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»Grüß Gott, Vater«, sagt der gut aussehende Mann und blickt dem Alten in die Augen. Nach zwanzig Jahren stehen sich Vater und Sohn wieder gegenüber, und beide denken an den Tag damals zurück, den Tag der Vorwürfe, der Bitterkeit, der Abrechnung ...
Niemand achtet in diesem Augenblick auf die junge Marei, die Pflegetochter des alten Leonberger, die im Hintergrund steht und beide Hände auf das wild klopfende Herz presst. Sie kann den Blick nicht von dem Heimgekehrten wenden. Nur einmal hat er sie aus seinen faszinierenden schwarzen Augen angesehen, doch dieser Blick hat das Dirndl gefesselt. Vergessen ist plötzlich der Franzl, Mareis Freund aus Kindertagen, den sie bisher zu lieben glaubte ...
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Seitenzahl: 106
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Schwere Zeiten für Marei
Vorschau
Impressum
Schwere Zeiten für Marei
Ein junges Dirndl zwischen zwei feindlichen Brüdern
Von Yvonne Uhl
»Grüß Gott, Vater«, sagt der gut aussehende Mann und blickt dem Alten in die Augen. Nach zwanzig Jahren stehen sich Vater und Sohn wieder gegenüber, und beide denken an den Tag damals zurück, den Tag der Vorwürfe, der Bitterkeit, der Abrechnung ...
Niemand achtet in diesem Augenblick auf die junge Marei, die Pflegetochter des alten Leonberger, die im Hintergrund steht und beide Hände auf das wild klopfende Herz presst. Sie kann den Blick nicht von dem Heimgekehrten wenden. Nur einmal hat er sie aus seinen faszinierenden schwarzen Augen angesehen, doch dieser Blick hat das Dirndl gefesselt. Vergessen ist plötzlich der Franzl, Mareis Freund aus Kindertagen, den sie bisher zu lieben glaubte ...
Vinzenz Leonberger war ein großer, stämmiger Mann mit breiten Schultern. Unzählige graue Strähnen zogen sich schon durch sein volles Haar.
Man sah ihm an, dass er nicht mehr ganz gesund war. Tiefe Augenringe lagen unter seinen grauen Augen, und die beiden scharfen Falten von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln hinunter verrieten, dass er nicht glücklich war.
Franz, sein jüngerer Sohn, stand vor ihm. Er war ein fescher Bursch von sechsundzwanzig Jahren, dunkelblond, und seine braunen Augen leuchteten vor Freude.
»Ich freue mich, Vater! Ich war ja damals, als der Jakob fortging, erst sechs Jahre alt. Aber ich kann mich noch genau an ihn erinnern.«
Vinzenz Leonberger schwieg.
Wenn es nach ihm ging, würde Franzl die wahren Zusammenhänge nie erfahren. Warum aber kam Jakob wirklich? Das Heimweh und die Sohnesliebe konnten ihn nicht heimgetrieben haben.
So, wie er ihn damals vor zwanzig Jahren angeschrien und beleidigt hatte ... damals war es dem Leonberger-Vinzenz wie Schuppen von den Augen gefallen: Der Bub hasste ihn. Der Bub hatte seine verstorbene Mutter vermisst und keine innere Bindung zu dem Vater gefunden. Und dann war der Tag der Vorwürfe, der Bitterkeit und der Abrechnung gekommen.
Der Leonberger presste die Lippen fest aufeinander und starrte Franz an. Er würde eines Tages den Hof übernehmen, so war es notariell beschlossen und verbrieft. Und Jakob würde daran nichts ändern können.
»Vater, warum ist er damals fortgegangen, der Jakob?«, fragte Franz leise. »Sollte ich es denn net jetzt, ehe er kommt, erfahren?«
Schwerfällig stand der Leonberger auf. In seinen Augen lag tiefe Hoffnungslosigkeit.
»Nein, Franzl. Du wirst es net erfahren, weil ich's nämlich auch vergessen hab. Hab einen Schlussstrich gezogen und einen Schleier über alles gebreitet. Es ist ja auch schon zwanzig Jahre her!«
Der junge Bauernsohn schwieg. Sein Blick hing voll Liebe an dem Vater, den er grenzenlos verehrte und bewunderte.
