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Der zweite Fall von Hauptkommissar Boehlich. Es geht um eine blonde Tote, die in gefrorenem Zustand auf der Strasse aufgefunden wird und es geht um eine verschwundene junge Frau. Wer sind die beiden Frauen? Beide Fälle scheinen miteinander zusammenzuhängen. Boehlich muss ins Berliner Halbwelt-Milieu eintauchen. Zum Schluss findet er eine überraschende Lösung. Spannung bis zum Ende. Ein echter Boehlich-Krimi.
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Seitenzahl: 333
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Zum Buch:
Der zweite Fall von Hauptkommissar Boehlich. Es geht um eine blonde Tote, die in gefrorenem Zustand auf der Strasse aufgefunden wird und es geht um eine verschwundene junge Frau. Wer sind die beiden Frauen? Beide Fälle scheinen miteinander zusammenzuhängen. Boehlich muss ins Berliner Halbwelt-Milieu eintauchen. Zum Schluss findet er eine überraschende Lösung. Spannung bis zum Ende. Ein echter Boehlich-Krimi.
Zum Autor:
Klaus Funke, geboren in Dresden, hat mit dem Hauptkommissar Boehlich eine Art sächsischen Maigret erfunden. Mit großer Menschenkenntnis und psychologischem Gespür geht er zu Werke. Der erste Boehlich-Krimi „… das Gold der Toten“ weckte bereits großes Interesse. Weitere Boehlich-Krinmis werden folgen.
Als das Telefon klingelte, wusste er gleich, dass es sich um eine schlechte Nachricht handelte.
Komisch, es gab keine vernünftige Erklärung dafür, aber manchmal hörte er tatsächlich schon am Klingeln, wer am anderen Ende war. Das ist doch Blödsinn, werden manche sagen, das Telefon klingelt immer gleich. Es kann am Klingelton unmöglich verraten, wer der Anrufer ist. Und doch war es so. Er hätte schwören können, dass er häufig erriet, wer anrief, ohne dass er gesehen hätte, welche Nummer angezeigt wurde. Und auch, wenn Unangenehmes mitgeteilt wurde, ahnte er häufig schon am Klingeln, dass er gleich etwas Schlimmes zu hören bekommen würde.
So war es auch dieses Mal.
Es klingelt und indem er zum Telefon geht, den Hörer ergreift und sieht, dass es eine unbekannte Nummer ist, die angezeigt wird, weiß er, gleich werde er etwas Böses mitgeteilt bekommen.
Nein, ein Hellseher ist er nicht. Er ist ein ganz normaler Mann von Anfang Sechzig, etwas beleibt, mit graugewelltem Haar und einer sympathischen Stimme, mit freundlichen braunen Augen. Von Beruf Steuerprüfer. Ein langweiliger Job gewiss, aber er lebt ganz gut davon.
Ja, bitte? Hier ist Kreher, Arno Kreher.
Am anderen Ende eine ihm unbekannte Stimme: Ja, guten Tag, hier ist die Polizei. Revier Dresden-Stadt. Kriminalhauptkommissar Böhlich. Herr Kreher…?
Es knackt in der Leitung. Sind sie unterbrochen?
Ja? Herr Kriminalhauptkommissar? Ja, ich höre.
Aha. Gut. Da sind Sie ja wieder… wir waren für einen Augenblick getrennt. Herr Kreher, wir brauchen Sie für eine Identifizierung. Wir haben hier, mitten in der Stadt, eine Tote aufgefunden. Möglicherweise ein Tötungsdelikt. Sie sollen sich die Tote ansehen…
So? Ansehen? Warum ich?
Weil es Gründe für die Annahme gibt, dass Sie die Tote kennen. Bitte. Ich lasse Sie jetzt gleich von meinen Beamten abholen… Sie wohnen doch noch in Bühlau?
Und er nannte die Adresse.
Ja, bestätigte Kreher, ich wohne noch hier. Hermann-Löns-Straße 14. Das ist richtig. Stimmt.
Gut, also ich schicke Ihnen einen Wagen mit zwei Beamten. Bitte steigen Sie ein und kommen Sie her. Wir brauchen Sie hier. Die Leiche befindet sich noch am Tatort, oder besser gesagt: am Auffindeort. In einer guten halben Stunde wird der Wagen da sein.
In Ordnung. Ich komme.
Fein, dann bis dann.
Kreher steht noch ein paar Sekunden neben dem Telefontischchen, starrt ins Leere. Dann setzt er sich auf einen Stuhl. Er muss sich setzen, die Beine sind ihm auf einmal weich geworden. Verdammt, was für eine Sache. Die Polizei hat ihm zu verstehen gegeben, er kenne die Tote? Wie kommen sie darauf? Wer ist sie? Der Hauptkommissar hat „die Tote“ gesagt – also handelt es sich um eine Frau. Ein Mädchen? Eine alte Frau? Und die soll ich kennen? Es gebe Gründe, dass die Polizei dies vermutet. Was für Gründe? Seltsam.
Der Steuerprüfer Kreher muss seinen Puls fühlen.
Verdammt, geht der aber schnell. Ja, denkt Kreher, ich bin ein wenig hypochondrisch. Das stimmt schon. Aber nach eine solchen Mitteilung, da ist es ja quasi normal, dass man eine erhöhte Pulsfrequenz hat. Kreher versucht zu zählen und gleichzeitig auf seine Armbanduhr zu schauen.
Mein Gott – fünfundneunzig!
Das ist wirklich verdammt schnell. Er überlegt, ob er eine Tablette außer der Reihe nimmt. Einen Betablocker zum Beispiel… ach nein, es wird sich schon wieder geben. Keine Tablette jetzt. Und der Mann Kreher ist beinahe stolz, dass er so mannhaft der Schwäche nicht nachgegeben und eben keine Tablette außer der Reihe genommen habe.
Dann überlegt er einen Moment, fast wie eine Frau, was er anziehen soll, zu diesem Tatorttermin. Er schaut zum Fenster hinaus. Es ist trübe, nicht kalt, nicht warm. Ach was, der Sommermantel wird genügen.
