird verstehen, daß sie noch für einige Tage auf Sie verzichten muß«, erklärte der Arzt. »Sie werden jetzt auf Station gebracht. Ich bin gerne bereit, einige Telefonate für Sie zu führen.« Langsam und bedächtig, als hätte er es mit einem unmündigen Kind zu tun, erklärte er ihr, mit welchen Folgen sie rechnen mußte, wenn sie während der nächsten Tage nicht strikte Bettruhe einhielt.

Daphne sah ein, daß Dr. Manet recht hatte. Was nützte es ihrer Schwester, wenn sie krank nach England zurückkehrte? Um Laura zu helfen, mußte sie ihre fünf Sinne beisammen haben, durfte nicht von Kopfschmerzen und Schwindelgefühlen geplagt werden.

»Gut, ich bin einverstanden«, erwiderte sie. Plötzlich fiel ihr der Fahrer des Taxis ein. Sie fragte nach ihm.

»Monsieur Cave hat auch großes Glück gehabt«, antwortete Dr. Manet. »Bis auf eine Schulterquetschung und einigen Platzwunden ist ihm bei dem Unfall kein Haar gekrümmt worden.«

Was ist überhaupt passiert? wollte Daphne noch fragen, doch sie kam nicht mehr dazu. Eine große schwarze Wand tauchte vor ihr auf. Sie streckte abwehrend die Hände aus. Es nützte nichts. Ihre Finger glitten durch die Wand hindurch, ließen es zu, daß die Schwärze sie völlig in sich aufnahm.

*

Es dauerte eine Woche, bis Daphne aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Vergeblich hatte sie darum gebeten, selbst mit ihrer Schwester sprechen zu können.

»Sie brauchen sehr viel Ruhe, Mademoiselle Baker«, hatte ihr Dr. Manet immer wieder versichert. »Sie möchten doch nicht Ihr Leben lang unter den Folgen der Gehirnerschütterung leiden.«

Was war der jungen Frau anderes übriggeblieben, als sich zu fügen, zumal ja Dr. Manet mit ihrer Schwester telefoniert hatte und es scheinbar keinen Grund mehr gab, sich Sorgen zu machen. Doch so ganz traute sie der Aussage des Arztes nicht. Immerhin war ihr Schwager ermordet worden. Laura hätte über sich selbst hinauswachsen müssen, wenn sie alleine damit fertig geworden wäre.

Vor dem Abflug nach London hatte Daphne noch reichlich Zeit, um mit ihrer Schwester zu telefonieren. Aber auf Hammond Hall meldete sich nur der Butler. Er sagte ihr, daß Mistreß Hammond im Moment nicht anwesend sei und er nicht wüßte, wann sie zurückkehren würde.

Daphne wußte, daß es keinen Sinn hatte, weitere Fragen zu stellen. Bei ihren Besuchen auf Hammond Hall hatte sie Thomson gründlich kennengelernt. Der Mann war durch und durch ein Snob. Stets hatte er ihr das Gefühl vermittelt, am falschen Ort zu sein. Er hielt ihre Schwester für einen Emporkömmling, nicht wert, einer Familie wie den Hammonds anzugehören.

Die junge Frau ging zum Zeitungsstand. Sie wollte sich mit Lesen die Wartezeit verkürzen. Außer der

»Times« kaufte sie noch ein Taschenbuch über Schottland. Vor zwei, drei Jahren hatten Laura und sie einmal geplant, einige Wochen in der Gegend von Ayr zu verbringen, aber Richard war dagegen gewesen.

»Eine Frau gehört an die Seite ihres Mannes«, hatte er gesagt, damit war das Thema für ihn erledigt gewesen. Daphne nahm sich vor, so bald wie möglich mit Laura und den Kindern nach Schottland zu fahren. Es würde ihnen guttun, einmal so richtig abzuschalten.

Sie ließ sich in einen der bequemen Sessel fallen und schlug die »Times« auf. Flüchtig überflog sie die ersten beiden Seiten. Sie konnte sich einfach nicht auf die Artikel konzentrieren. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zu Laura.

Daphne wollte die Zeitung schon zuschlagen, als ihr Blick auf die Schlagzeile der dritten Seite fiel. »Lady Hammond wegen Mordes verhaftet«. Fassungslos starrte sie auf die großen schwarzen Buchstaben, bis sie vor ihren Augen verschwammen. Es konnte, es durfte nicht sein. Niemand, der Laura kannte, würde sie ernsthaft des Mordes verdächtigen.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich Daphne soweit gefaßt hatte, daß sie in der Lage war, den Artikel zu lesen. Mit wenigen Worten wurde geschildert, was die Polizei in der Mordnacht auf Hammond Hall vorgefunden hatte.

Die Beamten sind von Lady Hammond auf den Besitz gerufen worden. Sie erzählte ihnen eine verworrene Geschichte, die darauf hinauslief, daß der Geist einer verurteilten und längst verstorbenen Mörderin ihren Mann umgebracht hätte.

Sir Richard Hammond ist in der Bibliothek seines Hauses mit einem Brieföffner erstochen worden, der seiner Frau gehört. Wie die Familie des Ermordeten und das Personal übereinstimmend aussagten, war es am Abend vor dem Mord zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Lady Hammond und ihrem Gatten gekommen. Laura Hammond soll ihrem Gatten wieder einmal der Untreue bezichtigt haben. Ein Vorwurf, der nach Aussage der Familie völlig haltlos ist.

Nach eingehender Untersuchung wurde festgestellt, daß sich auf der Tatwaffe nur die Fingerabdrücke von Lady Hammond befinden. Obwohl Lady Hammond nach wie vor ihre Unschuld beteuert und vom Geist der Maud Willis spricht, wurde sie vor zwei Tagen verhaftet.