Kennwort "Jessica" - Anne Alexander - E-Book

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Anne Alexander

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Ich wünschte, wir hätten den ganzen Sommer über Ferien!« rief Angelika Langenbach enthusiastisch aus und rannte den anderen Kindern voran die Freitreppe hinab. »Wer zuerst am Spielplatz ist!« »Das ist unfair, Angelika. Du bist eher losgelaufen!« schrie ihre zehnjährige Schwester Viktoria, genannt Vicky. Sie beeilte sich, Angelika einzuholen, aber sie schaffte es nicht. Empört sah sie, daß die fünfjährige Heidi Holsten an ihr vorbeijagte. »Schneller rennen, Vicky!« rief Heidi, ohne im Laufen innezuhalten. »Wie die Wilden!« Schwester Regine lachte, als auch noch die übrigen Bewohner des Kindersheims Sophienlust an ihr und dem Hausmädchen vorbeirannten. Die beiden Frauen standen oben auf der Treppe, neben dem Portal. Das Hausmädchen Lena sah den Kindern nach und meinte dann schmunzelnd: »Plötzlich ist es so ruhig hier.« »Jetzt haben Sie wenigstens entsprechende Ruhe, um mit Ulla den Großputz zu erledigen«, erwiderte Schwester Regine, eine hübsche junge Frau von neunundzwanzig Jahren. »Hoffen wir es«, sagte Lena. »Wenn wir Glück haben, bleibt die Bande ein paar Stunden an der frischen Luft.« Sie blickte zum Himmel empor.

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Sophienlust – 313 –

Kennwort "Jessica"

Anne Alexander

»Ich wünschte, wir hätten den ganzen Sommer über Ferien!« rief Angelika Langenbach enthusiastisch aus und rannte den anderen Kindern voran die Freitreppe hinab. »Wer zuerst am Spielplatz ist!«

»Das ist unfair, Angelika. Du bist eher losgelaufen!« schrie ihre zehnjährige Schwester Viktoria, genannt Vicky. Sie beeilte sich, Angelika einzuholen, aber sie schaffte es nicht. Empört sah sie, daß die fünfjährige Heidi Holsten an ihr vorbeijagte.

»Schneller rennen, Vicky!« rief Heidi, ohne im Laufen innezuhalten.

»Wie die Wilden!« Schwester Regine lachte, als auch noch die übrigen Bewohner des Kindersheims Sophienlust an ihr und dem Hausmädchen vorbeirannten. Die beiden Frauen standen oben auf der Treppe, neben dem Portal.

Das Hausmädchen Lena sah den Kindern nach und meinte dann schmunzelnd: »Plötzlich ist es so ruhig hier.«

»Jetzt haben Sie wenigstens entsprechende Ruhe, um mit Ulla den Großputz zu erledigen«, erwiderte Schwester Regine, eine hübsche junge Frau von neunundzwanzig Jahren.

»Hoffen wir es«, sagte Lena. »Wenn wir Glück haben, bleibt die Bande ein paar Stunden an der frischen Luft.« Sie blickte zum Himmel empor. »Es sieht aus, als würde es heute einmal nicht regnen. Ein Sommer ist das dieses Jahr! Ich weiß nicht, in meiner Jugend hat es im Sommer nicht so oft geregnet.«

»Ich habe heute morgen den Wetterbericht im Radio gehört«, erwiderte Schwester Regine. »Wenn man ihm glauben darf, wird das Wetter jetzt besser. Zu wünschen wäre es jedenfalls. Die Kinder wären mehr als enttäuscht, wenn es ihre Ferien verregnen würde.«

»Da kommen Nick und Henrik!« Lena wies zum Parktor. Die beiden Söhne Denise von Schoeneckers fuhren mit ihren Fahrrädern gerade die Auffahrt entlang. Kurz vor der Freitreppe sprangen sie schwungvoll von den Rädern.

»Mutti kommt heute etwas später!« schrie Henrik von Schoenecker den beiden Frauen entgegen. »Sie ist aufgehalten worden. Sie wollte gerade gehen, als ein Telefongespräch für sie kam.«

»Henrik glaubt, Sie und Lena wären schwerhörig, Schwester Regine«, spöttelte sein Bruder Dominik, genannt Nick.

