John Sinclair 2244 - Rafael Marques - E-Book

John Sinclair 2244 E-Book

Rafael Marques

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Beschreibung

Unheimliches Knistern und Rascheln erfüllte die Luft, als der kalte Wind durch die trockenen Blätter rauschte, die an den knochigen Ästen der grauen Totenbäume hingen. In ihnen steckte kein Leben mehr, schon seit tausenden von Jahren nicht. Und doch existierten sie weiter und bildeten einen düsteren, unheimlichen Wald, der die Lichtung wie eine undurchdringliche Wand umgab.
Manchmal zeigten sich rote Augenpaare in der Finsternis, während monströse, geflügelte Geschöpfe ihre Kreise über dem Gebiet zogen. Die Sonne verschwamm als glühender Feuerball am Himmel, der von einem blutroten Leuchten dominiert wurde.
Es war ein lebensfeindlicher Ort, in dem sich die Gestalt aufhielt. Ein Ort des Todes und der Vergänglichkeit, des Schmerzes und des Leides. Und trotzdem liebte das dämonische Geschöpf diese Welt.
Seinen Friedhof ...


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Inhalt

Cover

Ein Grab für Purdy Prentiss

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Ein Grab für Purdy Prentiss

(Teil 1 von 2)

von Rafael Marques

Unheimliches Knistern und Rascheln erfüllte die Luft, als der kalte Wind durch die trockenen Blätter rauschte, die an den knochigen Ästen der grauen Totenbäume hingen. In ihnen steckte kein Leben mehr, schon seit tausenden von Jahren nicht. Und doch existierten sie weiter und bildeten einen düsteren, unheimlichen Wald, der die Lichtung wie eine undurchdringliche Wand umgab.

Manchmal zeigten sich rote Augenpaare in der Finsternis, während monströse, geflügelte Geschöpfe ihre Kreise über dem Gebiet zogen. Die Sonne verschwamm als glühender Feuerball am Himmel, der von einem blutroten Leuchten dominiert wurde.

Es war ein lebensfeindlicher Ort, in dem sich die Gestalt aufhielt. Ein Ort des Todes und der Vergänglichkeit, des Schmerzes und des Leids. Und trotzdem liebte das dämonische Geschöpf diese Welt.

Seinen Friedhof ...

Wie ein König, der sein Reich betrachtete, schritt die Kuttengestalt an den Gräbern entlang. Zehn waren es inzwischen, einige davon schon etwas älter, manche jünger. Die Grabsteine sahen alle gleich aus, wenn man einmal von den eingravierten Namen und Daten absah. Vier Gräber waren dagegen noch leer, ebenso wie die vier Särge, die vor ihnen auf die nächsten Toten warteten.

Noch war es nicht so weit. Noch betrachtete die Gestalt lieber ihr Werk. Die Toten in den Gräbern würden sich nie wieder erheben, aber sie lebten noch – nur in ihrer Erinnerung. Sie weidete sich an ihrem Leid, an den unsäglichen Qualen, die sie in den letzten Minuten ihres Lebens erdulden mussten.

Als die Kuttengestalt das vorletzte der noch offenen Gräber erreichte, blieb sie stehen. Der Grabstein zeigte noch keine Gravur, und genau das wollte sie ändern. Ein dünner Arm schälte sich aus der Kutte hervor, der auf keinen Fall einem Menschen gehören konnte. Die Haut zeigte eine rot-braune Färbung und war dabei von unzähligen Narben und gelben, eitrigen Pusteln übersät. Sie spannte sich so eng um das Fleisch, dass die Knochen deutlich hervortraten. Besonders an den spindeldürren, überlangen Fingern, die an die Krallen eines Monsters aus längst vergangenen Zeiten erinnerten. Die Finger verfügten über rostfarbene, messerscharfe Nägel, die sich spielerisch leicht in die Haut eines Menschen wühlen könnten.

Das Ziel der Gestalt war jedoch kein Mensch, sondern der Grabstein. Sie beugte sich zu ihm herab, setzte die Spitze ihres linken Nagels an das grobkörnige Gestein und bohrte sie hinein. Sie führte ihren Finger wie einen Stift über das eigentlich sehr harte Material, das dem Nagel nichts entgegenzusetzen hatte. Nach und nach fügte sich Buchstabe an Buchstabe, sodass erst ein Wort entstand und kurze Zeit später noch ein zweites hinzukam. Bald schon fand sich ein vollständiger Name auf dem Grabstein – der Name derjenigen, die hier ihre ewige Ruhe erhalten sollte.