Er geht zum Kleiderschrank, will den Mantel herausholen. Da fällt aus der oberen Ablage eine Fotografie heraus, segelt auf den Fußboden. Kreher bückt sich, nimmt die Fotographie in die Hand. Es ist eine Porträtfotographie seiner Tochter Cora, schon ein paar Jahre alt, zehn ungefähr. Ja, zehn Jahre. Einundzwanzig Jahre wird sie da gewesen sein. Ja, damals vor zehn Jahren haben sie sich noch regelmäßig gesehen. Sie hatte gerade ihr Studium beendet, war aus München zurück in Dresden. Ja und damals lebte auch seine Frau noch. Damals ist alles in Ordnung gewesen… eine schöne Zeit. Wie kommt das Bild hier oben unter seine Schals und Mützen, in die obere Ablage seines Kleiderschrankes? Wer hat s da hinein getan? Kreher beschaut das Bild und denkt nach. Aber ihm fällt nicht ein, wieso die Fotographie hier oben im Schrank gelegen hat. Am Ende kann nur er es selber gewesen sein. Er wird das Bild in der Hand gehalten haben, dann wird er abgelenkt worden sein, ein Anruf, ein Klingeln an der Wohnungstür, sowas. Er hat das Bild schnell aus der Hand gelegt. Und dann hat er das Bild vergessen zwischen seinen Mützen und Schals.
Was für ein hübsches Mädchen Cora doch ist. Die blonden Haare, die graublauen Augen, das Lächeln. Oh, er ist stolz auf das Kind. Er ist schon immer stolz auf Cora gewesen. Schon als sie noch ein kleines Kind war. Ja, er hat sie ein wenig vorgezogen, sie verwöhnt. Das ist wahr. So ein hübsches Mädchen. Auch jetzt, wo sie sich nicht mehr sehen, ist er stolz auf sie. Obwohl er fast nichts mehr von ihr weiß. Sie ist gegangen, damals, und nicht mehr wiedergekommen. Warum? Ach, es sind banale Gründe gewesen. Im Grunde banale Gründe. Er macht sich Vorwürfe, dass er nicht alles versucht hat, sie zurückzuholen, dass er nicht nachgegeben hat in diesem Streit. Aber da ist auch seine Frau gewesen. Sie war krank geworden. Sehr krank. Krebs. Und er hat sich im sie kümmern müssen. Da ist der Streit mit der Tochter in den Hintergrund geraten. Und dann ist es zu spät gewesen. Nein, er erinnert sich nicht mehr an die Einzelheiten. Eins kam zum anderen… so ein hübsches Kind, murmelt der Steuerprüfer Kreher. So ein hübsches Kind. Dass ein so unansehnlicher Mensch wie er so ein Kind hervorbringen konnte. Immer wieder hat er darüber gestaunt. Ein Wunder.
Es klingelt. Er steckt das Bild in die Innentasche seines Jacketts. Geht zur Tür. Es sind die Polizeibeamten. Beide jüngere Leute. Ein Mann und eine Frau.
Herr Kreher?
Ja.
Hauptkommissar Böhlich hat Sie angerufen?
Ja.
Sind Sie fertig? Kommen Sie bitte mit.
Wie lange wird es…?
Das wissen wir nicht. Erfahrungsgemäß aber nicht sehr lange. In einer Stunde sind Sie sicher wieder zu Hause. Vielleicht brauchen wir Sie später noch einmal. Bitte, kommen Sie…
Sie steigen ein. Es ist ein blauweißgelber VW-Passat, oben die Warnleuchte fest montiert. Kreher muss hinten sitzen. Ein bisschen fühlt er sich wie ein Gefangener, als er sieht, die Türen haben hinten keine Griffe. So ist das also, sagt er sich, so fühlt man sich, wenn man abgeholt oder verhaftet worden ist…
Die junge Frau fährt, ihre Kollege hat auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Zuerst fahren sie schweigend, dann fangen die Beiden ein Gespräch an, oder besser, sie setzen ihr schon vorher begonnenes Gespräch fort. Dabei scheint es sie keineswegs zu bekümmern, dass sie einen Fahrgast haben, der alles mithören kann, ja alles mit anhören muss. Sorglos, beinahe fröhlich, in einem betont lässigem Tonfall sagt der junge Mann zu seiner Kollegin:
Also, ich würde das nicht machen, Nicole…
Muss aber sein, sagte die Beamtin Nicole. Ich muss meinem Freund Bescheid sagen wegen morgen
und was ist morgen nochmal, verrate es mir?
Mensch, der Dienstplan ist geändert worden. Wir wollten nach Radebeul in die Disco.
Kannst du den nicht anrufen?
Nee, der Trottel hat sein Telefon bei mir liegen lassen.
Na dann… und wie viel Zeit verlieren wir? Der Böhlich wird warten. Du, der wird unangenehm, du weißt…
Ach, soll er doch. Dauert nicht lange. Zwanzig Minuten höchstens. Wenn wir auf ihn warten müssen, ist es auch o.k. da hat noch nie einer gemault. Ich hab mal, das war bei einem Suizid, auf den Herrn Hauptkommissar eine geschlagene dreiviertel Stunde gewartet, mit ´nem Kollegen allein mit dem Toten. Nee, weißt du. Das hat vielleicht gestunken dort, sag ich dir - Ich jedenfalls muss Dirk Bescheid sagen… das verstehst du doch? Da kann der Böhlich toben wie er will…
Ja, gut. Klar, versteh ich das. Na also, dann fahr… kannst ja jetzt gleich oben lang über den Neustädter fahren.
Mach ich. Danke Frank… zu jeder Gegenleistung bereit. Sie lächelte, gab ihrem Kollegen vertraulich einen Klaps auf den Oberschenkel.
Sie trat aufs Gas und jagte in Richtung Mickten, wo ihr Freund wohnte.
Der Beamte, den seine Kollegin Frank genannt hatte, wandte sich zu seinem Fahrgast im Fonds um, er zwinkerte mit einem Auge, dazu flüsterte er:
Vergebung Meister, so sind sie, die Frauen…
Arno Kreher nickte verständnisvoll zurück. Macht ihr nur, lächelte er, ich kann sowieso nichts machen, muss mich fügen, bin mit allem einverstanden…
Während die Beamten also mit dem Zeugen Kreher ihren Umweg fuhren, war inzwischen am Zielort, zu dem sie fahren sollten, oder, um es klar zu sagen: am Auffindeort der Toten, einem kleinen eher unbelebten Platz in der Nähe des ehemaligen Bahnhof Mitte, mit der üblichen Routine alles getan worden, was die Polizei in solchen Fällen gewöhnlich tut: Eine Art Zelt, weiß, mit kleinem Dach, fast wie ein transportables Carport, war über der Toten aufgestellt worden, dazu ein Sichtschutz aus grauer Plastikplane, brusthoch, in gehörigem Abstand darum rotweiße Absperrbänder. Ein Krankenwagen stand in der Nähe, ein paar Einsatzfahrzeuge der Polizei. Ihre Warnblinkanlagen zuckten noch immer, Licht an, Licht aus, Licht an, Licht aus, sie tauchten die Umgebung für Sekundenbruchteile in gelbes Licht. Beleuchteten die Gesichter der Umstehenden, der Gegenstände, der Bäume, parkender Autos, Häuserfassaden, einer Litfasssäule, Schaufensterscheiben wie in einem grotesken Fotostudio.
