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Raub von Zahngold in einem Meißner Krematorium. Freilich ist alles Fiktion. Wahr ist nur der Raub eines Bestattungstransporters, der seinerzeit durch alle Zeitungen ging. Darum herum hat Funke eine herrlich witzige und aktionsreiche Krimi-Handlung konstruiert. Ein spannendes Lesevergnügen.
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Seitenzahl: 343
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Die Handlung und die Personen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit existierenden Institutionen und lebenden oder toten Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Zum Autor:
Klaus Funke, geboren in Dresden, ist ein erfolgreicher Autor bekannter Romane, Erzählungen und Novellen. Mit dem Dresdner Kriminalhauptkommissar Jacek Boehlich hat er sich dem Genre des Kriminalromans zugewandt und eine Art sächsischen Maigret erfunden. Mit Jacek Boehlich gibt es noch „Jacek Boehlich und die blonde Tote“, erschienen bei BoD. Weitere Boehlich-Krimis sind geplant.
Zum Buch:
Raub von Zahngold in einem Meißner Krematorium. Freilich ist alles Fiktion. Wahr ist nur der Raub eines Bestattungstransporters, der seinerzeit durch die Zeitungen ging. Darum herum hat Funke eine herrlich witzige und aktionsreiche Krimi-Handlung konstruiert.
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Zweiter Teil
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Warst du schon mal in Meißen?
Die mit dem Dom, meine ich? Porzellanmanufaktur, St. Afra, Altstadt inklusive. Sagenhaft, das reinste Biedermeieridyll, Kultur und Kunst pur. Genau wie auf den Postkarten. Allein schon die kleinen Gässchen, wenn man zur Burg hinauf wandert. Die zahllosen kleinen Cafés, die Läden und Hinterhöfe. Adrian Ludwig Richter hätte seine Freude dran gehabt. Alles Mögliche kriegt man zu sehen, freilich auch Kitsch, aber das muss so sein.
Wie ein Tourist, so mit Fotoapparat und Strohut, fahr auch ich jedes Jahr ein paar Mal hin. Im Frühjahr, im Sommer, auch im Herbst, nur im Winter nicht, da fehlt was, da ist es einfach zu kalt, man kann nicht draußen sitzen, in den Biergärten, den Cafés, und die Läden haben ihre Auslagen nicht an der Straße ausgebreitet, nee Winter, da nicht, aber sonst…
Am liebsten, weißt du, sitze ich oben auf dem Burgberg in dem Biergärtchen vom Domkeller.
Die ganze Stadt liegt einem zu Füßen. Dach an Dach, liebevoll restauriert. Wenn ich da an die Zeit von früher, also an vor der Wende denke, grauenhaft, die meisten Dächer waren kaputt, alles grau in grau. Der Putz abgebröckelt, die Dachrinnen hingen runter. Und Weißbier gab es auch nicht, von Weißwurst ganz zu schweigen. Aber jetzt! Alles so schön in verschiedenem Rot, so sauber und adrett. Und Weißbier und Weißwürste gibt es. Tafelspitz und Pizza Bolognese. Und auch der Kaffee schmeckt. Nicht etwa Mocca Fix oder Mona, nein Jacobs Krönung und Dallmayer pro domo. Einfach Spitze.
Auch in dem Biergärtchen selber. Sonnenschirme mit Sponsorenaufdruck, kleine gehäkelte Tischdeckchen, überall, auf jedem Tisch ein Sträußchen mit Feldblumen, hübsch, gut, manchmal in Plastik; sogar Ferngläser gibt es an jedem Tisch, damit man alles genauer sehen kann. Natürlich angekettet. Man traut eben den Gästen nicht. Verstehe ich, ganz klar…
Mit so einem Biergärtchen hängt meine Geschichte zusammen, die ich erzählen will, das heißt, hier beginnt sie. Im Domkeller. Schade, dass ich nicht selber dabei war. Man soll bei einer Geschichte immer von Anfang an dabei sein. Schade. Hätte das Ganze zu gerne live erlebt. Aber gut, erzähl ich´s eben nach…
Also, es war ein schöner Herbsttag. Sogenanntes Bilderbuchwetter. Auch oben im Biergarten vom Domkeller. Die Luft so lind und lau, wie der Dichter singt, so Ende September, Anfang Oktober, wo es manchmal noch bis über 20 ° C warm wird und die Cafés und die Biergärten richtig zu tun kriegen. Wo auch die Wespen das letzte Mal zuschlagen. Genauer gesagt, es war an der Monatsscheide September zum Oktober. Genauer gesagt am 30. September. Später Nachmittag. An einem Mittwoch.
Man sollte denken, mitten in der Woche hätten die Leute keine Zeit für den Domkeller und für Kaffee und Kuchen, für Sahne und Eisbecher und so. Alles Quatsch. Pustekuchen. Touris gibt es immer, Leckermäuler und Spaziergänger auch und Leute, die das letzte schöne Wetter ausnutzen wollen, ebenfalls. Das Biergärtchen vom Domkeller jedenfalls - „rammelvoll“, wie der Sachse sagt. Kaum ein Platz zu kriegen. Manche standen sogar im Durchgang zum Domplatz und äugten, machten lange Hälse, ob nicht bald einer bezahlen, aufstehen und gehen würde. Genau, wie früher, zu Ostzeiten, wo man noch platziert wurde. Einige gaben schließlich auf und marschierten durch den langen, halbdunklen Gang der Kneipe wieder nach draußen auf den Domplatz, suchten sich was anderes. Pilgerten in den Burgkeller zum Beispiel oder in den Klosterkeller. Komisch, alles Namen mit „Keller“, obwohl die Etablissements doch oben auf dem Berg liegen. Na egal. Aber gegen sechs wird es dann allmählich ruhiger, es kommen weniger Gäste, die Sonne steht schon ziemlich tief, und merklich kühler ist es auch geworden. Die Kellner werfen sich Blicke zu.
Gott sei Dank! Uff! Der Trubel scheint vorüber.
