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Georgia von Frey ist ihr Leben lang zu unbedingtem Gehorsam ihren Eltern gegenüber erzogen worden. Deshalb wagt sie auch keinen Widerspruch, als ihr Vater sie mit dem um viele Jahre älteren Grafen Lindstedt verheiratet, der überall als Tyrann bekannt ist. Ihre Ehe wird für die blutjunge, sensible Georgia eine einzige Kette von Demütigungen und Qualen. Ein Jahr nach ihrer Hochzeit hält die junge Gräfin zum ersten Mal ihr Kind in den Armen. Doch sie kann darüber nicht glücklich sein, denn sie hat erfahren, dass sie unheilbar krank ist und nur noch wenige Monate zu leben hat. In ihr reift der Entschluss, aus der Klinik, in der sie ihr Kind geboren hat, zu fliehen. Sie will ihrer kleinen Tochter ein Leben bei dem grausamen Vater ersparen ...
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Seitenzahl: 159
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Aus Liebe gebe ich dich fort
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Impressum
Aus Liebe gebe ich dich fort
Das dramatische Schicksal einer jungen Gräfin
Von Yvonne Uhl
Georgia von Frey ist ihr Leben lang zu unbedingtem Gehorsam ihren Eltern gegenüber erzogen worden. Deshalb wagt sie auch keinen Widerspruch, als ihr Vater sie mit dem um viele Jahre älteren Grafen Lindstedt verheiratet, der überall als Tyrann bekannt ist. Ihre Ehe wird für die blutjunge, sensible Georgia eine einzige Kette von Demütigungen und Qualen. Ein Jahr nach ihrer Hochzeit hält die junge Gräfin zum ersten Mal ihr Kind in den Armen. Doch sie kann darüber nicht glücklich sein, denn sie hat erfahren, dass sie unheilbar krank ist und nur noch wenige Monate zu leben hat. In ihr reift der Entschluss, aus der Klinik, in der sie ihr Kind geboren hat, zu fliehen. Sie will ihrer kleinen Tochter ein Leben bei dem grausamen Vater ersparen ...
Georgia von Frey war von klein auf zu unbedingtem Gehorsam ihren Eltern gegenüber erzogen worden. Das Wort ihres Vaters war für sie Gesetz, und ihre eigenen Wünsche mussten stets zurücktreten. Als er sie an diesem stürmischen Novemberabend zu sich rufen ließ, schwante ihr nichts Gutes.
»Heute ist uns ein großes Glück widerfahren, meine Tochter.« Er wartete, bis Georgia Platz genommen hatte. »Heute hat jemand um deine Hand angehalten. Ein reicher Freier. Ich bin mit einem Schlag meine Sorgen los, Kind.« Seine Augen funkelten vor Freude. »Du wirst deine Familie vor dem Untergang retten«, schloss er mit salbungsvoller Stimme.
Georgia von Frey – einundzwanzig Jahre alt, zart und blond – sah mit angstvoll geweiteten Augen ihren Vater an.
»Ein Freier, Papa?«, stammelte sie.
»Ja.« Egon Baron von Frey nickte. »Es ist eine große Ehre für uns. Der reiche Graf Lindstedt hat heute Mittag bei mir um deine Hand angehalten.«
Georgia erblasste.
»Da freust du dich, was?«, fuhr der Baron fort und nickte selbstgefällig. »Als ich euch neulich auf dem großen Sommerfest miteinander tanzen sah, wusste ich sofort, dass er sich in dich vergafft hat.« Er hüstelte. »Auch deine Mutter ist sehr glücklich über die segensreiche Fügung des Schicksals.«
Georgia sah den Grafen in Gedanken vor sich: Das finstere Gesicht, umrahmt von dunklem Haar, durch das sich Silberfäden mischten, die behaarten Hände, die gelb gefärbten Zähne ...
»Der Graf ist unermesslich reich«, fuhr der Baron von Frey fort. »Er ist Besitzer reicher Erzvorkommen in Übersee, tätigt große Ölgeschäfte und hat in Südafrika eine Silbermine. Was bist du nur für ein Glückspilz, Georgia.«
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Georgia ihren Vater an.