Da hörte er vom Kellergeschoss her den Gesang von Marei. Ein zärtliches Lächeln huschte um den Mund des jungen Mannes.
»Gell, die Marei hat eine hübsche Stimme, Vater?«, entfuhr es ihm. »Du solltest sie vielleicht in Gesang ausbilden lassen. Sie könnte so viele Menschen mit ihren Liedern erfreuen.«
Der Leonberger machte eine heftige Handbewegung.
»Geh, lass mich aus mit diesem Unsinn. Die Marei bleibt bei uns. Setz ihr keine solchen Flausen in den Kopf, hörst du, Franzl? Oder willst du sie gar entbehren? Sie nie mehr wiedersehen? Nie mehr ihr Lachen hören?«, fuhr er den Sohn an.
Franzl wurde verlegen und sah zu Boden.
»Nein, ganz gewiss net. Und ich find's ganz großartig von dir, dass du die Tochter deiner Magd Katrein Inzinger als Haustochter bei uns aufgenommen hast und so behandelst wie deine eigene Tochter.«
Der Leonberger stapfte an seinem Sohn vorüber zur Tür.
»Hab ja keine eigene Tochter, Franzl. Darum ist eben die Marei meine Tochter. Aber jetzt komm! Wir schauen uns im Stall um wegen der Neuanschaffungen. Nimm Block und Bleistift mit, damit wir alles notieren können.«
Als sie in die große holzgetäfelte Diele hinaustraten, hörten sie Mareis helle Stimme singen:
»Schatzerl fein,
musst net traurig sein,
eh das Jahr vergeht,
bist du mein.«
Die beiden Männer blieben stehen.
»Wenn mich net alles täuscht, Franzl«, schmunzelte der Leonberger, »dann hat sich das Madel verliebt. Würde es sonst diese alten Liebeslieder singen?«
Franzl lauschte atemlos.
Marei! Marei!, dachte er, und sein Herz jubelte vor Begeisterung für dieses liebenswerte Geschöpf.
Sein Atem ging hastig. Ja, er wusste seit Kurzem, dass er das liebreizende Madel liebte und zur Frau begehrte.
Noch ahnte niemand etwas davon, und das war gut so. Zuerst nämlich musste der Franz die Stürme seiner Gefühle unter Kontrolle bekommen.
Als er seinem Vater ins Freie folgen wollte, hörte er das tiefe Brummen eines Automotors. Er kannte die Motorengeräusche aus der Umgebung genau. Das war ein fremdes Fahrzeug.
Franzls Herz tat einen schnellen, heftigen Schlag.
Jakob! Das konnte nur der Jakob sein, sein Bruder.
Und wirklich – ein schwarzer Sportwagen fegte so schnell über den Hof, dass ein paar Hühner erschrocken aufflatterten.
Keiner, den der Franzl kannte, fuhr so wild und rasend wie der Mann am Steuer des rassigen Wagens.
»Vater, ist das mein Bruder?«, fragte Franzl leise, und ohne die Antwort abzuwarten, lief er die Steintreppe hinunter auf den Sportwagen zu. Als er bei ihm anlangte, stieg soeben ein dunkelhaariger Mann mit dunklen Augen aus.
Atemlos blieb Franz Leonberger stehen.
Der Bursche erinnerte sich noch gut daran, wie der Jakob damals mit fünfzehn Jahren ausgesehen hatte. Es waren dieselben Augen und derselbe leicht trotzige Mund.
Sekundenlang maßen sich die beiden jungen Männer mit Blicken.
»Franzl!« Es klang erstaunt, verwundert. »Bist du es wirklich?«
Überwältigt vor Freude schloss der Jüngere den Bruder in die Arme. Franz klopfte Jakob auf die Schulter.
»Du hättest ja schon gut einmal früher heimfinden können«, sagte er in leisem Vorwurf. »Aber jetzt komm, du musst doch den Vater begrüßen.«
Und er zog ihn zu Vinzenz Leonberger hinüber, der bewegungslos am Fuß der Treppe stand und zu seinen Söhnen hinüberblickte.
Zögernd schritt Jakob Leonberger auf seinen Vater zu.
»Grüß Gott, Vater«, sagte er.