Nun musst du eins wissen, weil, das ist eine Besonderheit vom Domkeller. Die Touris, will sagen die aus dem Westen, die sitzen dort immer an der Brüstung, am Geländer sozusagen. Da können sie wunderbar über die Stadt schauen, und den Fels hinunter in den Abgrund starren. Also die Touris, weiß ich warum, hocken immer am Geländer und die Einheimischen an der Felswand, an der Hauswand des Domkellers, wie man sagen muss. Hat sich so ergeben. Vielleicht, weil die Touris aus dem Westen es gewöhnt sind in den Abgrund zu starren, wie man uns früher immer erzäht hat. Die leben ja schon Jahrzehnte im Kapitalismus, das heißt eigentlich schon immer, während die Einheimischen, also wir, ja erst fünfundzwanzig Jahre den Westen bei sich haben, und sich sozusagen erst gewöhnen müssen, in den Abgrund zu starren. Ich weiß nicht, vielleicht ist das auch Quatsch. Jedenfalls sitzen die Wessis immer am Geländer und die Unsrigen mit dem Rücken an der Hausmauer. Deshalb ist es auch verwunderlich gewesen, dass die alte Dame, um die es gleich ganz massiv gehen wird, an der Hauswand gesessen hat. Denn die war aus dem Westen. Das hat man gleich gesehen. Wieso ich das sage, dass man das gesehen hat? Nu, guck dir doch mal die Wessis an! Die sehen doch auch nach zwanzig Jahren Wende nicht wie wir aus. Eben irgendwie anders. Fang mal mit der Brille an. Solche Brillen, wie die haben, gibt´s bei uns gar nicht, auch nicht bei Apollo. Dann die Haarfrisuren. Da haben selbst die Siebzigjährigen noch Strähnchen, auch, wenn ihr Haar vollkommen grau oder weiß ist. Ja, glaub mir das. Und auch bei der alten Dame, um die es gleich gehen wird, war das so. Die hat so eine Art Fönwelle gehabt, weißt du, mit Stirnlocke. Fech, ganz und gar fech. Hat sie auch jünger gemacht. Na gut, das nützt ihr jetzt auch nichts mehr. Und ihre Strähnchen waren so rötlich ins weiße Haar hineingezaubert. Fech, ganz klar. Na, das sag ich dir, die Frauen von drüben, die wollen ja immer jünger aussehen, selbst, wenn es nichts mehr zum Verjüngen gibt. Und die alte Dame hat durch ihre Fönlocke wie Anfang Fünfzig ausgesehen. Dabei ist sie doch über Siebzig gewesen, wie man später aus ihrem Ausweis ersehen konnte.
Also, das war so: Die Lonny, was die erste Kellnerin ist, na so eine Art Brigadeleiter eben, die hat zum Kay, dem Azubi, gesagt, er soll mal nach der Omi schauen. Die sitzt dort so unbeweglich, mit dem Rücken halb ins Weinspalier gedrückt, und die anderen sind schon lange weg. Frag die mal, ob die noch was will, sonst würden wir gerne abkassieren, es sei schon eine Viertelstunde über den Feierabend…
Und es war tatsächlich so. Seit einer Viertelstunde war Feierabend und die Alte sitzt und sitzt und bewegt sich nicht von der Stelle, die ganze Terrasse leer, kein Mensch mehr da, nur noch ein paar halb ausgetrunkene Kaffeetassen und an dem Tisch vorne rechts eine halbe Flasche Wein. Also Kay frag die mal… aber sei höflich und quatsch nicht so sächsisch - die ist von drüben.
Und da ist der Kay zu der alten Dame hingestiefelt.
Netter Kerl, der Kay, wirklich, vielleicht ein bisschen in die Länge geschossen und zwei, drei Pickel zu viel im Gesicht, aber sonst, ein wirklich netter Kerl.
Doch wie der Kay vor der einzelnen, übrig gebliebenen Dame dann gestanden ist, da ist ihm gleich aufgefallen, mit der stimmt was nicht. So sitzt man nicht. So nicht. So starr und steif und mit geschlossenen Augen. Und da hat der Kay erst mal gehustet; ja ich weiß, man sagt, er habe sich geräuspert, gut, hat er sich eben geräuspert. So drei, vier Mal hat er „ahem, ahem!“ gemacht, doch die Alte hat ihre Augen nicht geöffnet. Schläft die? hat der Kay gedacht, aber gleich ist er zusammengezuckt, weil, ihm ist eingefallen, wie er vor einem Jahr in Doberschütz seine Oma gefunden hat, die hat auch so gesessen in ihrer Gartenlaube und dann ist sie tot gewesen. Damals hat er auch nicht gewusst, was er machen sollte, weil, man trifft ja nicht andauernd auf eine Tote; und der Kay hat damals das erste Mal in seinem Leben, als Siebzehnjähriger, eine Tote gesehen. Und dann ist es ausgerechnet die eigene Großmutter gewesen. Das muss man erst einmal verkraften. Verstehst du? Und wie der Kay jetzt vor der alten Dame aus dem Westen gestanden ist, und wie die so in das Weinlaubspalier gedrückt gesessen hat, mit ihren zugekniffenen Augen, da hat er, nachdem er sich an seine Großmutter erinnert hat, genau gewusst: die Alte ist mausetot. Da hilft nichts mehr. Erst hat er noch überlegt, ob er sie antippen soll, die Westdame, weil im Kino tippen die Leute immer die Toten an, im Kino bei Edgar Wallace zum Beispiel, und dann kippen die Toten so zur Seite und aus ihrem Rücken ragt ein Messer. Aber dann hat er sich gesagt, dass er das nicht fertig bringt. Auch schreien wollte er erst noch, die Alte anschreien, was ihr einfällt, hier so tot rumzusitzen, doch dann hat er das alles nicht gemacht und ist ganz fix rein ins Lokal und hat die Lonny gesucht. Die stand an der Kasse und hat die Abrechnung gemacht, ganz konzentriert und mit einer steilen Falte auf der Stirn. Da ist der Kay an sie heran getreten und hat geschwiegen. Doch wie die Lonny den Azubi Kay so neben sich stehen sah, aus den Augenwinkeln, klar, denn richtig angesehen hat sie ihn ja nicht. Wie sie also gefühlt hat, der hat was enorm Wichtiges auf dem Herzen, da hat die Lonny ihre Abrechnung unterbrochen und den Kay fragend angesehen. Doch der hat nichts zu sagen brauchen, die Lonny, erfahren, Mitte Vierzig, handfest, zwei Ehemänner zum Teufel gejagt, die hat sofort gewusst, dass was los ist. Is was mit der Alten? Und da hat der Kay nur genickt und er ist ganz blass gewesen.
