John Sinclair 2286 - Rafael Marques - E-Book

John Sinclair 2286 E-Book

Rafael Marques

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Beschreibung

Ein Kind, ein Kind. Das Kind, das ihm schon so nahe gewesen war, ohne dass es davon etwas mitbekommen hatte.
Kleine Augen beobachteten den Jungen durch das hohe Gras. Nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen, und nie bemerkte das so einsam wirkende Kind, dass es nicht allein war. Vor allem nicht, dass sich jemand für es interessierte.
Die Zeit verstrich, die Tage ebenfalls, und jedes Mal, wenn die Sonne wieder hoch am Himmel stand, kehrte der Junge zurück an diesen Ort der Ruhe und Geborgenheit.
Bald - das spürte der stille Beobachter - war seine Zeit gekommen. Dann würde er sich ihm offenbaren und sein Leben für immer verändern ...


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Inhalt

Cover

Der Tod kam aus dem Wald

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Der Tod kam aus dem Wald

von Rafael Marques

Ein Kind, ein Kind. Das Kind, das ihm schon so nahe gewesen war, ohne dass es davon etwas mitbekommen hatte.

Kleine Augen beobachteten den Jungen durch das hohe Gras. Nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen, und nie bemerkte das so einsam wirkende Kind, dass es nicht allein war. Vor allem nicht, dass sich jemand für es interessierte.

Die Zeit verstrich, die Tage ebenfalls, und jedes Mal, wenn die Sonne wieder hoch am Himmel stand, kehrte der Junge zurück an diesen Ort der Ruhe und Geborgenheit.

Bald – das spürte der stille Beobachter – war seine Zeit gekommen. Dann würde er sich ihm offenbaren und sein Leben für immer verändern ...

Wie so oft saß Tim Murdock einfach nur auf dem Baumstumpf und blickte auf die jeden Tag kleiner werdende Pfütze, das einzige stehende Gewässer in dem dichten Wald. Die Blätter der alten Eichen bildeten einen dichten Schutzwall, der nur wenige Sonnenstrahlen hindurchließ. So hielt sich selbst in den Mittagsstunden eine angenehme Temperatur.

Dass er seine Ferien in dieser Einsamkeit verbrachte, immer am selben Ort, schien von seiner Familie niemanden zu interessieren. Warum auch? Seine Eltern hatten mehr mit sich selbst und Tims kürzlich zugezogenem, irgendwie unheimlichem Onkel Daniel zu tun, sein Bruder Brandon hasste ihn, und seine Halbschwester Simone lebte sowieso in einer ganz anderen Welt. Genauso kam er sich auch oft vor, als würde er selbst in einer riesigen Blase existieren und niemand von ihm Notiz nehmen.

Die Gegend in der Nähe von Moneyneany, im ländlichen Teil Nordirlands, bot viele Möglichkeiten, sich zurückzuziehen. Landwirtschaft wurde hier noch großgeschrieben, es existierten auch zahlreiche kleinere und größere Waldflächen, einige mit sehr altem Baumbestand. Manchmal kam es ihm so vor, als würden sich die Eichen mehr für ihn interessieren als seine Familie.

Besonders ein Baum hatte es ihm angetan. Der Stamm war bereits in der Mitte aufgeplatzt und offenbarte so sein hohles Inneres. Aus einem Buch wusste er, dass das ein Hinweis darauf war, dass die Eiche schon mindestens fünfhundert Jahre alt war, wenn nicht noch mehr. Oft saß oder stand er einfach nur vor ihr, bei anderen Gelegenheiten lehnte er sich an ihre Rinde und glaubte, das Leben innerhalb des Baumes zu spüren. Es war so wunderbar, sich an jemanden oder etwas anlehnen zu können, ohne die Befürchtung zu haben, zurückgestoßen zu werden. Mum und Dad fanden bei all ihren Streitereien nie die Zeit, ihm so ihre Liebe zu zeigen.

Im Moment stand ihm nicht der Sinn danach. Stattdessen beobachtete er, wie die Mücken über der Pfütze ihren seltsamen, nie gleichen Tanz aufführten. In seiner Vorstellung verwandelten sie sich manchmal in Feen, die einen glitzernden Schweif hinter sich herzogen, wie ein Gruß aus einer anderen Welt. Ein Wasserläufer ließ kleine Wellen auf der Oberfläche entstehen, beinahe wie Tore in andere Welten, die sich nur für ihn öffneten.