»Selber schwerhörig!« Henrik stemmte die Fäuste in die Seiten.

»Halte die Luft an, kleiner Bruder«, neckte Nick.

»Von wegen klein«, empörte sich Henrik. »Wetten, daß ich jederzeit mit dir fertig werden würde?«

»Ist das nun ein richtiger Streit, oder tut ihr nur so?« fragte Lena stirnrunzelnd.

»Wir streiten uns nie!« erklärte Henrik und ließ seine Fäuste sinken. »Oder, Nick?«

»Wenn du dich anständig auf­führst, bestimmt nicht.«

»Warte, wenn ich dich allein erwische«, drohte Henrik grimmig. »Aber wenn ich dich jetzt verprügle, dann helfen dir Schwester Regine und Lena.«

»Typische Selbstüberschätzung eines Neunjährigen.« Der sechszehnjährige Nick lachte. Er wich zur Seite aus, weil Henrik auf ihn losgehen wollte. Blitzschnell ergriff er die Hände des Kleinen und hielt ihn so fest. »Hören wir auf, Henrik, sonst bekommen Schwester Regine und Lena tatsächlich noch Angst.« Er schaute zum Spielplatz hinüber. »Wo ist denn Pünktchen?« fragte er die Kinderschwester.

»Bei der Huber-Mutter, die sich heute morgen nicht besonders wohl fühlte. Das Rheuma plagt sie wieder einmal. Ich habe ihr eine Tablette gegeben. Pünktchen wollte bei ihr bleiben, bis die Tablette zu wirken beginnt.«

»Sagen Sie ihr, daß ich bei den anderen auf dem Spielplatz bin«, bat Nick.

»Er sitzt mit Schaufel und Eimerchen im Sandkasten!« Henrik trat sicherheitshalber einige Schritte beiseite, als er das sagte. »Wie ich Nick kenne, wird er für Pünktchen ein paar Sandkuchen backen.«

»Warum nicht?« Nick lachte. »Das habe ich schon lange nicht mehr getan!«

Die beiden Jungen gingen im Richtung Spielplatz davon, und Schwester Regine kehrte ins Erste-Hilfe-Zimmer zurück, um den Arznei­schrank zu überprüfen.

Lena ging hinauf in den ersten Stock, wo Ulla schon mit dem Abnehmen der Vorhänge begonnen hatte.

Zusammen mit Angelika, Irmela, Fabian und Vicky beschäftigte sich Nick eine Zeitlang mit den kleineren Kindern. Es machte ihm nichts aus, neben dem Sandkasten zu knien und den Kleinen beim Bau von Burgen, Häusern und Straßen aus Sand zu helfen. Ab und zu hob er den Kopf und blickte zum Haus hinüber. Endlich kam Pünktchen!

»Tschüß, bis später!« rief Nick den Kleinen zu und sprang auf. Eilig ging er der dreizehnjährigen Angelina Dommin entgegen.

Pünktchen winkte vergnügt, als sie Nick auf sich zukommen sah. Das Sonnenlicht lag voll auf ihrem Gesicht und ließ die vielen Sommersprossen besonders deutlich hervortreten. Wegen dieser Sommersprossen wurde sie in Sophienlust Pünktchen genannt, aber das machte ihr nichts aus. Sie liebte diesen Kosenamen sogar.

»Hallo!« rief Nick ihr entgegen und hob die Hand zum Gruß. »Wie geht es der Huber-Mutter?«

»Sie schläft jetzt«, erwiderte Pünktchen und hängte sich bei Nick ein. »Hoffentlich kommt sie bald wieder auf die Beine. Sie hat sich so auf unsere Ferien gefreut. Sie wollte uns sogar ab und zu zum Waldsee begleiten.«

»Die Huber-Mutter ist zäh, Pünktchen«, meinte Nick. »Sie wird bald wieder aufstehen. So schnell wirft

sie nichts um – trotz ihres hohen Alters.«

»Immerhin ist sie schon sehr alt«, gab Angelina besorgt zu bedenken.