Ich gloobe, die is tot, sagt er und seine Hände sind ganz kalt und schweißig gewesen. Da sind sie, die Lonny und der Kay, hinaus auf die Terrasse, sprich in den Biergarten geflitzt. Und da hat dann die Lonny sofort gesehen: tatsächlich, hier kommen sie zu spät, da ist nichts mehr zu machen.
Nichts anfassen! hat sie noch gerufen und ist wieder zurück ins Lokal gegangen, und der Kay hat dagestanden und nicht gewusst, was er machen soll. Er hat nur gedacht, dass jetzt gleich die Polizei und ein Notarzt kommen werden, und dass er sowas noch nie erlebt hat.
Und dann ist die Polizei auch wirklich gleich gekommen und mit ihr ein Arzt und ein Sanitäter von der Rettungsstelle. Die Polizisten, es waren zwei, in Uniform, von der Streife gleich hier rauf auf den Burgberg gerammelt, die haben sich erst umgeschaut und dann sofort die Kripo angerufen.
Es hat vielleicht eine halbe Stunde gedauert, da ist der Kripomann dagewesen, und mit ihm eine weibliche Beamte, seine Assistentin oder so, blond, Haarknoten, sehr schlank, mit einem konzentriertem Gesicht. Also, den Kripoman hat sich der Kay vollkommen anders vorgestellt, und der Kay ist praktisch auch der erste gewesen, der dem Beamten über den Weg gelaufen ist. Böhlich! hat sich der Kripomann vorgestellt, Hauptkommissar. Ein Mann, so einsachtzig, graumelierte Haare, Geheimratsecken, Brille, ohne Bart, mit einem ganz normalen Jackett und Jeans, einzige Besonderheit: gelbe Sportschuhe. Nee, hat der Kay gedacht, mit gelben Schuhen! Ansonsten ganz normal, sieht aus wie der Trainer der 2. Mannschaft von Dynamo oder wie einer vom Jugendamt! Stinknormal – und dann gelbe Sportschuhe. Das passt nicht. Kay wollte schon den Kripomann auslachen, aber es ist nicht dazu genommen. Denn wie er seinen Blick gesehen hat. Sowas Durchdringendes! Als ob der schon alles wüsste! Ein bisschen wie sein verstorbener Vater, bei dem hat Kay auch tatsächlich nichts zu lachen gehabt. Konnte ihm nie was rechtmachen. Nee, da fällt jedes Lachen in sich zusammen, das heißt, es kann gar nicht erst entstehen, und der Kay hat natürlich auch nicht gelacht, er hat eher gezittert. Vor allem, wie dieser Hauptkommissar ihm dann die erste Frage gestellt hat: Sie haben also die Tote aufgefunden?
Hat er gefragt, und seine Stimme hat so bestimmend und wissend geklungen wie seine Augen geblickt haben.
Ja, hab ich, hat der Kay geantwortet und er hat selber mitgehört wie kläglich seine Stimme geklungen hat.
Erzählen Sie uns darüber, sagt der Hauptkommissar, ihre Personalien nehmen wir hinterher auf. Und er hat sich nichts anmerken lassen, von Kays Nervosität. Und seine Assistentin hat daneben gestanden, mit aufmerksamem Blick und mit einem Panasonic-Diktiergerät und einem Stift in der Hand.
Und da hat der Kay erzählt, wie er den Auftrag bekommen hat, die alte Frau zu fragen, ob sie noch etwas wünscht und dass Restaurantschluss wäre, und wie er gleich bemerkt hätte, dass mit der Dame etwas nicht stimmt.
Wie meinen Sie das „nicht stimmt“?
Nun, dass sie nicht mehr am Leben ist, antwortet der Kay. Aber das von seiner Großmutter hat er nicht gesagt, auch nicht, dass er sie hat antippen wollen und dass er dabei an Krimis im Kino hat denken müssen.
Haben Sie die Tote vorher bedient? Ich meine, verbessert sich der Hauptkommissar, als sie noch am Leben war und hier gesessen hat wie die anderen. Können Sie sich erinnern, was sie bestellt hat?
Da hat der Kay die Achseln gezuckt, er hätte die andere Tischreihe bedient. Da müssten sie die Lonny fragen. Es wäre bei ihnen so, dass sie sich die Tischreihen aufteilten. Und er habe ausnahmsweise die Reihe am Brüstungsgeländer bedient, denn normalerweise würden die an der Brüstung, also die Westtouris, von der Kollegin Lonny bedient.
Warum? Ob das immer so wäre? fragt der Kriminalist.
Ja, meistens, hat der Kay ein bisschen unsicher geantwortet, die Azubis bekämen eigentlich immer die Wandreihe.
Warum?
Nun, vielleicht wegen dem Trinkgeld, antwortet der Kay und schielt zur Lonny hinüber. Aber das hat die nicht gehört, weil die Assistentin gerade zu ihr hingetreten war, um sie etwas zu fragen. Aber heute, setzt Kay fort, hätte ihn die Lonny eben die Brüstungsreihe bedienen lassen, weil sie ihm ein bisschen Trinkgeld zukommen lassen wollte… er spare auf ein neues Smartphone und die Lonny habe das gewusst und die Lonny sei in Ordnung.
Ach so wäre das, sagt der Kriminalist, wegen der Trinkgelder also. Und dann hat der Hauptkommissar die Lonny herüber gebeten und sie dasselbe wie den Kay gefragt, und sie hat ganz freimütig bestätigt, was der Kay schon gesagt hat.
Ja, sie hätte heute die Wandreihe bedient. Ausnahmsweise. Der Kay hätte ein paar Euro gebraucht und da hätten sie getauscht.
Also, sagt der Hauptkommissar, dann könne sie ihm ja sagen, was die alte Dame bestellt hätte und wie lange sie schon auf der Terrasse gesessen hätte, wann sie gekommen wäre und wer in ihrer Begleitung gewesen wäre und so weiter…
Da hat die Lonny erst genickt, die Stirn in Falten gelegt, und dann gesagt, also, da müssten sie die andere Schicht fragen, denn die alte Dame wäre schon da gesessen, als sie die Schicht angetreten habe, und das wäre gegen 14 Uhr gewesen.
