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Nach meinen grausigen Erlebnissen in Deutschland kehrte ich zwar heim, doch ich blieb nicht lange in London. Der nächste Fall führte mich nach Schottland, auf die Shetland-Inseln, wo ein Mädchenmörder sein Unwesen trieb.
Warum man ausgerechnet mich, den Geisterjäger von Scotland Yard, hinzugezogen hatte? Weil jedem der bisher fünf Opfer ein Stein in die Hände gedrückt worden war, und es handelte sich dabei um besondere Steine, Relikte aus der Kultur der Pikten!
Zugleich schlich eine schaurige, dämonenhafte Gestalt durch die altehrwürdige Kirche Saint Columban auf einer der Inseln. Noch ahnte ich nichts davon. Auch nicht, dass es eine Verbindung zwischen diesem Gespenst und dem Mädchenmörder gab ...
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Seitenzahl: 139
Cover
Das Gespenst von Saint Columban
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Das Gespenst vonSaint Columban
von Rafael Marques
Gedankenverloren legte Ryan Fraser die Gesangbücher auf die Holzbänke in den hinteren Reihen, als er aus den Augenwinkeln die Bewegung wahrnahm. Um diese Uhrzeit, eine Stunde vor dem sonntäglichen Gottesdienst, waren die Pforten seiner Kirche noch geschlossen. Nur er besaß einen Schlüssel, und da er sicher war, hinter sich abgeschlossen zu haben, hätte er eigentlich allein in den heiligen, altehrwürdigen Hallen von Saint Columban sein sollen.
Der Pater legte das letzte Buch ab und drehte sich um. Eine fremde Person entdeckte er nicht, weder auf den Bänken noch an den Säulen, auf der Treppe zur Orgel oder im Bereich des Altars. Dabei war er sich so sicher gewesen, etwas gesehen zu haben. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, nicht zum ersten Mal in den letzten Wochen. Manchmal kam es ihm vor, als würde ein Gespenst in seinem Gotteshaus umgehen.
Als er sich schon wieder umdrehen wollte, erschien unweit des Altars ein heller Schein. Sofort begann sein Herz zu rasen, er schlug sogar das Kreuzzeichen. Was sich unweit von ihm manifestierte, war eine Lichtgestalt mit den Umrissen eines Menschen ...
Ein Engel!
Dass es sich tatsächlich um ein Himmelswesen handelte, blieb zunächst eine Vermutung des Paters. Schon oft hatte er davon geträumt, einmal einem echten Engel zu begegnen und mit ihm Kontakt aufzunehmen. Zwar glaubte er fest an das, was er predigte, doch die leibhaftige Existenz eines solchen Geschöpfes eröffnete ihm einen völlig neuen Blick auf die Welt.
Wenn er mit seinem Verdacht richtig lag, drängte sich ihm automatisch die Frage auf, warum sich ihm der Engel nicht sofort gezeigt hatte. Immer wieder mal waren ihm rätselhafte Bewegungen in den Augenwinkeln aufgefallen, manchmal in Form eines huschenden Schattens, bei anderen Gelegenheiten war er von einem kalten Hauch getroffen worden. Sollten Sendboten des Himmels nicht eine gewisse Wärme ausstrahlen und sich den Menschen offen zeigen? In einem Gotteshaus gab es keinen Grund für sie, sich zu verstecken.
Die Schritte des Paters hallten als Echos durch das weite Kirchenschiff und wurden an seinen steinernen Wänden entlanggetragen. Seit über hundert Jahren gab es diese Kirche nun schon, das größte katholische Gotteshaus der Shetland-Inseln. Es stand in der Altstadt des Küstenorts Lerwick, unweit des Hafens. Im Vergleich dazu wirkten die dreizehn Jahre, die Ryan Fraser seinen Posten bekleidete, geradezu unbedeutend.
Andererseits nahm er in dieser entlegenen Region Schottlands eine wichtige Rolle ein. Traditionell dominierte im nördlichen Teil Großbritanniens der Presbyterianismus, der von der Church of Scotland verbreitet wurde. Die katholische Kirche blieb deshalb eine Randerscheinung, nur knapp über vier Prozent der Bevölkerung der Inseln bekannten sich zu ihr.
