Franzi - Klaus Funke - E-Book

Franzi E-Book

Klaus Funke

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Beschreibung

Franzi ist eine rätselhafte junge Frau. Niemand weiß so recht, wo sie herkommt, was ihr Leben bisher ausgemacht hat. Auch ihr neuvermählter Ehemann, ein Buchhändler, kommt ihr nicht näher. Klar ist, es gibt eine dunkle Seite in ihrem Leben. Will sie sich rächen für sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit? Hat sie gar einen oder mehrere Morde begangen? Woher kommt ihre Kleptomanie? War sie früher einmal eine Prostituierte? Ihre Mutter liebt sie beinahe abgöttisch, verzeiht ihr alles. Franzi ist eine schöne, verführerische und intelligente Frau. Sie kann sich vor Anbetern kaum retten. Als Ihr Ehemann verunglückt und ins Krankenhaus kommt, könnte das für Franzi eine Wende bedeuten. Wird sie den richtigen Weg finden oder im letzten Moment alles infrage stellen? "Franzi" ist ein Psychothriller, wie er raffinierter kaum ersonnen werden kann, spannend bis zur letzten Zeile.

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Der Autor:

Zum Autor: Klaus Funke, geboren in Dresden, ist ein bekannter Autor erfolgreicher Romane wie „Zeit für Unsterblichkeit“ – „Der Teufel in Dresden“

„Die Geistesbrüder“ – „Heimgang“ u.a. Mit dem Romanen „Franzi“, „Ein einsames Haus“ legt er eine Krimireihe vor, zu der z.B. außerdem noch „Jacek Boehlich und die blonde Tote“, „Jacek Boehlich und das Gold der Toten“ u.a. gehören.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Prolog

Wenn wir uns aus den Augen verlieren sollten, treffen wir uns am Gasthof „Drei Linden“.

Franzi, Du fährst bei Opa Walter mit.

Die Achtjährige zieht ein Gesicht, aber sie geht zu Opas Gefährt, dem Krankenfahrstuhl Marke „Krause-Duo“, einem dreirädrigen Fahrzeug mit Mopedmotor und schmalen gummibereiften Speichenrädern. Dort wartet sie bis der Alte auf seinen Krücken heran ist.

Der Familienausflug war lange geplant. Nicht alle hatten in Onkel Karrenbusches Lada Platz gefunden. Einer muss bei Opa Walter, dem Stiefvater der Mutter, mitfahren.

Franzi soll es sein. Das hat Irmlin, die Mutter, bestimmt.

Bis dann also. Die Motoren werden gestartet.

Es geht los.

Zum Gasthof „Drei Linden“ sind es nur etwa 10 Kilometer.

Und tatsächlich, bald ist der langsame Krankenfahrstuhl außer Sicht.

Egon, fahr nicht so schnell. Opa Walter kommt nicht mit.

Ach, der weiß doch, wo wir hinwollen. Wird es schon finden…

Es ist ein ungemütliches Fahren im Krause-Duo. Laut, zugig, langsam. Man kann während der Fahrt nicht normal Reden. Man muss schreien. Auch stinkt es nach den Abgasen.

Plötzlich biegt der Alte in einen Waldweg ein. Schaltet den Motor aus.

Muss mal austreten.

Franzi dreht den Kopf weg, als der Großvater neben dem Fahrzeug stehen bleibt und sein Glied umständlich auspackt. Nachdem er wieder eingestiegen ist, startet er nicht gleich.

Plötzlich. Die runzlige Greisenhand, altersfleckig mit gelben Fingernägeln, schiebt sich auf dem roten Kunstledersitz dem nackten Mädchenschenkel entgegen. Franzi trägt ein kurzes graurot kariertes Faltenröckchen und weiße Kniestrümpfe… Die Vögel zwitschern im Walde. Der Wind braust oben in den Wipfeln. Ansonsten herrscht das Schweigen des Waldes ringsum…

Wo der Opa und die Franzi nur bleiben? Es wird doch nichts passiert sein.

Der Rest der Ausflugsgesellschaft wartet vor dem Gasthof „Drei Linden“. Man schaut auf die Armbanduhren. Für wann war der Tisch bestellt?

In zehn Minuten muss einer reingehen und dem Wirt Bescheid sagen.

Ach was, die werden schon kommen.

1

An irgendeinem Frühlingsnachmittag, ungefähr zwanzig Jahre nach den oben beschriebenen Ereignissen, sitzt Irmlin Schönlebe in ihrem Häuschen in Reinhardsdorf, einem Dörfchen in der Sächsischen Schweiz. Sie sitzt am Fenster und liest in der Zeitung. Es ist die Sächsische Zeitung. Die kennt sie nun schon seit über fünfzig Jahren. Freilich die Zeitung von damals ist es nicht mehr. Fast schon ein kleinwenig wie die Bildzeitung, denkt sie. Skandale! Skandale! Verbrechen! Morde! Dafür keine seitenlangen Berichte von Parteitagen und den Erfolgen der Werktätigen mehr. Die Frau sitzt am Fenster, weil sie das Tageslicht noch nutzen will. Das Häuschen hat kleine Fenster und im hinteren Zimmerwinkel ist es nicht mehr so hell, dass man ohne Licht lesen kann. Die Schönlebe ist Ende Sechzig. Seit vier Jahren Rentnerin. In den letzten Jahren ist sie ein wenig füllig geworden, indes nicht zu sehr, und das graue Haar wird am Scheitel schon ziemlich dünn. Zum Friseur geht sie indes nicht mehr gern, weil sie sich dann anhören muss, was die Friseuse über ihr Haar sagt. Sie sollten über eine Perücke nachdenken, Frau Schönlebe.

Eine Perücke!? Aber Frau Weiße. Was das kostet!

Sie Sonne steht schon hinter dem Wäldchen. Aber noch ist es hell genug und die alte Frau kommt ohne Brille aus. Langsam blättert sie die Seiten um. Die Zeitung fängt sie immer von hinten an zu lesen. Zuerst die regionalen Annoncen. Wer gestorben ist, wem zum Siebzigsten oder Achtzigsten gratuliert wird. Verkaufsangebote. Und natürlich Werbung, Werbung, Werbung. Manchmal ist etwas Interessantes dabei…

Dann auf Seite → eine Schlagzeile, fettgedruckt, mit Bild: Hamburg – Mord im Penthouse auf der Jessenstraße! Das Bild: Ein Zimmer mit einem Bett in der Mitte. Darauf ein älterer Mann. Beleibt, mit Stirnglatze, grauer Haarkranz. Sein Oberkörper, gelblich, ohne Haare auf der Brust, ist entblößt. In der Herzgegend eine Wunde. Eine Stichwunde. Und Blut. Viel Blut. Rechts neben dem Mann ein Messer. Auch die Schneide ist blutig. Geronnenes Blut. Man kann es gut sehen. Es ist offenbar ein scharfes, langes Messer, eine Art Tranchiermesser. Unter dem Bild der Text…

Die alte Frau lässt die Zeitung sinken, starrt zum Fenster hinaus.

Warum muss sie sofort an Franzi denken? Warum? Wahrscheinlich gibt es keinerlei Zusammenhang zu ihrer Franzi.

Nein, natürlich nicht, es handelt sich um irgendeine Unbekannte. Ganz sicher. Warum soll ausgerechnet Franzi…? Franzi könnte doch nicht… aber immerhin, Franzi wohnt in Hamburg auf der Jessenstraße und sie wohnt in einem Penthouse. Das weiß sie genau und hat es sich gemerkt. Und gleich auf einem Zettel geschrieben. Penthouse!? Was ist das? hat sie gefragt und Franzi hatte einen Lachanfall bekommen. Typisch meine Mutter! Die Wochenpreise von Kartoffeln und Weißkohl weiß sie, aber was ein Penthouse ist…

Vor einem knappen Jahr sind sie sich zum ersten Mal wiederbegegnet. Sie und Franzi, ihre Tochter. Nach Jahren der Trennung war das, nach Jahren, in denen man nichts voneinander hörte und wusste. Nicht das Geringste. Sie erinnert sich, und sie weiß nicht, dass ihre Erinnerungen das Geschehen von damals romantisieren, alles in jenem Licht zeichnen, in dem sie es gern gesehen hätte, im Lichte einer verklärenden Mutterliebe. In Wahrheit, das wird sie später schmerzhaft erkennen, ist alles, zumindest in großen Teilen, gänzlich anders gewesen: Auf alle Fälle - es war im Sommer des vergangenen Jahres. Sie hatte im Garten gearbeitet, stand in den Erdbeerzeilen, ein Eimerchen neben sich, einen toten Vogel zwischen den welken Blättern und Pflanzenresten. Sie fand ihn im Erdbeerbeet. Der Rücken hatte ihr vom vielen Bücken weh getan. Sie hatte sich aufgerichtet, die Hände in die Hüften gestützt. Da hielt ein großer Wagen vor ihrem Grundstück, nur ein paar Meter vom Gartentor weg. Ein Taxi. Und eine schlanke junge Frau stieg aus. Kurze rötlich blonde Haare, Sonnenbrille, modisch gekleidet. Sie hatte gleich gewusst, das ist sie. Sie sah es am Gang, wie sie über die Straße kam und auf ihre Gartenpforte zuging, sie sah es an der Körperhaltung, wie sie die Schultern beim Gehen eindrehte, wie sie den Kopf hielt und sie spürte es im Herzen - das ist ihre Franzi. Sie hatte den Eimer stehen lassen, beinahe hätte sie ihn mit dem Fuß umgestoßen. Mit wenigen Schritten war sie an der Pforte. Breitete die Arme aus.

Franzi!

