1,99 €
Gräfin und Graf von Mayendorf sind einander in inniger Liebe zugetan. Das war nicht immer so. Gleich nach ihrer Heirat erschütterte eine schwere Krise ihre Ehe, und Graf Rudolf dachte sogar an Scheidung. Damals geriet er auf Abwege, aber dann fanden er und Irene wieder zueinander. Mit ihrer Kinderlosigkeit nach dem furchtbaren Verlust ihres kleinen Sohnes vor fünfzehn Jahren haben sie sich notgedrungen abgefunden. Der Gedanke, dass eines Tages Graf Rudolfs Cousin Harald vermutlich das riesige Maschinenwerk und die immensen Besitztümer des Grafen einfach verschleudern wird, schmerzt sie jedoch beide gleichermaßen. Diese Sorge liegt, so hoffen sie, noch in weiter Ferne, und vorerst möchte Graf Rudolf sein Glück mit seiner entzückenden Gattin genießen. Doch plötzlich holt die Vergangenheit ihn ein ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 129
Cover
Seine heimliche Tochter
Vorschau
Impressum
Seine heimliche Tochter
Nach zwanzig Jahren erfüllt sich ein Schicksal
Gräfin und Graf von Mayendorf sind einander in inniger Liebe zugetan. Das war nicht immer so. Gleich nach ihrer Heirat erschütterte eine schwere Krise ihre Ehe, und Graf Rudolf dachte sogar an Scheidung. Damals geriet er auf Abwege, aber dann fanden er und Irene wieder zueinander. Mit ihrer Kinderlosigkeit nach dem furchtbaren Verlust ihres kleinen Sohnes vor fünfzehn Jahren haben sie sich notgedrungen abgefunden. Der Gedanke, dass eines Tages Graf Rudolfs Cousin Harald vermutlich das riesige Maschinenwerk und die immensen Besitztümer des Grafen einfach verschleudern wird, schmerzt sie jedoch beide gleichermaßen. Diese Sorge liegt, so hoffen sie, noch in weiter Ferne, und vorerst möchte Graf Rudolf sein Glück mit seiner entzückenden Gattin genießen. Doch plötzlich holt die Vergangenheit ihn ein ...
Irene Gräfin von Mayendorf stand hinter der Gardine und starrte durch das Fenster. Gerade bog der Wagen ihres Mannes von der Straße ab in die Garage.
Sie warf rasch einen Blick in den Spiegel. Ihr leicht gewelltes dunkelblondes Haar war kurz und sportlich frisiert. Die Gräfin war mit ihrem Aussehen zufrieden.
Man sah ihr die sechsundvierzig Jahre gewiss nicht an. Sie war gepflegt und elegant, und Rudolf sagte ihr oft, sie sei ungewöhnlich schön.
Heute aber würde Rudolf bestimmt bemerken, wie glanzlos ihre Augen waren.
Sie hörte bereits seine Schritte auf der Treppe. Wie gut, dass sie dem Personal heute freigegeben hatte.
Irene trat zur Tür und riss sie auf.
»Guten Abend, Rudolf!«
Der Graf blieb stehen und betrachtete seine Frau bewundernd.
»Schön und strahlend wie immer!«, rief er. Er trat ein und nahm sie in die Arme.
Instinktiv spürte er ihre Abwehr und ließ seine Arme sinken.
»Was ist geschehen?«, forschte er. »Wie blass du bist! Was ist los?«
»Ich habe den Befund von Professor Bergheim.«
»Ah!«
Rudolf wandte sich um und ging Irene voran ins Wohnzimmer. Dort befand sich in dem deckenhohen Wandschrank aus Eiche die Hausbar.
Er genehmigte sich einen Cognac. Erst als er ihn getrunken hatte, war er fähig, Irene anzuhören. Er befürchtete eine Hiobsbotschaft.
»Nun?«, fragte er und versuchte ein Lächeln. »So schlimm wird's ja nicht sein!«
Irene stand zwei Schritte von ihm entfernt. Die Hände hielt sie gefaltet, und ihr Gesicht war ungewöhnlich ernst.
»Rudolf, du weißt, dass ich mir noch so sehr ein Kind wünschte. Aber der Professor hat mir erklärt, dass ich keins mehr haben kann. In meinem Alter wäre es ohnehin sehr problematisch gewesen, aber ich hätte es gewagt, weil ich weiß, wie sehr auch du dir ein Kind wünschst.«
»Oh Irene!«
Er trat auf sie zu und nahm sie in die Arme. Wie sehr er sie liebte! Wie innig sie einander zugetan waren.
