John Sinclair 2291 - Rafael Marques - E-Book

John Sinclair 2291 E-Book

Rafael Marques

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Beschreibung

Die Raben spürten es als Erste. Nach und nach schreckten die Tiere aus ihrem nächtlichen Schlaf auf. Manche flatterten aufgeregt herum, andere krächzten laut, und einige ergriffen bereits sogar die Flucht.
Etwas war unter ihnen erschienen, in einem Lichtschein, der für einen Augenblick die Düsternis des Waldes durchschnitten hatte. Eine dunkle Kraft war in diese Welt eingedrungen, die die Raben in Aufregung versetzte.
Der Hauch des Bösen ...


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Inhalt

Cover

Aibons Monsterwölfe

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Aibons Monsterwölfe

von Rafael Marques

Die Raben spürten es als Erste. Nach und nach schreckten die Tiere aus ihrem nächtlichen Schlaf auf. Manche flatterten aufgeregt herum, andere krächzten laut, und einige ergriffen bereits sogar die Flucht.

Etwas war unter ihnen erschienen, in einem Lichtschein, der für einen Augenblick die Düsternis des Waldes durchschnitten hatte. Eine dunkle Kraft war in diese Welt eingedrungen, die die Raben in Aufregung versetzte.

Der Hauch des Bösen ...

Den sensiblen Sinnen der Tiere entging nicht die nahende Gefahr, auch wenn einige von ihnen nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten. Weit unter ihnen hatte sich ein magisches Tor geöffnet und Gestalten entlassen, die Menschen nur aus ihren schlimmsten Albträumen kannten. Im Schutze der langsam über die Landschaft hereinbrechenden Dunkelheit stellten sie sich auf die neuen Bedingungen ein und schienen zudem auf den richtigen Augenblick zu warten, um zuzuschlagen.

Die Raben, die zurückgeblieben waren, dachten nicht mehr an Flucht. Etwas an den fremden Geschöpfen zog sie nun magisch an, und einer der Vögel war besonders neugierig. Er löste sich von seinem Platz im Bereich der Baumkrone und zog flatternd einige Kreise über den Wald, bevor er in die Tiefe sackte, in die Dunkelheit der eng zusammenstehenden Bäume, wo Landwirte vor langer Zeit Dutzende Findlinge aufeinandergeschichtet hatten. Auf einem der feuchten, mit Moos bewachsenen Steinen fand er seinen neuen Platz.

Graue Nebelschwaden trieben durch den Wald, der einsam zwischen den Feldern lag. Außerhalb der Bäume war die Luft noch völlig klar, sodass der Dunst einen anderen Ursprung haben mussten. Einen magischen ...

Anders als an anderen Tagen zog es an diesem Abend keine Landwirte oder Spaziergänger mehr nach draußen. Und das, obwohl am Himmel der Mond bereits erschienen war, während die Sonne gemächlich am Horizont versank. Beide wurden gerade von den träge dahinziehenden Wolkenbergen verdeckt.

Mit seinem starren Blick fixierte der Rabe die Gestalten, die sich vor ihm aus der Dunkelheit schälten. Vier kleine Geschöpfe mit wulstigen Gesichtern, aus Lumpen bestehender Kleidung und glänzenden Waffen in den Händen bildeten die Spitze.

Ihre Augen funkelten in einem dunklen Grün, und gleiches galt auch für die beiden Bestien, Mutationen aus Mensch und Tier. Es waren Werwölfe, einer von ihnen sogar zum Teil skelettiert. Sie wurden weiter von dem dünnen Nebel umgeben, in dem unzählige Fratzen schwebten, die jenen der Zwitterwesen frappierend ähnelten.

Weiter im Hintergrund hielt sich der Anführer der kleinen Gruppe auf, der auf dem Rücken seines Reittiers hockte und seinen Körper in einer silbrig-grün schimmernden Ritterrüstung verbarg.

Einem Menschen, der sich in seiner Nähe aufgehalten hätte, wäre der bestialische Verwesungsgeruch aufgefallen, der unaufhörlich aus dem geöffneten Visier strömte. Ein einzelner, schwarzer, zähflüssiger Tropfen bahnte sich seinen Weg über den Brustbereich der Rüstung, ansonsten blieb der Körper innerhalb des Metalls verborgen.

Der Rabe wusste nicht, wer da vor ihm stand. Er nahm nur die magische Ausstrahlung wahr, die ihn längst in ihren Bann geschlagen hatte. So ahnte er auch nichts von dem, was den Menschen der nahen Dörfer bevorstand.