Er fühlte eine scheue Angst in sich aufsteigen. Wie alt der Bauer geworden war, ganz fremd und unbekannt stand er ihm gegenüber. Wenn ich ihm auf der Straße begegnet wäre, dachte Jakob, hätte ich ihn nicht erkannt.
»Grüß dich Gott, Jakob«, antwortete der Leonberger mit schwerer Stimme.
Eine quälende Stille entstand.
»Und jetzt«, sagte Jakob, die Rührung verdrängend, »möchte ich mein Vaterhaus auch einmal von innen sehen.«
»Dann komm. Es hat sich seit damals innen nichts verändert, Bub«, stieß der Leonberger mit rauer Stimme hervor. »Bloß ich, ich war vierzig Jahre alt, und heute ...«
***
Marei ging eine Woche, nachdem Jakob wieder daheim war, mit sich zu Gericht.
Sie war von ihren Gefühlen hin- und hergerissen. Sie wusste auch nicht, was mit ihr geschehen war. Sie hätte dauernd singen und zugleich weinen wollen.
Da war der Franzl, für den schon lange im Geheimen ihr Herz schlug. Seine gradlinige Art, sein offener Blick und seine fesche, kräftige Jungmännlichkeit zogen sie stürmisch zu ihm hin. Wenn er sie so lieb anschaute mit seinen warmen braunen Augen, hätte sie sich am liebsten an seine Brust flüchten wollen.
Seit einer Woche aber gab es auch noch Jakob in ihrem Leben. Er war so weit gereist, hatte so lässige Bewegungen, und seine Anziehung auf sie war so stark, dass sie sich stets Mühe gab, nicht in seine Nähe zu kommen.
Abends in ihrem Kämmerlein stellte sich Marei oft die Frage, was es wohl mit diesen beiden Brüdern für eine Bewandtnis hatte.
Sie kannten einander kaum und waren doch blutsverwandt. Die alte Magd Vroni hatte ihr erzählt, dass sie beide verschiedene Mütter gehabt hatten. Die erste Frau vom Leonberger-Bauern hatte Lisa geheißen. Sie war tödlich im Waldsee verunglückt, als sie eines Morgens ein Bad genommen hatte. Die Schlingpflanzen hatten sie in die Tiefe gezogen. Jede Hilfe war zu spät gekommen.
Lisa Leonberger war die Mutter von Jakob gewesen. Nach ihrem Tod hatte der Leonberger-Vinzenz die Kellnerin vom Gasthof »Zur Post« geheiratet, Gundel. Auch sie war längst tot. Sechs Jahre war der Franzl alt gewesen, als man die Mutter tot heimgebracht hatte. Sie war bei einer Bergwanderung zu Tode gestürzt.
Kurz darauf war der Jakob nach einem Streit mit dem Leonberger fortgelaufen und hatte zwanzig Jahre lang nichts von sich hören lassen.
Zweimal war der Leonberger-Vinzenz Witwer geworden. Einer seiner Söhne hatte ihn für lange Zeit verlassen. In diesen zwanzig Jahren hatte der Leonberger nur noch einen Sohn gehabt und eine Pflegetochter, das verwaiste Kind seiner verstorbenen Magd Katrein. Dafür liebte Marei den Leonberger wie einen Vater.
Die alte Vroni hatte Jakob einen »Teufel« genannt. Sie musste sich irren, die Alte. Wenn Jakob sie, die Marei, mit seinen grauschwarzen Augen ansah, spürte sie eine geheimnisvolle Schwingung von ihm zu sich wehen, die ihr Herzklopfen verursachte.
Die Marei hütete sich, ihre Gefühle zu verraten. Warum nur zog es sie so zu dem Jakob hin? Warum sah er sie nur stumm an, wenn sie sich zufällig einmal begegneten und niemand in der Nähe war?
Bei ihren Gedanken an Jakob fühlte sich Marei unsicher und verwirrt.
Das kann doch nicht möglich sein, schrie es in ihr, dass ich mich in den älteren Sohn vom Leonberger-Bauern verliebt habe!
Ehe Jakob gekommen war, hatte Franzl ihre ganze Welt beherrscht. Wenn sie ihn bloß aus der Ferne gesehen hatte, war ein helles Jauchzen in ihrer Brust aufgestiegen, und Seligkeit hatte sie erfüllt.
