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Klaus Fredi Funke, ein Ruhrgebietskind, erzählt in »Vaters Prinzipien: Zinnober oder Kokolores« seine Kindheits- und Jugenderlebnisse. Er betrachtet diese als kleine Meilensteine, die Menschen auf ganz besondere Weise formen können. In ihrer einfachen und schlichten Schönheit vermitteln sie uns Freude in dieser Welt. Begeben Sie sich mit ihm auf eine Reise in die Vergangenheit und erinnern Sie sich an all die wunderbaren Begebenheiten, die Sie in Ihrem Leben erlebt haben.
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Seitenzahl: 93
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Für die Männer in meiner Familie.
Mein Dank gilt :
Anne, Christa und Paulina
Ja, manchmal übersieht man ihn
der großen Steine wegen
sobald ein bisschen Gras dort wächst
die können sich erheben
Die Großen lassen sich behauen
für Könige und Grafen
gewichtig ist das Ebenbild
zum Ruhme für die Taten
Da steh’n sie nun
zum Zeichen der Geschichte
so für die Ewigkeit gedacht
den Blick hoch aufgerichtet
Der kleine Meilenstein wird nicht bedacht
Der kann sich müh’n
der kann sich strecken
verzweifelt größer machen
als er ist
er wird an Orten von Legenden
als Kunstwerk niemals enden
So sei ihm dies’ Gedicht gewidmet
auch für die Ewigkeit gedacht
da soll er nun in kleiner Dichtkunst ruh’n
doch meilenweit bedacht
Kindheits- und Jugenderlebnisse können kleine Meilensteine sein, die jeden Menschen auf ganz besondere Art prägen. In ihrer einfachen und schlichten Schönheit vermitteln sie uns Freude in dieser Welt.
Als Ruhrgebietskind möchte ich meine Erlebnisse erzählen.
Gehen Sie mit auf eine Reise in die Vergangenheit.
Erinnern Sie sich dabei vor allem an die wunderbaren Begebenheiten, die Sie selbst erlebt haben.
Der kleine Meilenstein
Herzensbildung
Barfuß und befreit
Ein jähes Ende
Minuten voller Angst
Der Eiswagen
Rote Rosen
Kinderliebe
Mit den Elfen auf der Wiese
Kleine Regisseure
Der Pantoffelheld
Ein unausweichliches Bedürfnis
Freundschaft
Eine Sternstunde der Pädagogik
Schöne neue Welt
Eine Fußballgeschichte
Eine neue Mitschülerin
Steinzeitkarpfen
Bergsteiger unter sich
Umzingelt
Die Herbeder-Ruhrbrücke
Die Mutprobe
Eine pastorale Geschichte
Ein ungewöhnlicher Fund
Not macht erfinderisch
Das Supertalent
Wettkampf an der Ruhr
Eine Hundegeschichte
Eine Frage der Ehre
Ruhrwiesenbekanntschaft
Der Lohn meines Vaters, der sich in den Jahren meiner Kindheit als Hilfsarbeiter bei Rheinstahl verdingte, reichte unserer Familie oft nicht, um über den Monat zu kommen. Es war der einzige Verdienst für eine ständig wachsende Zahl von Kindern.
Am Ende waren wir fünf.
»Für das Leben ist es zu wenig, für das Sterben zu viel«, hörte ich meine Mutter oft klagen. Nicht, dass wir uns nicht einschränken konnten, nicht sparsam waren, meine Mutter etwa mit Geld nicht umgehen konnte, im Gegenteil, sie war darin geradezu virtuos. Häufig aßen wir Eintöpfe in wechselnder Folge : Erbsensuppe, Linsensuppe, Graupensuppe ; Graupensuppe, Linsensuppe, Erbsensuppe. Eintopf, in einem besonders großen Topf gekocht, wurde verlängert und reichte so fast immer für drei Tage.
Durchhalteparolen gab es kostenlos in Form einer Lebensberatung. Kommentare aus der Verwandtschaft lauteten etwa : »Bei den vielen Blagen können die doch vorne und hinten nicht hochkommen.«
Für diese begleitenden Randbemerkungen sind wir noch heute äußerst dankbar, da sie uns immer motiviert haben, unser bescheidenes Leben, trotz dieser dummen, überflüssigen Kommentare und gegen alle Widrigkeiten auch fröhlich zu gestalten.
Wenn das Geld mal wieder nicht reichte, ließ meine Mutter im hiesigen Tante-Emma-Laden »anschreiben«. Sie schickte mich mit einem Einkaufszettel und der Zusicherung los, wir würden die Ware im darauffolgenden Monat bezahlen, sobald mein Vater mit der Lohntüte käme. Freundlich lächelnd bekam ich die Lebensmittel, die im Folgemonat prompt bezahlt wurden.
Wenn der Kauf von Bekleidung anstand, die Hose oder Jacke das »Stacheldrahttrauma« mehrmals mit sauberem Flicken überstanden hatte, aber in der Größe zu klein geworden war, fuhr meine Mutter, die Einzukleidenden im Schlepptau, mit der Straßenbahnlinie 310 von Heven aus ins Zentrum von Witten. Bei diesem Ausflug gönnte sie sich ein Gedeck : »Kaffee und Kuchen, aber das im Angebot, bitte.«
Wir Kinder bekamen Kakao mit Kuchen!