Das alles spielte für den Pater gerade nur eine untergeordnete Rolle. Entscheidend war, herauszufinden, wer oder was diese Gestalt wirklich war, die sich quasi direkt vor dem Altar aufbaute und deren Umrisse leicht waberten. Das Licht der Morgensonne strich über den Körper, der sich in stetiger Bewegung befand und sich auch veränderte, je näher Ryan Fraser an ihn herankam. Dunkle Fäden begannen sich durch die Erscheinung zu ziehen, die sich rasant ausbreiteten und bald das gesamte Geschöpf in ein schattenhaftes Gebilde verwandelten, das nun das Licht abzustoßen schien, statt es zu produzieren.
»Was bist du?«, fragte der Pater mit brüchiger Stimme. Angst verspürte er dabei nicht, vielmehr war er begierig, die Wahrheit über diese Erscheinung zu erfahren.
Jetzt, da er sich nur noch wenige Meter von der Gestalt entfernt befand, begann er zu frösteln. Inzwischen zweifelte er stark an seinem ersten Gedanken, dass ihm ein Engel erschienen sei. Dieses Wesen war garantiert kein Sendbote des Himmels, der kalte Hauch wies eher darauf hin, dass von ihm eine gewisse, unbestimmbare Gefahr ausging.
Unweit des Gebildes blieb der Pater stehen und wartete ab. Obwohl der Schatten keine Augen hatte, glaubte Ryan, von ihm angestarrt zu werden. Dort, wo sich das Gesicht hätte befinden sollen, zuckte es, als stünde das geisterhafte Wesen unter Strom.
Unwillkürlich wanderte Frasers rechte Hand zu dem goldenen Kreuz, das er offen vor der Brust trug. Dabei handelte es sich um ein Geschenk eines Priesters, der einen großen Einfluss auf ihn ausgeübt und ihn den Weg in den Schoß der Kirche gewiesen hatte. Fraser vertraute auf die Macht seines Talismans, die auch diesem Geschöpf trotzen würde, wenn es auf der anderen Seite des Seins stand.
Ob es ihn gehört hatte, blieb weiterhin ein Rätsel. Es bewegte sich auch nicht, sondern blieb auf der Stelle stehen. Einzig das Gesicht zuckte weiterhin, als würden sich unter der Oberfläche des Schattens dicke Würmer ringeln.
Ryan war versucht, eine Hand nach dem Kopf der Gestalt auszustrecken, wenngleich er sich dafür natürlich viel zu weit weg befand. Er wollte unbedingt wissen, ob es sich bei dem Wesen um ein Gespenst oder ein reales Geschöpf handelte.
Schlagartig begann sich das Gesicht zu verändern. Rot funkelnde Augen erschienen, gleichzeitig war es, als würde ein unsichtbares Messer einen Mund in das zweidimensionale Wesen schneiden, der sich nicht nur öffnete, sondern auch zwei Reihen spitzer Zähne präsentierte. Das Maul wies eine geradezu absurde Größe auf, da es fast die gesamte untere Hälfte des Gesichts einnahm, und eine schwarze Zunge leckte über die Spitzen hinweg.
Ein Dämon!, schoss es dem Pater durch den Kopf. In meine Kirche ist ein Dämon eingedrungen!
Er schlug erneut das Kreuzzeichen und wich zurück, woraufhin sich auch das schattenhafte Wesen in Bewegung setzte. Lautlos huschte es über den Teppich hinweg, jagte auf Ryan Fraser zu ...
... und schlug die Arme in die Brust des Priesters!
Wie lange er auf dem Boden der Kirche gelegen hatte, wusste Ryan Fraser selbst nicht mehr. Er erlangte das Bewusstsein in mehreren Intervallen zurück, in denen er zunächst seine eigenen Atemgeräusche wahrnahm, später auch in der Lage war, sich zur Seite zu rollen, bis es ihm endlich gelang, die Augen zu öffnen.
Noch immer fröstelte er, obwohl dafür kein physischer Grund mehr existierte. Das dämonische Gespenst war verschwunden, und mit ihm war auch die Kälte aus der Kirche gewichen.
Ryan Fraser war davon überzeugt, wieder allein zu sein, und dennoch fühlte er sich weiterhin von einer fremden Macht bedroht. Ihm war es nicht gelungen, das Geschöpf zu stoppen. Im Gegenteil, er war sogar niedergestreckt worden und konnte wohl von Glück reden, noch am Leben zu sein.