Einmal flog sogar eine Amsel heran und ließ mit ihren Flügeln das kühle Nass in die Höhe spritzen. Tim lachte leise, was den Vogel aufschreckte und davonflattern ließ. Er rief ihr noch hinterher, natürlich ohne Erfolg.

Er merkte kaum, wie die Zeit verging. Erst als die wenigen Sonnenstrahlen bereits zwischen den alten Stämmen in den Wald fächerten, wurde ihm bewusst, dass es bald wieder Zeit fürs Abendessen wurde. Mum hielt eisern an der Tradition fest, dass sie sich alle, nachdem Dad von der Arbeit nach Hause kam, am Tisch zusammenfanden, um miteinander zu reden. Dass sie sich meistens nach kurzer Zeit nur noch angifteten, schien ihr dabei gar nicht aufzufallen.

Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob jeder Zehnjährige sich solche Gedanken machte wie er. Ob noch jemand derartige Probleme hatte? Er wusste es nicht, und wie sollte er es auch herausfinden? In der Schule beachtete man ihn fast noch weniger als zu Hause, nicht einmal die Schulschläger oder Rowdies schienen sich für ihn zu interessieren. Er war einfach da und ging wieder, das war es auch schon.

Tim seufzte. Er wünschte sich so sehr, dass plötzlich jemand kam und ihn an die Hand nahm. Ihm ein Lächeln schenkte, eine Umarmung oder ihn zumindest fragte, wie es ihm ging. Leider würde dieser Wunsch auch heute unerfüllt bleiben. Wenigstens wies ihn dieser Wald nicht ab, auch nicht, als er sich von dem abgesägten Stamm abstieß und er mit den Turnschuhen voraus im Gras landete.

Sein Blick wanderte noch einmal zu der altehrwürdigen Eiche. Fünfhundert Jahre sollte sie laut dem Buch mindestens schon alt sein, vielleicht auch tausend. Würde er jemals so ein Alter erreichen und ewig leben? Als Baum bestimmt, aber das waren auch nur Träume.

Oder ...?

Er stutzte. Nicht, weil die Blätter der Eiche leise im Wind raschelten. Im hohen Gras und zwischen den Farnen, die sich im Bereich der mächtigen Wurzeln ausbreiteten, hatte er für einen kurzen Moment geglaubt, eine Gestalt gesehen zu haben. Keinen Fuchs oder Marder, die ihm in den letzten Tagen hier auch schon begegnet waren. Eher etwas von der Form eines Menschen. Nur, wer war schon so klein, dass er sich in knapp einem halben Meter hohen Unkraut verstecken konnte? Das schaffte nicht einmal ein Kleinkind.

Was sollte er tun? Nach Hause laufen, wo Mum wahrscheinlich – oder eher hoffentlich – schon auf ihn wartete? Oder nachsehen? Es war nicht so, dass er sich fürchtete. Ihn befiel nur eine leichte Unsicherheit. Die Scheu vor dem Neuen, dem Unbekannten, einer Kraft, die ihm womöglich völlig unbekannt war.

Vorsichtig, mit leisen Schritten, ging er auf die Farne zu. Noch einmal sah er die Silhouette nicht, er hörte auch nichts weiter als das Rauschen des Windes und das Klopfen seines eigenen Herzens. »Hallo?«, rief er vorsichtig. »Ist da jemand?«

Er hatte nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet. Umso überraschter war er, als er das Lachen hörte, das direkt vor ihm aus dem hohen Gras drang. Tim zuckte zurück, widerstand aber dem ersten Reflex, davonzulaufen. Ein Tier war das bestimmt nicht, eher schon ein Mensch, allerdings bestimmt niemand, der da im Gras lag. Eher schon ein sehr kleines Wesen.

Ein Gnom, ein Kobold, vielleicht sogar ein Zwerg? Er war kein kleines Kind mehr, das noch an diese Fabelwesen glaubte, die in Märchen und Sagen auftauchten. Andererseits wünschte er sich kaum etwas sehnlicher, als dass derartige Gestalten wirklich existierten. Dass der Wald ihm eines Tages seine Geheimnisse offenbarte und er neue Freunde fand, die ihn eher verstanden als die Menschen um ihn herum.