Jede Menge Neugierige hatten sich eingefunden. Trotz der frühen Stunde. Es mochten sicher schon ein paar Dutzend sein. Es war morgens, gegen 6.15 Uhr. An einem fünfzehnten Juli. An einem Dienstag.
Hier können Sie nicht stehen bleiben! Bitte gehen Sie weiter! Es gibt nichts zu sehen! Eine uniformierte Beamtin breitete die Arme aus, hob und senkte die Arme wie ein Hampelmann am Strick, wieder und wieder, versuchte die Zuschauer zurückzudrängen. Manchmal wich sie zurück oder es gelang ihr, die Leute abzudrängen. Aber es wurden immer mehr, denn eine Straßenbahnhaltestelle war in der Nähe, Leute stiegen aus, eigentlich müssten sie umsteigen und mit einer anderen Bahn weiter zur Arbeit fahren, aber da war die Neugier, die Lust auf Sensation, da soll eine junge Tote liegen, nur im Hemd, mitten in der Stadt: Sex & Crime. Wie konnte man weitergehen? Nein, man blieb einfach stehen, gaffte, wiewohl man kaum etwas Konkretes sehen konnte, man stellte sich auf die Zehenspitzen, man tauschte sich aus, tuschelte… Bitte, meine Herrschaften, rief die Polizistin zum zigsten Male, bitte gehen Sie weiter, bleiben Sie nicht stehen…
Hauptkommissar Böhlich war ein wenig später am Tatort eingetroffen. Der Grund war ein einfacher, aber er würde ihn nicht nennen. Er hatte tief und fest geschlafen, und, wiewohl er telefonische Bereitschaft hatte, hatte er sich nicht etwas angekleidet aufs Bett gelegt, nein, er war ganz ordentlich zu Bett gegangen, hatte darauf vertraut, dass er die Nacht in Ruhe gelassen würde. Er hatte sogar vor dem Schlafengehen noch zwei Gläser Portwein getrunken. Und die waren wahrscheinlich der Grund, dass er bis zum Morgen, ja bis unmittelbar vor dem Anruf ziemlich fest geschlafen hatte. Jedenfalls, was gab es da herumzureden, er war schwer aus dem Bett gekommen. Seiner Frau, die ihm fürsorglich das Frühstück hingestellt hatte, war er aus dem Weg gegangen, hatte schnell im Anziehen ein halbes Brötchen verschlungen, war dann aus dem Haus gegangen, hatte sich in die Sitze des Wagens fallen lassen, der ihn abholte.
Böhlich, ein Mann Anfang Sechzig, sah nicht aus wie man sich einen Hauptkommissar vorstellt, eher wie ein Schöngeist, ein Schwärmer, ein Frauentyp, mit einer Stirnglatze, graumeliert, ganz der Typ Michel Piccoli. Aber es gab einige Abweichung von dem französischen Schauspieler, so war er ein wenig kleiner als der Franzose. Das lag an seinen Beinen. Die waren einfach zu kurz. Und der Hauptkommissar hatte selten gute Laune. Warum wusste keiner so richtig, aber alle, die ihn kannten, sahen sich vor. War er einmal gut aufgelegt, nahm das seine Umgebung wie die Sonne an einem trüben Tag. Man drängte sich um ihn, um in den Genuss einer freundlichen Bemerkung zu kommen… Auch einen Bauchansatz sah man bei ihm, allerdings nur, wenn er das Jackett auszog.
Böhlich hob die rotweiße Absperrung hoch, bückte sich, schob den Sichtschutz beiseite, begrüßte den Notarzt und den Chef der Spurensicherung sowie den Hauptmeister Wiethold, der vor Ort alles gleich übernommen hatte, brummte, indem er auf die Tote zeigte, die man schon in den grauen Sack gesteckt hatte:
Ist da die Tote?
Der Notarzt nickte.
Wer hat sie gefunden?
Da, Hauptkommissar. Dort das Pärchen, sagte Wiethold und er zeigte auf zwei schüchterne junge Leute, die außerhalb der Absperrung standen und warteten, dass man sie ansprechen würde. Sie wurden von einem Beamten bewacht, nicht aus den Augen gelassen.
Gut, brummte Böhlich, wer ist die Tote?
Dem Anschein nach kaum Zwanzig. Wenig bekleidet. Nur ein Hemdchen. Ein Schuh. Wir haben das hier bei ihr gefunden. Und Wiethold nahm eine Fotographie und zwei Kärtchen, die wie Ausweise aussahen, aus einer Folie und gab sie dem Hauptkommissar.
Aha. So, hm, knurrte Böhlich, indem er nicht weiter darauf einging, aber die Papiere und das Foto ohne die Folie an sich nahm und einsteckte.
Todesursache? fragte er den Notarzt
Wahrscheinlich Strangulation. Mit einem oder mehreren Kabelbindern. Besonderheit, die Tote hat ein paar Tage, wenn nicht gar Wochen in einer Gefriertruhe oder in einem Kühlhaus gelegen. Wahrscheinlich aber Gefriertruhe.
Woraus schließen Sie das?
Aus der gekauerten, gebückten Körperhaltung. Es ist als ob man sie in noch „warmem“ Zustand in eine solche Truhe gepfercht hätte. Dort ist sie dann in der Kauerstellung sozusagen eingefroren worden. Sie ist noch nicht komplett aufgetaut.
Wie lange, denken Sie, war sie in dieser… in einer solchen Truhe?
Ein paar Wochen, vielleicht auch zwei, drei Monate. Wie ich sagte, sie ist auch jetzt noch nicht ganz aufgetaut, kann also noch nicht sehr lange hier liegen… Die Obduktion wird Klarheit bringen.
Also ist der Tatort nicht der Auffindeort, stieß der Hauptmeister Wiethold, freudig und eifrig hervor, geradeso wie ein Schüler, dem die richtige Antwort eingefallen ist.
Donnerwetter. Sie sind mir aber auch ein Schlaumeier Hauptmeister Wiethold. Darauf wäre hier keiner gekommen… Sie haben eben doch schon etwas bei mir gelernt.