Und die junge Frau, ihre Franzi, war einen Meter vor ihr wie angewurzelt stehen geblieben, hatte sie unverwandt angesehen, wie etwas, das man erst einmal wiedererkennen will… dann nach einer Ewigkeit hatten sie sich umarmt. Langanhaltend und intensiv. Aber kein Kuss war gegeben worden, keine Zärtlichkeit und als die Mutter den Versuch machte, ihre Tochter auf die Wange zu küssen, hatte die sich weggebogen… So waren die ersten Minuten vor fast einem Jahr gewesen. Die ersten Augenblicke nach einer siebenjährigen Trennung.

Im Haus und an den nächsten Tagen dann, die Tochter war etwa eine Woche geblieben, waren sie sich allmählich ein wenig näher gekommen. Aber echte Herzlichkeit war seitens der Tochter nicht entstanden. Immer blieb eine unsichtbare Distanz. Immer beobachteten sich die beiden Frauen, misstrauisch und fremd, immer, wenn eine von ihnen gerade abgelenkt war, musterte die andere ihr Gegenüber. Wie zwei fremde Vögel. Sie sprachen wenig, sie sprachen sanft aber kühl miteinander. Vieles, was die Mutter erwähnte, blieb der Tochter Nebensache oder etwas, an das sie sich nicht erinnern konnte oder wollte. Das weiß ich nicht mehr, daran erinnere ich mich nicht, sagte Franzi, und sie vermied das Wort „Mutter“ so als ob sie sich davor scheute. Die Mutter wechselte dann schnell das Thema. Es gab keine Umarmungen, es gab keine Zärtlichkeiten, stattdessen zahllose töchterliche Ermahnungen oder gar Spott, denn Franzi hielt ihre Mutter für zurückgeblieben, vielleicht sogar für ein wenig dumm, für eine alte Frau am Rande der zivilisierten Welt.

Harte Worte zwischen ihnen fielen nur, als vom Vater die Rede war, diesem gewendeten Funktionär, der jetzt eine hohe Position in einer Bank bekleidete und der immer noch bei seiner ersten Frau lebte, der sich nie zu seiner früheren Geliebten, Franzis Mutter, bekannt hatte, geschweige denn zu seiner Tochter Franzi, einem seiner Meinung nach missratenen Kind, welches er seinerzeit nach dem Westen hatte abschieben lassen, als sie für ihn, den hohen Funktionär der Staatspartei, zum politischen Risiko geworden schien.

Es war der alten Frau peinlich und unangenehm, dass Franzi hergekommen war, um gerade diesen Mann zur Rede zu stellen, dass sie ihn auf nicht gezahlten Unterhalt verklagen wollte und derartiges und mit ihm überhaupt nach all den Jahren abrechnen wollte. Nur widerwillig hatte die Mutter ihre Tochter zu diesem Mann begleitet. Doch seltsam, der Streit war nicht eskaliert, es war herausgekommen: der Vater würde zahlen und er, der schlaue Taktiker, war allem anderen raffiniert ausgewichen. Damit war die Sache erst einmal erledigt.

Ein paar Mal hatte die Mutter auch versucht, auf die alte Sache aus den Kindertagen der Tochter zu sprechen zu kommen, auf den Missbrauch durch den Großvater Walter, ein Ereignis, von dem sie erst vor wenigen Jahren, als die Tochter längst in Hamburg lebte, erfahren hatte. Aber auch das gelang ihr nicht. Ein Gespräch darüber wollte einfach nicht zustande kommen. Dabei hatte die alte Frau wirklich die Absicht, alles auf den Tisch zu packen, sie hatte erklären wollen, dass sie von dieser Ungeheuerlichkeit die ganze Zeit wirklich nichts gewusst, ja dass sie erst vor kurzem und eigentlich per purem Zufall erfahren habe und dass sie vollkommen erschüttert gewesen sei. Sie hatte geglaubt, dass diese Sache das Eigentliche wäre, was zwischen ihr und ihrer Tochter noch stünde, und wenn es ausgeräumt würde, dann käme wieder alles ins Lot… aber es war weder das Eigentliche, noch war es eben zu dieser notwendigen Aussprache gekommen, es war von der Tochter Franzi beiseite gewischt worden, denn Franzi wollte ihrer Mutter etwas ihrer Meinung nach viel Wichtigeres gestehen, etwas, das sie unmöglich hätte schreiben können, etwas, das sie ausführlich erklären und begründen wollte, nämlich, welcher Tätigkeit sie in Hamburg seit Jahren nachging, und sie wollte die alte Frau dabei nicht verschrecken, wollte deswegen langsam und auf Umwegen beginnen. Doch dann, als ob der Teufel seine Hand im Spiele hätte, war irgendetwas dazwischengekommen, ein Anruf oder ein Nachbar hatte geklingelt…

Und so war auch diese dritte Information zwischen den Beiden, die dritte Aufklärung ungesagt geblieben. Wir wissen, oft ereignet es sich, dass wir jemandem etwas ganz Wichtiges sagen wollen, dass wir uns gewissermaßen erleichtern wollen, eine Sache, die uns eine Ewigkeit auf der Seele liegt, wir wollen, wir müssen sie loswerden, doch dann, bevor wir auf diese Sache zu sprechen kommen, werden wir abgelenkt, verflixt, wieder kommt etwas dazwischen, wieder bleibt diese hochwichtige Angelegenheit ungesagt… und seltsam, wir sind so gar nicht böse darüber. Wir verschieben die Sache eben, es wird später noch Zeit sein, sagen wir uns. Aber wir wissen nicht, das später kommt nicht, es kommt nie… und so bleibenmanche delikaten und hochwichtigen Angelegenheiten zwischen sich nahe Stehenden ungesagt. Wochen, Monate, Jahre vergehen manchmal. Und auch zwischen Franzi und ihrer Mutter war das so. Ein Verhängnis, die Alte erfuhr nie, was ihre Tochter eigentlich in Hamburg trieb. Es blieb ihr unbekannt. Es ergab sich einfach nicht. Auch nicht bei diesem letzten Besuch der Tochter im vergangenen Jahr. So wie auch ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter über jene Angelegenheit mit dem Großvater niemals zur Sprache kam… alles blieb wie es gewesen war, ungelöst, ungesagt, offen.

Etwa zehn Tage vor den oben beschriebenen Ereignissen:

Warum nehmen Sie nicht den Fahrstuhl, Fräulein Schönlebe? Und ach, einen schönen Abend wünsche ich noch, ruft die Concierge der Franzi zu, als die die breite mit einem weichen Läufer belegte Treppe herunterkommt und an der Pförtnerloge vorbeigeht.

Oh, ich brauche noch ein bisschen Bewegung, Frau Guntermann. Auch Ihnen einen schönen Abend, gibt die junge Frau zur Antwort. Dabei ist sie neugierig, ob die Alte ebenso freundlich mit ihr plauderte und sie grüßte, wenn sie wüsste, was sie in dem kleinen hellbraunen Handkoffer mit sich führt, den sie eben jetzt in der linken Hand trägt. Und vor allem, was würde sie sagen, wenn ihr bekannt wäre, was da oben in der leeren Nachbarwohnung auf dem Bett liegt…

Aber sie weiß es nicht, die gute alte Guntermann, sie kennt den Inhalt des Köfferchens nicht. Sie weiß nichts von dem Gegenstand auf dem Bett im leeren Appartement nebenan.

Jawohl ein Gegenstand. Ein Gegenstand nur noch…

Franzi tritt auf die regenfeuchte Straße und nimmt sich ein Taxi nach Winterhude. Das ist zwar unnütze Verschwendung, weil man es bequem mit der U-Bahn schaffen könnte. Doch heute ist ein besonderer Tag, und einmal muss man sich etwas gönnen, muss man nobel zu sich selbst sein. Nach Winterhude zum Grasweg, bitte! sagt sie. Nummer 83, ergänzt sie. Das ist die Pension Gutenforst. Der Taxifahrer nickt und stellt das Taximeter ein.

In der Pension schien man froh, als Franzi ankam.

Oh, Frau Schlehdorn, es sind nun gewiss drei Monate her, dass Sie das letzte Mal hier waren, nicht? Bleiben Sie lange? Sie können Ihr gewohntes Zimmer haben. Diesen Monat ist kein gutes Wetter zum Hochseeangeln. Aber Sie werden wohl nicht zum Angeln rausfahren? Ich lasse Ihr Gepäck gleich nach oben bringen. Möchten Sie Tee? Ach, Sie haben heute weiter kein Gepäck? Nur die Umhängetasche und den kleinen Koffer? Das macht nichts.

Franzi fühlte sich in dieser Pension immer großartig. Hier wurde sie wie eine Dame behandelt. Alles war so gediegen und vornehm. Schlehdorn! Hiltrud Schlehdorn nannte sie sich hier. Kaum Dreißig, aber schon Kapitänswitwe. Kapitän Schlehdorn hatte bei der Reederei Voss & Rotschopf als besondere Kapazität gegolten. Dann war er von einem Tag auf den anderen verschollen. Keiner wusste, wo er geblieben war. Von seinem Schiff keine Spur. Seemannsschicksal. Die See hatte ihn zu sich genommen. Man fragte nicht weiter. Diskretion, versteht sich.