»Und es macht gar nichts, dass er schon einmal verheiratet war und zwei Kinder aus erster Ehe hat. Du kannst dich ihnen als gute Mutter erweisen. Wenn du klug bist, kannst du deinen Gatten um den Finger wickeln.«
Georgia schwieg. Ihr war elend zumute.
»Wir feiern am kommenden Samstag Verlobung. Ich werde meine letzten Ersparnisse abholen, Georgia, damit wir die Gäste üppig bewirten können. Von der Seite deines Verlobten werden sieben Gäste erwartet, Familienmitglieder. Und morgen werden wir für dich ein elegantes Abendkleid kaufen, damit ich mich deiner nicht schämen muss.«
Georgia sah auf ihre Hände nieder.
Bei dem Gedanken, dass der Graf sie berühren könnte, bekam sie eine Gänsehaut.
Am liebsten hätte sie aufbegehrt. Lasst mich doch mein eigenes Leben leben!, hätte sie sagen wollen. Bitt, Papa, sei gnädig und erlasse es mir, den Grafen zu heiraten.
Doch Georgia von Frey wusste, dass es sinnlos wäre, sich gegen das Wort ihres Vaters aufzubäumen.
Ihre Eltern waren in finanziellen Schwierigkeiten. Nie versäumte es der Baron, auf ihre prekäre Lage hinzuweisen. Und meist schmückte er die Situation drastisch aus. O ja, es war Georgia klar, dass ihre Eltern und sie ihren Lebensstil einschränken müssten, wenn nicht Hilfe von außen käme.
Wie hatte ihr Vater gesagt? »Du wirst deine Familie vor dem Untergang retten!«
Niemals jedoch hätte es Georgia gewagt, an ihrem Vater Kritik zu üben und ihm seine Fehler vorzuhalten.
Nein, sie war dazu erzogen, widerspruchslos zu gehorchen.
Und als ihr Vater sie jetzt fragte: »Hast du noch etwas dazu zu sagen? Ich möchte jetzt in Ruhe meine Börsenzeitung lesen.« Da erhob sich Georgia folgsam, und verneigte sich demütig.
»Adieu, Papa«, sagte sie leise.
»Ja, geh hinaus und verrichte deine Arbeit.« Streng blickte der Baron seine Tochter an. »Wenigstens lassen wir uns mit deiner Aussteuer nicht lumpen«, bemerkte er. »Wie gut, dass die Truhen mit Damastwäsche schon an deinem zehnten Geburtstag bereitgestellt wurden. Heute könnte ich dir nichts in die Ehe mitgeben als meine guten Wünsche.«
Der Baron breitete die Zeitung aus. Für ihn war die Angelegenheit erledigt.
Georgia verließ den Raum und zog leise die Tür ins Schloss.
Benommen blieb sie stehen, den Kopf gesenkt. Doch dann kam Leben in sie. Wie von Furien gejagt lief sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer, versperrte die Tür hinter sich und warf sich aufweinend auf ihr Bett. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihre Lage war so aussichtslos, und sie durfte sich nicht auflehnen.
Als sie keine Tränen mehr weinen konnte, blieb sie regungslos liegen. Ihr Atem ging flach.
Eines wusste sie: An ihrem Hochzeitstage, wenn sie ihr Jawort verpfändet haben würde, war ihr Leben zu Ende. Dann war sie lebendig begraben und schlimmer dran als ein Vogel im Käfig. Einem gefangenen Vogel blieb ja noch immer die Hoffnung, einmal in die Freiheit fliehen zu können, die Schwingen auszubreiten und einfach fortzufliegen. Für sie gab es jedoch keinen Ausweg.
***
Schon das Wetter an diesem stürmischen Novembertag war ein böses Omen für die Zukunft. Um acht Uhr morgens, als drei Frauen um Georgia bemüht waren, um sie als Braut herauszuputzen, fegten Äste und Blätter an die Scheiben. Um halb zehn Uhr morgens, als Georgia am Arm ihres Vaters aus dem Schlossportal trat, fielen dicke Regentropfen aus dem grau verhangenen Himmel.