Die Huber-Mutter lebte schon viele Jahre in Sophienlust. Für die Kinder war sie so etwas wie eine Großmutter. Sie war nicht nur gütig, sondern wußte auch jederzeit einen Rat, wenn es scheinbar unlösbare Probleme gab.

»Wir werden auf dem Rückweg von Waldi & Co. einen riesigen Blumenstrauß für sie pflücken«, überlegte Nick laut. »Du weißt, wie sehr die Huber-Mutter wilde Blumen liebt.«

Nick hatte seinem Schwager, Dr. Hans-Joachim von Lehn, versprochen, ihm zusammen mit Pünktchen etwas im Tierheim zu helfen.

Der alte Tierpfleger Janosch hatte sich den Fuß verstaucht und kam dadurch im Moment nicht mit der Arbeit nach.

Pünktchen nickte begeistert. Die Huber-Mutter hatte nicht viel für künstlich gezogene Blumen übrig. Dagegen liebte sie alles, was im Wald und auf den Wiesen wuchs. Die kannte sich auch unter den Heilkräutern sehr gut aus.

Bald darauf waren Nick und Pünktchen auf dem Weg zum Tierheim. Sie waren noch nicht weit gekommen, als ihnen ein grüner Ford auffiel, der am Straßenrand stand. Ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, mit einem wilden braunen Haarschopf, öffnete gerade die Motorhaube.

»Haben Sie eine Panne?« fragte Nick und sprang vom Rad.

Der junge Mann hob den Kopf. Nick und Pünktchen sahen, daß er auch braune Augen hatte. »So scheint es!« Er seufzte auf.»Der Wagen fing plötzlich zu stottern an, hopste noch zwei Meter weiter und blieb dann stehen.«

»Werden Sie ihn wieder in Gang bringen können?« erkundigte sich Pünktchen und blickte auf das Gewirr von Drähten und Leitungen.

»Kaum. Ich verstehe nichts von dieser Art Motoren«, erwiderte der junge Mann. »Es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als nach Bachenau zurückzulaufen und dort eine Werkstatt zu suchen.«

»Das ist nicht nötig«, sagte Nick. »Hundertfünfzig Meter von hier ist das Kinderheim Sophienlust. Sie können dort telefonieren. Sagen Sie, Pünktchen und Nick hätten Sie geschickt.«

»Das wäre natürlich wunderbar«, meinte der junge Mann. Er lachte. »Ich gehöre nicht gerade zu den Leuten, die gern wandern, vor allem dann nicht, wenn sie es nicht vorhatten. Gehört ihr zum Kinderheim?«

Angelina nickte. »Ich wohne in Sophienlust«, antwortete sie. »Nick ist der Sohn Denise von Schoeneckers. Frau von Schoenecker verwaltet das Heim, bis Nick volljährig ist. Denn eigentlich gehört Sophienlust ihm.«

»Ihr nehmt mich auf den Arm«, meinte der Fremde. Skeptisch sah er die beiden Jugendlichen an.

»Sophienlust gehört wirklich mir«, bestätigte Nick. »Meine Urgroßmutter hat es mir vererbt.«

»Sachen gibt’s!« Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Aber nachdem ihr euch vorgestellt habt, muß ich es wohl auch tun! Ich bin Reinhold Steiner«, sagte er. »Ich mache zur Zeit in Maibach Urlaub.«

»Wir gehen in Maibach zur Schule«, erklärte Pünktchen.

Nick mahnte: »Wir müssen jetzt gehen, sonst kommen wir zu spät. Hoffentlich dauert die Reparatur an Ihrem Wagen nicht zu lange.« Er stieg wieder auf das Fahrrad. »Auf Wiedersehen, Herr Steiner!«

Pünktchen sprang ebenfalls auf ihr Rad. »Wiedersehen!« Sie winkte dem jungen Mann zu.

»Wiedersehen, ihr beiden!« Reinhold Steiner sah den beiden Radfahrern noch einige Sekunden nach, dann klappte er die Motorhaube seines Wagens zu und machte sich auf den Weg nach Sophienlust.