Ihr Zimmer hier in der Pension war erste Sahne. Das Richtige für eine Kapitänswitwe. Das Schlafzimmer mit den Empiremöbeln schaute auf den Hof mit den Akazien. Das Prachtbett mit den vier Pfosten war fürstlich. Der Baldachin darüber mit dem türkischen Sternhimmel wie vom Hof des Sultans. Ein dicker Teppich verschluckte jeden Laut. Das Personal in der Pension wechselte nie. Es war ein Teil der Einrichtung. Von hier aus fuhr sie sonst zum Hochseeangeln oder sie ritt aus. Der Park von Winterhude war groß genug. Der Pferdehof gleich nebenan. Dort stand ihr Jago, ein zehnjähriger brauner Wallach. Stundenlang saß sie auf dem Pferderücken. Es entspannte sie ungeheuer. Abends ging sie häufig in eine alte Schifferkneipe, aß etwas deftiges Seemännisches, kam im gelben Schein der Laternen heim.

Das war ein Leben und statt zwei Wochen zu bleiben, blieb sie häufig vier.

Oben im Zimmer angekommen, nahm sie die Umhängetasche vom Bett, schaute routinemäßig, ob der kleine Handkoffer noch unversehrt war. Dabei war das Quatsch. Sie hatte ihn ja nicht aus der Hand gegeben. Aus der Umhängetasche nahm sie die Wäsche. Alles neu. Büstenhalter, Halbschale, knappes Höschen, fast wie ein String. In smaragdgrüner Seide. Italienische Schuhe von Paco Gil. Nylons von Garter Stockings. Ein AJC Sommerkleid, ausgestellt, mit Blumen Druck, zusammengefaltet in einem Schächtelchen von der Größe einer Zigarettenschachtel. Nein, es war nicht nur Vorsicht. Sie hatte es schätzen gelernt. Vermutlich sei sie ein bisschen komisch, dachte sie, oder sonstwas, aber bei ihr musste alles seine Ordnung haben. Und sie hätte es gern, wenn es bei allen Menschen genauso wäre. Deshalb sähe sie die Affäre mit diesem Torsten Schrempff, die seit über einem Jahr immer noch andauerte und die sie gern beendet hätte, am liebsten hinter sich. Oh dieser Kerle, aber auch ein paar von ihren Freundinnen, sie wollen sich einfach nicht abhängen oder ablegen lassen. Das ist wie ein Charakterfehler bei ihnen. Solche Typen laufen über wie ein volles Glas und durchkreuzen einem die Pläne. Wie dieser bedauernswerte Torsten zum Beispiel, den sie einfach nicht loswerden kann, und an den sie deshalb überflüssigerweise immer wieder denken muss; der glaubt natürlich, sie wirklich zu lieben. Ganz große Leidenschaft. Womöglich echte Heiratspläne. Und nur, weil sie sich ein paar Mal zu oft getroffen haben, weil er sie manchmal besteigen durfte, und weil sie ihn immer wieder hingehalten hatte. Oh, es ist diese uralte Geschichte.

Sie hatte, bevor sie endgültig ging, ihre alte Wohnung in der Jessenstraße gründlich durchgesehen. Gestern schon. Vor der Sache natürlich. Oh, sie hatte an alles gedacht. Gründlich, wie gesagt, sah sie die Wohnung durch. Sie begann in der Küche. Das einzige, was sie darin noch entdeckte, war ein Teedeckchen gewesen. Sie hatte es sich irgendwann einmal schenken lassen. Von wem weiß sie nicht mehr. Sie hatte es zu den anderen Sachen in die blaue Mülltüte gepackt. Dann nahm sie sich das Bad und zuletzt das Wohnzimmer vor.

Und sie musste immer daran denken wie sie in Elmsbüttel letztes Jahr den grauen Sommermantel liegen ließ. Darum blieb sie jetzt wachsam. Man sieht irgendwas im Hintergrund, nimmt es im Unterbewusstsein wahr, aber dann lässt man es liegen, und es ist zu dumm, dass man deswegen nicht zurückkommen kann.

Sie hatte sogar den bunten Abreißkalender abgehängt und ihn weggepackt. Dann hatte sie das kurze rote Jäckchen, ihr Lieblingsteil, angezogen, die Umhängetasche genommen und den kleinen hellbraunen Koffer und die Tür zum Flur geöffnet… ins Nachbarappartement ist sie nicht mehr gegangen. Den Nachschlüssel, den sie besaß, hat sie weggeworfen. In den Gulli, noch gestern Abend.

Jetzt hier in ihrem Pensionszimmer setzte sie sich in den alten Plüschsessel, sie sitzt gerne darin, er erinnert sie irgendwie an ihre Mutter. Nein, eine Zeitung würde sie nicht lesen. Sie las ganz selten Zeitungen. Doch dann war ihr Blick auf die kleine Kommode gefallen. Sie stand auf, nahm die Hamburger Morgenpost. Sie blätterte, lustlos und gelangweilt, sie suchte nicht, sie wusste, sie würde nichts darin entdecken. Noch nicht. Vielleicht morgen oder übermorgen stünde etwas drin. Wahrscheinlich übermorgen. Sie wollte nicht, versuchte gleichgültig zu sein, beinahe hätte sie ein Liedchen gesummt, aber dann dachte sie doch an den alten Sack, dieses verdammte Schwein… der lag jetzt in der Jessenstraße in der Nachbarwohnung auf dem Bett und er würde schon anfangen zu stinken, er lag da wie ein gestrandeter Schweinswal, blass, bläulich, die Lippen schon schillernd und kleine Blasen würden zwischen ihnen aufsteigen… sie erinnert sich an seine Hände, die linke hing vom Bettrand herunter, die rechte lag steif an der Körperseite. Es waren Hände, violett geädert, mit bräunlichen Altersflecken bedeckt und mit gelblichen Fingernägeln, Zeige- und Mittelfinger der linken Hand schienen geschwollen, über den Rücken dieser Hand lief eine weiße Narbe…

Das war es! Die Narbe!

Die Narbe!

Und auch die gelbe Farbe der Nägel! Wie bei ihm! Genau wie bei ihm!

Dann sah sie das Bild. Dem Mann war eine Fotografie in Postkartengröße aus der Jackettasche gefallen, er hob sie auf, betrachtete sie und zeigte sie Franzi. Darauf sah man den Alten im Kreise von drei lachenden kleinen Kindern. Meine süßen Fratze! sagte er. Franzi starrte auf das Bild und wurde bleich. Als sie dann zu allem Unglück noch seine Hand gesehen hatte, war alles wieder da. Er hatte angerufen. Ein Kunde. Er stand vor ihr, gab ihr die Hand. Sie sah auf die Hand und wie eine Sturzflut kamen die Bilder: Sie roch den abgestandenen Atem des Großvaters und den widerlichen Geruch, der von seinem geöffneten Hosenschlitz kam. Die Luft des Waldes wehte von einer Seite heran. Sie hörte die Vögel. Die Vögel, ja… und dann war da diese plötzliche Stille danach.

Das Messer lag griffbereit… zufällig. Sie konnte nicht anders… sie lockte ihn in das leer stehende Nachbarappartement. Ein Bett stand, vom Vormieter zurückgelassen, im Salon…

Nummer Vier sagte sie halblaut vor sich hin, dann verließ sie die Wohnung.

Als sie die Tür schloss, dachte sie an ihre Tante Gudrun. Die war immer voller Sprüche gewesen und hatte mal gesagt: „Der Marder mordet die Hühnchen nicht im eigenen Haus!“ Ach, Tante Gudrun, diesmal ging es nicht anders. Keine Regel ohne Ausnahme…

So war es auch mit der Pension Gutenforst. Sie blieb wie sonst vier keine zwei Wochen. Sie sagte, sie wolle nach Hause fahren, zu ihrer Mutter. Sie fuhr aber nach Norden und nur bis Stade an der Elbe, verbrachte die Nacht in einem kleinen Hotel. „Goldener Hahn“, Lönsweg 57. Dort schrieb sie sich als Henny St. Clay ein, sagte, sie sei Engländerin aus Cassington, das ist nicht weit von Oxford. Sie befinde sich auf einer Studienreise durch „the north from good old Germany“, zuletzt wohnhaft im Hotel „Drei Jahreszeiten“ in Bremerförde.

Am Morgen kaufte sie sich einen neuen Koffer und für ihre Zwecke geeignete Frühjahrsgarderobe; dann ließ sie sich das Haar färben – Kastanienrot. Als sie das erledigt hatte, erwarb sie eine Brille, ein Teil aus dem Markt für Siebenfünfzig mit 0,12 Dioptrin. Aber sie wartete noch mit dem Aufsetzen. Als sie am Nachmittag zur S-Bahnstation „Hagenbeck“ kam, holte sie aus den Gepäckschließfach Nr. 2354 die schwarze Mini-Aktentasche ab, die sie vor fast fünf Wochen dort zurückgelassen hatte. Sie passte ideal in den neuen Koffer. Sie besorgte sich eine Fahrkarte zweiter Klasse nach Lüneburg. Das war ebenso gut wie jeder beliebige andere Ort, da sie in Lüneburg noch nie gewesen war. Auch eine Tageszeitung – das Hamburger Abendblatt – kaufte sie am Kiosk. Die war gut geeignet für neue Namensfindungen.

Namen sind enorm wichtig. Sie dürfen weder zu gewöhnlich noch zu abgehoben oder gar selten sein. Nur der Name, der sich wie ein Gesicht in der Menge anpasst, der wie der Nachbar im Haus oder ein entfernter Verwandter klingt, ist richtig. Die Erfahrung hat sie gelehrt, dass der Vorname dem eigenen – also Franziska oder Franzi, ähneln muss, weil sie dann, wenn sie angesprochen wird, ein ganz natürliches Gesicht machen kann und nicht überrascht ist. Ein Glück, dass sie seit ihrer Geburt zwei Vornamen hat, die sich, auch weil sie sich ähneln, gut einzeln verwenden lassen: Franziska Fritzi Schönlebe heißt sie. Da hat ihre Mutter mal ein glückliches Händchen gehabt. Ja, die Namensfindung ist enorm wichtig. Das stimmt. Man muss immer ganz und gar sicher wirken. Überraschung und Unsicherheit können alles verderben.