Alles, was mit Franzl zu tun hatte, hatte ihr bisher eine tiefe Ruhe und Geborgenheit vermittelt.
Jakobs Wesen verwirrte sie, zog sie aber auch gleichsam an wie ein starker Magnet.
Hinzu kam, dass es sie sehr glücklich stimmte, die beiden Brüder zu beobachten, wenn sie nebeneinander hoch zu Ross einen Ausflug unternahmen, wenn sie nebeneinanderstanden und ein Problem erörterten oder wenn einer den anderen bei Tisch zu übertrumpfen versuchte.
Beide Brüder konnten so wunderschöne, lustige Geschichten erzählen, und das tiefe Lachen des Leonberger-Vinzenz und das helle Jauchzen der Marei dröhnten oft zu den Mahlzeiten zur Küche hinüber, wo das Gesinde beisammensaß.
Die dicke Betty Huber, die dem Leonberger die Wirtschaft führte und auch fürs Kochen zuständig war, schüttelte dann oft den Kopf.
»So fröhlich war die Familie schon lang net mehr! Ist's net beinah so, als hätte der Jakob uns allen das Glück aus Amerika mitgebracht?«
Die meisten nickten beifällig, bloß die Altmagd Vroni protestierte.
»Es gibt ein Unglück«, brabbelte sie. »Es kann net gut gehen, dass alle so tun, als gäbe es diese zwanzig Jahre net. Vergessen hat der Leonberger noch nie können!«
Erst später sollten sie an die Worte der alten Vroni denken, und jedem von ihnen sollte dann eine Gänsehaut über den Rücken laufen.
***
Es war im April, und der Jakob war nun schon über drei Wochen wieder daheim auf dem väterlichen Hof.
Die dicke Betty hatte Marei hinauf auf die Berghöhe geschickt, um Kräuter zu sammeln.
Es war früher Nachmittag, und die Sonne wärmte schon sehr. Marei ging am Felshang entlang und kam an eine stille, im Schatten liegende Wiese.
Marei ließ sich auf grauem, moosigem Gestein nieder und schlang die Arme um die angezogenen Knie.
Gedankenvoll legte sie ihre Wange auf die Knie und atmete tief. Wie schön das Leben war. Die Natur grünte so üppig, und die Sonne spann ihre goldigen Fäden durch den schattigen Tann.
Plötzlich vernahm sie hinter sich Schritte. Sie drehte sich um, und ihre Augen weiteten sich.
»Du, Franzl?«, rief sie.
Mit aufleuchtendem Blick sah er zu ihr nieder. Marei, wie goldig du bist, durchfuhr es ihn. Das geliebte junge Geschöpf war so reizvoll und anmutig, dass sein Herz zu jagen begann. Er ließ sich neben ihr nieder.
»Hat's dich auch hinausgetrieben bei dem schönen Wetter?«, murmelte er. Er sah zum Himmel hinauf. Weiße Wolkenschwaden stürmten am blauen Himmel dahin. »Es gibt Föhn«, bemerkte er.
Marei nickte. Sie sah nieder auf das Dörfchen Tannenried, das ihr Zuhause war. Und ihr war, als zittere in der Luft der Klang eines fernen Glöckchens.
»Ich soll für Betty Kräuter suchen«, sagte sie. »Gell, das ist eine angenehme Pflicht bei diesem warmen Sonnenschein?«
Franzl lachte leise.
»Du wirst immer hübscher, Marei.«
Das Madel wurde rot und wich seinem bewundernden Blick aus.
»So darfst du net zu mir reden«, entfuhr es ihr, »wir sind doch wie Bruder und Schwester, gell?«
Sie war sich bewusst, dass sich der Ausdruck seiner Augen veränderte, drängender und sehnsüchtiger wurde.
»Das will ich doch net hoffen«, sagte er halb scherzend, halb ernst gemeint. »Wir sind net blutsverwandt, Marei. Und das«, fügte er hastig hinzu, »ist auch gut so. Ich hab dich sehr, sehr gern, Marei, aber net so, wie man eine Schwester lieb hat.«
Marei erblasste.
Warum konnte sie ihm nicht in die Augen blicken bei diesen Worten? Warum tobte es so in ihrem Herzen, als wäre ein wilder Aufruhr darin?
»Bitte, Franzl, mach mich net so verlegen«, stammelte Marei.