»Ich hoffe, du erweist dich deinen Eltern gegenüber stets dankbar und ehrfürchtig«, sagte der Baron im Brustton der Überzeugung. »Es geht nicht an, dass das Elternpaar im Elend fristet, während die Tochter im Luxus lebt!«
Georgia blickte ihren Vater verständnislos an. Sie wusste, dass er mit ihrem Bräutigam, dem Grafen Lindstedt, einen Ehevertrag geschlossen hatte. In diesem Vertrag verpflichtete sich Hagen Graf Lindstedt, seinem Schwiegervater vom Tage der Hochzeit an monatlich eine hohe Summe zu zahlen.
Sie bestieg vor ihrem Vater die Kutsche, in der schon die erste Gattin des Grafen zur Kirche gefahren war, um ihr Jawort zu geben.
Sobald der Baron neben ihr saß, rollte die Kutsche los. Emmy Baronin von Frey fuhr mit einer Cousine des Grafen hinter der Kutsche her.
Der Graf und seine beiden Kinder aus erster Ehe – der zehnjährige Holger und die fünfzehnjährige Luisa – wurden mit der eleganten, schwarzen Limousine zur Kirche gefahren.
Die kleine Stadtkirche von Oslarstein war bis auf den letzten Platz besetzt, als die Trauungszeremonie begann.
Als Gräfin Lindstedt verließ Sie die Kirche. Der wuchtige, grauhaarige Graf wirkte wie Georgias Vater, als sie Arm in Arm durch das Portal der Kirche traten. Zierlich, jung und unschuldig und sehr anmutig trat Georgia neben ihrem Gatten ins Freie. Doch selbst an diesem festlichen Tag wollte der finstere Ausdruck vom Gesicht des Grafen nicht weichen. Er sah sich um und schien sich über die unzähligen Leute zu ärgern, die sich auf dem Kirchplatz versammelt hatten.
Fast fluchtartig verließ das Brautpaar in der Kutsche den Platz vor der Kirche und war endlich allein.
Die große Hand des Grafen legte sich auf Georgias Rechte.
»Jetzt gehörst du mir«, sagte er rau.
Eine eiskalte Hand schien Georgias Herz zusammenzupressen. Sie blickte bebend auf und erschauerte unter dem triumphierenden Blick ihres Mannes. Sie fürchtete sich vor ihm.
Er lächelte spöttisch und wandte den Blick von ihr ab.
Georgia starrte aus dem Fenster und hatte keine Ahnung, was für einen lieblichen Anblick sie bot.
Sie litt auf der Fahrt zum Schloss Höllenqualen. Wenn sie doch endlich aussteigen könnten!
»Öffne die Augen, Georgia«, sagte er heiser. »Siehst du Schloss Lindstedt? Das ist dein neues Zuhause. Du wirst Schlossherrin sein – aber nur, wenn du ganz die Meine wirst. Du weißt, was ich meine?«
Georgia senkte zustimmend den Kopf.
Warum kann ich nicht sterben?, dachte sie. Man hat mich an den Grafen verkauft. Ich bin die Ware, für die er einen hohen Kaufpreis bezahlen musste.
Jeder Tag und jede Nacht, die die junge Gräfin Lindstedt auf dem Schloss erlebte, war eine Aneinanderreihung vieler Albträume, die von Entsetzen, Angst und Hoffnungslosigkeit erfüllt waren.
Sie wurde schweigsam und magerte ab. Groß und gequält standen ihre blauen Augen in dem bleichen Gesicht. Der Graf behandelte sie wie eine Sklavin, doch als er spürte, wie sehr sie sich vor ihm fürchtete, verlor er das Interesse an ihr.
***
Es war der vierte Monat nach der Hochzeit, als Georgia das erste Mal bewusstlos wurde. Der Graf war die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen. Er pokerte mit Freunden und betrank sich wie so oft in letzter Zeit. Es war gegen halb acht Uhr morgens. Georgia war ins Freie geeilt, weil sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen.
Plötzlich spürte sie ein dumpfes Gefühl in der Brust. Mit einem Aufschrei sank sie zusammen. Es war Schnee gefallen, doch sie merkte die Kälte nicht, die ihre Kleidung durchdrang.
Da kniete auf einmal der Knabe neben ihr.
Als Georgia erwachte, sah sie in das Antlitz ihres Stiefsohnes. Der zehnjährige Holger blickte sie angstvoll an.
»Was ist los mit dir, Mama?«, fragte er.
Auf Befehl des Grafen mussten er und die fünfzehnjährige Luisa sie Mama nennen.