Die Maxime unserer so gelebten und kultivierten Bescheidenheit dehnte sich auch auf die Hilfsbereitschaft für andere, insbesondere ältere Menschen, aus.
So hielten uns unsere Eltern dazu an, auf öffentlichen Plätzen und in Verkehrsmitteln stets aufzustehen und unseren Platz für betagtere Menschen anzubieten. Flugs und behände Dinge aufzuheben, die heruntergefallen waren, oder etwa besagten Menschen aus der Nachbarschaft bei schwereren Einkaufstaschen behilflich zu sein. Als Belohnung bekamen wir meistens ein Stück Obst und waren damit zufrieden.
An einen Ausnahmefall erinnere ich mich noch sehr gut, nicht weil ich etwa unzufrieden gewesen wäre, sondern weil ich entgegen meiner Erwartung ganze fünfzig Pfennig bekam.
Nun, für fünfzig Pfennig konntest du zu unserer Zeit noch zehn große Lakritzstangen bekommen oder zehn Lutscher.
Zu Hause angekommen, zeigte ich stolz meinem Vater das silberfarbene Geldstück, nicht ahnend, dass ich es umgehend wieder zurückzubringen hatte.
»Die ältere Dame, die neben Priesner wohnt, ist doch alleinstehend und bekommt sicher nur eine kleine Rente. Du grüßt schön von uns, gibst ihr das Geld zurück und sagst, eine Banane …«
»… oder ein Apfel, oder eine Apfelsine ist auch genug, ich weiß«, beendete ich diesen Satz.
Nicht, dass mein Vater nur geredet hätte.
Nein, er schritt als Vorbild stets voran, so manches Mal zum Leidwesen meiner Mutter.
»Der gibt noch sein letztes Hemd ab«, tönte es oft im Kreise unserer so innig geliebten Verwandtschaft.
Ein Höhepunkt war mit Sicherheit, dass er an einem freien Wochenende einer älteren Dame ein oder zwei Zimmer tapezierte, ohne dafür einen einzigen Pfennig zu nehmen. Die zählte ihm nämlich die Pfennige und Groschen einzeln auf den Tisch, kramte und suchte verzweifelt weiter in ihrem Portemonnaie, bis sie ganze einundzwanzig Mark zusammenbrachte.
»Das ist alles«, sagte sie, »mehr habe ich nicht.«
Leise fügte sie hinzu : »Ich wusste nicht, dass es fünfzig Mark kostet!«
Zu dieser Zeit lag der Preis schon bei hundert-fünfzig Mark für ein Zimmer.
Die Devise »Nimm, was du kriegen kannst« war Vater völlig fremd.
»Fredi, du bist viel zu billig«, das hörte er zu dieser Zeit nicht nur einmal.
Er ging nicht in die Kirche, hatte keinen Pastor, der ihn für seine Nächstenliebe segnete, hatte keinen Glauben an Gott oder Engel, die hätten erscheinen können, um ihn zu stärken.
Er besaß nur ein großes Herz, das ihn sagen ließ, sie solle das Geld wieder einstecken, weil die geschmierten Käsebrötchen so lecker waren.
Zu Hause angekommen, entschuldigte und rechtfertigte er sein Verhalten in schauspielerischer Weise vor meiner Mutter.
Mehrmals spielte er ihr vor, wie die ältere Dame ihre Pfennige auf den Tisch gezählt hatte. »Dass sie sehr verzweifelt war, dass sie ja auch gar nicht wusste, wie viel ein Zimmer zu tapezieren so kostet, dass er schließlich und endlich trotz aller Bemühungen bei seinem Preis zu bleiben, zum Schluss keinen mehr hatte verlangen können.«
Mit einer versöhnenden, erlösenden Geste streichelte meine Mutter ihn am Arm und sagte zu guter Letzt : »Fredi, beim nächsten Mal brauchen wir das Geld. Nimm dann genau wie die anderen ruhig mal hundertfünfzig Mark, mindestens aber hundert. Hörst du!«
Ja, und die hätten wir dringend gebraucht!
Meine Erinnerungen beginnen in so weiter Ferne, dass ich nur noch einzelne, schemenhafte Bilder sehe.
Kennen Sie noch den Laufstall aus Buchenholz, der den Bewegungsdrang der Kinder in erwünschte Bahnen lenkte und den Eltern das Aufpassen erleichterte?
Auch in unserer Familie gab es solch einen Laufstall, der an schönen Tagen auf einer Wiese im Garten stand.
Meiner Freiheit beraubt, saß ich gemeinsam mit meinem um ein Jahr jüngeren Bruder mitten in einem abenteuerlichen Gelände in der Frühjahrs-sonne.
Voller Unternehmungsgeist zog ich mich am Holz des Ställchens hoch. Es gelang mir, ein Bein über die Brüstung zu schieben. Dank meines Dickschädels und dessen Übergewicht landete ich auf der Seite der Freiheit.