»Wer bist du?«, fragte er mit hauchzarter Stimme. »Bist du ein Zwerg?«

Eine Antwort erhielt er nicht, jedenfalls keine gesprochene. Dafür reagierte die im Gras lauernde Gestalt, indem sie die Halme und die Blätter der Farne zur Seite drückte. Sehr langsam trat das Wesen ins Freie, und als Tim es endlich in voller Größe sah, begann er zu zittern.

Vor ihm stand tatsächlich ein Zwerg. Er war etwa fünfzehn Zentimeter groß und reichte ihm damit nicht einmal bis zu den Knien. Seine Haare wurden von einer schwarzen, gestrickten Baskenmütze verdeckt, neben der die beiden spitzen, bleichen Ohren deutlich hervorstachen. Auch das dreieckige Gesicht mit der spitzen Nase, den vernarbten Wangen und dem kleinen Mund wirkte irgendwie bleich und blutleer. Seine Kleidung bestand aus einer kurzen Hose und einem Pullover, die wohl aus Grashalmen geflochten waren.

Vorsichtig erhob das Wesen seine kleine Hand mit den spitzen und überlangen Fingernägeln. Tim erwiderte schüchtern den Gruß und ging langsam vor dem Zwerg in die Knie. Der Anblick war für ihn so unglaublich, dass er glaubte, das Wesen könnte verschwinden, sobald er noch einmal zwinkerte. Es sprach kein Wort, und dennoch überkam ihn das Gefühl, ihm sehr nahe zu sein.

»Wie heißt du?«

Der Zwerg lächelte nur und streckte zugleich seine rechte Hand nach ihm aus. Sie war nur wenige Zentimeter entfernt, und Tim musste sie nur ergreifen. Trotzdem hatte er große Mühe, seinen eigenen Arm anzuheben. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Es war einfach unglaublich, dass dieses Wesen jetzt vor ihm stand, als hätte es all seine Wünsche erhört.

Womöglich stimmte das sogar ...

Sein Arm zitterte, als es ihm endlich gelang, ihn dem Zwerg entgegenzustrecken. Würde er jetzt aus dem Traum erwachen? Nein, das war kein Traum, das war die Realität, und als seine Finger mit der Hand des kleinen Geschöpfs in Berührung gerieten, wusste er endgültig, dass er sich das alles nicht einbildete. Eine seltsame Wärme schoss durch seinen kleinen Finger, so überraschend, dass er seinen Arm hastig wieder zurückzog.

Der Zwerg stieß ein leises Lachen aus, grinste auch. Dann drehte er sich um und lief zurück in das hohe Gras.

»Nein, geh nicht!«

Es war bereits zu spät. Das kleine Geschöpf war verschwunden. Tim lief ihm noch hinterher, wobei er kurz einen merkwürdigen Lichtschein sah, der wohl aus dem Inneren der Eiche drang. Er suchte das Gras, die Farne und den hohlen Stamm ab, ohne eine Spur von dem Zwerg zu finden. Es war, als wäre er vom Erdboden verschluckt worden.

Hatte er sich das alles nur eingebildet?

Sehr langsam wanderte sein Blick hinab zu seiner Hand. Die seltsame Wärme war noch immer spürbar, und jetzt, als er seine Finger sah, weiteten sich seine Augen. Die Kuppe des kleinen Fingers, der mit der Haut des Zwergs in Kontakt gekommen war, wurde von einer grünen Schicht bedeckt.

Und Tim lächelte ...

Niemand warf ihm den Umstand vor, dass er zu spät zum Abendessen gekommen war. Nicht einmal Mum, die ihm lediglich mit einem strengen Blick bedachte und ansonsten mit einem wie festgenagelten Lächeln das Essen auftischte. Es gab Spaghetti Bolognese, die Leibspeise seines Vaters, der allerdings wenig begeistert wirkte.