»Wenn nur unser kleiner Charly noch leben würde ...«, stammelte sie.
Der Graf strich ihr übers Haar. Niemals würde sie darüber hinwegkommen, dass ihr kleiner fünfjähriger Sohn Charly vor fünfzehn Jahren von einem Fahrzeug tödlich überfahren worden war.
»Wir hätten damals sofort ein Kind adoptieren sollen«, sagte er ernst.
»Da hofften wir doch immer noch, Rudolf, dass wir ein zweites Kind haben würden. Aber wir warteten und warteten, und jetzt bin ich zu alt, um noch eins zu haben.«
»Ich kann die Adoptionsbehörde aufsuchen und bitten, dass man uns ein Kind zuweist.«
»Nein!«, erwiderte Irene heftig. »Ich könnte kein fremdes Kind aufziehen. Ich könnte niemals vergessen, dass es nicht mein eigenes ist.« Sie drehte sich brüsk um, ließ sich in einen Sessel sinken und schlug die Hände vor ihr Gesicht. »Rudolf, was geschieht, wenn wir ohne Kinder sterben?«
»Du weißt, was dann geschieht, mein Herz«, sagte Rudolf und setzte sich Irene gegenüber in einen Sessel. »Cousin Harald aus Toulouse taucht dann hier auf und wird alles bis auf den letzten Nagel verkaufen: das Maschinenwerk, die Liegenschaften, unser Schloss auf dem Land, den See und die weiten Golfplätze. Er wird auch unsere Miets- und Bürohäuser sofort zu Geld machen.«
Der Gedanke daran schmerzte sie beide gleichermaßen.
»Aber vor allem täte es mir um das Werk und das Schloss leid«, fuhr der Graf fort. »Das Werk hat mein Ururgroßvater gegründet und bis zu seinem Tode dafür gearbeitet. Mein Urgroßvater konnte es vergrößern. Zuerst stellte das Werk nur handbetriebene Maschinen aller Art her, wie du weißt, aber inzwischen ...«
»Ich weiß, Rudolf«, unterbrach Irene ihn. »Deinem Vater und dir ist es gelungen, das Werk zu einem der bedeutendsten Unternehmen des Landes zu machen. Du hängst mit allen Fasern deines Herzens daran.«
»Cousin Harald würde es verschleudern. Er hat auch unser Schwesterunternehmen in Toulouse für einen Pappenstiel verkauft. Der wartet doch nur darauf, dass ich einmal die Augen schließe. Je eher, desto besser. Und dann lacht er sich ins Fäustchen, weil wir keinen leiblichen Erben haben.«
Irene betrachtete ihren Mann wehmütig. Graf Rudolf war sechzehn Jahre älter als sie – zweiundsechzig Jahre alt. Sie liebte und bewunderte ihn. Er war noch immer eine eindrucksvolle Erscheinung.
Einen Sohn hatte sie ihm geschenkt, aber durch ein grausames Schicksal war er ihnen genommen worden.
»Es sollte dir gleichgültig sein, was nach deinem Tod geschieht«, sagte sie ruhig.
»Gleichgültig? Mir?« Er lächelte bitter.
»Selbst wenn ich einer Adoption zustimmen würde, Rudolf«, setzte Irene hinzu, »würde Cousin Harald dein Testament zugunsten eines Adoptivkindes anfechten. Ja, wenn du ein uneheliches Kind hättest oder ich zum Beispiel!« Sie lächelte flüchtig. »Aber wir haben einander niemals betrogen und können deshalb keines vorweisen.«
Rudolf Graf von Mayendorf blickte zu Irene hinüber. Ihm war bei ihren Worten heiß geworden.
Nur ein einziges Geheimnis stand zwischen ihnen. Seit neunzehn Jahren hatte er noch nicht den Mut gefasst, es ihr einzugestehen.
Wäre das vielleicht eine Lösung?, überlegte er.
»Woran denkst du?«, erkundigte sich Irene.
Der Mann blickte auf wie ein ertappter Sünder.
Ich müsste herausfinden, dachte er, wo Marieluise Reisner augenblicklich lebt. Ich müsste mir das Mädchen einmal ansehen, in deren Adern mein Blut fließt.
»Woran ich denke?«, erwiderte Rudolf und ließ sich schnell etwas einfallen. »Dass wir uns nicht mit diesen traurigen Gesprächen den Abend verderben sollten. Komm, lass uns essen gehen, ja?«
»Ich habe eine Ente im Backrohr.«
»Heb sie auf bis morgen. Komm, ich möchte jetzt unter Menschen sein«, bat er.