Mein Bruder wollte es mir nachtun. Er steckte mir sein Ärmchen durch die Gitterstäbe entgegen, ich zog daran.
Leider erfolglos. Seine Wange klebte förmlich an den Stäben. Er begann zu weinen.
Barfuß stand ich auf den Zweigen einer kleinen Birke.
Das Sonnenlicht funkelte durch das helle Grün der Blätter.
Ein leichter Wind streifte um meinen Körper.
Schmetterlinge tanzten auf der Wiese.
Ich hörte das Lachen meines Vaters, fühlte seine behaarten Arme, als ich von der Birke hinunter-gehoben wurde.
Wippend auf den Zweigen zu stehen, war es die völlige Freiheit.
Nun nicht ganz! Den Dickkopf habe ich vergessen.
Alles begann mit einem lauten Knall.
Einem Knall, der die Unerbittlichkeit des Daseins besiegelte, eine Unendlichkeit des Vertrauten von mir nahm.
Als es geschah, saß ich auf dem Schoß meiner Oma, um wie gewöhnlich ihren Erzählungen zu lauschen.
Wir wandten uns um und sahen fassungslos, dass Großvater ausgestreckt und bewegungslos am Boden lag. Hastig stellte mich Oma auf meine Beinchen und fiel jammernd auf ihre Knie.
Auch ich begann zu weinen. Mit einem Arm zog sie mich an sich. Unter ihrem festen Griff trippelte ich mit ihr nach oben zum Kopf meines Großvaters.
Großmutter nahm den reglosen Kopf in ihre beiden Hände. »Rudolf!«, rief sie ein um das andere Mal. »Rudolf!!!«
Nur dieses eine Wort.
Ein Wort, in dem gleichzeitig Entsetzen, Furcht und bange Angst klangen. Doch auch in der Verzweiflung war die Liebe hörbar.
Nachdem ihr das leblose Gesicht nicht antwortete, sosehr es vielleicht auch gewollt hätte, sosehr es Kummer hätte vermeiden wollen, sein Mund tröstende Worte hätte finden können, glitt sie abwechselnd mit einer Hand an den Unterarm und an den Hals ihres Mannes.
Sie wollte nicht aufgeben!
Du gibst einen geliebten Menschen nicht einfach her.
Nein, du forderst den Tod, stellst ihn in einem ungleichen Duell.
Doch wie lange kannst du dich gegen das unabwendbare Schicksal stemmen?
Verzweifelt versuchte meine Großmutter immer wieder, den leblosen Oberkörper aufzurichten.
Sie war eine starke Frau. Sie hatte sich als Waisenkind durchkämpfen müssen, war als Kind von einem Bauern aufgenommen worden und verteidigte als junge Frau erfolgreich ihre Ehre, als er ihr nachstellte.
Später lernte sie meinen Großvater in einer Gaststätte kennen, in der samstags Tanz war. Dort konnte man eine Spieluhr mit einer Münze »beschenken«.
Mein Opa besaß die passende Münze, bat Oma um ihre Hand. Und sie tanzten sich in ihr Glück.
Auch das Schicksal hat ein Einsehen, eine Selbstverständlichkeit.
Wie sie war er elternlos aufgewachsen und arbeitete als Landarbeiter in der Nähe. Die Liebe zeigte ihr schönstes Gewand.
So ging mein Großvater in dem besten Anzug, den er hatte, und der sein einziger war, zum Herrn seiner Auserwählten und teilte ihm mit, dass er die Emma heiraten wollte.
Der junge Mann kämpfte sich durch all den Hohn und Spott hindurch, den der Bauer ihm entgegenwarf : »Wovon willst du denn die Emma ernähren? Kannst ja froh sein, wenn du selbst gerade mal dein Essen hast.«
Allmählich schwand die Kraft meiner Großmutter, während sie immer wieder versuchte den leblosen Oberkörper aufzurichten.
Ab jetzt konnte sie nur noch davon zehren, was das Leben ihr geboten hatte. Ihr unumstößlicher Entschluss lautete : »Einen Mann wie meinen Rudolf werde ich nicht wieder finden.« Oft habe ich sie so reden hören.
Kraftlos ließ sie nun den Körper zur Erde sinken. Sie nahm ihre Hand von ihm und strich mir immer wieder über Wange und Haare. Sie umarmte mich, alles an ihr zitterte.
»Der Opa hat sich schlafen gelegt«, sagte sie und wiederholte : »Ja, der Opa hat sich schlafen gelegt. Bleib hier, ich komme gleich wieder.«
Ein kurzer Blick folgte, sie verschwand durch die Tür.
Ich sah die Pantoffeln meines Opas und wollte sie ihm ausziehen.
Langsam füllte sich der Raum mit Menschen.
Eine Frau nahm mich schnell auf den Arm und verließ mit mir das Zimmer.
Meinen Opa sah ich erst in einer Leichenhalle wieder.
Er lag aufgebahrt in einem Sarg. Dieser stand weit im Raum.