Endlich fand er die Kraft, sich aufzurichten. Dem Stand der Sonne nach würde es nicht mehr lange dauern, bis die ersten Gemeindemitglieder zum Gottesdienst eintrafen. Normalerweise hätte er ihnen nun die Pforten aufschließen müssen, nach der Begegnung mit diesem schrecklichen Wesen fühlte er sich jedoch nicht mehr dazu in der Lage, die Messe zu halten. Beinahe war es ihm, als könnte er noch ein leichtes Kribbeln an jenen Stellen spüren, wo die Arme des Schattens in seine Brust gedrungen waren.
War es der Teufel gewesen? Fraser dachte an die rot glühenden Augen des Schattens. War der Erzfeind seines Glaubens in die Kirche eingedrungen, um sie zu einem Hort des Bösen zu machen? Oder war am Ende alles nur ein Traum gewesen?
In all den Jahren, in denen er nun schon die Gottesdienste in Saint Columban abhielt, war ihm etwas Derartiges nie widerfahren. Zudem fiel es ihm schwer zu akzeptieren, dass ein Geschöpf der Hölle in dieses geweihte Haus eindringen konnte, immerhin war dies heiliger Boden. Es hatte ihn auch nicht getötet, nicht einmal verletzt. Er war lediglich geschockt.
»Was war das nur?«, flüsterte er und rieb sich über das angespannte Gesicht.
Was auch immer er gerade erlebt hatte, er musste davon Abstand gewinnen. Frische Luft und ein kleiner Spaziergang würden ihm guttun. Aber vorher musste er den Kirchenbesuchern erklären, dass der Gottesdienst heute ausfallen würde.
Weil er sich nicht wohlfühlte, was ja durchaus der Wahrheit entsprach ...
Böse Zungen könnten über mich, John Sinclair, behaupten, dass ich dem Tod folge. In gewisser Weise stimmt das sicher, denn nur sehr selten nehme ich eine Reise auf mich, an deren Ziel keine Leichen, Vermisste oder sogar direkt dämonische Erscheinungen auf mich warten. Als Geisterjäger von Scotland Yard lerne ich dadurch zwar zahlreiche ferne Länder und nicht nur im übertragenen Sinne magische Orte kennen, ich erlebe sie aber meist von ihrer dunkelsten Seite.
In diesem Fall handelte es sich bei meinem Ziel um eine Wiese neben einem auf einem Hügel gelegenen Friedhof, der sich nahe der Stadt Lerwick erhob. Die bildet mit knapp sechstausend Einwohnern die größte Ansiedlung der Shetland-Inseln, einem von Mythen und nordischen Einflüssen geprägten Winkel Schottlands.
Von meinem Standpunkt aus ließ sich die Landschaft samt den unzähligen, zumeist unbewohnten Inseln recht gut überblicken und dabei auch der raue Charme dieser ganz eigenen Welt spüren, die Jahr für Jahr zahlreiche Touristen in ihren Bann zieht. Mir jedoch war angesichts der Umstände nicht unbedingt nach Urlaub zumute, wenngleich ich momentan um jeden Tag froh war, den ich nicht im Büro verbringen musste.
Nachdem mein Partner Suko zusammen mit seiner Lebensgefährtin Shao nach Japan aufgebrochen war, um das von Xorron zerbissene Schwert Kusanagi-no-tsurugi von Amaterusa reparieren zu lassen, hatte man unserer Abteilung eine neue Kollegin zugeteilt. Sergeant Fiona Garrett, eine ausgesprochene Skeptikerin aus Tanners Team, die gewaltig meine Nerven strapazierte. Suko kam hingegen wunderbar mit ihr zurecht, was mir ein ewiges Rätsel bleiben würde. Doch wie gesagt, Suko befand sich mit Shao in Japan.
Zumindest in dieser Beziehung war ich über die inzwischen eine Woche zurückliegende Dienstreise nach Deutschland froh gewesen, wenngleich die Umstände keine gute Laune hatten aufkommen lassen. Zunächst hatten Dagmar Hansen, Harry Stahl und ich es mit Ghouls und ihren menschlichen Helfern zu tun bekommen, wobei besonders mein deutscher Kollege einiges hatte einstecken müssen. Und schon während der Ermittlungen in diesem Fall war Dagmar auf eine geheimnisvolle Frau in einem weißen Gewand gestoßen, die nach der Vernichtung der Ghouls in unseren Fokus geraten war und sich als Hexe und Baal-Dienerin entpuppt hatte, die sich von den Schmerzen der Menschen ernährte und dieses Leid zum Teil auch selbst verursachte.