Wach auf, wollte sie sagen. Bitte, wach auf. Lass mich nicht im Stich. Stirb nicht!

Nichts davon sprach Simone Murdock aus, während sie am Krankenbett ihres sechs Jahre jüngeren Bruders Tim saß. Nicht diesmal jedenfalls, denn sie hatte in den letzten vier Wochen schon so oft mit ihm gesprochen, ohne eine Reaktion erlebt zu haben. Keiner seiner Ärzte konnte ihr genau sagen, ob er sie hörte, was mit ihm nicht stimmte und ob er jemals wieder normal werden würde.

Natürlich nicht, schließlich ahnten sie nichts von einer Welt namens Aibon, deren Kräfte letztendlich für den Zustand ihres Bruders verantwortlich waren. Tims Wunsch war so groß gewesen, wieder eine richtige Familie zu haben, angesichts dessen, dass sich seine Eltern ständig gestritten hatten, er von seinem Bruder Brandon gehasst und von ihr selbst mehr oder weniger ignoriert worden war.

Dabei war er genau an den Falschen geraten, einen Zwerg, ein böses Geschöpf aus einer anderen Dimension. Kurz darauf hatte dieses Wesen damit begonnen, einen nach dem anderen aus ihrer Familie zu töten. Erst ihren Onkel Daniel, dann ihre Mutter und zuletzt Brandon. Im Prinzip auch Tim selbst, falls er wirklich nie wieder erwachte.*

Allein John Sinclair war es zu verdanken, dass ihr Bruder nur im Wachkoma lag und sie neben ihm saß. Ebenso gut hätte er so enden können wie ihre Mutter, und sie dankte John innerlich dafür, dass sie so wenigstens noch etwas Zeit mit ihm verbringen konnte. Der Oberinspektor hatte den Zwerg, der auch als eine Art dunkler Engel aufgetreten war, vernichtet, und in dem von Tim und ihr entfachten Feuer war auch das Tor nach Aibon zerstört worden. Trotzdem steckte diese Welt noch in ihm, das erkannte sie an seiner grün angelaufenen rechten Hand.

Was Aibon überhaupt war, wie es sich aufbaute und wer die beiden Werwölfe waren, die sie dort attackiert hatten, hatte ihr John Sinclair bei einem ihrer Telefonate erklärt. Der Oberinspektor aus London – der natürlich längst wieder dorthin zurückgereist war – bemühte sich wirklich darum, mehr über die Hintergründe der vergangenen Ereignisse herauszufinden, um Tim aus seinem Zustand zu befreien. Leider bisher ohne Erfolg.

Es ließ sie jedes Mal erschaudern, ihren Bruder anzusehen. Nicht wegen der Infusion, des EKG-Geräts oder der Bettpfanne, es war der ausdruckslose Blick, mit dem Tim unentwegt in Richtung Decke starrte. Er lag da wie ein Toter, wenn man einmal von den schwachen Atembewegungen seiner Brust absah. Mehr denn je fragte sie sich, wie lange dieser Zustand anhalten würde. Bei der Vorstellung, ihn auch noch in sechzig Jahren als alten Mann so zu erleben, musste sie sich schütteln.

Die Frage war vor allem, ob sie das noch erleben würde. Auch mit ihr stimmte etwas nicht, was allerdings nur sie wusste. John Sinclair verschwieg sie weiterhin, dass sie von einem der Werwölfe gebissen worden war und sich seitdem sehr seltsam fühlte. Schweißausbrüche, Schmerzen, Krämpfe und plötzlicher, unbändiger Hunger gehörten für sie inzwischen zur Tagesordnung.

Sie versuchte, so gut es ging, sich gegen die fremde Kraft in ihr aufzulehnen und zu verhindern, dass das geschah, vor dem sie sich so sehr fürchtete. Auf keinen Fall wollte sie sich ebenfalls in einen Werwolf verwandeln, nicht nur, weil das bedeutet hätte, ihren kleinen Bruder im Stich zu lassen. Vor allem wollte sie keine mordende Bestie werden, sondern normal ihr Leben weiterführen, wenngleich das angesichts dessen, was geschehen war, auch schon fast unmöglich schien.