Und bei Ihnen hat sie dann nichts mehr bestellt?
Oh doch, ein Kännchen Kaffee und ein Stück Eierschecke aus der eigenen Bäckerei… Das hat sie so gegen 16 Uhr bestellt, aber wann sie gekommen ist und was sie vor ihrer Schicht bestellt hat, das weiß ich nicht. Da muss ich auf den Kassenbon schauen. Nein, die Dame war allein, ergänzt sie noch, ohne Begleitung, solange ich bedient habe, ganz und gar ohne… Ob sie aber in Begleitung gekommen ist, das kann ich nicht sagen...
Soll ich jetzt den betreffenden Kollegen herholen? Wegen des Eintreffens der alten Dame und wegen der Begleitung? Ich könnte ihn anrufen, er ist sicher zu Hause.
Und die Lonny hat ein diensteifriges Gesicht gemacht.
Nein, jetzt nicht… , antwortet Böhlich, das machen wir später noch. Oder morgen. Müssen erst das A-B-C durchnehmen. Und der Böhlich hat den KTD herbeordert, weil, ganz sicher ist er sich nicht gewesen. Die alte Dame hat so eine Spur blauroten Schaums vorm Mund gehabt, Gift wäre möglich, man weiß ja nie und die vom KTD werden das schon rausfinden.
Und die vom KTD sind dann auch gleich gekommen. 3 Mann hoch. Haben ihre Arbeit gemacht, still, schnell, in ihren weißen Ganzkörperkondomen. Natürlich große Aufregung! Weil, die Leute vom KTD erregen immer großes Aufsehen, denn, das Publikum denkt dann immer gleich an ganz große Verbrechen, wie in Kriminalfilmen und sowas. Hören dann kaum hin, was man fragt, die Zeugen, starren nur immer zu den Weißkitteln. Doch, kein Grund zur Panik. Die haben nichts weiter gefunden, die Jungs vom KTD. Und über das, was sie dann mitgenommen haben, Kleinigkeiten, Essensreste, Krümel, eine Tischdecke - weil, da ist was verkleckert gewesen und so - darüber würden sie dann morgen den schriftlichen Bericht schicken.
Machs gut, Kollege!
Ja. Ihr auch. Wie gesagt: Böhlich kennt das alles, Routine, alles Routine.
Die Befragung ist inzwischen weitergegangen, und der Kay hat noch gedacht, was die doch für langweiliges Zeug fragen und er ist unkonzentriert gewesen, weil, mit einem Auge hat er immer zu den Kriminaltechnikern rübergestarrt, aber das Gequatsche mit dem Hauptkommissar - wie lange das alles dauert, im Fernsehen, beim Tatort, gehe das alles viel schneller. Und Kay hat auf die Uhr geschaut, weil, er hat doch mit seiner Freundin ein Date und jetzt wird die bestimmt unruhig oder gar böse und er hat es auszubaden. Scheiße, wer weiß, wann er hier wegkommt, vielleicht kann er sein Date mit der Romy sogar in die Esse schreiben. Mist. Und vielleicht wird sie mit ihm Schluss machen, weil, mit der Romy ist er ja erst seit anderthalb Wochen zusammen. Und die hat schon ausgelernt, als Bürokauffrau. Und sie ist schon ein bisschen wie eine Chefin, die Romy, weil, sie übernimmt von ihrem Vater die Firma…
Und da ist Kay ein bisschen nervös geworden, hat bei der Abfragung der persönlichen Daten plötzlich nicht mehr gewusst, wann er genau seine Lehre hier im Domkeller begonnen hat und wie seine Eltern mit Vornamen heißen. Und klar, das hat natürlich keinen guten Eindruck gemacht. Besonders bei der Assistentin nicht, der Frau Kommissarin Jacobi, die die Formalitäten, sprich die Personalien, aufgenommen hat. Und die hat einen Blick drauf gehabt, da ist dem Kay gleich ganz schlecht geworden und, verstehst du?, so einem wie dem Kay ist da natürlich gleich noch mehr entfallen. Nicht mal die Hausnummer von seiner Wohnung hat der mehr gewusst. Sowas macht natürlich verdächtig. Ganz klar. Und da hat der Kay noch eine Weile zusätzlich warten müssen. Und sein Date mit der Romy hat er schon abgeschrieben. Verdammte Scheiße. Doch der Hauptkommissar, dem die Jacobi von der Vergesslichkeit des Azubis Kay erzählt hat und dass ihn das doch verdächtig mache, der hat nur abgewinkt; weil, vor zwei Minuten hat ihm der Notarzt zugeflüstert, dass er nicht glaube, dass bei der alten Dame Fremdverschulten in Frage käme, obwohl letzte Gewissheit gäbe es erst nach einer Obduktion… und eine Obduktion schlage er vor, und eine Obduktion hat der Oberkommissar sowieso im Plan gehabt.
Also gut, Obduktion!
Und da hat der Oberkommissar zur Jacobi gesagt, sie wollten erst die Obduktion abwarten, und, wenn sie jetzt alle Personalien und alle Formalitäten aufgenommen habe, könnten sie hier ja die Zelte abbrechen… und dann die die Leutchen werden wir eben einbestellen. Morgen oder so. Kapito?
Obduktion abwarten aber heißt, die Tote wird drüben im Krematorium in die Leichengalle gebracht, sie wird dort neben den anderen Toten die Nacht über liegen und am anderen Morgen dann nach Dresden zur Obduktion gefahren. Das ist der einfachste Weg. Dann wird man ja sehen.
Und da haben sie im Domkeller abgebrochen. Und der Böhlich ist froh gewesen.
Denn auch er hat heute noch ein Date vor. Und so hat der Böhlich sich von der Kommissarin Jacobi nach Cossebaude fahren lassen, weil, er ist doch mit dem Taxi hier herauf gekommen, denn, als ihn der Anruf erreichte, da ist er weder in der Dienststelle noch zu Hause gewesen, weil, er ist gerade auf dem Wege zu seinem Date gewesen. Schließlich hat er heute eigentlich mal seit langem einen freien Tag. Und von Cossebaude, wo Böhlich wohnt, nach Meißen - ein Katzensprung, weshalb er ja auch schon in zwanzig Minuten dagewesen ist, am sogenannten Tatort. Die Jacobi also, ist mit dem Dienstwagen, einem 320´er BMW. Da und sie hat ein bisschen ein Gesicht gemacht. Doch, sie kennt den Böhlich nun schon zwei Jahre, und sie hat gefragt, wie schnell sie dort sein soll, in Cossebaude.