Wiethold, Polizeihauptmeister und Assistent des Hauptkommissars seit drei oder vier Wochen, wurde rot und drehte sich weg.
Die Befragung ging weiter. Böhlich blickte streng in die Runde.
Bekleidung? Keine Angst Doktor, ich schau sie mir gleich an, sagte Böhlich, als er sah wie der Arzt, um dem Kommissar Platz zu machen, einen Schritt beiseitetreten wollte. Immer hübsch der Reihe nach…
Nur ein dünnes Hemd, Herr Hauptkommissar, einfach weiß, wahrscheinlich Kunstseide, mit Spitzenborte. Aber billig. Osteuropäische oder asiatische Fertigung. Näheres später…
Gut. Dann wollen wir mal… und der Hauptkommissar trat zu dem grauen Sack, ließ ihn vom Notarzt öffnen, beschaute die Tote…
Immer wenn er Tote anschauen musste, besonders, wenn sie jung waren, gab ihm das einen Stich in der Herzgegend. Die Tote war tatsächlich ein Mädchen von etwas unter zwanzig Jahren, die Haare weißblond gefärbt, der Mund geschminkt, wenn auch an den Rändern ein wenig ausgewischt. Sie war auffallend zierlich, vom Äußeren fast ein Kind noch. Am Hals die blauroten Würgemale von den Kabelbindern. Im Gesicht aber, wie es sonst häufig bei Erwürgten vorkommt, waren keine punktförmigen Einblutungen zu sehen. Sie muss von ihrem Mörder absolut überrascht worden sein, an Händen und Armen sah man keine Abwehrverletzungen. Ansonsten war die Haut durch die Lagerung in der Tiefkühltruhe mit zahllosen roten und blauroten Erfrierungen übersät. Sie muss auffallend große Augen gehabt haben, zu mindestens konnte man das aus den sehr großen geschlossenen Augendeckeln schlussfolgern…
Böhlich seufzt, erhebt sich.
Welche Augenfarbe? fragt er den Arzt.
Blaugrau, Herr Hauptkommissar…
Lassen doch wenigstens Sie das „Hauptkommissar“ weg, Doktor. Es ist als würde ich zu Ihnen, statt des vertrauten „Doktor“, Herr Gödicke sagen. Klingt doch blöd oder? Böhlich nickt ausnahmsweise gutmütg. Machen Sie ihn wieder zu. Der Arzt zieht den Reißverschluss am grauen Sack hoch, es gibt einen schnarrenden, seltsamen Ton, fast klingt es wie ein Ächzen.
Wie weit sind die Spurensicherung und der Erkennungsdienst, Wiethold?
Fast fertig, Hauptkommissar… natürlich das Labor und die Obduktion fehlen noch, kommt sofort dran, wenn wir sie drin haben.
Und sie haben keine Kleider weiter gefunden? Keine Jacke, keinen Mantel?
Nein. Nur einen einzelnen Hausschuh.
Einen einzelnen Hausschuh?
Gut, Ist wohl vielleicht auch eine Art Hallensportschuh. In Hellblau…
In Hellblau? Aha. Und außerdem? Nur das Zeug hier, was Sie mir gegeben haben?
Jawohl.
Jetzt nimmt der Hauptkommissar die Fotografie und die Ausweise aus der Tasche, betrachtet sie. Er betrachtet das Foto. Darauf ein Mann in mittlerem Alter, schwarzhaarig, mit Brille. Er steht vor einer Mauer, lächelt unbestimmt.
Auf der Rückseite des Bildes eine Telefonnummer und der Schriftzug „Mein Vater“. Aha, soso, murmelt Böhlich. Dann zu Wiethold:
Hören Sie Hauptmeister…
Ich höre?
Hier nehmen Sie das Bild (Er gibt ihm die Fotografie). Lassen Sie mal bei diesem Vater in meinem Namen anrufen. Falls der Knabe anwesend ist, sofort herbringen lassen, zwei Mann Streife losschicken, der muss die Tote gleich hier, bevor wir sie wegbringen, identifizieren. Natürlich vorher Wiethold, Sie wissen schon, das ganze Pipapo - Erkennungsdienst und so weiter. Wer der Mann ist etc. etc.…
In Ordnung, Hauptkommissar. Wird erledigt! Wiethold geht ab.
Böhlich schaute ihm kurz nach, dann wendete er sich den übrigen Papieren der Toten zu, schüttelte den Kopf, lachte leise: Na, das ist ja nicht viel, ein Mitgliedsausweiß der Landesbibliothek auf den Namen Cora Kreher, eine Karte von irgendeinem Bringeservice, alles ohne Passbild. Das Bild vom Vater ist vorläufig der einzige handfeste Anhaltspunkt.
Aber gut, wir haben ja den Namen der Toten und damit auch die Adresse… Wiethold?
Zu Befehl, Herr Hauptkommissar?
Die Adresse der Toten haben wir doch notiert, oder?
Ja, die haben wir. Löwenstraße 10. Das ist in der Neustadt.
Ich weiß, wo die Löwenstraße ist…
Pardon.
Kommst du? fragte die junge Frau zaghaft ihren Begleiter. Beide hatten abwartend beiseite neben den ermittelnden Beamten gestanden. Indes das „Kommst du?“ war laut genug gesprochen worden, so dass es die Ohren des Hauptkommissars erreichte.
Wart lieber noch ein bisschen, sagte der junge Mann. Wer weiß, vielleicht…
Ja, das meine ich auch, warten Sie lieber noch, fuhr Böhlich laut dazwischen, warten Sie, bis ich Sie vernommen habe. Ihre Daten sind aufgenommen worden?
Beide nickten brav wie die Schulkinder. Dabei waren sie bestimmt schon über Dreißig.
Sie haben die Tote gefunden? bohrte der Hauptkommissar weiter
Ja.
Und wem haben Sie ihre Adresse, Namen, Daten und alles gegeben?
Dem Herrn da, und die junge Frau zeigte auf Polizeihauptmeister Wiethold.
Gut. Wie spät war es, als Sie die Leiche fanden? Wie ging es zu, wo kamen Sie her, wo wollten Sie hin? Lassen Sie sich nicht alles aus der Nase ziehen. Sonst dauert es später auf dem Präsidium unnötig länger…
Auf dem Präsidium? Wir müssen noch ins Präsidium kommen?
Natürlich. Was dachte Sie denn? Selbstverständlich müssen Sie das. Da werden dann auch die Protokolle aufgesetzt. Hier am Auffindeort, das ist nur zur schnellen Orientierung. Also reden Sie… wer will sprechen? Die Dame? Der Herr?