Eine Frau namens Purdy Prentiss ...

Wieder einmal machte Tammy Preston drei Kreuze, diesen Arbeitstag überstanden zu haben. Einen von vielen in einer nicht enden wollenden Reihe, die sich bis zu ihrer Rente hinziehen würde. Daran dachte sie bereits, obwohl sie gerade erst neunundzwanzig Jahre alt war, denn der Job, den sie sich ausgesucht hatte, verlangte ihr tagtäglich alles ab.

Manchmal fragte sie sich, wie sie bloß auf die Idee gekommen war, sich ausgerechnet zur Speditionskauffrau ausbilden zu lassen. Die Logistikbranche gehörte nicht unbedingt zu den Sektoren mit den höchsten Gehältern, dafür wurde von den Angestellten umso mehr gefordert. Insbesondere von denjenigen, die im täglichen Kampf ums Überleben auf der Straße an vorderster Front standen – und das tat sie als Disponentin nun einmal.

Über zwanzig Lastwagen, von Sattelschleppern bis hin zu Kleintransportern, ließen sich eben nicht einfach mal so nebenbei durch die Weiten Cornwalls dirigieren. Da benötigte man schon einiges, um die Übersicht zu behalten, wie etwa Geschicklichkeit, Organisationstalent, einen Sinn für ein gutes Geschäft und vor allem starke Nerven. Sie musste ihre Fahrer schließlich nicht nur dazu bringen, so schnell wie möglich von A nach B zu fahren, sondern auch die richtigen, sprich, die finanziell attraktivsten, Aufträge ausloten.

Es war ein Knochenjob, den sie nun schon seit drei Jahren ausfüllte, und manchmal fragte sie sich, wie lange sie das noch durchhalten würde. Ein Jahr hatte man ihr gegeben, und viel länger hatten es ihre Vorgänger auch nicht ausgehalten, folglich war das bisher Erreichte schon ein Erfolg für sie. Leider schlug sich das nicht unbedingt in ihren Gehaltsabrechnungen nieder, und häufig endete ihr Dienst nicht um Punkt 17 Uhr, sondern zog sich noch bis in die Nacht hinein. Für ihre Fahrer musste sie rund um die Uhr erreichbar sein, und hin und wieder bedeutete das eben auch Überstunden.

Die Überstunden waren ihr geringstes Problem, dazu musste sie nur in den Innenspiegel ihres alten Volvos blicken. Man sagte ihr nach, sehr attraktiv zu sein. Braune, gelockte Haare, die ihr bis knapp über die Ohren wuchsen, Augen, in denen ein Hauch von Düsternis schimmerte und ein mit Lippenstift gefärbter Schmollmund, das waren ihre Markenzeichen.

Nur ließen sich die dunklen Ränder unter ihren Augen irgendwann nicht mehr mit Make-up übertünchen, von den seelischen Wunden ganz zu schweigen. Auch David, ihr Mann, den sie kurz nach ihrem Studium geheiratet hatte, war wegen seiner Arbeit viel auf Reisen, und so litt sie häufig allein. Wenn man mal von den Weinflaschen absah, die sie in einer Schublade im Wohnzimmer versteckte.

Tammy versuchte, das alles hinter sich zu lassen. Es war Feierabend, und sie wollte ihn auch genießen, nur gelang ihr das einfach nicht. Wie betäubt fuhr sie über die A38, und selbst die Songs, die im Radio gespielt wurden, nahm sie kaum wahr. In den vergangenen Jahren war sie die Strecke von Liskeard nach St. Neots schon so oft gefahren, dass sie beinahe jede Lenkbewegung auswendig kannte. Deshalb versäumte sie trotz ihres Zustands auch nicht, den Blinker zu setzen und auf die kleine Landstraße abzufahren.

Die schmale Route führte durch ein enges, bewaldetes Tal, das von dem unscheinbaren Loveny River durchflossen wurde. Bald passierte sie die Zufahrt zu den Camglaze Taverns, einer kleinen Touristenattraktion. Die unterirdischen Höhlen konnten nicht nur besichtigt werden, es fanden hier auch diverse kulturelle Veranstaltungen statt. Früher war sie öfter dort gewesen, inzwischen fand sie dafür weder die Zeit, noch die Kraft.