Dass sie dem Oberinspektor nichts von ihrem düsteren Geheimnis erzählt hatte, verstand sie indessen etwas besser. Sie hatte ja gesehen, was mit dem Zwerg geschehen war, und jetzt fürchtete sich ein Teil von ihr davor, dass John Sinclair sie irgendwann ebenso vernichten würde wie ihn. Und so ganz von der Hand zu weisen war diese Vorstellung nicht.

Sie wollte Tim nicht mehr so sehen, zumindest nicht im Moment. Einerseits sehnte sie sich danach, dass er erwachte, andererseits zerrte sie der Anblick immer tiefer in ein dunkles Loch, aus dem sie bald kein Entkommen mehr sah.

Nach Hause zog es sie auch nicht unbedingt, angesichts dessen, wie leer es dort geworden war, und da sich ihr Vater auch nur noch selten blicken ließ. Er stürzte sich in seine Arbeit, ohne Rücksicht darauf, was er seiner Tochter damit antat, während sie ganz allein mit ihren Problemen zurechtkommen musste. Dass sie dank der Ferien nicht in die Schule musste, war ihr dabei sogar sehr recht.

Lag Dads Verhalten womöglich darin begründet, dass sie nur sein Stiefkind war? Aber warum kümmerte er sich dann nicht wenigstens um Tim?

Sie ließ ihren Blick aus der offenen Tür des Krankenzimmers schweifen. Im Flur war bereits die Nachtbeleuchtung angeschaltet worden, und eigentlich war die Besuchszeit längst vorbei. Die Schwestern hatten bei ihr eine Ausnahme gemacht, angesichts ihres schweren Schicksals.

Mit einem leisen Seufzen richtete sie sich auf, beugte sich über ihren Bruder und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann verließ sie das Krankenzimmer. Eigentlich wollte sie mit niemandem mehr reden, doch als ihr im Flur eine ihr bekannte Krankenschwester begegnete, machte sie eine Ausnahme. Es war Marilyn Watson, sozusagen der gute Geist der Klinik, die stets die Nachtwache auf der Intensivstation hielt und ihr schon einige Male Mut zugesprochen hatte.

»Ich finde es großartig, wie du dich um deinen Bruder kümmerst«, sagte die etwa sechzig Jahre alte Frau mit den dunkelgrauen, lockigen Haaren. »Das ist nicht selbstverständlich, vor allem nicht in deinem Alter.«

»Er hat sonst niemanden.«

»Warum besucht ihn euer Vater nicht?«

Simone unterdrückte nur mit Mühe ihre Tränen. »Bitte, ich möchte nicht darüber reden.«

Hastig verabschiedete sie sich, ließ die Schwester stehen und eilte von der Intensivstation.

Der Bus hielt etwa eine Meile vom Haus entfernt. Simone war die Einzige, die ausstieg, und auch sonst war niemand auf den nahen Wegen unterwegs. Ihr machte es nichts aus, immerhin wusste sie sich durchaus zu wehren, und in ihrem Zustand war es ihr mehr als recht, sich nicht mit irgendjemandem unterhalten zu müssen. Selbst zu ihren Freunden hatte sie in den letzten Wochen keinen Kontakt mehr aufgenommen, obwohl sie zumindest in den Tagen nach den Morden viele Nachrichten von ihnen erhalten hatte.

Auf einer Bank neben der Haltestelle hockte ein Rabe, der sie zunächst kritisch beäugte, um sich kurz darauf hastig flatternd in die Lüfte zu schwingen, als sie ihn passierte. Gedankenverloren beobachtete sie eine Weile das Tier, während es über ihrem Kopf seine Kreise zog.

Die auf den Feldern wachsenden Ähren bewegten sich leicht im Wind. Am Horizont versanken gerade die letzten Sonnenstrahlen, sodass der Vollmond nun die alleinige Herrschaft über den Himmel antrat. Noch war von den Sternen nicht viel zu erkennen, aber das würde sich bald ändern. Wie oft hatte sie über Stunden am Fenster ihres Zimmers gesessen und das funkelnde Firmament beobachtet? Das alles kam ihr jetzt so unendlich weit weg vor wie in einer Fantasiewelt, in die sie nie wieder zurückkehren würde.

Vielleicht hätte sie schon eine Stunde früher zurückfahren sollen. Das Mondlicht war ihr nicht nur unangenehm, sie glaubte jedes Mal, langsam die Kontrolle über sich zu verlieren. Mit jedem Tag dieser Woche war es schlimmer geworden, und jetzt, bei Vollmond, traf sie diese mysteriöse Kraft besonders hart. Deshalb beschleunigte sie auch ihre Schritte.