Schließlich entschied sie sich für Frauke Rügner.

Also nahm Anfang April eine junge Frau namens Frauke Rügner in der Lüneburger Kefersteinstraße Nummer 12 eine Zweizimmer-Wohnung und begann sich nach Arbeit umzusehen. Sie hatte sich gedacht, dass es erst einmal eine ganz einfache bescheidene Arbeit sein müsse. An ihr altes Gewerbe war nicht zu denken. Da wäre sie in einer Grenzzone. Dort würde man zuerst nach ihr suchen. So war sie also allem Anschein nach ein bescheidenes, einfach gekleidetes Mädchen mit kastanienrotem kurzem Haar und einer Brille. Sie trug einen Hosenanzug oder Kleider, die ihr ein bisschen zu weit oder zu lang waren. Das war das probateste der ihr bekannten Mittel. Man muss ein bisschen unordentlich und naiv aussehen und die Figur so gut es geht verbergen – denn, das wusste sie, wenn sie sich schmuck und modisch anzog, war sie ein Blickfang und die Männer schauten sich nach ihr um.

Sie bekam eine Stelle in einem größeren Damenmodengeschäft. „New Liberty“. Das lag in der kleinen Bäckerstraße. Außer ihr waren noch vier Verkäuferinnen und eine an der Kasse angestellt. Dann gab es noch die Chefin und einen Assistenten. Ein kleines Bürschchen mit dunkelblonden Haaren, von dem man nicht wusste, ob er nun schwul oder nur schüchtern war. Sie blieb bis zum Ende des Sommers. Sie war freundlich zu den anderen Verkäuferinnen, doch als sie eines Tages gebeten wurde, mit ihnen einmal in die Vamus-Kulturhalle in der Scharnhorststraße zu gehen, machte sie Ausflüchte. Sie müsse sich um ihre kränkliche Tante kümmern, die wohne in Reppenstedt. Das war ein Vorort von Lüneburg. Die Vamus-Kulturhalle aber war eine berüchtigte und überlaufene Disco. Willy Astor trat dort auf, das war der bekannteste, ansonsten mehr oder weniger no-name DJ ´s und Start-up Bands wie Sunset Project und so weiter. Die Verkäuferinnen flüsterten: So eine Trantute. Oh, die sieht ja schon so langweilig aus. Mit Brille und dann die Klamotten… Na, wenn sie nicht will, dann eben nicht…

Wenn diese Mädchen gewusst hätten, dass Franzi alias Fräulein Rügner ganz anderer Ansicht war. Die Mädchen wollten an ihren freien Tagen oder am Wochenende mit langen, pickligen Gesichtern schäkern, Cola-Wodka oder irgendeinen „Flippy“ trinken, sich die neuesten Hits anhören, Videos gucken, irgendwohin Baden fahren; wenn es klappt, sich einen festen Freund angeln, am besten einen, der ein bisschen Kohle und ein Auto hat, schließlich zu ihm ziehen – das ganze Programm eben. Sie, Franzi, sagte ihnen nicht, sie sollten etwas anderes machen. Wenn das deren Welt wäre, bitte sehr, nur ihre, Franzis Welt wäre das nicht. Sie hatte eine Mission und die war noch nicht erfüllt. Noch lange nicht. Außerdem ging es ihr um richtig viel Geld. Nicht um Spaß haben und Pean-Nuts wie ihren Kolleginnen. Damit gab sie sich nicht ab. Ob sie eines Tages wieder in ihr altes Gewerbe zurückkehren würde, wusste sie nicht. Wenn sie das täte, dann in ganz anderer Weise als früher, und im großen Stil.

Mit der Zeit ödete sie das Modegeschäft in der kleinen Bäckerstraße an und sie fand ihre kichernden Kolleginnen zum Kotzen. Im August dann hatte sie die Nase endgültig voll. Sie bemühte sich im „Modehaus-Pindo“. Das war ein exclusiver Laden im Herzen der Stadt. Er hatte erst vor zwei Jahren eröffnet. Großes Publikum, gutes Bürgertum, Neureiche, Künstler, etwas mit Niveau. Oberste Preisklasse. Nicht sehr groß, ein Eckhaus nur, aber absolut top.

Man suchte eine Hilfskraft für die Kasse und stellte sie für ein Vierteljahr zur Probe ein. Das Modegeschäft in der Bäckerstraße hatte ihr eine halbwegs günstige Beurteilung mitgegeben. Es gefiel ihr auf Anhieb. Nach 3 Monaten bot man ihr eine feste Stelle an und sagte ihr, dass sie jetzt eine Woche Urlaub beanspruchen dürfe. Sie hatte gleich am Anfang danach gefragt und von ihrer kranken Mutter gesprochen. Natürlich war ihre Mutter weder krank, noch pflegebedürftig, nein, sie wollte sie nach einem Jahr tatsächlich wieder einmal besuchen. Einen richtigen Grund hatte sie eigentlich nicht, es war eher so ein Gefühl, verlorene Liebe und ein wenig Geborgenheit nachholen zu müssen. Ach was, sie konnte es nicht erklären, wollte es auch nicht.

Ihre Mutter wohnte, wie wir schon wissen, in Reinhardsdorf im Elbsandsteingebirge. Sie besaß ein kleines Häuschen – auch das wissen wir – und sie fühlte sich einigermaßen gesund. Sie war achtundsechzig und bis auf die Augen, die immer schlechter wurden, konnte sie nicht klagen. Das Häuschen und der Garten füllte sie aus. Ab und zu ging sie ins Dorf hinunter, machte mit diesem und jenem ihr Schwätzchen, dachte viel an ihre Tochter. Ein paar Mal hatte sie billige Busfahrten mitgemacht, in den Schwarzwald, nach Berchtesgaden und nach Husum an die Nordsee. Und noch weitere. Nie war sie länger als drei Tage weggeblieben. Manchmal, indes nicht mehr als zwei Mal im Jahr, rief der Vater ihrer Tochter Egon Karrenbusch, der nach der Wende eine grandiose Karriere hingelegt hatte und vom SED-Kreissekretär zum Bankdirektor im Landkreis Pirna aufgestiegen war, bei ihr an oder er lud sie zu einem Kaffee mit Eis nach Pirna ein. Dann sprachen sie über alte Zeiten, auch von ihrer gemeinsamen Tochter Franziska. Aber diese Gespräche waren weder herzlich, noch vertraulich, eher von ihren wechselseitigen Schuldgefühlen das Kind betreffend geprägt, und sie dauerten nie länger als eine halbe Stunde. Die Tochter wusste nichts von diesen Treffen und sie wäre, wenn sie davon erfahren hätte, in hohem Maße erzürnt gewesen. Dieser Karrenbusch war für sie wie ein rotes Tuch. Er hatte sie in dieses wilde Leben gestoßen, hatte sie in den Achtzigern wie eine Assoziale in den Westen abschieben lassen und sich nie wieder um sein Kind gekümmert. Das schmerzte Franzi immer wieder. Sie hatte im Grunde keinen Vater. Und die Mutter war ihr ebenfalls nie eine wirkliche Stütze gewesen. Nie hatte sie echte Liebe von ihr empfangen. Keine Nestwärme gespürt. Sie war beinahe wie eine Elternlose, eine Entwurzelte aufgewachsen… (ein paar Einzelheiten von ihrem Aufwachsen und von dieser seltsamen Familie werden wir zum besseren Verständnis für den Leser später an geeigneter Stelle noch einzufügen haben)

Eines allerdings musste Franzi ihrer Mutter lassen. Man sah sie trotz ihres Alters und der in den letzten Jahren hinzu gewonnenen Körperfülle nie anders als sorgfältig und ansprechend zurechtgemacht, immer hatte sie ein Gefühl für das Richtige und Saubere, und dafür lebte sie. Als Franzi in dem Dörfchen ankam – sie hatte ihrer Mutter ein Briefchen geschrieben und war von Dresden mit dem Taxi gekommen – saß die Alte am Fenster und passte auf. Franzi hatte die Gartenpforte noch nicht angefasst, da war die Mutter schon da.

Sie war ein eigenartiger Mensch. Das wurde der Tochter nach dem Abstand der Trennung und jetzt bei jedem Besuch noch klarer. Obwohl sie Franzi küsste, und obwohl diese wusste, dass sie der Mutter ein und alles war, konnte sie sicher sein, dass in diesem Willkommen bei Beiden eine gewisse Zurückhaltung lag. Die Mutter wie auch ihre Tochter, und in diesem Punkte waren sie seelenverwandt, beide ließen sich nicht gehen, die Tochter war vielleicht noch ein wenig kühler; und selbst als die Mutter Franzi küsste, blieb diese Distanz. Und während es bei der Tochter jahrelange enttäuschte Liebe war, empfand die Mutter Unsicherheit und Schuld.

Franzi wusste, dass ihre Mutter stundenlang am Fenster gewartet hatte, um sie aus dem Taxi stiegen und auf ihr Häuschen zukommen zu sehen, aber sie wusste auch, dass sie dieses Wissen niemals zeigen durfte, wenn sie nicht die Rolle, die sie beide, ohne es ganz genau zu wissen, voreinander spielten, gefährden wollte.

Sie war eine dickliche Person geworden. Franzi stellte sich voller Angst vor, dass auch sie einmal so werden könnte und sie wusste von Bildern, dass ihre Mutter früher als sie Ende Zwanzig war einmal eine ähnliche Figur gehabt hatte wie jetzt sie.