St. Neots war ein verschlafener kleiner Ort, der sich Fremden nur zögerlich öffnete. Immerhin kämpfte man auch hier mit der Landflucht junger Menschen, die es in die Städte zog, weil sie dort bessere Arbeitsmöglichkeiten vorfanden. Eine Möglichkeit, genau das zu bekämpfen, war es, den Tourismus anzukurbeln, der bisher zumeist einen großen Bogen um das Dorf machte. Dabei war St. Neots von so herrlichen, sanft geschwungenen Hügeln umgeben, und von manchen konnte man in der Ferne sogar das Meer erkennen. Man musste die Leute eben nur auf die Schönheiten dieser Gegend aufmerksam machen.

Jeder kannte hier jeden, und als sie das Stadtzentrum mit seinen beiden Kirchen und der Kneipe durchquerte, winkten ihr einige Bekannte zu. Tammy winkte zurück, war aber an keinem Gespräch interessiert. Sie wollte nur noch nach Hause, sich auf die Couch legen und die Augen schließen.

Langsam fuhr sie wieder in Richtung Ortsausgang. David und sie wohnten etwas außerhalb, auf einem ehemaligen Bauernhof. Sie brauchte diese Einsamkeit, eben die Möglichkeit, ganz für sich zu sein. Das war für sie die einzige Art, Erholung zu finden. In die Stadt zu ziehen und in einer dieser Mietskasernen zu wohnen, konnte sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen. Einmal hatte sie es versucht – und war brutal gescheitert.

Noch immer war sie geistig abwesend, trotzdem fiel ihr der seltsame Vogel auf, der auf der letzten Straßenlaterne vor dem Ortsausgang hockte. Der Anblick riss sie aus ihrer Lethargie, denn ein solches Tier hatte sie in dieser Gegend – oder überhaupt auf der Insel – noch nie gesehen. Wenn sie sich nicht ganz täuschte, handelte es sich bei dem Vogel um einen Geier. Der lange Hals, der helle Federkranz im oberen Nackenbereich und der leicht nach unten gebogene Schnabel waren eigentlich unverkennbare Merkmale.

Als sie die Geschwindigkeit drosselte, um sich den seltsamen Vogel näher anzusehen, breitete er seine Flügel aus. Mit wenigen Schlägen schwang er sich in die Luft und verschwand am Himmel, über den sich die Strahlen der untergehenden Sonne ergossen.

Tammy blickt noch einige Zeit verträumt zu den geröteten Wolken hinauf, dann gab sie wieder Gas. Zumindest hatte sie der Anblick des Vogels für kurze Zeit von ihren trüben Gedanken abgelenkt.

Bis zu ihrem Haus war es nicht mehr weit. Es stand auf einer Anhöhe und war von einem kleinen Birkenhain umgeben. Neben dem dreistöckigen Bau gehörte noch eine Scheune zu dem Anwesen, die ihr Mann für sein Hobby, die Reparatur von Oldtimern, nutzte.

Tammy lenkte den Wagen den Hügel hinauf, vom dem aus sich ein wunderbarer Blick auf die malerische Landschaft Cornwalls bot. Manchmal, wenn das Wetter mitspielte, saß sie auf einer Bank zwischen den Bäumen und ließ ihren Blick stundenlang in die Ferne schweifen. Heute stand ihr danach jedoch nicht der Sinn, zudem wehte draußen eine unangenehm kalte Brise.

Direkt neben der Eingangstür stellte sie den Wagen ab und stieg aus. Sofort traf sie ein kalter Windstoß, weshalb sie ihre Jacke noch einmal zuzog. Sie wollte schon in Richtung Tür laufen, als sie ein seltsamer Laut zusammenzucken ließ. Es klang wie das Krächzen eines Tiers, und als sie herumwirbelte, sah sie, dass in der Krone einer Birke ein größerer Vogel saß. Tammy trat näher heran und stellte überrascht fest, dass es sich um den Geier handelte.