*

Erika Reimann saß mit ihrer neunjährigen Tochter Jessica auf der Terrasse ihres Maibacher Hotels und genoß den Sonnenschein. Vor den beiden auf dem Tisch lag ein Mühlespiel. Erika hatte ihre Tochter jetzt schon zum fünften Mal besiegt, obwohl es sonst gewöhnlich Jessica war, die alle Spiele gewann.

»Sollen wir aufhören, Jessi?« fragte Erika. »Wir könnten etwas anderes spielen, wenn du heute für Mühle keine Lust hast.«

Jessica hob den Kopf. Wie ihre Mutter hatte sie blaue Augen und dunkelblonde, fast braune Haare. »Warum heiratest du nicht, Mutti?« antwortete sie mit einer Gegenfrage.

Also darüber hatte ihre Tochter nachgedacht!

»Sag mal, Jessi, wie kommst du denn jetzt darauf?« fragte Erika Reimann. Sie wußte zwar, wie sehr sich Jessica einen Vater wünschte, aber nur des Kindes wegen konnte sie schließlich nicht heiraten. Außerdem steckte die Enttäuschung mit Jessicas Vater noch tief in ihr.

»Ich muß daran denken, daß die Renate einen neuen Vater bekommen hat.« Jessica strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Sie hat jetzt zwei Väter, und ich habe nicht einmal einen!« Es klang anklagend.

»Renates Mutter hat sich vor einem Jahr scheiden lassen«, erwiderte Erika, »aber du hattest nie einen Vati. Dein Vati war schon nicht mehr bei mir, als du geboren wurdest.«

Gerhard Baumann, Jessicas Vater, hatte sich bereits vier Monate vor der Geburt des Kindes aus dem Staub gemacht und nicht daran gedacht, die Mutter zu heiraten. Erika dachte an all die großen Reden, die er damals geschwungen hatte. »Mein Leben lang werde ich für unser Kind sorgen, Erika. Das verspreche ich dir. Aber ich tauge nun einmal nicht zum Ehemann. Bitte, sieh das ein!«

Siebzehn war Erika damals gewesen und völlig allein.

»Hast du meinen Vati sehr liebgehabt?« erkundigte sich Jessica. Sie begann an ihren Fingernägeln zu knabbern, wie immer, wenn sie ein Problem hatte.

»Ja, ich habe deinen Vati sehr gern gehabt«, erwiderte Erika. Obwohl sie Gerhard Baumann noch jetzt wegen seiner Treulosigkeit haßte, verriet sie das nicht ihrer Tochter. Jessica sollte nicht wissen, wie gemein sich ihr Vater damals benommen hatte. Sie wollte nicht, daß das Kind damit belastet wurde. Es war schon schwierig genug für Jessica, ohne Vater aufwachsen zu müssen.

»Und hat er dich auch liebgehabt?« Forschend ruhten die Augen des Mädchens auf dem Gesicht der Mutter.

»Ich glaube schon«, antwortete Erika. Sie griff über den Tisch hinweg und hielt Jessicas Hände fest. »Du sollst nicht immer deine Fingernägel abknabbern, Jessi!«

»Wenn sie aber so schartig sind!«

»Sie sind schartig, weil du sie abknabberst«, argumentierte Erika Reimann.

»Hm!« Jessica schaute auf ihre wirklich alles andere als ansehnlichen Fingernägel. »Wenn ich sie nicht mehr abknabbere, machst du mir dann Nagellack drauf, Mutti?«

»Einverstanden«, sagte Erika. Sie hatte farblosen Nagellack dabei. Wenn es half, Jessica das Knabbern abzugewöhnen, warum nicht? Sie winkte der Kellnerin, die gerade auf die Terrasse trat. »Jessi, möchtest du Eis oder Torte?« fragte sie ihre Tochter.

Jessica überlegte. »Ein kleines Eis und ein kleines Stück Erdbeerkuchen«, entschied sie.

Die Kellnerin sah Erika fragend an. »Wir haben nur die normalen Tortenstücke, Frau Reimann«, sagte sie.