Das war das Schwere, wenn man von zu Hause fort war. Sie hätte ihre Mutter niemals mit dem Wort „dicklich“ gekennzeichnet, wenn sie bei ihr geblieben wäre. Das Weggehen wie das Wiederkommen zwangen sie, die Dinge mit anderen Augen zu sehen.

Franzi trug ein neues schwarzes Kostüm, eine knallrote Bluse und sie hatte sich die Haare wieder wie früher gefärbt – rotblond.

Die Mutter sah den Blick der Tochter und antwortete: Ach, das ist nicht neu. Ein älteres Kleid, ein bisschen umgearbeitet und modernisiert, natürlich zwei Nummern größer als vor zwanzig Jahren. Von der Stange, das geht bei mir nicht mehr… aber du siehst im Gesicht ein wenig spitz aus, mein Kind. Hoffentlich fordert dein Herr Jademann nicht zu viel von dir…

Herr Jademann war Franzis Erfindung. Sie wusste nicht mehr genau, wann es gewesen war. Auf alle Fälle hatte sie ihn in einem ihrer Briefe im zurückliegenden Jahr geschaffen. Und mit einem Lächeln freute sie sich, dass der Zauber immer noch wirkte. Jademann war ein wohlhabender Geschäftsmann, der viel reiste und seine Sekretärin mitnahm. Dadurch hatte sie sich die Erklärung gespart, dass sie kaum zu erreichen war und nicht immer eine Adresse hinterlassen konnte. Außerdem war es deshalb kein Wunder, dass sie stets gut bei Kasse war, wenn sie zu Besuch kam. Sie hatte unterwegs ihr gutes Gehalt nicht ausgeben können. Nur gut, dass ihre Mutter die Schwäche der Leichtgläubigkeit hatte. Sie durfte ums Verrecken nicht hinter die Wahrheit kommen. Früher nicht und jetzt erst recht nicht. Sie weiß, beim letzten Besuch wäre sie beinahe schwach geworden… doch dann, welch glücklicher Zufall, war es nicht dazugekommen. Das Gespräch wurde unterbrochen… und die Wahrheit blieb ungesagt.

Und dein Haar gefällt mir in dieser Farbe heute gar nicht, sagte die Mutter, es sieht aus, als wolltest du die Männer geradezu anlocken.

Aber, das ist nicht meine Absicht.

Ja, ich weiß, du bist vernünftig. Du wirst dir nichts verbauen mit einer vorschnellen Verbindung zu einem Mann. Das sag ich auch immer zum Jürgen Thümmel…

Du gibst wohl die Hoffnung nie auf, mich mit dem zu verkuppeln…

Ach was, verkuppeln, aber seine Werkstatt läuft prima, da hättest du was Sicheres und Solides… und ihr Tät auch gut zamm´passen…

Hör auf, bitte.

Sie waren mittlerweile in der Küche angekommen. Franzi sah sich um. Hier änderte sich auch nie etwas, dachte sie. Nichts im Hause hatte sich geändert. Alles war noch so, wie sie es kannte. Dieselben Sammeltassen, dieselben Plastikdeckchen, der Farbdruck an der Wand, der gepolsterte Schaukelstuhl in der Ecke, der schreckliche hölzerne Halter für die Eierbecher, dieselbe wurmstichige Kommode, die Küchenuhr mit dem geschwungenen Gehäuse. Franzi hasste sie besonders. Vielleicht, weil sie aussah, als stammte sie aus Großvaters Nachlass, und verdammt, sie erinnerte sich, es war auch so; länglich, oben gebogen, mit gläserner Stirnseite, unten die Pendel und Gewichte.

Ist dir kalt, Franzi? fragte die Mutter, du frierst ja. Der Ofen ist vorbereitet, alles drin, Späne, Papier, Holzscheite und drei Eierbriketts. Habe aber nur noch kein Streichholz drangehalten. Wir haben vormittags immer ein bisschen Sonne auf dieser Seite.

Wann wirst du dir endlich einen modernen Beistellherd anschaffen? Oder einen Gasofen.

Die Mutter antwortete nicht, sie seufzte nur. Willst du Tee?

Ja, ich mach ihn selbst. Während Franzi Wasser aufsetzte und die Teekanne vorbereitete, musterte die Alte vom Küchenstuhl aus ihre Tochter wie ein Katzenjunges, das sie gleich ablecken will.

Franzi hatte Geschenke gekauft und sie, noch verpackt, auf den Küchentisch gelegt. Es war schwierig mit der Mutter, man musste sie immer erst in Stimmung bringen, sonst konnte es geschehen, dass sie nichts annahm und ein trotziges Gesicht machte. Das Hauptrisiko war, dass sie mutmaßte, das Ganze hätte zu viel Geld gekostet. Sie leierte dabei ihre gerahmten Sprüche aus dem Schlafzimmer herunter. Und Franzi musste ein reuiges Gesicht machen und treue Hundeaugen, um Verzeihung für die eigenen Geschenke bitten. Aber Franzi ertrug das alles tapfer, denn, wiewohl sie nicht wusste, ob es Liebe wäre, was sie der Mutter gegenüber empfand, so war es doch ganz sicher Mitleid mit der Alten, das sie spürte. Und dann die verdammten Schuldgefühle! Sie musste immer wieder daran denken, so auch jetzt, wie sie einmal als Teenager der Mutter ein Geschenk gemacht hatte, Perlonstrümpfe, die sie vor Tagen in einem Laden entwendet hatte. Dummerweise die falsche Größe. Darauf hatte sie nicht geachtet. Natürlich kam es raus, die Mutter war irgendwie dahinter gekommen. Es gab ein Riesentheater. Später hatte sie noch ein paar Mal Geklautes an die Mutter verschenkt. Sie konnte ja nicht anders, hatte nie Taschengeld. Und die Ware lockte. Aber da hatte sie es schlauer angestellt. Die Mutter war nicht dahinter gekommen.

Inzwischen, die Mutter hatte die Päckchen vom Küchentisch auf den Schoß genommen und ausgewickelt. Plötzlich rief sie: Menschenskind, Franzi! Das ist ja echte Seide. Das muss ganz schön was gekostet haben?

Es war Nachtwäsche. Markenware von Gattina. Totschick.

Ach, es ging, antwortete Franzi. Dreiundfünfzig Mark. Die Sachen gab es im Schlussverkauf. Gefallen sie dir?

Franzi stand an der Anrichte, goss das heiße Wasser auf den Tee. Die Mutter antwortete nichts. Franzi hörte wie sie auf ihrem Küchenstuhl hin und her rutschte und sie spürte die Blicke ihrer Mutter im Nacken.

Geht es Herrn Jademann gut?

Ach, dem geht´s prima.

Du magst ihn? Er muss ja ein ganz besonderer Mann sein, für den es sich lohnt und Freude macht zu arbeiten. Dem Erwin Thümmel und auch der Irmgard – das waren Leute aus dem Dorf - hab ich schon erzählt, meine Tochter ist Assistentin bei einem Multimillionär und er behandelt sie, als ob sie seine Tochter oder eine Nichte von ihm wäre…

Franzi stellte die Teekanne auf den Aufsatz mit dem Teelicht, stülpte die wattierte Haube darüber, drehte sich zur Mutter um.

Er hat keine Kinder, er ist bloß großzügig und ein gutmütiger alter Herr, weiter nichts.

Aber er hat doch wohl eine Frau? Ich wette, die sieht ihn weniger als du. Und dann in den Hotels. Wenn er abends noch etwas arbeiten und dazu trinken will? Vielleicht empfängt er dich im Pyjama?

Also, rede nicht so einen Unsinn. Ich bin seine Assistentin – das ist alles. Wir verreisen nicht allein. Er hat auch noch eine Sekretärin und einen Chauffeur. Manchmal, wenn es länger dauert, ist auch sein Hausdiener mit dabei. Also, ich bin bei ihm sicher. Da kannst du beruhigt sein.

Nun Kind, ich mache mir eben Sorgen wie meine Tochter in der Welt herumgestoßen wird. Da wird man, ehe man es sich versieht, zum Freiwild für alle möglichen Männer. Und außerdem, du musst sozusagen immer bereit sein. Zu jeder Tageszeit. Denk an deine Gesundheit. Du weißt, deine Knie sind nicht stabil. Die Mutter spielte auf einen Unfall an, den sie als Kind im Bielathal beim Klettern erlitten hatte und wo sie, nach Ärztefehlern und Tagen endlosen Zögerns und Wartens, endlich operiert wurde. Aber sie war die Schmerzen und den Knorpelschaden nie ganz losgeworden, lebte in Angst eines Tages ein künstliches Gelenk beanspruchen zumüssen…

Da klingelt es. Die Mutter geht öffnen. Sie kommt mit einem Mann zurück, und sie sagt, freudig: Schau, Franzi, wer zu uns gekommen ist… Franzi erschrickt, denn den Mann, der da hereintritt, hat sie am allerwenigsten erwartet. Es ist der neue Bürgermeister von Reinhardsdorf Herr Hansen, Arwed Hansen, den sie schon beim letzten Mutter-Besuch, damals am Gartenzaun, getroffen hatte und den sie aus ihrer Hamburger Liebes-Gewerbezeit (sie will sich nicht „Hure“ nennen) kennt, allerdings nannte der sich da nicht Arwed Hansen, sondern Hein Paulsen, behauptete Großreeder zu sein, war aber in Wirklichkeit Abgeordneter der Bürgerschaft; ein versauter alter Knabe, schwer zufrieden zu stellen, und außerdem ein Knauser, immer hat er mit ihr gehandelt, um die Fuffziger, selbst um die Zwanzger gefeilscht, der alte Sack… dann hat er ein Grundstück mit Häuschen hier im stillen Reinhardsdorf geerbt, ist im Zuge der Erbschaftsregelungen hierhergekommen und dageblieben; die Parteifreunde (wer sonst? – CDU) haben ihm einen Sitz im Landtag verschafft, die Bürgermeisterwahlen standen an und im Handumdrehen war er Bürgermeister…

Die Mutter sagt: Franzi! Schau, den Herrn Hansen musst du doch noch kennen. Weißt du nicht mehr? Vor einem Jahr war das, als du das letzte Mal hier warst. Am Gartenzaun habt ihr euch die Hand gegeben! Du hattest gerade mein altes Hochzeitskleid angezogen. Erinnerst du dich nicht? Jetzt bringt er uns die Einladung für das Sommerfest der Gemeinde. Persönlich, stell dir vor. Ist das nicht klasse!? So lernt er die Leute kennen, sagt er, hält den Kontakt. Das hat der olle Gercke (das war alte Bürgermeister) nie gemacht. Na ja, war ja auch SPD… Der neue Bürgermeister lächelt zufrieden. Wahrscheinlich denkt er: Gut gesagt, Frau Schönlebe! Die weiß, was sich gehört.