Und der Böhlich hat gewusst, warum sie das fragt, die Jacobi, und er hat auch gewusst, dass es der Jacobi am liebsten ist, wenn er sagt: Ein bisschen Tempo!
Also hat er ihr den Gefallen getan und gesagt: Aber ein bisschen Tempo!
Und da hat die Jacobi gelächelt und nur gefragt: Mit oder ohne? Und da hat der Böhlich wieder gewusst, was er sagen muss: Mit! hat er gesagt.
Und da hat die Jacobi die Rundumleuchte aufs Dach gepflanzt und hat dem BMW die Sporen gegeben. Weißt du, was es heißt, wenn die Jacobi einem Auto die Sporen gibt? Da gibt es nämlich nichts. Das heißt nur: Es wird gefährlich. Saugefährlich. Aber nicht für die Jacobi, sondern für die anderen auf der Straße.
Trotzdem, wie sie so dahin jagt, kann sie dem Böhlich noch sagen, was sie ihm oben auf dem Burgberg in Meißen nur so flüchtig hingeworfen hat: die Tote, jene alte Dame heißt Erna Kleindienst, Jahrgang 1939 und ist aus Osnabrück hierher gereist. Und das Reisebüro, bei dem sie die Tagesreise gebucht hat, hat jetzt, weil sie nicht zum Abfahrtstreffpunkt erschienen ist, im Domkeller angerufen. Und die vom Domkeller haben denen gesagt, dass ihre Reiseteilnehmerin leider unerwartet verstorben ist, und da ist das Reisebüro eben abgefahren, weil, sie hätten nicht warten können…
Natürlich hat die Jacobi das alles nicht so glatt hintereinander gesagt wie ich es hier aufgeschrieben habe, sondern kurz und abgehackt hervorgestoßen, wie sie eben gerade Zeit hat zwischen Gas geben und Bremsen.
Aber der Böhlich hat schon gar nicht mehr an die tote Alte aus dem Westen gedacht, weil, er hat gewusst, da steckt nichts dahinter. Oder sagen wir, gewusst hat er es nicht, eher so eine Art Gefühl ist das gewesen. Jahrelang antrainiert. Da wird eben das Gefühl manchmal schon zum Wissen. Also, egal, das mit der Alten im Domkeller wird ihn nicht weiter beschäftigen, hat er gedacht.
Doch, das Denken ist manchmal nicht unsere stärkste Seite. Wir Menschen können ja nicht in die Zukunft sehen, und, wenn der Böhlich in die Zukunft hätte sehen können, da hätte er das mit der Toten aus Osnabrück nicht so leicht abgetan, denn die Tote wird ihm wiederbegegnen, in wenigen Wochen schon. Doch, wie gesagt, das hat der Böhlich jetzt auf der Schussfahrt von Meißen nach Cossebaude weder ahnen noch wissen können, weil wir Menschen eben… doch, das hatten wir schon. Okay?
Dann plötzlich, am Ortsausgang von Gauernitz, hat der Böhlich rufen müssen:
Menschenskind Jacobi! Aufpassen! Dort vorn…!
Denn die Jacobi fährt, wie man so sagt, wie eine gesengte Sau.
Aber da ist es schon zu spät gewesen. Und der Böhlich hat gedacht, dass es jetzt aus ist mit ihm und allem, was er noch vorgehabt hat im Leben; weil, da hat ein LKW in Fahrtrichtung auf der Straße gestanden, um, was weiß ich, irgendwas auszuladen oder einzuladen und von der Gegenseite ist ein Sattelzug gekommen und mit dem Bremsen wäre es nichts mehr geworden. Der LKW vorschriftsmäßig mit Warnblinker, steht und rührt sich nicht, der Sattel von der Gegenrichtung gibt Lichthupe, 4 Halogenlampen, die knallen wie die Bootsscheinwerfer in die Frontscheibe des BMW und er drückt auf seine große Tröte, vier Trompeten oben auf dem Fahrerhaus: „Wooaaahh!“ Da kannst du schon einen Mordschreck kriegen, sag ich dir.
Die Jacobi brüllt: Sieht denn der Knaller mein Blaulicht nicht?
Und der Böhlich hat nur, instinktiv, weißt du, seine Hände vors Gesicht genommen und aufgestöhnt, aber die Jacobi ist in ihrem Affenzahn, schlappe 105 auf dem Tacho, das blaue Rundumlicht auf dem Dach, einfach auf den Fußweg rüber und zwischen Hauswand und LKW-Seitentür, weil, die hat offen gestanden, durchgezischt wie nichts, zwei Zentimeter links, zwei rechts…
Und dann sagt die Jacobi noch:
Hätte doch anhalten müssen, der Affe!
Sie hätte doch schließlich das Warnlicht auf dem Dach, schreit sie und fuchtelt mit einer Hand, und nicht der Blödmann von einem Brummi-Fahrer; und sie hat sich dann noch nach dem Sattel umgeblickt, weil, der ist vor Schreck gleich eine Schlangenlinie gefahren und hätte um ein Haar mit seinem Auflieger zwei oder drei Radfahrer, die gerade da nicht auf dem Radweg gefahren sind, wegrasiert.
Da hat der Böhlich, der das alles durch die Finger gesehen hat, geantwortet:
Mensch Oberkommissarin Jacobi! Wenn da Leute gestanden hätten? Und außerdem: Sie gefährden mein Leben!
Aber die Jacobi lacht nur kurz auf und antwortet, wie immer ziemlich forsch und cool: Aber, Kollege Böhlich, das is nu Theorie, gekomm is ja keener! Und Sie haben doch ooch keene kleen´ Kinder mehr!