Tim saß ihm gegenüber, direkt neben Simone. Seine sechs Jahre ältere Halbschwester hatte den Tick, sich ständig durch die hellblonden Haare fahren zu müssen. Dass auf ihrem linken Oberschenkel ihr Handy lag, konnte nur er sehen. Er dachte jedoch nicht daran, sie an seine Eltern zu verpetzen. Warum auch? Es war ihm lieber, von ihr in Ruhe gelassen als wie von Brandon ständig drangsaliert und beschimpft zu werden. Sein zwei Jahre älterer Bruder saß zwischen Dad und Daniel, dem Bruder seines Vaters.

»Na, Schatz, wie war dein Tag?«, fragte seine Mutter, während sie sich neben Simone und damit gegenüber von Dad niederließ.

Fast beiläufig entkorkte sie eine Flasche Wein und schenkte sich fast bis zum Glasrand ein.

»Wie schon? Elendig. Die Hälfte meiner Leute liegt wegen Grippe im Bett, weshalb das Projekt kaum Fortschritte macht. Wenn das so weitergeht, werde ich die Frist nicht einhalten können.«

Tims Vater arbeitete als Bauleiter bei einer der größten Firmen in der Gegend. Da ihm niemand große Beachtung schenkte, war er mit der Zeit ein guter Beobachter geworden. Es war schon mehr als auffällig, dass sein Dad seit einigen Wochen beinahe jeden Tag gestresster wirkte. Mehrmals nestelte er am Kragen seines Hemdes herum, fuhr sich durch die immer lichter werdenden, braunen Haare oder kaute auf seiner Unterlippe herum.

»Ich hatte übrigens auch viel zu tun«, ergriff Mum wieder das Wort. Das Make-up konnte die Augenringe nicht ganz kaschieren. Ihre zum Scheitel gekämmten, blonden Haare wirkten etwas zerzaust, was sonst nicht ihre Art war.

»Schön für dich.«

»Nein, es ist überhaupt nicht schön. Drei Kinder sind eine Sache, jetzt muss ich noch die Wäsche für eine Person mehr machen.«

Tims Dad seufzte, legte das Besteck beiseite und wischte sich die Finger ab. »Wir hatten das Thema schon mehrfach. Es war unsere gemeinsame Entscheidung, Daniel aufzunehmen, und das auch wirklich nur so lange, bis er wieder auf eigenen Beinen stehen kann.«

»Das war keine gemeinsame Entscheidung«, erwiderte Mum scharf.

»Er ist mein Bruder. Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen?«

»Ihn sein Leben leben lassen. Wir haben drei Kinder, und er saß sechs Jahre im Gefängnis.«

Dad schnaufte. »Was soll das wieder bedeuten, hm? Daniel ist kein Kinderschänder. Er ist ein Mensch wie du und ich, der einen schlimmen Fehler begangen, dafür geradegestanden und seine Strafe abgesessen hat. Ich glaube, er hat es verdient, dass man ihm eine zweite Chance gibt. Du solltest nicht so über ihn reden, immerhin ist er ein Teil unserer Familie.«

Alle Augen richteten sich auf Irene Murdock, die noch einige Male tief ein- und ausatmete, jedoch nichts mehr entgegnete. Stattdessen nahm sie einen kräftigen Schluck Wein und kümmerte sich wieder um das Essen.

Onkel Daniel, um den es in dem Gespräch gegangen war, nahm die Diskussion weitgehend ungerührt hin. Er war vor drei Wochen zu ihnen gezogen und wohnte im Gästeschlafzimmer. Dunkel erinnerte sich Tim an seine Besuche vor sechs Jahren. Irgendwie war es ihm immer unangenehm gewesen, in der Nähe seines Onkels gewesen zu sein. Ob es daran lag, dass er ihm unsympathisch war oder er stets penetrant nach Zigaretten stank, wusste er nicht einmal genau. An Letzterem hatte sich jedenfalls bis heute nichts geändert.

Tim merkte schon lange, dass ihn Brandon unentwegt anstarrte. Er glaubte nicht, dass ihm sein veränderter kleiner Finger aufgefallen war. Sein Bruder war einfach so. Manchmal glaubte er, sein einziger Lebenszweck bestand darin, ihn zu hassen und deshalb zu ärgern.

Währenddessen warf Simone Onkel Daniel immer wieder verstohlene Blicke zu. Warum, war ihm ein Rätsel. Er ließ sich diese Erkenntnis nicht anmerken und kümmerte sich wieder um das Essen.