»Mir ist so schlecht«, stammelte Georgia. Holger reichte ihr die Hand, und mühsam richtete sie sich auf. Sie schwankte.
Da erschien die grauhaarige Mamsell in der Tür. Mit ein paar scharfen Worten rief sie nach dem Diener Paul.
»Führen Sie die Frau Gräfin in ihre Gemächer«, befahl sie.
Georgia zog den Knaben an sich.
»Danke, Holger«, flüsterte sie. »Du bist ein feiner Kerl!«
Der Knabe entzog sich ihrer Umarmung, drehte sich um und lief auf die Limousine zu. Der Chauffeur sollte ihn wie jeden Morgen in das Gymnasium von Oslarstein bringen.
Die fünfzehnjährige Luisa saß bereits im Fond.
Der Diener kam und geleitete Georgia in ihr Schlafzimmer. Ehe sie das Schloss betrat, wandte sie sich noch einmal um.
Warum bekam sie keinen Kontakt zu ihren Stiefkindern? Vor allem Luisa wich ihr ständig aus. Holger war ein zurückhaltendes Kind, das in seiner eigenen Traumwelt lebte. Georgia glaubte manchmal Zuneigung in Holgers Augen zu erkennen. Luisa aber richtete nie das Wort an sie. In ihren grünschimmernden Augen las Georgia Feindseligkeit und Abneigung.
Dass die beiden Kinder ihres Gatten ebenso unterdrückt und tyrannisiert wurden wie sie selbst, war Georgia längst klar geworden. Umso enger hätten sich die Kinder ihr anschließen müssen, fand sie.
»Kommen Sie, Frau Gräfin«, mahnte der Diener neben ihr.
Wortlos ließ sie sich von ihm die Treppe hinaufgeleiten.
***
Ausgerechnet beim feierlichen Dinner am Abend im Beisein des Schlossherrn fiel Georgia zum zweiten Mal in Ohnmacht.
Schweigend wurde gespeist, denn Hagen Graf Lindstedt duldete keine Tischgespräche. Nur hin und wieder hörte man das Porzellan oder die Bestecke leise klirren.
Plötzlich entfielen Georgias Händen Messer und Gabel. Sie sank zur Seite und rutschte vom Stuhl.
Alles ging so schnell vor sich, dass weder die beiden Diener noch Holger hinzuspringen konnten, um Georgia zu helfen.
Ruckartig stand der Schlossherr auf.
»Bringt sie hinauf in ihr Zimmer«, befahl er rau. »Herr Questen soll Doktor Zimmermann anrufen.«
Mit beiden Armen auf den Tisch gestützt, beobachtete er, wie die Diener Georgia hochhoben und hinaustrugen.
Dann ließ er sich wieder auf den Stuhl sinken und aß weiter, als wäre nichts geschehen.
Doch die Katastrophe bahnte sich schon bei diesem Dinner an. Holger beobachtete seine Schwester und den Vater aufmerksam. Kein Wort und kein Blick entgingen ihm. Holger hatte sich längst daran gewöhnt, dass der gefürchtete Vater stets böse über seine verstorbene Mutter sprach. Sie war erst drei Jahre tot, und der kleine Junge hatte eine zärtliche Erinnerung an sie zurückbehalten.
Dieses Andenken konnte ihm niemand nehmen, auch der Vater nicht mit seinen zynischen Bemerkungen. Noch vor dem Dessert stand der Graf auf, warf die Serviette auf den Tisch und verließ das Speisezimmer.
»Ich kann nicht mehr«, flüsterte Luisa. »Ich laufe fort, Holger.«
Der Knabe hob den Blick. »Er findet dich bestimmt überall. Bleibe hier«, murmelte er.
»Und wenn er mich totschlägt – ich versuche es.«
»Bleibe hier«, wiederholte Holger. Er war ein ernster, sehr bedächtiger Knabe, der längst gemerkt hatte, dass man den Vater nicht reizen durfte. Er hatte eine brennende Sehnsucht in sich: endlich erwachsen zu sein und auf eigenen Füßen zu stehen. Diese Jahre, die ihm dazu noch fehlten, musste er durchhalten.
Luisa begab sich auf ihr Zimmer und schloss sich ein.