»Bringen Sie Jessi ruhig beides«, erwiderte Erika. »Und für mich bitte ein Kännchen Kaffee und ebenfalls Torte. Schokoladentorte.«

Jessica wartete, bis die Kellnerin weitergegangen war, bevor sie fragte: »Glaubst du, daß du keinen Mann findest, Mutti?«

Erika mußte schlucken. Auf Ideen kam das Kind!

»Die Sache ist die, daß ich ganz einfach nicht heiraten möchte, Jessi«, sagte Erika. »Schau, wir haben es doch so schön zusammen. Nach der Schule kommst du zu mir in die Boutique, machst dort Schularbeiten und spielst, und wenn du etwas von mir möchtest, bin ich jederzeit für dich da. Deine Freundin Renate hat es nicht so gut. Sie muß nach der Schule in den Hort gehen. Und das wird jetzt auch nicht anders, nachdem ihre Mutter zum zweiten Mal geheiratet hat. Frau Till erzählte mir, daß sie auch weiterhin den ganzen Tag arbeiten gehen wird.«

»Aber Renate hat zwei Vatis!« Bekräftigend hob Jessica zwei Finger. »Du könntest eine Heiratsanzeige aufgeben«, schlug sie vor. »Manche Leute machen das.«

»Jessi, jetzt wollen wir dieses Thema fallenlassen«, erwiderte Erika streng. »Ich werde nicht heiraten, und damit mußt du dich abfinden ob es dir gefällt oder nicht.«

»Gut!« Jessica preßte die Lippen zusammen. Düster starrte sie vor sich hin. Plötzlich hob sie den Kopf und blickte über die Terrassenbrüstung hinweg in den Hotelgarten. Sie hatte Kinderstimmen gehört. Sehn­süchtig folgten ihre Augen der Familie, die im Garten spazierenging. Die beiden kleinen Mädchen hatten einen Vati!

Erika packte das Mühlespiel zusammen und schob es in den Karton zu den übrigen Spielen, die sie nach Maibach mitgebracht hatten. »Was meinst du, Jessi, sollen wir nachher noch ein bißchen in die Stadt gehen und einen Einkaufsbummel machen?«

Jessica nickte lustlos. Sie sah zur Terrassentür. Die Kellnerin brachte gerade Eis und Torte.

Erika dankte der Kellnerin und bezahlte gleich. Sie fühlte sich irgendwie schuldig, obwohl sie sich sagte, daß es dazu keinen Grund gebe. Warum sollte sie heiraten? Es gab genug schlechte Ehen in ihrem Bekanntenkreis. Und Jessica? Jessica würde sich umsehen, wenn sie einen Stiefvater bekommen würde. Wer garantierte ihr denn, daß der Mann, den sie heiraten würde, gut zu Jessica sein würde? Vor der Ehe konnte man viel versprechen!

Hand in Hand mit ihrer Tochter verließ Erika Reimann eine halbe Stunde später das Hotel. Jessica hatte ihre Puppe mitgenommen. Liebevoll hielt sie sie im Arm.

Kurz hinter dem Hotel kamen die beiden an eine Kreuzung. Um in die Innenstadt zu gelangen, mußten sie auf die andere Straßenseite wechseln. Gehorsam blieb Jessica neben ihrer Mutter stehen, während beide auf Grün warteten.

»So, jetzt!« Erika umfaßte die Hand ihrer Tochter etwas fester, denn sie hatte immer Angst um Jessica. Diese war zwar gewohnt, belebte Straßen zu überqueren, schließlich lebten sie in Stuttgart, aber sie war eben noch ein Kind.

Die beiden hatten schon die andere Straßenseite erreicht, als sie den Terrier sahen. Er lief auf die Straße und setzte sich mitten auf den Zebrastreifen. Eben schaltete die Ampel auf Rot.

Blitzschnell riß sich Jessica von der Hand ihrer Mutter los und rannte auf die Straße zurück. Sie wollte den Hund vor den anrollenden Wagen retten.

»Jessi!« Erikas entsetzter Aufschrei ging im Kreischen der Bremsen unter.