Damit war es glücklicherweise vorbei, denn mir war es gelungen, die Quelle ihrer Macht, einen Götzenkopf, zu vernichten.*
Anschließend war ich nach London zurückgekehrt, in mein Büro, das mir in gewisser Weise fremd geworden war. Einerseits weil Suko fehlte, andererseits weil ich es mit Fiona Garrett teilen musste. Da zwischen uns die Chemie nicht stimmte, hielt ich mich die meiste Zeit über in der Nähe von Glenda auf, der ich auf diese Weise schon ein wenig auf den Wecker ging.
Einen einzigen Einsatz hatten Sergeant Garrett und ich bislang bestritten, wenn man ihn denn so nennen mochte. Auf einer verlassenen Baustelle war mehrfach ein Mann gesehen worden, der penetrant nach Verwesung stank und immer wieder Passanten auflauerte, um sie zu bedrohen. Das Ergebnis unserer Ermittlungen war erneut Wasser auf die Mühlen der Skeptikerin gewesen, da sich der vermeintliche Untote oder Ghoul als verwirrter Obdachloser entpuppte, der neben der Leiche eines vor einer Weile an einem Herzinfarkt verstorbenen Kumpans schlief.
Beinahe wäre ich vor Glück vom Stuhl gefallen, als Sir James mit der Anfrage aus Lerwick an mich herangetreten war. Seit zwei Wochen wurde die nur scheinbar so friedliche Inselwelt von einer grausamen Mordserie erschüttert, und da die örtlichen Ermittler unter der Führung von Chiefinspektor Finley Kinney im Dunkeln tappten, zog man jede Hilfe in Erwägung, die man finden konnte.
Die Hintergründe der Taten lagen im Dunkeln und machten zumindest einen mysteriösen Eindruck, ohne direkt auf dämonische oder schwarzmagische Aktivitäten hinzudeuten. Vier – mit der neuerlichen Toten fünf – Opfer hatte es bereits gegeben, und bei allen war die Vorgehensweise identisch gewesen: Ihnen war ein metallischer Gegenstand gewaltsam in den Hinterkopf getrieben und ihre Leichen anschließend an prädestinierten Stellen mit religiösem Bezug drapiert worden. Dort legte der Täter sie auf den Rücken und platzierte einen Stein in ihren über dem Bauch verschränkten Händen.
»Die Vorgehensweise ist wieder dieselbe«, berichtete mir Chiefinspektor Kinney, der mich nicht zum ersten Mal misstrauisch musterte. »Selbst das Alter des Opfers passt zum Muster. Amelia Norris wurde erst vor wenigen Tagen achtzehn und gestern Abend von ihrer Schwester als vermisst gemeldet.«
»Es gab in der Zwischenzeit noch mehr Angriffe, habe ich gehört.«
Kinney verzog die Lippen. »Ja«, bestätigte er. »Drei weitere Frauen wurden in der Zeit zwischen dem Auffinden der Toten von hinten niedergeschlagen. Ihnen ist aber nichts geschehen. Vielleicht weil sie nicht achtzehn Jahre alt waren, sondern entweder jünger oder älter. Oder diese Taten haben nichts mit dem Serienmörder zu tun, das können wir nicht genau sagen.«
Ich nickte meinem gut fünfzehn Jahre älteren, grauhaarigen Kollegen zu, dessen wache Augen mich an die eines Luchses erinnerten. Entsprechend stechend war der Blick, mit dem er mich regelrecht sezierte, als hoffte er, auf diese Weise meine Gedanken lesen zu können.
Überhaupt spürte ich Unbehagen und offen zur Schau gestelltes Misstrauen unter den anwesenden Kollegen. Kinney hatte mir schon bei meiner Ankunft zu verstehen gegeben, dass meine Anwesenheit nicht seinem Wunsch entsprach und er nicht an ›Hokuspokus‹ glaubte. Insofern hätte er Fiona Garrett die Hand geben können.