Ohne richtigen Hunger stocherte er in den Spaghetti herum, während Simone verstohlen zu ihm sah und wieder einmal etwas in ihr Handy tippte.

Plötzlich hämmerte Dad seine Faust auf die Tischplatte. Tim zuckte zusammen, ebenso wie Simone, deren Handy von ihrem Oberschenkel rutschte und zu Boden fiel. Ihr überraschter Aufschrei ging in den laut gesprochenen Worten ihres Vaters unter.

»Ich habe es satt«, stieß er hervor. »Das alles hier, diese verfluchten Familienabende, dieses gegenseitige Anschweigen, deine ständigen, unterschwelligen Vorwürfe. Ich ...«

»Glaubst du nicht, dass ich es nicht auch satt habe?«, konterte seine Frau, die Mühe hatte, die Fassung zu wahren.

Was sich seine Eltern weiter an den Kopf warfen, bekam Tim schon nicht mehr mit. Er ließ sich von seinem Stuhl gleiten, umrundete den Tisch und lief in den Flur. So, wie sich Mum und Dad gegenseitig anschrien, glaubte er nicht, dass sie von seiner Abwesenheit Notiz nehmen würden. Auf diese Weise ließ man ihn zumindest in Ruhe, während er die Stufen in den ersten Stock stieg, nach rechts abbog und in seinem Zimmer verschwand. Erst als er die Tür hinter sich zuschlug, verstummte das Geschrei.

Jetzt war er wieder in seiner Welt. Er ließ seinen Blick über das gemachte Bett wandern, den kleinen Schreibtisch an der Wand, die Bücherregale und die Poster der Bands, von denen seine Mutter glaubte, dass er sie gerne hörte. Dabei interessierten sie ihn überhaupt nicht, dafür umso mehr die Bücher, die Romane, die von fernen Welten, fantastischen Reichen und fremdartigen und doch so vertrauten Wesen handelten. Zwerge waren dort auch vorgekommen, allerdings nie so eine Gestalt wie jene, die ihm heute im Wald begegnet war.

Der wieder aufkommende Wind ließ die Äste der alten Esche gegen sein Fenster schlagen. Tim lief zu ihm hinüber, öffnete es und genoss für einen Moment den kalten, etwas feuchten Wind auf seiner Haut. Insgeheim hatte er darauf gehofft, dass der Zwerg auf den Baum geklettert war und nur darauf wartete, dass er das Fenster öffnete. Doch zwischen den Blättern versteckte sich keine kleine Gestalt, nur eine Taube, die aufgeregt davonflatterte.

Er seufzte und blickte auf seinen Finger. Inzwischen waren nicht nur der Nagel und die Kuppe grün eingefärbt, sondern auch das gesamte erste Glied. Obwohl ihn die Farbe mit dem Zwerg verband, wagte er es nicht, den Finger mit seiner linken Hand zu berühren.

»Kommst du mich besuchen?«, fragte er in die abendliche Dunkelheit hinein.

Eine Antwort erhielt er natürlich nicht.

Bevor Brandon noch auf die Idee kam, ihm einen seiner Überraschungsbesuche abzustatten, schloss er die Tür ab. Obwohl er eigentlich noch gar nicht müde war, zog er seinen Schlafanzug an und kroch unter die Bettdecke. Erst als er ihre warme, flauschige Oberfläche auf seiner Haut spürte, fiel all der Druck der vergangenen Minuten von ihm ab. Er schluchzte leise vor sich hin, zog die Nase hoch und flüsterte kaum hörbar: »Warum können wir nicht einfach eine Familie sein? Ich wünsche mir eine richtige Familie.«

Schließlich schloss er die Augen, und noch ehe es ihm richtig bewusst wurde, schlief er ein ...

Es war so kalt. So einsam. Verlassen und vergessen von der Welt lag das kleine Haus in dem Totenwald, umgeben von knorrigen, ausgezehrten Bäumen, in deren Wipfeln keine Blätter mehr wuchsen. Das Gebäude, das kaum über die Wurzeln der abgestorbenen Eichen reichte, wirkte in dieser Umgebung vollkommen verloren. Als wäre es aus Versehen in diese Gegend geraten, wenngleich die Fassade genauso grau und tot erschien wie seine Umgebung.