Jessica hatte den Hund mit ihrer freien Hand am Halsband ergriffen und zerrte ihn zur anderen Seite des Bürgersteigs. Hinter ihr fuhren die Wagen erneut an. »So, nun lauf!« Sie gab dem Terrier einen leichten Klaps. »Man läuft doch nicht bei Rot über die Straße!« schalt sie.

»Das solltest du dir aber selber merken, mein Kind!« Ein beleibter, rotgesichtiger Mann packte Jessica grob am Arm. »Einfach auf die Straße zu laufen! Und wenn was passiert, wer ist dann schuld? Natürlich der Autofahrer!«

»Lassen Sie meine Tochter los!« Erika Reimann stieß den Mann einfach beiseite. Sie war erst jetzt über die Straße gekommen.

»Sie sollten Ihrer Tochter beibringen, wie man sich im Straßenverkehr benimmt«, sagte der Mann. »Ich möchte wissen, was Sie erzählt hätten, wenn Ihre Tochter angefahren worden wäre!«

»Meine Tochter hat in diesem Moment nicht daran gedacht, daß Rot ist«, verteidigte Erika das Kind und legte einen Arm um die Schultern von Jessica. »Sie hatte Angst um den kleinen Hund.«

»Als ob ein Köter so wichtig wäre«, ereiferte sich der Mann.

»Jedes Geschöpf ist wichtig!« Reinhold Steiner hatte den kleinen Vorfall ebenfalls beobachtet. Er hatte gerade am Zeitungskiosk gestanden. »Ich kann verstehen, daß du den Hund retten wolltest«, sagte er freundlich zu Jessica. Dann sah er Eri­ka an. »Sie können stolz auf Ihre Tochter sein!« Er lächelte Jessica zu. »Auch wenn das, was du getan hast, nicht ganz richtig war. Ich bin sicher, der Hund wäre nicht überfahren worden.«

»Da hört sich doch alles auf! Auch stolz soll sie noch auf das Gör sein!« Brummend entfernte sich der rotgesichtige Mann.

»Jessi, Jessi!« seufzte Erika. Sie drückte ihre Tochter an sich. »Weißt du, das hätte leicht ins Auge gehen können. Du darfst nie wieder so plötzlich auf die Straße laufen. Versprichst du mir das?«

»Es tut mit leid, Mutti. Ich wollte dich nicht ärgern«, sagte Jessica ziemlich kleinlaut. Sie blickte zu Boden.

»Das weiß deine Mutter auch«, meinte Reinhold Steiner. »Sie wird sicher nicht mit dir schimpfen.« Er blinzelte Erika zu. Die junge Frau konnte nicht anders, sie mußte lächeln.

»Ich habe Sie schon einmal gesehen«, sagte Jessica und hob den Blick. »Sie wohnen im selben Hotel wie wir, aber im dritten Stock. Stimmt es?«

»An dir scheint ein Detektiv verlorengegangen zu sein«, scherzte Reinhold. Er machte eine kleine Verbeugung. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, meine Damen? Reinhold Steiner!«

»Erika Reimann!« Die junge Frau reichte ihm die Hand.

»Und ich bin Jessica«, meldete sich das Mädchen. »Sie können aber ruhig Jessi zu mir sagen.«

»Lieb von dir!« Reinhold ließ Erikas Hand los und ergriff Jessicas Hand.

»Sind Sie verheiratet?« fragte Jessica unverblümt. Reinhold Steiner gefiel ihr. Er mochte Kinder. Das hatte sie gleich bemerkt.

»Jessi!« mahnte Erika. Sie hob entschuldigend die Schultern. »Auf was Kinder so alles kommen!«

»Lassen Sie nur, ich habe selbst zwei«, erwiderte Reinhold. »Nein, ich bin nicht verheiratet.« Und für Erika fügte er hinzu: »Ich bin geschieden. Seit drei Jahren.«

»Meine Mutti ist auch nicht verheiratet, aber sie ist auch nicht geschieden. Sie hat mich so bekommen«, plapperte Jessica munter drauf­los. »Sie…«