Franzi tut so, als ob sie sich besinnen müsste, dreht sich weg. Da platzt der Hansen los:

Klar kennen wir uns, Frau Schönlebe. Ich hab ihre Tochter ja mal in Hamburg getroffen… auf dem Gänsemarkt, nicht wahr? wendet er sich an Franzi.

Die sagt nichts, denkt an das kleine Tatoo auf ihrem Oberarm. Scheiße! Das hat damals, als sie das blöde Hochzeitskleid der Mutter getragen hat, freigelegen und der Großreeder hat natürlich das Tatoo sofort wiedererkannt: Kleine Seejungsfrau mit Dreizack. Und so wussten sie beide damals Bescheid, woher sie sich kannten. Von wegen Gänsemarkt. Pah.

Oder ist der „Gänsemarkt“ eine freche Anspielung?

Franzi dreht sich herum, blickt dem alten Sack voll ins Gesicht. Der senkt nicht mal die Augen, der gemeine Typ. Keine Spur von Verlegenheit. Sie sagt: Ja, ja Gänsemarkt. Der wird´s wohl gewesen sein. Alle Welt trifft sich ja auf dem Gänsemarkt…

Die Mutter hört den Spott nicht heraus und der Hansen lässt sich nichts anmerken, aber er hat es plötzlich eilig, wegzukommen. Ich muss weiter, liebe Damen. Sonst wird´s noch dunkel, wenn ich rum bin. Ein anderes Mal mehr, vielleicht. Und „schwups“ ist er zur Tür hinaus. Nicht mal die Hand hat er gegeben…

Die Mutter ging mit Franzis Geschenken hinaus. Vor dem großen Spiegel wiegte sie sich hin und her und hielt die Seidenhemdchen an ihren Körper gepresst.

Heute Abend probiere ich sie gleich an. Ob man die Schnüre anlegt oder offen lässt? Mein Gott, Franzi, da hast du wirklich viel Geld ausgegeben.

Dazu ist es ja da… Beinahe hätte sie „Mutti“ gesagt, aber sie brachte das Wort noch immer nicht über die Lippen.

Die Mutter sagte: Ja, wenn das Geld anständig und richtig ausgegeben wird. Oder auch, wenn man es spart… Du weißt, es heißt: Die Liebe zum Geld ist aller Laster Anfang.

Ja, das stimmt. Aber bedenke, dass man damit Gutes tun kann…

Sie trat auf die Mutter zu, befühlte den Seidenstoff der Hemdchen… sagte, es steht dir. Man muss sich auch selber achten und für wert fühlen. Darum kaufte ich es für dich…

Nach einer Weile setzten sich Mutter und Tochter wieder zum Tee.

Die Mutter fing ein Gespräch an: Ich bekam vorige Woche einen Brief von Tante Gudrun… und da Franzi die Stirn runzelte, ergänzte sie tadelnd, Gudrun ist immer noch meine Schwester und deine Tante. Sie schrieb, dass die Grabpflege von Opa Walter vertraglich neu geregelt werden müsste… sie könne das allein nicht bewältigen… und wir seien ja auch…

Nein. Ich geb kein Geld, es ist mir egal! sagte Franzi schnell und wendete den Kopf ab.

Aber mein Kind. Er ist nun schon über zehn Jahre tot. Man muss auch vergessen können.

Franzi presste die Lippen aufeinander. Leise sagte sie: Wenn du weiter von ihm sprichst, gehe ich

Franzi, bitte!

Nein.

Vielleicht…

Was vielleicht?

Vielleicht übertreibst du auch ein wenig. Ich kann es mir nicht vorstellen. Manchmal phantasieren sich Kinder etwas zusammen.

Wie meinst du das?

Nun. Vielleicht war alles auch ein bisschen anders. Und du tust ihm Unrecht… er ist mein Vater!

Dein Stiefvater!

Na und? Er hat uns alle versorgt und aufgezogen. Er hat sich für uns aufgeopfert.

Aufgeopfert? Ich habe nichts erfunden. Eher noch untertrieben. Ich hätte mir, als ich 18 war, einen Anwalt nehmen sollen. Er hätte vor Gericht gehört, das Schwein. Bei der SS soll er ja auch gewesen sein. Früher.

Franzi! Was soll das jetzt?

Ich will nicht mehr davon reden. Bitte. Hat er sich nicht auch an dir vergriffen, als du Vierzehn warst?

Woher weißt du das?

Ich weiß es eben.

Hat die Gudrun? Hat etwa meine Schwester? Dass die nie ihren Mund halten kann.

Schweigen. Mutter und Tochter sitzen nebeneinander. Mit verschlossenen Gesichtern.

Franzi antwortet nicht, sie senkt den Kopf, schweigt. Sie steht auf, geht hinaus. Ihr klopft das Herz und sie überlegt, ob sie abfahren soll. Nichts hat die Mutter begriffen, sagt sie sich. Sie hält immer noch zu ihm. Warum? Auf ihre Mutter braucht sie doch keine Rücksicht mehr zu nehmen. Das war all die Jahre das Argument. Die ist lange tot. Warum also? Warum also zieht sie noch immer keinen Strich? Plötzlich kommen Franzi die Tränen. Die getuschten Lidränder verwischen. Sie sucht nach einem Taschentuch, weint stumm in den weißen Stoff… dann, mit einem Ruck, geht sie in ihr Zimmer, ergreift die Umhängetasche, stürzt aus dem Haus.

Sie ist schon eine ganze Strecke auf der Straße Richtung Dorf gelaufen, da hört sie hinter sich die Mutter rufen. Franzi! Franzi! Komm zurück. Ich liebe dich doch… komm zurück.

Das andere Mädchen an der Kasse vom „Modehaus Pindo“ hieß Anne Mehdorn. Sie war schon Mitte Dreißig, ziemlich hochbeinig und hatte einen runden Rücken. Im Gesicht sah sie hübsch aus, mit Brille zwar, dunkelblond. Immer ein wenig zu sehr geschminkt. Ein typisches kundenwirksames Kassengesicht. Sie hatte ein seltsames Hobby. Sie verfasste Texte für ein Laientheater. Manchmal las sie Franzi daraus etwas vor. Franzi lobte ihre Kollegin. Doch das war pure Heuchelei. In Wahrheit konnte sie mit den Texten nichts anfangen und sie wunderte sich, dass so etwas öffentlich auf einer Bühne gezeigt wurde.

Die Einteilung an der Kasse war so, dass immer nur eine Kassiererin Dienst hatte, die andere half bei starkem Andrang aus, wartete ansonsten in Bereitschaft oder leistete Handlangerdienste. Ein paar Meter hinter der Kasse, einem protzigen Glaskasten, war das Büro des Direktors des Modehauses. Dieser hatte die Angewohnheit wie ein Kaufhausdetektiv in Sichtweise um die Kasse herumzuschleichen oder auch plötzlich und ohne Vorwarnung aus seinem Büro hervorzuschießen und sich in die Schlange vor der Kasse einzureihen. Dort wartete er still, bis noch zwei Kunden vor ihm waren, dann retirierte er zur Seite und umschlich den Glaskasten der Kasse wie eine Katze die Milch. Das war für die Kassiererinnen unangenehm. Sie fühlten sich kontrolliert und beobachtet, von Misstrauen umgeben. Häufig mischte er sich auch unter die Kunden in den Verkaufsräumen oder er postierte sich an Haupteingängen, es fehlte nur noch, dass er die Einkaufstaschen durchwühlte, sogar vor den Personaltoiletten bezog er ab und zu Posten. Ob er eine Strichliste führte, welche von seinen Verkäuferinnen wie viele Male während einer Schicht aufs Klo ging, wusste man nicht. Auf alle Fälle: Sein Hauptaugenmerk galt dem Personal.

Er war ein Kaufmann der alten Schule und führte das Modehaus so, wie er es von seiner Mutter übernommen hatte. Die hatte das Haus bis zu ihrem dreiundachtzigsten Geburtstag geleitet. Von Neuerungen und Elektronik hielt der Direktor nichts. Er wollte persönlich alles unter Kontrolle haben. Wenn er an die Kasse kam, kontrollierte er das Wechselgeld, nahm die großen Scheine mit. Jeden Morgen kam er vor Öffnung des Hauses in sein Büro, schloss den Kassenschrank auf, wartete bis die Banken öffneten, brachte dann die Einnahme vom Vortag in dunkelblauen Bar-Bags, die er in einem unscheinbaren Pappkoffer verstaute zu einer Filiale der Raiffeisenbank, die gleich um die Ecke lag.