Der Böhlich, den es gerade wieder in seinem Sitz nach links geschleudert hat, hat nichts geantwortet, er weiß, es hat keinen Zweck, die Jacobi ist, was das Autofahren, genauso wie das Lachen an den falschen Stellen angeht, resistent. Aber einen Stich hat es ihm trotzdem gegeben, denn er hat daran denken müssen, dass seine Frau vor einem dreiviertel Jahr plötzlich verstorben ist. Und seit ihrer Beerdigung hat er die Kinder, seine erwachsenen Mädchen, nicht mehr gesehen.
Wir sind gleich da! ruft die Jacobi, wieder zum Bäcker Friederich?
Der Böhlich, was soll er sagen, nickt, denn die Jacobi weiß, wo ihr Hauptkommissar hinwill, zur Bäckerei Friedrich nämlich, früher Ährenfried:
Sie wissen schon, wenn Sie nach Cossebaude reinkommen, gleich an der ersten Kreuzung rechts, dort, wo die Schulstraße abgeht, das gelbe Haus mit dem Erker, ist nicht zu übersehen, obwohl jetzt, im Halbdunkel ist das gelbe Haus natürlich nicht mehr gelb, sondern wie alles Grau in Grau, aber der Erker ist noch gut zu erkennen.
Ja, ich weiß, sagt die Jacobi und fährt zügig weiter.
Ein paar Minuten später sind sie da.
Na?! strahlt die Jacobi. Wie ham´ mer das gemacht? Genau vierzehn Minuten… und zweizwanzig Sekunden. Bingo!
Der Böhlich lächelt, aber sein Lächeln hat nicht sehr glücklich ausgesehen, irgendwie gequält und er sagt:
Bis morgen dann!
Ja, tschüss… und viel Spaß.
Böhlich springt aus dem Wagen, er überlegt, er ist durch die ganze Scheiß-Burgbergsache fast zwei Stunden im Verzug, und wenn er etwas hasst, dann ist es Unpünktlichkeit, besonders die eigene. Sonst ist er einer, der es nicht ganz so genau nimmt, weil, die Dienstvorschriften öden ihn an, und das ganze deutsche Genauigkeitsgetue und das Meldungmachen und die Berichte und das alles…
Aber mit den Jahren, da ist er genau wie ein Vermesser geworden, da kennt er nix, da ist er ein penibler Hund wie kein zweiter, zu Hause hat er einen Wald von Uhren, auf jedem Schränkchen, auf jeder Ablage, in der Küche, im Abstellkämmerchen, auf dem Klo. Überall. Ein Ticken ist das. Und jeden zweiten Tag stellt er seine Uhren, was manchmal zehn Minuten dauert. Einmal hat einer zu ihm gesagt, er sei mit einer Uhr in der Hand auf die Welt gekommen…
Aber alles andere – drauf geschissen. Nein, natürlich nicht, so meine ich das nicht, aber weißt du, der Böhlich ist ein Mensch, so halb und halb. Die besten Kerle sind die halb und halb Kerle, sag ich dir, die irgendwas ganz genau nehmen können und die einen Spürsinn haben und die aber bei anderen Sachen alle Fünfe grade sein lassen können, denen es egal ist, was die Kollegen über die Kollegen sagen oder ob einer gerne angeln geht oder auf die Rennbahn - denn, wenn ich eins hasse, dann sind es Langweiler und Rumtratscher – aber ein Langweiler oder ein Rumtratscher ist der Böhlich natürlich nie gewesen, im Gegenteil. Doch, das wirst du schon noch merken. Klar?
Also, der Böhlich schaut dem BMW nach, der auf der Straße abenteuerlich gewendet hat und jetzt davonbraust. Die wird sich nochmal um den Hals fahren!
Er geht um die Hausecke in den Hinterhof, wo hinter einer weißen Blechtür der direkte Eingang zur Backstube ist. Er klopft, tritt ein. Der Bäcker Friedrich kommt ihm entgegen, massig, groß, weiß, bemehlt, wie einer von den eigenen Mehlsäcken.
Du kommst spät! sagt er und lächelt gutmütig, ist wohl wiedermal ein Fall dazwischen gekommen?
Ja, sagt der Böhlich, in Meißen, oben auf der Burg, aber es war schade um die Zeit, reine Routine…
Na egal, sagt der Bäckermeister, jetzt bist du ja da. Wollen wir erst mal…?
Und er macht mit zweien seiner dicklichen, bemehlten Bäckermeisterfinger, dem Daumen und dem Zeigerfinger, ein Zeichen, das nur bedeuten kann, sie wollen einen Schnaps trinken…
Nun musst du eins wissen, die meisten Bäcker trinken gerne einen, auch der Bäckermeister Friedrich in Cossebaude ist da keine Ausnahme. Natürlich wird in der Backstube kein Bier getrunken, weil, da schwitzt du bloß noch mehr, nein, Schnaps ist angesagt, Korn, Wodka, auch mal ein Obstler oder Kognak, je nachdem, was der Bäcker gerade für einen Geschmack hat, oder für einen Vorrat.
Ich denke, das Trinken muss mit dieser Backstubenluft zusammenhängen, die ist warm und trocken und da wird die Kehle rau und rissig. Und der Friedrich trinkt zum Verrecken gern Slibowitz, na ja, Pflaumen hat er ja auch sonst verarbeitet, in seinem Kuchen und so. Mit Pflaumen kennt er sich aus. Also holt der Bäckermeister Friedrich die Flasche mit dem Slibowitz aus einem dunklen Wandschränkchen ins Backstubenlicht. Hat auch plötzlich zwei Gläser in seinen Bäckermeisterfingern, ganz gewöhnliche Zahnputzgläser sind das, oder alte Senfgläser oder irgendwas in der Art, was weiß ich; und mit einem Lächeln schenkt er ein.
Na, zum Wohl dann!
Zum Wohl!
Sie stoßen an, der Bäckermeister und der Böhlich. Doch, wie es gerade leise „kling, klong“ macht - wer kommt zur Backstubentüre Nummer Zwo rein? Na wer wohl? Weil, es gibt zur Backstube natürlich nicht nur eine Tür, es gibt insgesamt drei. Und die, welche grade aufgeht, führt in den Wohnungsflur der Bäckermeisterwohnung, und da kann natürlich niemand anders hereinkommen als die Frau Bäckermeisterin.