Der Herr spricht, sagte die junge Dame und tippte ihren Begleiter an die Schulter. Na los, Michael…
Hm, ja, fing der junge Mann an, das war so…
Halt! Erst noch den Namen…
Mein Name ist Michael Holting…
Alter…? Beruf…? kommt alles erst mal hier drauf, sagte der Hauptkommissar und hielt ein Aufnahmegerät in die Höhe.
Keine Angst, wird später wieder gelöscht.
Also, wiederholte der junge Mann, ich heiße Michael Holting und bin Student im vierten Semester, Rechtswissenschaften, 32 Jahre alt…
Rechtswissenschaften? Na, da wissen Sie ja wie´s geht. Also nun los…
Eva und ich… Eva ist meine Freundin, ebenfalls Studentin der Rechte, allerdings schon im 6. Semester. Eva und ich wir waren zu einer Geburtstagsparty eingeladen gewesen, drüben in der Neustadt und nun waren wir auf dem Heimweg…
Neustadt? Party? Bitte die Adresse und die Namen nachher meinem Assistenten übergeben. Welche Uhrzeit hatten wir denn? Ich meine auf dem Nachhausweg.
Der junge Mann stockte, schien sich zu besinnen.
Die Uhrzeit, bitte?
Ach so. Es war kurz nach fünf Uhr als wir losgingen. Wir hatten noch überlegt, ob wir ein Taxi nehmen sollten. Aber… na ja, kein Geld… Meine Freundin hat noch auf die Uhr geschaut – es war so fünf Minuten nach fünf Uhr.
Der Assistent, Hauptmeister Wiethold pfiffelte mit spitzem Mund:
Fffüüh! Donnerwetter! Wer früh nach Hause kommt, braucht keinen Hausschlüssel! lachte er. Er bekam dafür einen tadelnden Blick seines Chefs. Da wurde er rot und schwieg verlegen.
Also, wir kamen hier entlang, am alten Bahnhof Mitte, weil wir eine Abkürzung nehmen wollten, wissen Sie, wir wohnen nämlich gleich drüben in der Friedrichstraße, in einer WG, und da sahen wir auf dem Fußweg etwas Helles liegen.
Und da sind Sie hingegangen?
Ja. Aber ich habe gleich gesehen, da liegt eine Tote, da ist nichts mehr zu machen.
So? Das haben Sie gleich gesehen, aus welchem Abstand sahen Sie das?
So ungefähr zwei Meter weg.
Donnerwetter! Da haben Sie aber ein gutes Auge. Na gut. Haben Sie sie angefasst?
Nein, ich nicht, aber Eva hatte sich gebückt und sie mit den Fingern berührt, weil sie erst dachte, die wäre vielleicht doch bloß betrunken oder bewusstlos.
Stimmt das?
Ja, das dachte ich, antwortete die Freundin, aber ich spürte dann auch gleich – die da lag, ist tot!
Woraus schlussfolgerten sie das?
Ach, sagte die Freundin, wie sie so lag, irgendwie unnatürlich, und dann war sie so unbeschreiblich kalt. Todeskalt, wie man sagt. Und dann bloß im Hemd und mit einem Schuh. Als ob man sie irgendwie absichtlich so hingelegt hätte… oder ist sie etwa an dieser Stelle gestorben?
Der Hauptkommissar gab keine Antwort, stattdessen brummte er:
Gut, da haben Sie richtig beobachtet. Und was taten Sie dann?
Wir haben nicht lange überlegt, antwortete jetzt wieder der junge Mann, wir haben über unser Smartphone die Polizei gerufen.
Wann war das?
Das hab ich mir gemerkt, denn ich musste die genaue Zeit durchgeben. Es war genau Fünf Uhr und dreiunddreißig.
Auf einmal kam Wiethold heran, flüsterte dem Kommissar ins Ohr: Er ist jetzt da, der Vater.
Aha, rief Böhlich, na da bringen Sie den Mann mal her.
Wiethold verschwand und kam gleich darauf mit einem Mann wieder, den Böhlich sofort als den auf dem Bild erkennte. Er war ein wenig über die Mitte des Lebens alt, ungefähr fünfzig, schätzte Böhlich, mittelgroß, schwarze Haare, die Schläfen angegraut, Stirnglatze, Brille. Er trug einen Sommermantel, darunter ein Tweed-Jackett, ausgetretene hellbraune Schuhe. Er neigte den Kopf.
Da bin ich, Herr Hauptkommissar.
Ja, danke. Sie sind Herr Kreher?
Ja, der bin ich.
Gut. Geben Sie doch bitte meinem Kollegen den Personalausweis.
Er kramte in seinen Manteltaschen, dann in den Jackettaschen, brachte eine Brieftasche hervor… wieder segelte das Bild zu Boden – die Fotographie seiner Tochter.
Er wollte sich bücken.
Lassen Sie nur. Wenn es ein Bild Ihrer Tochter ist, werden wir es erst einmal brauchen. Böhlich nickte seinem Assistenten zu, der hob das Bild auf, betrachtete das Bild, runzelte die Stirn.
Kreher schien verwirrt, er suchte mit den Augen einen Stuhl, um sich zu setzen. Aber es gab keinen Stuhl. Mein Gott, war er aufgeregt.
Sie brauchen keinen Stuhl, es dauert nicht lange, sagte der Hauptkommissar und ergänzte, Sie haben also eine Tochter? Ja.
Bitte erzählen Sie uns von ihr. Aber nur kurz, das Nötigste.
Ja, ich habe eine Tochter. Sie heißt Cora. Cora Kreher. Kreher, weil, sie ist nicht verheiratet. Sie ist im Januar 1976 geboren.
Am wievielten Januar?
Am Sechsundzwanzigsten – genau wie Mozart. Kreher lächelte verlegen.
So, so wie Mozart also. Interessant. Aber bitte weiter. Was macht sie, wo lebt sie? Wohnt sie bei Ihnen?
Es entstand eine kleine Pause. Arno Kreher suchte nach
Worten.
Nun? Was ist? Der Hauptkommissar drängte, sah dem Mann Kreher ernst und tief in die Augen.
Nein, Herr Kommissar, Cora wohnt nicht bei mir. Seit… seit… seit ungefähr zehn Jahren hab ich sie nicht mehr gesehen. Gleich nach dem Tod meiner Frau ist sie ausgezogen. Sie schreibt auch kaum. Die letzte Karte bekam ich von ihr zu Weihnachten. Ja, zu Weihnachten vor drei Jahren.
Gab es ein Zerwürfnis? Einen Streit?