Manchmal brauchten die Kassiererinnen mitten in der Schicht neues Wechselgeld. Dann musste die, welche in Bereitschaft war, das Wechselgeld aus dem Direktorenbüro holen. So auch Ende August, kurz nachdem Franzi vom Besuch ihrer Mutter zurückgekommen war. Es war ein Donnerstag. Da war immer viel los. Sie hatte gerade Bereitschaft und von ihrer Kollegin ein Zeichen bekommen. Also ging sie zum Büro, klopfte an, wartete bis das „Herein!“ vom Direktor zu hören war.

Als sie eintrat, hatte der Direktor gerade den Geldschrank geöffnet, er saß hinter seinem Schreibtisch, vor sich einige Geldbündel, die er mit spitzen Fingern durchzählte und in Bar-Bags für die Bank verpackte.

Er blickte auf und sein Blick fiel sofort auf Franzis Busen und ihre Beine.

Ah, Fräulein Rügner, sagte er… dann erinnerte er sich: Wie war es bei Ihrer Frau Mutter?

Ganz schön. Alles in Ordnung. Ich bin gerne wieder hergekommen.

Das freut mich. Sie sind ja neu bei uns. Ich kenne Sie noch gar nicht richtig… wieder glitt sein Blick über Franzis Figur. Ich sollte Sie einmal auf ein Glas Wein einladen…

Ach, Herr Pindo, das ist doch nicht nötig.

Doch, doch. Ich handhabe das nicht bei allen, aber doch bei manchen von meinen Mitarbeiterinnen. So eine Stellung an der Kasse ist ja eine Vertrauensstellung. Ich muss wissen was meine Kassiererinnen für Mädchen sind. Verstehen Sie? Und, da Franzi ein abweisendes Gesicht machte, ergänzte er: Na, wir reden später nochmal drüber… übrigens, wieder glitt sein Blick über Franzis Figur, Sie sollten sich etwas vorteilhafter anziehen…

Franzi presste die Lippen aufeinander.

Sie wollen sicher frisches Wechselgeld?

Ja, Herr Direktor… in der üblichen Stücklung. Für ungefähr hundertfünfzig Mark.

Was? So viel?

Franzi nickte. Der Direktor stand auf, ging zum geöffneten Geldschrank, zog den Schub mit dem Wechselgeld. Wie viel war es noch?

Einhundertfünfzig.

Ah ja. Der Direktor nahm die bereitstehende Schale, wickelte die Münzrollen aus. Immer wieder schaute er auf, seine Augen glitzerten. Er sah auf Franzis Beine.

Franzi sah dem Direktor zu, wie er das Geld in die Schale schichtete. Plötzlich durchfuhr sie ein Gefühl von Kälte und schneidendem Schmerz. Sie zitterte. Sie hatte in einem roten Papprahmen ein Bild auf seinem Schreibtisch gesehen. Man sah darauf den Direktor Pindo wie er zwei kleine Mädchen auf seinem Schoß hielt. Dann sah sie seine Hände, sie zuckte zusammen: Alte fleckige Hände, die Nägel vom Zigarettenrauch gelblich… sie musste sich zwingen, woandershin zu schauen. Aber es ging nicht. Es war wie ein Zwang. Immer wieder musste sie auf das Bild und die Direktorenhände starren. Zugleich verwandelte sich das Aussehen des Direktors. Er wurde zu einem alten, faltigen, lüsternen Greis, mit farblosen Triefaugen und tropfendem Geifer, er sah aus wie ein Monster aus einem Horrorfilm. Dabei war Herr Pindo höchstens Mitte Fünfzig und einigermaßen attraktiv.

Ist Ihnen schlecht, Fräulein Rügner? Sie sehen so blass aus.

Nein, es geht schon.

Der Direktor lächelte, zeigte auf den Bilderrahmen. Da! Sehen Sie! Meine Enkelinnen. Drei und fünf Jahre alt. Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch, schloss den Geldschrank ab und Franzi sah, wie er den Schlüssel mit dem doppelt gezackten Bart in ein kleines hellblaues Schächtelchen tat. Dieses verstaute er mit übertrieben hastigen Bewegungen im Bücherregal hinter einem dicken Band mit Steuertipps.

Franzi hatte sich wieder gefangen. Sie blickte demonstrativ weg, als der Direktor das Schlüsselkästchen versteckte, sie tat uninteressiert, nahm die Schale mit dem Wechselgeld, verabschiedete sich.

Auf Wiedersehen, Herr Pindo… und ach, wenn Sie durchaus wollen, reden wir nochmal. Nächste Woche habe ich Spätschicht, da… sie verschluckte den letzten Teil des Satzes, versuchte den Eindruck zu erwecken, als ob ihr das mit der Spätschicht nur so herausgerutscht und furchtbar peinlich sei. Diese Verlegenheit aber verschönerte sie. Ein Rosahauch erschien auf ihren Wangen. Der Herr Pindo lächelte genießerisch…

Na denn. Auf Wiedersehen, Fräulein Rügner, sagte er, trinken Sie gleich ein Glas Wasser. Das hilft meistens gut.

Ach so, ja. Franzi lächelte und ging aus dem Zimmer.

Am Abend schaute sie in ihren Kalender. Es waren noch 3 Wochen bis zum Geburtstag ihrer Mutter. Erst wollte sie sich überhaupt nicht melden, wollte den Geburtstag vergessen. Der Groll über das Gespräch zum Thema Großvater saß noch zu tief. Dann schrieb sie aber eine Karte, sie könne am Vierzehnten nicht kommen. Herr Jademann nehme sie voll in Beschlag, eine größere Reise nach Nordffrankreich stünde gerade an. Sie müsse ihrem Chef zur Verfügung stehen. Es ginge nicht anders.

Am nächsten Tag erzählte sie ihrer Wirtin, sie müsse in der nächsten Woche ihre Mutter besuchen fahren. Die habe Geburtstag, sei dummerweise außerdem erkrankt. Sie wisse noch nicht, wann sie zurückkomme. Als sie ihre Sachen für die nächste Aktion vorbereitete, denn sie hatte es nicht gern von einem Tag auf den anderen packen zu müssen, nahm sie ein paar ältere Zeitungen zum Auspolstern der Schuhe. Da las sie beim Auseinanderfalten zufällig einen Artikel. Es war eine Lübecker Tageszeitung vom späten Frühjahr. Wieso ihre Wirtin die besaß, wusste sie nicht, hielt es aber für einen Zufall. „Samstag, 14. März – Nachbarn machten gestern im Steinrader Damm Nr. 213 einen grausigen Fund. Weil sich der Bewohner tagelang nicht mehr gezeigt hatte, ließ man die Wohnung durch den Hausmeister öffnen. Dabei wurde die Leiche des Dreiundsechzigjährigen Gustav Dornblüth gefunden. Der Unternehmer fand einen gewaltsamen Tod. Dornblüth betrieb eine Schiffszimmerei und hatte sich auf Segelschiffe und Jachten spezialisiert. Wie die herbeigerufene Polizei herausfand, war Dornblüth schon mehrere Tage tot. Er ist durch Gewalteinwirkung gegen seinen Schädel gestorben. Außerdem sind verschiedene Wertgegenstände und eine größere Menge Bargeld gestohlen worden. Die Polizei bittet um sachdienliche Hinweise. Sie ruft besonders eine junge Frau zur Zeugenschaft auf, welche die letzten Tage vor Dornblüths Tod in seiner Gesellschaft gesehen wurde. Es handelt sich dabei um die achtundzwanzigjährige Sabine Werthmann. Die junge Frau arbeitete als Hostess und Begleiterin von Senioren. Sie ist ca. 1,70 groß, schlank, schwarzhaarig, mit grüngrauen Augen und mit auffallend vielen Sommersprossen. Sie spricht rheinländischen Dialekt. Hinweise unter…“ Es folgte eine Polizeiadresse und die Telefonnummer. Es schreckte sie auf, dass sie jetzt darauf gestoßen war und sie erinnerte sich, die Meldung früher schon, kurz nachdem es passiert war, gelesen zu haben. Aber sie hatte das alles vollkommen verdrängt. Sie lebte ihr Leben ja gewissermaßen in getrennten Abschnitten. Sie hatte mit früheren Abschnitten und Lebensphasen keine Verbindung. Ihr Gedächtnis löschte alle Identitäten wie auch die Umstände perfekt aus. Sie wusste, natürlich bestand keine Verbindung zur Kapitänswitwe Hiltrud Schlehdorn in Winterhude, die sich ein Reitpferd hielt, oder etwa zu Frauke Rügner hier in Lüneburg oder auch zu Franziska Schönlebe in der Hamburger Jessenstraße wie auch zu anderen jungen Frauen, in deren Hülle sie in den letzten zwei Jahren geschlüpft war. Sie war sich sicher, dass keiner, selbst der gewiefteste Schnüffler nicht, irgendeine Parallele finden würde.

Trotzdem! Es war ein Zwischenfall.