Ein Schauer rann über ihren Rücken, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab. Was sprach dagegen, dass der Vogel ganz zufällig von der Straßenlaterne zu dem Hain geflogen war? Im Prinzip nichts, und es war auch absurd, etwas anderes anzunehmen. Trotzdem – allein die Art, wie der Geier auf dem Ast saß und seinen Kopf in ihre Richtung neigte, sorgte bei ihr für ein unangenehmes Gefühl.

Wieder wollte sie sich abwenden und in Richtung Tür steuern, als für einen Moment ein Schatten über ihren Körper glitt. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah einen zweiten großen Vogel, der über dem Haus seine Kreise zog. Aus dieser Entfernung konnte sie nicht erkennen, ob es sich bei dem Tier ebenfalls um einen Geier handelte, aber der Verdacht lag natürlich nahe.

Tammy atmete schwer, während sie leicht zu zittern begann. Solche Tiere existierten in diesen Breitengraden normalerweise nicht, und jetzt tauchten gleich zwei Geier an ihrem Haus auf. Und obwohl das wirklich ungewöhnlich war, erklärte das nicht, warum sie so furchtbar nervös war.

Es kostete sie einiges an Kraft, sich zusammenzureißen und den Schlüssel ins Schloss zu führen. Als sie endlich nach innen schwang, huschte sie so schnell wie möglich ins Haus und schmetterte die Tür hinter sich zu.

Tammy ließ ihre Tasche einfach von der Schulter gleiten, schloss die Augen und fuhr sich durch die Haare. Was war nur mit ihr los? War sie so am Ende, dass sie sich jetzt schon von zwei Geiern aus der Ruhe bringen ließ? Es gab sicher einen vernünftigen Grund, warum sie sich in dieser Gegend herumtrieben. Sie konnten aus einem Tierpark ausgebrochen sein oder aus einem Zoo. Warum ließ sie sich von ihnen nur so leicht ängstigen?

Mehrmals atmete sie tief ein und aus, dann begann sie, ihre Klamotten abzustreifen. Bis zum Bad war es nicht weit, und als sie die Tür öffnete, war sie bereits nackt. Sie drehte die Heizung auf, legte sich Handtücher und Bademantel zurecht und trat in die Duschkabine.

Die warmen Strahlen taten ihr unheimlich gut, und ein wenig war es ihr, als würde sie all die schlechten Gedanken von ihrem Körper herunterspülen. Sie blieb sogar etwas länger als nötig in der Kabine und schlüpfte anschließend in den flauschigen Bademantel. Mit einem Handtuch für die Haare verließ sie das Bad, schlich durch den Flur und trat in ihr weitläufiges Wohnzimmer, das von einer langen, grünen Couch dominiert wurde.

Mit einem leisen Stöhnen sank sie auf das Polster herab, streckte sich aus und schloss die Augen. Jetzt wollte sie nichts anderes mehr, als zu entspannen. David würde erst am nächsten Tag aus London abreisen, also musste sie auch diese Nacht wieder allein verbringen. Nicht nur deshalb – und nicht zum ersten Mal an diesem Tag – kam ihr bald der Gedanke, sich eine Flasche Wein in den Kühlschrank zu stellen. Noch aber blieb sie auf der Couch liegen und streckte ihre Beine aus.

»Tammy!«

Wie in Trance schlug sie die Augen wieder auf und starrte in Richtung Decke. Was war das gewesen? Eine Stimme? Oder ein Produkt ihrer Fantasie, die sie heute schon einmal an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht hatte. Mehr als ein Flüstern war es nicht gewesen, und doch kam es ihr so vor, als wäre sie direkt neben ihrem Ohr aufgeklungen.

Nach einigen Sekunden, in denen sie nur geschockt dalag, fuhr sie in die Höhe und sah sich um. Sie war völlig allein im Zimmer, und selbst als sie in den Flur lief, fand sie keine Spur einer fremden Person. Trotzdem war sie davon überzeugt, dass sie sich die Stimme nicht eingebildet hatte.

Schwer atmend begann sie, den Bademantel vor ihrer Brust zusammenzudrücken. Dabei dachte sie auch daran, dass in Davids Arbeitszimmer im ersten Stock eine Pistole lag, die er sich aus Angst vor Einbrechern gekauft hatte. Tammy wusste zwar, wie man mit ihr umgehen musste, nur kam ihr der Weg nach oben so unendlich lang vor.

Reiß dich zusammen, Tammy!, fuhr sie sich selbst gedanklich an. Du verlierst langsam völlig den Verstand.