***
Wenig später kam Dr. Zimmermann aus Oslarstein und untersuchte Georgia Gräfin Lindstedt.
Er war sehr gründlich, und immer wieder setzte er das Stethoskop ein, um ihre Herzschläge zu kontrollieren.
»Werde ich ... bin ich ...«
»Ja, Frau Gräfin«, sagte der Arzt. »Es ist kein Zweifel möglich, Sie sind in anderen Umständen. In fünf Monaten wird Ihr Baby zur Welt kommen.«
»O Gott ...«, entfuhr es Georgia.
Sie kannte den Doktor noch nicht gut genug, um zu merken, dass er sehr besorgt um sie war.
Auch dem Schlossherrn sagte er kein Wort über seinen Verdacht. Die Herztöne waren unregelmäßig gewesen. Er hatte sich nicht geirrt. Die junge Gräfin musste eine schwere Herzklappenentzündung haben.
Beim Abschied bat er Georgia, bald in seine Sprechstunde zu kommen. Der Arzt hatte größte Bedenken, ob die Gräfin das Kind überhaupt ohne Komplikationen auf die Welt bringen konnte.
Er gab Georgia ein leichtes Schlafmittel und riet dem Grafen, seine Gattin in den nächsten Tagen wie eine Kranke zu behandeln, verordnete leichte Kost und viel frische Luft.
»Aber es ist doch alles in Ordnung, Doktor?«, erkundigte sich der Graf misstrauisch.
»Ich glaube ja«, log Dr. Zimmermann. »Aber ich möchte einige Laboruntersuchungen an Ihrer Frau Gemahlin vornehmen.«
»Ja, gut. Ich lasse sie in den nächsten Tagen mal in Ihre Praxis fahren. Mein Sekretär Questen kann sich mit Ihnen telefonisch wegen eines Termins in Verbindung setzen«, brummte Hagen Graf Lindstedt.
Georgia dämmerte in einen tiefen Schlaf hinein.
Mitten in der Nacht erwachte sie durch einen gellenden Schrei.
Entsetzt setzte sie sich im Bett auf und lauschte. Ihr Atem ging schwer, und wie so oft spürte sie in der Brust dieses eiskalte Gefühl der Angst.
Totenstille umgab sie.
Wer hatte geschrien? Was war im Schloss geschehen?
Schwer atmend wartete sie. Es blieb alles totenstill, und doch hatte sie das Gefühl, als ob etwas Entsetzliches geschehen wäre.
***
Erst zwei Tage später erfuhr Georgia die Wahrheit.
Die Mamsell Schuster brachte ihr eine heiße Brühe mit Ei ans Bett.
»Mamsell, was ist mit den Kindern?«, erkundigte sich Georgia. »Können Sie Luisa nicht einmal sagen, sie möchte mich besuchen?«, bat Georgia.
Sie fing einen seltsamen Blick der treuen Frau auf.
»Sie ist nicht da«, brummte die Mamsell.
»Luisa ist nicht da? Wo ist sie?«
Die Mamsell zögerte mit der Antwort.
»Sie ist verunglückt und liegt im Krankenhaus.«
Wie kam es nur, dass Georgia sofort an den gellenden Schrei in der Nacht denken musste?
»Was fehlt ihr? So sprechen Sie doch, Mamsell!«, beschwor sie die Frau.
Die Mamsell schüttelte den Kopf.
»Es ist besser, nicht zu viel zu wissen«, sagte sie abweisend. »Läuten Sie, wenn Sie die Brühe aufgegessen haben, Frau Gräfin.«
Mit diesen Worten ging die alte Frau hinaus.
Georgia fühlte sich elend und schwach. Sie zermarterte sich den Kopf über das sonderbare Benehmen der Mamsell. Wie war Luisa verunglückt? War sie stark verletzt? Warum schwieg die Mamsell so beharrlich?
Sie klingelte, und als Mamsell Schuster kam, bat sie sie, Holger zu ihr zu schicken.
Die alte Frau nahm die nur halb geleerte Tasse und ging wortlos hinaus.
Statt Holger kam Hagen Graf Lindstedt, der Schlossherr.
Breitbeinig stellte er sich vor Georgias Bett und starrte sie an.