Nein, es war mehr so ein schleichender Prozess. Wir haben uns nicht mehr verstanden. Sie verstand mich nicht und ich sie nicht. Andere Lebensansichten. Verstehen Sie? Da sind wir Alten im Wege? Haben Sie Kinder, Herr Kommissar?
Böhlich gab keine Antwort. Reden Sie weiter bitte. Beeilen Sie sich.
Ja, also eines Tages, als ich von der Arbeit nach Hause kam, war ihr Schrank leer geräumt, ihre Sachen waren weg, sogar die Spielsachen aus Kindertagen, zwei Koffer vom Schrank verschwunden, in der Küche ein Zettel: Bin fort. Komme nicht wieder. Telefonnummer anbei… aber bitte nicht andauernd anrufen! Ich war zuerst wie vor den Kopf geschlagen. Meine Frau war gerademal vierzehn Tage tot. Ich hatte mich in der letzten Zeit viel um die kranke Frau, war jeden Tag im Krankenhaus gewesen, hatte manchmal sogar dort geschlafen, darüber hatte ich die Tochter fast vergessen. Sie war ja auch schon erwachsen. Zweiundzwanzig Jahre, hatte einen Job, zahlreiche Freunde. Nun war sie also weg. Ich rief erst eine Woche später an, weil sie doch auf den Zettel geschrieben hatte, ich solle nicht andauernd anrufen…
Sie hatten wohl Angst vor ihrem Zorn? Der Vater nervt, er soll sich verpissen…
Ja, so ungefähr.
Und dann?
Gut, ich rief an, aber ich erreichte sie nicht. Sie arbeitete in einer medizinischen Einrichtung. Als klinische Psychologin. Man sagte, man wolle sie benachrichtigen. Natürlich rief sie nicht zurück. Stattdessen kam eine Karte. Darauf stand, ich solle ihr nicht auf die Nerven gehen, sie sei kein kleines Kind mehr. Wenn es etwas Wichtiges gäbe, würde sie sich schon melden. Dann erkundigte sie sich noch nach dem Grab ihrer Mutter. Das war es ja, was ich ihr in dem Anruf mitteilen wollte. Sie war nicht zum Begräbnis gekommen, ich wollte ihr vom Begräbnis berichten und ihr sagen, wo sie das Grab ihrer Mutter fände, in welchem Teil des Friedhofes, welcher Gang, welche Reihe… ich schrieb ihr eine Karte, teilte ihr diese Dinge mit. Es kam keine Antwort, auch kein Anruf. Wochen, Monate, Jahre vergingen. Ja, Herr Kommissar, man gewöhnt sich an alles, auch, dass die eigene Tochter nichts mehr mit ihrem Vater zu tun haben will… aber es bleibt eine Wunde, eine unvernarbte Wunde… verstehen Sie das?
Böhlich gab keine Antwort. Er fragte, wann haben Sie Ihre Tochter definitiv das letzte Mal gesehen?
Kreher schien nachzudenken. Nach einer Weile hob er den Kopf. Das war zu Ostern vor zwei Jahren.
Das wissen Sie genau?
Ja, es war der neunzigste Geburtstag meiner Mutter. Sie lebt in einem Pflegeheim. Kann kaum hören, wenig sehen, aber ist noch bei wachem Verstande. Und da haben wir uns bei ihr alle versammelt. Meine Schwester und ihr Sohn, mein Schwager, er ist Orthopäde, er hat eine eigene Praxisklinik. Und plötzlich ging die Tür auf und Cora kam herein. Sie hatte mitgeteilt, sie wüsste noch nicht, ob sie kommen könne. Nun, da war sie also da. Plötzlich wie die Fee im Märchen. Und, glauben Sie mir Herr Kommissar, es war so, als hätten wir uns erst gestern das letzte Mal gesehen. Cora tat völlig unbefangen. Sie war fröhlich, schwatzte dies und das, umarmte und herzte ihre Oma, schüttelte ihr die Kissen auf, gab den Blumen Wasser. Zu mir sagte sie mit einem Lächeln: Tag, Vater! Ich war baff, wie man sagt, und ich ging natürlich auf ihren Tonfall ein. Aber hinterher fiel mir auf, dass mir gegenüber kein persönliches Wort gefallen war. Als wir gehen wollten, hatte sie plötzlich keine Zeit mehr. Sie müsse noch zu einem Termin. Tschüss, alle miteinander! Sie verschwand so plötzlich wie sie gekommen war. Wie ein Geist huschte sie davon… ja, das ist alles, Herr Kommissar, tut mir leid.
Gut, sagte der Hauptkommissar, weil sie gerade beim Leidtun wäre. Auch ihm tue es leid, jetzt eine unangenehme Pflicht zu erfüllen.
Herr Kreher, Böhlich straffte sich zu voller Größe, und er war ein stattlicher Mann von mindestens eins achtzig, Herr Böhlich, wiederholte er, wie haben hier einen weiblichen Leichnam… wir haben das hier bei ihr gefunden, und der Hauptkommissar überreichte dem verdutzten Kreher, das „Vaterbild“ und die Ausweise. Das sind doch Sie?
Kreher betrachtete das Bild, drehte es hin und her, nahm die Ausweise in die Hand. Gewiss, sagte er leise, das bin ich und das sind Ausweise meiner Tochter… plötzlich schien er zu begreifen. Sie ist doch nicht?
Böhlich nickte. Wir befürchten es, Herr Kreher. Kommen Sie. Und er gab dem Arzt einen Wink, den grauen Sack zu öffnen.
Arno Kreher blickte auf die Tote, sah das Totenantlitz und prallte zurück.
Nein! Nein, Herr Kommissar, das ist nicht meine Tochter. Niemals…
Halt, warten Sie, es gibt einen eindeutigen Beweis. Cora hat auf der linken Schulter ein braunes Muttermal…
Der Arzt entblößte die Schulter der Toten. Es war nichts zu sehen.
Sehen Sie? Nichts. Glauben Sie mir, Herr Hauptkommissar, dieses Mädchen ist nicht meine Tochter… booaah bin ich froh!
Freuen Sie sich lieber nicht zu früh, mein Lieber. Wer weiß, was noch kommt? rief Wiethold, das Gesicht verziehend, dazwischen.
Böhlich warf seinem Assistenten einen bösen Blick zu. Er liebte es nicht, wenn bei seinen Befragungen irgendeiner dazwischen redete. Er fragte den Mann:
Kennen Sie die Tote wirklich nicht? Könnte es eine Freundin Ihrer Tochter sein?