Gerade als sie schon langsam wieder in Richtung Couch gehen wollte, erklangen vor dem Haus laute Vogelrufe. Ihr kamen die Laute wie geistige Peitschenhiebe vor, die sie Mal um Mal zusammenzucken ließen. Dabei hatte sie sich so viel Mühe gegeben, alles, was außerhalb des Hauses geschehen war, auch dort zu belassen. Jetzt holte sie die Wirklichkeit wieder ein.

Ein großer Schatten huschte am Fenster vorbei, und so laut, wie das Geschrei klang, mussten sich die Vögel direkt vor dem Haus aufhalten. Beinahe rechnete sie damit, sie würden das Fenster attackieren und sie nach draußen ziehen, doch das geschah nicht.

Ein Gefühl sagte ihr, dass sie sich den Rest des Abends irgendwo im Keller verkriechen sollte, aber das wollte sie nicht. Sie war kein ängstliches, kleines Mädchen, das sich bei ein paar seltsamen Vogellauten gleich irgendwo versteckte. Nur die Stimme ließ sich einfach nicht wegdiskutieren, auch wenn ganz offensichtlich niemand da war, der sie auf diese Art angesprochen haben konnte.

»Tammy ...«

Wieder hörte sie die Flüsterstimme, und das so nah, als hätte der Sprecher ihr ihren Namen direkt ins Ohr geflüstert. Sie stand einfach nur da, zitterte und wartete ab, was geschah. Das Flüstern wiederholte sich nicht, dafür sah sie erneut einen großen Schatten am Fenster vorbeigleiten.

Langsam, Schritt für Schritt, ging sie zurück in Richtung Couch. Sie wollte sich jedoch nicht wieder hinlegen, sondern ans Fenster, um zu sehen, was dort vor sich ging. Dabei wurde sie an eine längst vergangene Zeit zurückerinnert, in der sie gedacht hatte, ebenfalls keinen Ausweg zu finden. Damals war es ihr gelungen, und so würde es auch diesmal sein. Mit allergrößter Willenskraft gelang es ihr, ihre Ängste zu überwinden und dem entgegenzutreten, was dort draußen auf sie lauerte.

Es war noch nicht ganz dunkel. Die letzten Strahlen der Abendsonne ließen den Horizont aufleuchten, und am Himmel zeichneten sich neben einigen Wolken auch die verblassenden Kondensstreifen der Flugzeuge ab. Über St. Neots und der sanft hügeligen Landschaft Cornwalls breitete sich ein schwacher Dunst aus, während innerhalb des kleinen Birkenhaines vor dem Haus ein düsteres Zwielicht vorherrschte.

Dort, zwischen den dünnen Stämmen, entdeckte sie die fremde Gestalt. Tammy löste ihre Hände vom Bademantel und presste sie gegen die Scheibe, als könnte sie durch das Glas hindurchfassen. Ihre Fingernägel kratzten über die Oberfläche, während Tränen über ihre Wangen liefen. Jetzt hätte sie weglaufen und sich Davids Waffe besorgen müssen, doch sie war einfach nicht zu einer Reaktion fähig. So ließ sie es geschehen, dass sich die Kuttengestalt, von deren Körper absolut nichts zu erkennen war, langsam in Bewegung setzte.

Die Anwesenheit des Kuttenträgers kam ihr wie ein böser Traum vor. Wie war es ihm möglich gewesen, ihr etwas ins Ohr zu flüstern, wenn er dort draußen zwischen den Bäumen gestanden hatte? Sie fand darauf keine Antwort, und während sie bewegungslos beobachtete, wie sich die Gestalt dem Fenster näherte, entdeckte sie die beiden Geier, die wie stumme Wächter in dem Geäst der Bäume hockten und mit ausgestreckten Köpfen das Geschehen vor ihnen beobachteten.

Die Kuttengestalt nahm inzwischen fast die gesamte Sichtfläche des Fensters ein, doch selbst als sie direkt vor dem Haus stand, wagte Tammy es nicht, sich von der Stelle zu rühren. Von dem Gesicht des Fremden konnte sie auch aus dieser Entfernung nichts erkennen, abgesehen von zwei roten Punkten, die innerhalb der Finsternis leuchteten. Wie bei einem Dämon ...



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