Oh, die Brigitta! sagt der Böhlich, weil, die Backstubentür zur Bäckermeisterswohnung hat in seinem direkten Blickfeld gelegen, während der Meister Friedrich ihr den Rücken zugekehrt hat, das heißt, nicht seiner Frau, sondern nur der Tür. Der Meister in seiner weißen Bäckermeistermasse fährt herum.
Naahmd, Liebling! sagt der Bäcker.
Oh, ihr seid noch bei der Begrüßung! sagt die Bäckermeisterin.
Und da hat der Böhlich beim Anblick der Frau Meisterin gleich sowas Flackerndes im Blick gehabt, dass jedem, der genauer hingeschaut hätte und der Bescheid weiß in solchen Dingen, der Gedanke in den Kopf fahren muss:
Oh, was ist denn das? Sollte etwa der Böhlich…?
Aber der Böhlich würde das natürlich niemals zugeben, der Friedrich ist sein Freund, sein Duzfreund, der Johannes, nämlich, und die Brigitta ist die Frau seines Freundes.
Allein der Gedanke - absurd. Nee, so einer ist der Böhlich nicht, die Frauen seiner Freunde sind unantastbar, ganz klar, also auch die Brigitta.
Aber in Gedanken, oder noch genauer, in seinem Unterbewussten, da spielte die Brigitta schon eine Rolle, vielleicht sogar in seinen Träumen. Wer weiß das? Und seit seine Frau tot ist, da gefällt ihm die Brigitta umso besser. Das heißt, nicht gleich, aber so nach einem Vierteljahr… Hat ihm schon früher gut gefallen, die Brigitta. Das stimmt. Aber jetzt fühlt er sich irgendwie freier. Als ob von einem Fesselballon die Seile losgemacht sind. Nein, er hat keine abenteuerlichen Gedanken. Er würde nie… Fremdgehen, das heißt den Freund betrügen, nee, das mein ich nicht. Es ist nur so eine Art Gedankenspiel. Machen wir doch alle mal, irgendwie: Wir sehen eine Frau, von mir aus auch die von einem Freund oder die Nachbarin. Und wir stellen uns vor – Mensch, mit der könnt´sch mal. Ja, mit der, das wär was… da würde ich… und dann kribbelt es in den Lenden. Gut, meistens bleibt es bei solchen Vorstellungen und Wünschen, weil, die meisten von uns sind einfach zu feige… oder zu bequem… o.k. ich vermute das alles bloß.
Jedenfalls die Brigitta - ein Weib wie die „Dschina Lolobridchita“.
Gut, du sagst, wer kennt die Lolo heute noch? Freilich, der Friedrich hat damals so gedacht, als er in seinen Sturm- und Drangjahren gewesen ist - die Brigitta, die sieht aus wie die Lolo in „Fanfan – der Husar“ und womöglich hat er sich wie der Gerard Philip gefühlt, damals, das heißt: früher… und das hat er dem Böhlich auch mal erzählt. Deshalb, das mit der Lolo, weißt du. Doch heute? Heute sagen wir lieber: „Wie die Angelina Jolie!“, bloß die Brigitta ist eben nicht brünett wie die Jolie, sondern schwarz, rabenschwarz, die Haare. Und natürlich ist die Brigitta nicht mehr fünfundzwanzig, sondern knapp das Doppelte, aber ein paar Augen hat die, sag ich dir, da kannst du Feuer mit machen, Flammenwerfer, sag ich dir, tödlich, die versengen dich, da schrumpfst du in Sekunden zu einem armseligen Häuflein, wo dann nur noch die Hormone, die Eiweiße und sowas in dir rumzucken; und dann die Brigittas Wimpern, als ob die angeklebt wären – sind sie aber nicht – alles Natur! Sowas findest du heute kaum noch. Oder? Dann die Figur!
Nee, nicht so modelldünn wie die von den Laufstegen in Paris, wo die Holzpüppchen von dem Lagerfeld und den anderen schwulen Designern herumstolzieren, nee, da ist was dran an der Brigitta, oben und unten, also ich wette 100 – 80 – 100. Und einen Büstenhalter braucht die auch nicht. Da hält alles von selber. Auch das Fahrgestell, also Ferrari ist ein Scheiß dagegen: Beine, wie… ach, was weiß ich, lang und endlos, Beine, die unter den Brüsten anfangen und an denen man immer entlang gleiten möchte mit den Fingern. Verdammt. Ich komm ins Schwärmen… wie der Böhlich.
Nun weißt du, warum dem Böhlich die Augen gezittert haben… Die Meisterin aber hat nur gelächelt, und in ihrem Blick ist jetzt nicht das Sengende oder Leuchtende gewesen, sondern nur so eine Art Dämmerlicht, und sie ist auch gleich wieder rausgegangen.
Also macht´s gut, Männer!
Weil, sie hat gewusst, sie wollen unter sich sein, die wollen ihre Männergespräche führen und nebenher die Brötchen für morgen backen.
Aber, der Böhlich hat ihr nachgeschaut, ach, was sag ich: nachgeglotzt hat er ihr, wie die so rausgeht, die Brigitta, während der Bäckermeister seinen Slibowitz gekippt hat. Und klar, die Brigitta hat gewusst, der Böhlich starrt ihr nach, und so hat sie ihr Unterteil über der Türschwelle kurz kreisen lassen.
Kugelgelagert! hat der Böhlich sofort gedacht und, blöd, ihm ist die Lehrzeit im Transformatorenwerk eingefallen, wo sie die richtig großen Kugellager eingebaut haben. Und „Klack!“ die Backstubentür ist ins Schloss gefallen, was den Böhlich aus seinen Gedanken reißt.
Inzwischen hat aber der Bäcker Friedrich die Gläser wieder nachgefüllt.
Auf einem Bein kannst de net stiehn! Ganz klar. Dann mach´ n wer glei lus.
Hast du gemerkt? Vielleicht ist ja nur der Slibo Schuld, aber man hat das Erzgebirgische wieder mal deutlich rausgehört! Weil, der Friedrich stammt eigentlich aus Lößnitz bei Aue, aber er ist schon vor fünfundzwanzig Jahren „nach Cossebaude gemacht“, wegen der Brigitta, klar, denn die ist ne geborene Cossebaudern, und nur ganz selten hört man bei dem Bäcker Friedrich noch die einheimische Mundart durch…
Die Männer kippen den Pflaumenbrand, wischen sich die Münder ab.