Oh, Herr Kommissar, ich kenne die derzeitigen Freundinnen meiner Tochter nicht. Bedenken Sie doch… zehn Jahre ist sie nun schon fort von zu Hause. Nein, ich kenne das arme Mädchen nicht, tut mir leid.
Auf einmal aber schien dem „Vater“ eine Idee durch den Kopf zu schießen. Vergleichen Sie doch bitte mal das Bild, das Sie an sich genommen haben. Da müssten Sie doch den Unterschied sehen.
Häm, macht Böhlich. Er streckt die Hand nach seinem Assistenten aus.
Wiethold, geben Sie her.
Dieser reicht seinem Chef das Bild, allerdings nicht ohne anzumerken: Ich habe das gleich gesehen, Chef. Die Tote und das Bild sind nicht dieselben Personen.
Ja, ja Sie haben das natürlich wiedermal gleich gesehen… ach Wiethold. Und leise, fast flüsternd, ergänzt er: Denken Sie, ich habe das nicht gesehen, Sie… sie… ach Wiethold. Dem Arzt kommandiert Böhlich: Doktor, machen Sie den Sack wieder zu.
Zu Arno Kreher: Gut, Herr Kreher. Sie können jetzt gehen. Das heißt, wir fahren Sie natürlich wieder nach Hause. Kommen Sie morgen am Vormittag ins Präsidium. Protokoll, Sie verstehen? Arno Kreher will gehen, aber Böhlich hält ihn noch zurück.
Moment noch, Herr Kreher: Bitte, seien Sie so gut und spielen Sie jetzt nicht den Privatdetektiv… ich weiß, Sie wollen nun erst recht Ihre Tochter finden und mit ihr sprechen. Ich verstehe das. Doch, bitte verstehen Sie auch, das ist nun Sache der Polizei geworden. Ihre Tochter Cora ist eine wichtige Zeugin. Wir werden sie finden und mit ihr sprechen. Wir informieren Sie, wenn es Zeit ist… bitte um Verständnis.
Kreher nickt stumm und geht zu dem wartenden Polizeiwagen.
Zu Wiethold sagt Böhlich: Lassen Sie die Tote wegbringen. In die Rechtsmedizin, das übliche Procedere… besondere Gründlichkeit bitte ich mir aus.
Auch den Notarzt und die Spurensicherung entlässt Böhlich. Ich lasse Sie alle rufen, wenn es soweit ist. Einstweilen genügen Ihre Berichte.
Böhlich tappt ein paar Schritte vor dem Zelt hin und her, er atmet tief die noch frische städtische Morgenluft. Irgendwo hört er sogar eine Amsel. Unbewusst spürt er, dass dies ein ziemlich komplizierter Fall werden wird, der da beginnt.
Die Hände in den Taschen vergraben, eine Zigarre, die er sich eben angesteckt hat, im Mundwinkel, wartet der Hauptkommissar und er wirft noch ein paar Blicke auf den grauen Sack, der da vor ihm liegt. Nur im Hemd, denkt er und mit nur einem Schuh, erdrosselt mit Kabelbindern und in einer Tiefkühltruhe zu Gefrierfleisch gefrostet. Armes unbekanntes Mädchen. Wer hat sie hier abgelegt? Und warum? Jedenfalls, der sie hier auf den Fußweg gelegt hat, ist zweifelsohne auch der Mörder. Oder hat man die Tote in die Truhe eines Unbekannten gelegt und der hat es mit der Angst gekriegt und sich nicht anders zu helfen gewusst, als sie jetzt hier abzulegen? Oder, es war alles ganz anders? Und warum hat man die Tote mit falschen Papieren und einem falschen Bild ausgestattet? Auf alle Fälle müssen wir
uns auch mit der Tochter dieses Arno Kreher befassen. Die scheint ja noch am Leben zu sein. Auf alle Fälle – wichtige Zeugin. Wo verdammt ist die Schnittstelle zwischen diesen beiden Mädchen? Verflixt, das wird noch eine Menge Arbeit geben.
Zuerst jedoch: Wo ist die Blonde umgebracht worden? Zweitens: Wer ist sie, diese Tote? Wo kommt sie her? Eine Ausländerin? Das Labor muss jedem noch so winzigen Hinweis nachgehen. Alle Meldungen über Vermisste der letzten Monate müssen durchforstet werden, bundesweit…
Wiethold! ruft der Hauptkommissar, wenn wir drin sind in unserem Kasten, kommen Sie gleich mal zu mir.
Wüsste gar nicht, wo ich sonst hingehen sollte, Chef, murmelt der Gerufene und packt seinen Kram zusammen
Arno Kreher, kaum zu Hause angekommen – er hatte sich bei seiner Behörde einen Tag freigenommen – fing an alle Telefonnummern seiner Tochter, die er besaß, alle Adressen, alle Email-Adressen hervorzukramen. Freilich, der Hauptkommissar Böhlich hatte ihn gewarnt, nichts auf eigene Faust zu unternehmen, alles, was seine Tochter Cora betreffe, der Polizei zu überlassen. Doch, man versetze sich in seine Lage. Was würden Sie tun? Würden Sie nicht auch alles stehen und liegen lassen und einen Kontakt mit ihrer Tochter herzustellen versuchen? Das ist doch die normalste Sache der Welt. Immerhin wäre es ja möglich, dass ihr, genauso wie der blonden Toten, etwas zugestoßen sein könnte. Also, haben wir Verständnis für diesen bedauernswerten Mann Arno Kreher. Er ist jetzt ein Nervenbündel, ein Vater, der sich Sorgen macht.
Nein, er hat nicht immer richtig gehandelt, sagt er sich, während er seinen Schreibtisch, ja die ganze Wohnung durchwühlt, er hat die Cora vernachlässigt, sträflich vernachlässigt, hat sie viel zu oft alleine und sich selbst überlassen, hat im Grunde nie ein wirklich ernsthaftes Gespräch mit ihr geführt, wusste eigentlich nie, was sie für Sorgen hatte, was sie bewegte, kannte ihre Freundinnen und Freunde kaum, hat sich nie dafür interessiert - aber verdammt, er ist der leibliche Vater. Und nun, so glaubt er, ist ein Umstand eingetreten, wo er beweisen kann, ja beweisen muss, dass er seinem Kind gegenüber Verantwortung übernehmen muss. Er muss sie beschützen, er muss ihr helfen. Das hat Vorrang vor allem anderen. Und was schert ihn da die Polizei? Die machen ihre Arbeit. Gut. Aber sind die auch mit dem Herzen dabei, haben die eine innere Bindung zu den Personen, die sie finden, über die sie Aufklärung erreichen müssen? Nein. Also ist er, Arno Kreher, doppelt verpflichtet. Als Vater und als Bürger, der ein Verbrechen aufklären hilft.