»Du siehst aus wie ein zehnjähriges Kind«, sagte er. »Mager und blass bist du. Ich frage mich, wie ich so ein blutleeres Geschöpf wie dich überhaupt heiraten konnte.«
Georgia sah ihn zum ersten Mal ohne Furcht an.
»In fünf Monaten bekomme ich ein Kind, Hagen.«
»Ich weiß. Keine Angst, bis dahin werde ich dich nicht anrühren«, spöttelte er. »Ich dachte, du wärest eine leidenschaftliche, wilde Frau. Aber was bist du wirklich in meinen Armen? Wie ein Stück Holz. Empfindungslos und kalt.« Er winkte ironisch ab. »Aber die Welt ist voll von Frauen, die nicht so zimperlich sind wie du.«
Als ihre Antwort ausblieb, machte er einen drohenden Schritt auf sie zu. Georgia duckte sich unwillkürlich.
»Du hast gehört, was mit Luisa passiert ist?«, stieß er hervor.
»Nein«, entfuhr es ihr.
Er lachte auf. »Sie wollte bei Nacht und Nebel davonlaufen, mein Fräulein Tochter. Ich erwischte sie mit einem Koffer oben an der Treppe.«
Georgia blickte entsetzt zu ihm auf. »Und was geschah dann?«
»Ich habe den Koffer die Treppe hinuntergeworfen, dann stolperte sie und fiel ebenfalls hinunter«, berichtete er.
Georgia wollte es nicht glauben. Die Treppe, die von der Schlosshalle zum ersten Stockwerk hinaufführte, war ziemlich steil und gewunden.
Hatte der Graf seine Tochter etwa hinuntergestoßen und stellte es jetzt als Unfall dar?
»Was ist mit Luisa passiert?«, flüsterte sie.
»Sie hat sich einige Knochen gebrochen, und man hat sie in ein Krankenhaus gebracht«, erklärte er. »So ergeht es jedem Familienmitglied, das sich meiner Macht entziehen will.« Er funkelte sie an. »Niemand darf sich mir widersetzen. Ich hoffe, du weißt, wie ich das meine.«
»Ja«, stammelte Georgia.
Als er ihr Zimmer verlassen wollte, fasste sie sich ein Herz und bat: »Könntest du bitte Holger zu mir schicken? Vielleicht kann ich mit ihm für die Schule lernen. Es ist doch ein wenig langweilig, wenn man den ganzen Tag allein ist.«
Er drehte sich um und zuckte die Schultern.
»Meinetwegen«, brummte er, ging hinaus und warf die Tür hinter sich zu.
Als Holger wenige Minuten später kam, fiel es Georgia auf, wie verstört er war.
»Schließ die Tür und setze dich hierher«, bat Georgia beunruhigt. »Du wirst mir hoffentlich sagen, was wirklich mit Luisa passiert ist. Geht es ihr sehr schlecht?«
Holger setzte sich auf einen Stuhl in der Nähe von Georgias Bett und starrte auf sein Lateinbuch nieder.
»Ich glaube nicht, dass sie zurückkommt.«
Georgia erschrak. »Wieso? Um Himmels willen, rede doch endlich.«
Holger biss sich auf die Lippen. Zunächst schien es so, als wollte er sich vor einer Antwort drücken, doch plötzlich sagte er: »Herr Questen hat gesagt, dass sie ihren Kopf nicht mehr bewegen kann.«
Georgias Herzschlag schien sekundenlang auszusetzen.
Hatte Luisa sich etwas am Genick gebrochen? Das war ja nicht auszudenken!
Aber wenn Lothar Questen, der Schlosssekretär, sich in diesem Sinne zu Holger geäußert hatte, konnte es stimmen.
»Die Polizei war gestern Nachmittag da«, sagte Holger leise. »Sie wollten wissen, wie es passiert ist, und Papa hat es den Polizisten erklärt. Luisa wollte ausrücken und fiel die Treppe hinunter, weil es so dunkel war.«
Georgia lauschte mit weit aufgerissenen Augen, und sie begriff die ganze Tragweite des Geschehens:
Vor Zorn hatte ihr Mann, der Schlossherr, seine Tochter die Treppe hinuntergestoßen, als sie fortlaufen wollte. Der Polizei gegenüber aber hatte er ausgesagt, dass Luisa verunglückt wäre, weil sie die Stufen verfehlt hatte.