Sie dachte weiter an den Vollmond. Wie oft hatte sie darüber gelesen oder Filme gesehen, dass diese Nacht für Werwölfe besonders wichtig war? Dass das einmal Realität werden und sie sogar selbst in eine derartige Situation geraten würde, hätte sie bis vor Kurzem nie für möglich gehalten.

Es war ein Kampf, den sie nun schon seit vier Wochen ausfocht. Mittlerweile fragte sie sich, ob es ihr irgendwann noch gelingen würde, John von dem Biss zu erzählen. Da war eine Mauer in ihr, die sie nicht überwinden konnte, obwohl er als Experte womöglich eine Lösung wusste. Aber diese ging dann wohl gegen den bösen Keim, der das um jeden Preis verhindern wollte.

Das Mondlicht ließ ihr Herz schneller schlagen, ohne dass sie eine wirkliche Anstrengung fühlte. Es war eher Aufregung, die langsam von ihr Besitz ergriff, beinahe so wie kurz vor ihrem ersten Kuss. Als würde sich jede Faser ihres Körpers darauf freuen, sich endlich der Magie Aibons hinzugeben. Nur ihr Verstand wehrte sich noch dagegen, und jetzt fragte sie sich, wie lange er dazu noch in der Lage war.

Was war mit John Sinclair?

Würde er ihr jetzt noch helfen?

Sie hatte seine Nummer ja eingespeichert. Obwohl dieser Keim in ihr alles versuchte, sie daran zu hindern, gelang es ihr, ihr Handy hervorzuholen und den Oberinspektor anzurufen.

Zwei Mal klingelte es, dann nahm der Beamte ab. »Sinclair.«

»Hallo, hier ... hier ist ... Simone Murdock.«

»Simone!«, rief er überrascht. »Ist etwas passiert? Du hörst dich gar nicht gut an.«

»Es ist etwas passiert, ja. Ich ... ich ... habe Ihnen nicht alles über meine Reise nach Aibon erzählt. Da waren doch diese Werwölfe, die mich angreifen wollten. Sie haben mich auch gebissen, und jetzt glaube ich ...«

Ihre Hände zitterten plötzlich so stark, dass ihr das Handy aus den Fingern rutschte. Es prallte so hart auf den Asphalt, dass das Display zersprang und der Akku herausfiel. Sie fluchte laut, war aber nicht in der Lage, das kleine Gerät wieder aufzuheben. Dazu war der innere Druck einfach zu stark.

Sie musste nach Hause, selbst wenn der Weg ihr plötzlich unüberwindbar lang vorkam. Es war, als würde sich ihre Umgebung so weit verzerren, dass aus jedem Schritt ein Kilometer wurde und aus jeder Windböe ein Orkan, der das Weiterkommen unmöglich machte.

Jetzt stand für sie eines fest: Sie musste hier weg, ob mit oder ohne Handy. Raus aus dem Schein des Vollmonds und hinein in ihr Zuhause, obwohl es ihr seit Wochen so fremd und leer vorkam. Das zählte jetzt jedoch nicht mehr, hier ging es ums nackte Überleben, zumindest was ihre Existenz als Mensch anging. Noch einmal beschleunigte sie und rannte schließlich auf den Weg zu, der allein zu ihrem Haus führte.

Beinahe kam es ihr so vor, als wären die Werwölfe wieder hinter ihr her. Als würden sie sie vor sich her hetzen, mit ihr spielen, bis sie nicht mehr konnte, zusammenbrach und dem inneren Drang nachgab. Gewundert hätte sie das nicht, nach all dem, was geschehen war. Sie hatte ja auch diese geisterhaften Fratzen erlebt, kurz bevor die echten Bestien erschienen waren.

Sie lief immer schneller, ohne Pause oder dabei auch nur einen Hauch von Anstrengung zu spüren. Im Gegenteil, es tat ihr unwahrscheinlich gut, die Bäume, Sträucher und Felder verschwommen an sich vorbeifliegen zu sehen. Erst nach einer Weile wurde ihr klar, dass sie nicht mehr auf dem Weg rannte, sondern quer über die sich neben ihm ausbreitende Wiese und direkt auf das kleine Waldstück zu, das ihr schon immer etwas unheimlich gewesen war. Es war ihr egal, dass ihre weißen Turnschuhe, die Jeans, das hellblaue Shirt und die schwarze Stoffjacke dabei dreckig wurden.

Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass sie dabei war, den Kampf gegen die Kräfte in ihr zu verlieren. Der Drang, sie aus sich herausbrechen zu lassen, war einfach zu stark – und sie angesichts von Tims Zustand und der Ignoranz ihres Vaters zu schwach, um sich noch einmal dagegen aufzulehnen.

Der Wald rückte näher. Zwischen den Buchen und Eschen ballte sich die Finsternis. Trotzdem überkam sie einmal mehr das Gefühl, aus dem Unsichtbaren heraus beobachtet zu werden. Von Wesen, die sie bis zuletzt noch abgestoßen hatten und zu denen sie sich nun auf seltsame Weise hingezogen fühlte. Ob sie wirklich da waren oder sie sich das nur einbildete, stand auf einem anderen Blatt, spielte für sie allerdings auch keine Rolle.

Zwischen den Bäumen herrschte eine angenehm Frische, was auch an dem Dunst lag, der langsam von den umliegenden Feldern aufzog. Sie schrie ihre neu gewonnene Stärke und das Gefühl von Freiheit heraus, schleuderte die Stoffjacke von sich und zog auch T-Shirt und BH aus. Hose, Slip, Schuhe und Socken folgten, sodass sie schon bald völlig nackt im Wald stand und die kühle Brise genoss, die sanft über ihren Körper strich.

Ihr Blick war allein zum Erdtrabanten gerichtet. Ihr kam es so vor, als würde er von Minute zu Minute anwachsen, sodass er bald den gesamten Himmel einnahm. Sein Licht ließ sie nicht nur lächeln, es durchflutete sie von Kopf bis Fuß und sorgte so dafür, dass sie sich zu verändern begann. Aus allen Poren sprossen dunkelblonde Haare hervor, die immer länger wuchsen und sich so zu einem Fell zusammenfanden, das dabei noch leicht eindunkelte. Aus ihren Fingern formten sich Klauen, ebenso aus den Zehen. Schließlich wölbte sich ihr Kiefer nach vorne, sodass sich bald die Schnauze eines Monsterwolfs herausbildete.

Noch stand sie aufrecht, aber das hielt nicht lange an. Sie hatte das Tier in sich freigelassen, und jetzt wollte sie sich auch wie ein Tier verhalten. Der Drang, auf die Jagd zu gehen und irgendwo ein Opfer zu reißen – egal ob Mensch oder Tier –, tobte wie ein Feuer in ihr. Ein schauriges Heulen drang aus ihrem Maul, der letzte Beweis dafür, dass sie sich tatsächlich in eine Werwölfin verwandelt hatte.

Bevor sie loslief, drehte sie sich noch einmal um. Jetzt sah sie, dass sie ihr Gefühl nicht getäuscht hatte. Sie war tatsächlich nicht allein. Zwischen den Bäumen leuchteten zwei dunkelgrüne Augenpaare, und ein leises Knurren bewies, dass die Lichter keine Einbildung waren.

Noch einmal stieß sie ein lautes Heulen aus, dann ging sie auf die Jagd!

Müde und mit einem Stöhnen auf den Lippen öffnete Simone wieder die Augen. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass sie sich nicht mehr im Wald befand, sondern in ihrem Zimmer, dessen Wände über und über mit Postern ihrer Lieblingsserien tapeziert war.

Ihr erster Gedanke galt dem, was mit ihr im Wald geschehen war. Hatte sie vielleicht alles nur geträumt? Sie wünschte es sich so sehr, und solange sie einfach so liegen blieb und die Augen wieder schloss, konnte sie sich immerhin einreden, dass das die Wahrheit war. Zunächst aber wunderte sie sich, dass sie wieder selbstständig und vor allem wie ein normaler Mensch dachte. Ihre neuen, animalischen Instinkte waren wie weggeblasen.

Nein, sie wollte nicht einfach nur liegen bleiben. Sie musste wissen, was mit ihr geschehen war, und deshalb ließ sie die Augen offen und blickte an sich herab. Bald sah sie ihre schlimmsten Albträume bestätigt, denn sie war nicht nur immer noch nackt, sondern am ganzen Körper mit Blut besudelt.

»Oh Gott ...«, flüsterte sie, schluchzte und war nicht mehr in der Lage, die Tränen zu unterdrücken.

Sie krampfte sich zusammen, rollte sich zur Seite und wollte einfach alles vergessen, was ihr jedoch nicht gelang.