Einen kleinen Stapel mit Zetteln hat er heraus gewühlt, den PC durchforstet. Aber das ist alles altes Zeug. Jahre alt. Die letzte Adresse, die aktuell ist und von der er weiß, ist die in Berlin. Er hat sogar eine Bekannte beauftragt am Hauseingang auf den Namensschildern nachzuforschen, ob diese Adresse stimmt und sie hat bestätigt – das ist ein Vierteljahr her – ja, dort gibt es ein Namensschild mit dem Namen Cora Kreher. Chausseegraben 24, 2. Stock links, in Charlottenburg. Aber eine private Telefonnummer konnte er nicht herausfinden. Zwei Stunden hat er dafür verbraucht. Die Auskunft wusste nichts, diverse Plattformen im Internet ebenso wenig. Bleibt ihm nur die Telefonnummer, wo Cora arbeitet. Aber, nein, das will er nicht, er scheut sich, dort anzurufen, will seine Tochter nicht irgendwelchem Gerede aussetzen. Es wird ihm jetzt nichts anderes bleiben, als hinzufahren, nach Berlin. Vor Ort muss er alles auskundschaften wie ein Privatdetektiv. Er wird Urlaub nehmen müssen.
Übermorgen, beschließt er, wird er hinfahren.
Der Hauptkommissar Böhlich inzwischen ist noch am selben Tag, nachmittags gegen halb fünf Uhr, in der Gerichtsmedizin erschienen. Hat sich extra einen Kittel und Überzüge für die Schuhe angelegt. Der Kittel steht hinten noch halb offen. Er hat keinen gefunden, der ihm beim Zuknöpfen hilft. Der Pathologe und Gerichtsarzt Dr. Georgi, ein grauhaariger Sonderling, schon viele Jahre auf diesem Posten, ist, die Brille auf der Nasenspitze, über den Besuch nicht erfreut. Weil, er ist noch nicht fertig. Und er lässt sich nur ungern stören bei der Arbeit.
Was gibt es, Hauptkommissar? Seine Stimme klingt unfreundlich.
Ach, ich wollte nur… wie weit sind Sie denn, Doktor?
Noch nicht weit. Habe nur einen ersten flüchtigen Überblick geschafft…
Die nackte Leiche lag auf dem Tisch aus Edelstahl. Es roch ein wenig fremd, aber mehr nach Desinfektionsmitteln als nach dem Leichnam selber. Das lag womöglich daran, dass die Tote noch nicht aufgeschnitten war. In der Mitte unter der jungen Frau gewahrte man die rinnenartige Vertiefung, praktisch eingerichtet, damit alles, Körpersäfte und Desinfektionsmittel, gut abfließen konnten. Böhlich wandte den Blick ab.
Nun, was meinen Sie?
Dr. Georgi: Ich schätze sie auf neunzehn bis zwanzig Jahre. Sie war kerngesund. Vielleicht ein wenig unterernährt.
Eine Studentin? Oder eher eine Professionelle?
Eine Prostituierte meinen Sie?
Ja.
Nun, sie hatte kurz vor ihrem Tod noch Geschlechtsverkehr.
Und zwar Oral und vaginal…
Haben Sie DNA gefunden?
Sie meinen, ob Spermaspuren vorhanden sind? Da sage ich:
Leider nein. Werde aber prüfen, ob wir Fremd-DNA finden.
Es gibt ja Hautschuppen und dergleichen…
Häm. Böhlich hat die Stirn in Falten gelegt. Haben wir da Chancen?
Geringe. Aber wir haben welche.
Und sonst?
Nun, da ist noch der Zahnstatus. Es sieht so aus, als hätten wir hier eine Osteuropäerin auf dem Tisch. Die Zahnbehandlung, die ich gefunden habe, spricht dafür. Russland, Bulgarien, Ukraine… so in dieser Richtung.
So? Na ja. Böhlich wendet sich ab, denn der Doktor hat seine Gummihandschuhe wieder übergestreift und die Instrumente bereit gelegt.
Wir warten dann nebenan. Brauchen Sie lange? Böhlich hat „wir“ gesagt und er meint damit sich und seinen Assistenten
Wiethold. Der hat die ganze Zeit neben ihm gestanden, ohne ein Wort, ist aber von Minute zu Minute blasser geworden. Zuletzt hat er sich die Hand vor Nase und Mund gehalten. Mann, reißen Sie sich zusammen! flüstert ihm der Chef zu.
Dr. Georgi sagt: Eine Stunde werd ich schon brauchen. Kommt darauf an, wann ich endlich anfangen kann und natürlich, was ich finde. Wünschen Sie auch eine Analyse des Mageninhalts?
Gern Doktor, wenn es keine Umstände macht.
Macht keine Umstände, muss ja sowieso aufschneiden. Nur das Labor kriegt dann zusätzlich zu tun.
Also gut.
Böhlich und Wiethold gehen in einen Nachbarraum, eine Art Büro. Beide haben sie noch den jungen weißen Körper vor Augen, der da vor ihnen gelegen hat.
Hier im Nachbarraum sieht es ziemlich unordentlich aus und es riecht seltsamerweise strenger als im Sezierraum. Wiethold kämpft mit Würgereizen.
Umpf, umpf… macht er und er sieht aus wie ein Hund, der bei seinem Herrn in Ungnade gefallen ist.
Was sind Sie nur für ein Waschlappen, Wiethold? fragt Böhlich und lächelt, ist wohl Ihre erste Sektion, was?
Wiethold nickt angestrengt mit dem Kopf, hält indes immer noch die Hand vor Mund und Nase. Kann ich mal rausgehen, Chef? presst er hervor.
Ja gut, meinetwegen.
Es dauert nicht lange, da erscheint der Assistent wieder und er macht ein Gesicht, als ob ihm an der frischen Luft etwas eingefallen ist.
Wenn sie nur dieses Hemd anhatte und den einen Schuh, sagt er, und wenn feststeht, dass sie vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte, dann… er spricht den Satz nicht zu Ende.
Der Hauptkommissar sagt: Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Kleidungsstücke hierher zu holen?
Ist das unbedingt notwendig?
Böhlich nickt und legt seinem Assistenten die Hand auf die Schulter: Wenn Sie sich überwinden könnten? Oder gruselt es Sie zu sehr?