Es war eine Scheiße von einem ekelhaften Zwischenfall. Sie ärgerte sich. Warum musste sie auch diese Zeitungsnotiz gerade jetzt finden? Jetzt, wo sie eine neue Aktion vorbereitete. Sollte es ein Zeichen sein?! Dieser Schiffszimmerermeister in Lübeck war Nummer zwei gewesen. Na und? Eine Anfangsarbeit. Jetzt war sie noch viel perfekter und umsichtiger. Das einzige, was ihr positiv erschien, war, dass sie, eine schwache junge Frau, der man derartige Taten keineswegs zutraute, so viel rumgekommen war ohne in Gefahr zu geraten. Es war, als ob sie eine Tarnkappe trüge oder über einen Schutzgeist verfügte. Sie machte eine ihrer Handbewegungen: Schluss damit. Selbstzweifel machen schwach. Schau nach vorn, Mädchen. Es muss weitergehen. Die Mission ist noch lange nicht zu Ende. Sie muss die Welt von diesen Schweinen säubern. Und wenn dabei noch ein wenig Geld rumkommt – umso besser. Und es kommt immer Neues hinzu, wie jetzt dieser Direktor Pindo. Nein, sie hatte es nicht geplant, es hatte sich so ergeben. Eigentlich hatte sie sich hier in Lüneburg ein bisschen ausruhen wollen. Hermann Löns lesen und in der Heide wandern. Und nun war der Pindo in ihre Agenda aufgenommen. Als Aktion Nummer 5. Nein verdammt, sie konnte nichts dagegen tun. Es trieb, es schob sie vorwärts. Kaum sah sie einen Mann wie den Alten, den Großvater, sah seine Hände, spürte seine Geilheit, schon legte sich in ihrem Innern ein Schalter um. Von da ab handelte sie wie ein Automat, mechanisch und fehlerlos. Aber jetzt das Gute dabei: Sie hatte ein neues Ziel, das all ihre Kräfte forderte, das ihren Verstand schärfte. Sie musste schnell, umsichtig, raffiniert und durchtrieben sein – wie ein Panter auf der Jagd. Oh, das Bild gefiel ihr – ein Panter. Eine starke, eine gnadenlose Raubkatze. Geschmeidig, mit glitzernden nachtaktiven Augen, mit einem schimmerndem Leib und mit Krallen, scharf und gefährlich…

Sie setzte sich, nachdem sie den Zeitungsausschnitt drei Mal gelesen hatte, auf den Bettrand und dachte nach. War das eine Warnung? Sollte sie weitermachen?

Am Ende tat sie das Ganze als unerheblich ab. Wenn man einmal anfängt über Sinn und Unsinn nachzudenken, wenn man alles Bisherige in Frage stellt, sich sogar Vorwürfe macht, über möglichen Fehlern grübelt, dann ist man erledigt. Freilich, man sollte das Risiko eingrenzen, man sollte vor allem über dem Erfolg nicht übermütig werden. Also: Alle Gefühle runterfahren, cool bleiben. Wie eine Raubkatze.

Sie knüllte die Zeitung zusammen und stopfte die Schuhe aus. Dann packte sie alles andere ein. Nach einer halben Stunde war sie fertig.

Am nächsten Tag, sie hatte Spätschicht, ging sie um halbzwölf aus dem Haus und nahm ihren Koffer mit. Außerdem die Umhängetasche. Sie brachte den Koffer zum Bahnhof, der nicht weit vom Lösegraben, einem kleinen Wasserlauf, lag, löste eine Bahnsteigkarte, ging zu den Bahnsteigen 2 und 3, wo es eine separate Gepäckaufbewahrung gab, schloss den Koffer ein, steckte den Schlüssel in ihre Handtasche. Im Bahnhofscafé nahm sie ein kleines Frühstück ein: Ein belegtes Brötchen, einen kleinen Salat und ein Kännchen Tee. Um 14 Uhr, exakt zu Schichtbeginn, war sie am Modehaus Pindo.

Sie begrüßte ihre Kollegin an der Kasse, legte ihre Sachen ab und klopfte kurz darauf am Büro des Direktors.

Wieder Wechselgeld? fragte der Direktor und schaute dem Mädchen herausfordernd ins Gesicht.

Fräulein Rügner nickte. Pindo lächelte, gab ihr das Geld, verschloss den Kassenschrank. Franzi beobachtete den Direktor wie eine Katze, merkte sich das Schlüsselversteck genau.

Der alte Schlauberger, dachte Franzi, wählt alle paar Tage ein neues Buch aus, hinter dem er das Schlüsselschächtelchen verbirgt und denkt, es merkt keiner.

Pindo wendete sich der Wartenden zu und erklärte in heiterem Ton, heute hätten sie schon am Vormittag Spitzeneinnahmen wie noch nie in diesem Monat gehabt…

Fräulein Rügner lächelte. Das ist schön, freut mich.

Na, heute wieder Spätschicht? fragte der Direktor und spielte an seinem Siegelring.

Ja, antwortete Fräulein Rügner, fügte dann etwas leiser an, sie werde neben dem Haupteingang in der Toreinfahrt warten. Aber passen Sie auf, dass Sie mich erkennen… sie lachte, wandte sich ab.

Der Direktor sprang auf. Lassen sie mich die Wechselgeldschale tragen. Bitte.

Nein, nein. Es geht schon, antwortete Fräulein Rügner und rückte ihre Brille zurecht. Danke, Chef.

Der Direktor folgte seiner Mitarbeiterin ein paar Schritte, beugte sich vor, hielt ihr die Tür auf. Er flüstere ihr zu: Bis heute Abend, dann…

Franzi nickte nur und ging durch die offene Tür. Ein wenig schwenkte sie die Hüften, aber nicht zu sehr, dass es nicht albern aussah.

Um Sieben war die Spätschicht zu Ende. Im Erdgeschoss war die Personaltoilette. Franzi ging als Braunhaarige mit Brille und schlecht sitzenden Kleidern hinein und kam eine Viertelstunde später als Rotblonde in elegantem Kostüm und selbstverständlich ohne Brille wieder heraus. Niemand bemerkte etwas. Die Umhängetasche verstaute sie in einem Wandschrank, der für das Personal vorgesehen war. Dann ging sie dem Ausgang zu, verschwand durch die Drehtür, machte ein paar Schritte nach rechts und postierte sich unauffällig in der Toreinfahrt. Sie hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt. Zündete sich eine Zigarette an. Die letzten Kunden des Modehauses und ein paar Verkäuferinnen gingen an ihr vorbei, plaudernd, lachend, achtlos. Irgendeine Passantin. Man sah sie nicht. Keinem fiel sie auf. Außer einem ebenfalls rauchenden Mann, der in der Nähe an der Haltstelle auf den Bus wartete. Seltsam, er starrte zu Franzi herüber, ließ den Bus fahren, ohne dass er sich rührte, stieg erst beim nächsten ein, drehte beim Einsteigen den Kopf.

Franzi sah zu ihm herüber, lächelte in sich hinein, griff sich ins Haar, rückte an der Sonnenbrille.

Nach ein paar Minuten kam ein älterer Herr aus der Drehtür des Modehauses. Er blieb stehen, schaute sich um als ob er jemanden suchte, ging dann ein paar Schritte nach rechts, schüttelte den Kopf. Murmelte irgendwas. Keine drei Meter stand er von der Franzi entfernt. Aber er sah sie nicht. Sein Blick streifte flüchtig die Wartende, dann schaute er sich wieder um, schüttelte abermals den Kopf, wollte weitergehen.

Hallo, Herr Pindo! rief Franzi und trat aus dem Schatten der Toreinfahrt ins späte Sonnenlicht der Straße. Hallo! wiederholte sie, postierte sich vor dem Überraschten.

Ich sagte Ihnen doch, Sie würden mich nicht ohne Weiteres erkennen.

Tatsächlich! rief der Direktor, das Fräulein Rügner! Wie sehen Sie denn aus? Kaum wiederzuerkennen… und da Franzi, welche die Sonnenbrille abgenommen hatte, die Stirn runzelte, ergänzte er: Meine das natürlich positiv! Sie sehen wirklich toll aus! Kompliment.

Alles Ihnen zu Ehren, Herr Direktor, alles Ihnen zuliebe, lächelte Franzi und deutete eine Verneigung an.

Schon gut, mein Kind, kommen Sie. Der Direktor versuchte Franzi beim Arm zu nehmen. Sie wehrte das ab, lief einen halben Schritt hinter ihm, sagte scharf: Ich bin nicht Ihr Kind. Wenn Sie weiter so mit mir reden, mache ich kehrt und die Sache ist beendet.

Herr Pindo blieb stehen. Er entschuldigte sich. Es tue ihm leid, er habe sie nicht beleidigen wollen. Es sei so eine alte Angewohnheit von ihm. Sie solle nur mitkommen. Da vorn, keine 50 Meter wäre an der Schröderstraße, Ecke Schrangenstraße das Haus Wabnitz, ein Weinkontor und Kaffeehaus. Dort habe er einen Tisch bestellt. Es wäre ein feines Lokal, seriös und gediegen.

Kommen Sie, sagte der Direktor und gab seiner Stimme einen besonders milden Ton. Gestatten Sie, dass ich Sie unterhake. Es ist mir eine Ehre, wo Sie so toll aussehen. Die Leute werden sagen: Mensch, schaut mal, der alte Pindo, was der für eine erstklassige Begleiterin hat. Hätten wir ihm gar nicht zugetraut…

Franzi tat, als ob sie ihm verzieh und so als würde ihr das Kompliment gefallen. Sie lächelte nachsichtig, ließ ihn sich bei ihr unterhaken. Und so schritten sie die Große Bäckerstraße bis zur Schrangenstraße vor. Tatsächlich schauten ein paar abendliche Passanten auf das ungleiche Paar. Manch einer schüttelte den Kopf. Was Franzi gewollt hatte, geschah – sie fielen auf, namentlich natürlich sie in ihrer Robe, mit ihrer Frisur und der Haarfarbe, und weil sie, einen knappen halben Kopf größer als ihr Begleiter, lange