Wortlos geht Böhlich durch die dritte Tür nach draußen, sie führt auf einen halbdunklen Gang, der zum Verkaufsraum führt, wendet sich dann nach links zu einem kleinen Kämmerchen, öffnet eine Schranktür. Hier hängt seine Bäckerkluft, unten stehen die Latschen, breite Treter, eine Art Pantoffeln. Natürlich von weißer Farbe auch die, wenn auch nicht blütenweiß, sondern wie schmutziger Schnee, also ein bisschen grau, aber dafür bequem und an die Füße des Oberkommissars gewöhnt. Gut, du musst sie ja nicht an die Nase halten, weil, der Böhlich hat einen ziemlichen Fußgeruch. Deswegen keine Fliegen in der Backstube! Ha, ha, ha – kleiner Witz! Egal. Also der Böhlich kleidet sich um, setzt sich zum Schluss noch die weiße Bäckermütze auf, nicht so eine hohe, wie im Film oder wie eine Kochmütze, nein, bloß ein Schiffchen, fast wie das Käppi aus den alten Armeezeiten, natürlich nicht „einstrichkeinstrich“, sondern „backstubenweiß“. Er macht Licht, betrachtet sich in einer Spiegelscherbe, einem halben Spiegel, der da an einem Strick hängt. Und er schmunzelt, denn die Verwandlung ist perfekt, kein Mensch der Welt hielte ihn jetzt noch für etwas anderes als einen Bäckergesellen. Und auch der Meister Friedrich muss schmunzeln, wie er ihn so sieht, er feixt breit so wie jedes Mal.
Hallo Altgeselle! sagt er, weil, sein Freund, der Hauptkommissar, hat sich vollkommen verwandelt. Ob du´s glaubst oder nicht, fährt er fort, du erinnerst mich jedes Mal an den Bastupeit, den Georg, weeßt du, diesen Halodri, der vor der Wende bei mir gearbeitet hat und den ich nach der Wende rausgeschmissen hab. Meine erste Entlassung als kapitalistischer Unternehmer. Ich hätt den Kerl schon früher gefeuert, aber wir durften ja nich.
Tschuldige, sagt der Bäckermeister, du weeßt das ja alles, habs schon hundertmal erzählt, ich komm bluß jedes Mal druff, wenn ich dich so sehe, in der Bäckerkluft, ha, ha… ich gloob sogar, dos sin den Georg seine Hosen.
Böhlich klotzt, schaut auf seine Hosen. Zuzutrauen wär´s dir, Knauser!
Beide feixen. Na, nu mach´n mer aber los…
Der Bäckermeister ist inzwischen schon bei der Teigvorbereitung. Und, während er das Weizenmehl, die Hefe, das Salz und ein wenig Butterschmalz, auch lauwarmes Wasser mit einem Messzylinder zum angegorenen Restteig in die Knetmulde gibt, den elektrischen Knetwendel einschaltet, der sogleich summend und kreisend mit seiner Arbeit beginnt, da sagt er nach rückwärts über die Schulter zum Böhlich: Eh, Jacek, aufgepasst! Fang schun ma mit dem fertchen Teeg von gestern an, der steht wie immer drühm im Holzregal, knet ihn ordentlich durch. Du weeßt schu.
Ja, der Böhlich weiß Bescheid. Nichts lieber als das! denkt er.
Seine Augen leuchten, der Mund zuckt, denn das Handkneten, ach ja… und eine Gier fällt ihn an, eine rasende Lust, er liebt diesen plastischen gelblich blassen Teig fast wie die Haut einer Frau, als hätte er ein Weib wie die Brigitta unter seinen Händen, so patscht er und wendet die weiche, handwarme Teigmasse auf der bemehlten Unterlage, formt sie hin und her, denkt auch, abwegig und kurz, komisch – warum nur? an die braune Plasteline aus der Kinderzeit, wo sie allerlei Tiere, Ritter, Indianer und Fantasiegestalten formten, sie wieder zerstörten und von vorne begannen…
Und so walkt er und formt und gerät ziemlich schnell ins Schwitzen, denn es ist warm in der Backstube und der Kittel lässt kaum Luft durch, er denkt daran, dass er doch lieber das Unterhemd ausgezogen hätte und barfuß in die Galoschen gefahren wäre, ängstigt sich, dass nur kein Schweißtropfen in den Teig fällt, und siehe im rechten Moment, denn an seiner Nasenspitze sitzt schon einer, der darauf wartet, herabzutropfen, da, die Rettung, tritt der Bäcker an ihn heran:
Komm, ich mach weiter, du siehst ja aus wie im Fitnessstudio, rot und verschwitzt, ruh dich einen Moment aus oder mach die Presse fertig… bist ja selber schuld, Jacek, dass du so klotzen musst, warum willst du, dass ich jedes Mal, wenn du kommst, den zwei Gesellen frei gebe. Die Beiden würden hier schon Erleichterung schaffen. Aber, wem nicht… und er lässt offen, welche Redensart er auf der Zunge gehabt hat.
Der Hauptkommissar antwortet nicht, er brummt nur was, tritt an die Brötchenpresse, hantiert daran herum, streut Mehl ein, und seltsam, ihm fällt dabei die Tote vom Domkeller wieder ein, obwohl, es besteht gar kein Grund dafür. Die Sache scheint doch klar. Herztod. Natürliche Ursache. Aber trotzdem, er hat so ein Gefühl und, erinnerst du dich, bei Böhlich haben die Gefühle und die Ahnungen immer einen besonderen Stellenwert. Das sind für ihn wie kleine Tatumstände, eine Ahnung ist ihm Antrieb und aufkeimende Gewissheit, und nicht selten hat ihn gerade so eine Ahnung, mehr noch als irgendwelche harten Fakten, auf die richtige Spur geführt. Und so kommt ihm auch jetzt wegen der toten Omi vom Burgberg so eine Ahnung an. Weil, alles viel zu glatt. Hätte der Notarzt alleine machen können. Natürlicher Tod, schön und gut, aber… nein, irgendwas stimmt da nicht, ja die Ahnungen, die Ahnungen…