Sehnsüchtig dachte ich an Suko und hoffte, dass Shao und er bald Erfolg haben würden. Bei diesem Fall hätte er wahrscheinlich sowieso in London die Stellung halten müssen, allerdings lauerten im Hintergrund noch ganz andere Gegner, deren Existenz mir Sorgen bereiteten. Allen voran waren das momentan Pandora und der zurückgekehrte Xorron, dessen Wiederbelebung überhaupt erst dazu geführt hatte, dass Suko Himmel und Hölle in Bewegung setzte, das Schwert wiederherzustellen, das er seit Yakup Yalcinkayas Tod hütete.
»Wurde die Leiche schon bewegt?«, fragte ich, als ich die bleiche Tote mit dem rotblonden Haar betrachtete, die mit aufgerissener Bluse unter einer knochigen Eiche lag. Der Baum selbst stellte an sich schon eine Besonderheit dar, da auf den Shetland-Inseln nur wenige Exemplare wie dieses wuchsen und das einzige geschlossene Waldgebiet erst in den 1920er-Jahren angepflanzt worden war.
Kinneys Mundwinkel zuckten. Ich ahnte bereits, dass ihm eine zynische Bemerkung auf den Lippen lag, doch er schluckte sie und blieb professionell. »Sie wurde auf die Seite gedreht, um ihre Todesursache zu überprüfen«, berichtete er mit monotoner Stimme. »Dabei haben meine Leute darauf geachtet, dass der Stein nicht aus ihren Händen rutscht.«
»Wieder ein Stein«, murmelte ich und ging neben der Toten in die Hocke. So bleich, wie die junge Frau war, erschien ihr Gesicht wie eine Maske. Andere Wunden wies ihr Körper auf den ersten Blick nicht auf, was darauf hindeutete, dass kein Kampf stattgefunden hatte. Genaueres würde aber erst der Leichenbeschauer herausfinden.
Weitaus mehr interessierte mich zunächst der Stein. Der war auch der eigentliche Grund, warum ich zu den Ermittlungen hinzugezogen worden war. Mochte die Mordserie auch noch so mysteriös sein, war das noch kein Grund, einen Sonderermittler von Scotland Yard hinzuzuziehen, jedenfalls nicht aus meiner Abteilung.
Aber diese Steine waren schon etwas Besonderes, denn auf ihnen war jeweils ein Baum eingeritzt, an dessen Ästen Menschenköpfe hingen oder wuchsen.
»Solche Steine tauchen immer wieder auf der Insel auf«, klärte mich mein Kollege auf, »wobei sie normalerweise nicht so gut erhalten sind. Es handelt sich wohl um Relikte der piktischen Kultur. Die Pikten lebten hier, bevor die Inseln von den Normannen eingenommen wurden.«
Ich nickte, und dann tat ich etwas, das die Blicke der Kollegen auf mich zog und zu meinen ganzen persönlichen Ritualen zählte. Ich zog die Kette mit meinem Kreuz über den Kopf, nahm meinen Talisman in die Hand und strich über das geweihte Silber hinweg.
Noch hatte es sich nicht erwärmt, was darauf hinwies, dass mir keine unmittelbare Gefahr drohte. Vielleicht reagierte das Kreuz ja, wenn ich es mit dem Stein in Kontakt brachte.
Zunächst ließ ich mir von einem Mitarbeiter der Spurensicherung ein Paar Einmalhandschuhe geben, die ich über die Finger streifte und damit begann, die Hände der Toten zu entfalten. Sollte es sich um einen weltlichen Täter handeln, wollte ich auf keinen Fall Spuren verwischen, weshalb ich bei meiner Arbeit äußerst vorsichtig vorging.
Schon bald kam der handtellergroße bräunlich-graue Stein zum Vorschein, der sogar eine gewisse Wärme ausstrahlte. Von dem Körper der jungen Frau stammte sie auf keinen Fall, schließlich war sie schon einige Stunden tot und die Haut entsprechend kalt. Für mich ein Hinweis darauf, dass in dem Stein eine magische Kraft schlummerte.
Ich zögerte kurz, weil über mir ein lautes Grummeln über den Himmel hallte. Seit meiner Ankunft auf der Insel war ein Gewitter herangezogen, wenngleich aus der düsteren Wolkenfront bisher weder Blitze noch Regen gedrungen waren. Dafür frischte der Wind mehr und mehr auf, was die Arbeit der Spurensicherung erschwerte, während er zugleich das Geäst der Eiche rascheln ließ.