Irene nickte und erhob sich. Ihre Bewegungen waren sehr beschwingt und mädchenhaft. Sie trieb viel Sport und gab sich alle Mühe, jugendlich und gesund zu bleiben.
»Du bist sehr hübsch in diesem Jackenkleid«, sagte er. »Lass es bitte an, ja?«
Der Graf führte sie in die Diele hinaus, half ihr in den Mantel und zog dann seinen eigenen an.
»Am kommenden Montag muss ich nach Frankfurt fahren, aber nur tagsüber. Abends bin ich wieder zurück«, teilte er ihr mit.
»Weshalb?«, fragte Irene und setzte vor dem Spiegel ihren kleinen flotten Filzhut auf.
»Verhandlungen mit einem Gewerkschaftsboss«, sagte Rudolf Graf von Mayendorf wie nebenbei. »Na, es wird nicht lange dauern, hoffe ich.«
Sie schlossen die Wohnung ab und fuhren im Lift hinunter. Während der Woche von Montag bis Freitag wohnten Irene und Rudolf von Mayendorf in der Stadtwohnung, um dem Werk und der Hausverwaltung, die für sie arbeitete, nahe zu sein. Irene liebte auch die Theater- und Konzertbesuche sehr.
Jeden Freitagabend aber fuhren sie hinaus zum Schloss, wo sie regelmäßig bis Montag früh blieben. Dort spannten sie an der frischen Luft aus, schwammen in ihrem eigenen See und spielten mit Freunden Golf.
Sie führten ein gutes Leben, nur der Gedanke, dass sie keinen leiblichen Erben hatten, bedrückte sie.
♥♥♥
»Guten Tag«, sagte Rudolf Graf von Mayendorf und zog den Hut. Das junge Mädchen, das die ausgetretenen Stufen des alten Mietshauses heraufkam, trug Trauerkleidung. »Sie können mir nicht sagen, wann Frau Reisner zurückkommt?«
Das Mädchen erblasste. Es hatte ein schmales, zartes Gesicht und musste so um die zwanzig Jahre alt sein.
»Frau Reisner ist vor drei Monaten gestorben.« Sie zog einen Schlüsselbund aus ihrer Handtasche und schloss die Wohnungstür auf.
Graf Rudolf fuhr der Schreck in die Glieder. Marieluise war tot? Seine Augen weiteten sich.
»Sie sind ihre Tochter?«, fragte er.
»Ja. Ich bin Viktoria Reisner.« Das Mädchen sah ihn nicht an dabei. »Und wer sind Sie?«
»Ich war ein guter Bekannter Ihrer Mutter«, erklärte der Graf. Er drehte den Hut in seinen Händen. »Gestatten: Mein Name ist Mayendorf. Graf von Mayendorf.«
Das Mädchen schloss die Tür auf.
»Graf von Mayendorf?«, fragte sie nach einer Weile und stieß die Wohnungstür auf. »Ja, ich glaube, sie hat einmal Ihren Namen erwähnt.« Jetzt blickte sie auf. »Was wollen Sie von ihr?«
»Ich bin zufällig in Frankfurt, nur auf der Durchreise«, log Rudolf Graf von Mayendorf. »Ich wollte sie besuchen, sonst nichts. Verzeihen Sie mir, ich bin ganz erschüttert von Ihrer Nachricht, dass sie tot sein soll. Wie ist es denn geschehen?«
Er denkt, ich wüsste nicht, wer er ist, dachte Viktoria Reisner bitter. Ich habe die Briefe gefunden, die er an Mama schrieb. Ich habe auch, als ich Mamas Nachlass ordnete, die Bankauszüge eingesehen. Und immer am Letzten eines jeden Monats gingen dreihundert Mark von einem Rudolf Graf von Mayendorf auf Mamas Konto ein.
Er ist also mein heimlicher Vater. Nie hat Mama mir von ihm erzählt. Schämte sie sich, dass sie sich mit einem verheirateten Mann eingelassen hatte? Er sieht gut aus. Zu gut, finde ich.
»Wir brauchen ja nicht hier auf dem Hausflur herumzustehen«, sagte Viktoria beherrscht. »Kommen Sie weiter, Herr Graf. Ich komme gerade aus dem Büro und habe noch etwas zu essen eingekauft.« Sie wies auf die Tasche in ihrer Rechten.
»Danke, sehr freundlich, gnädiges Fräulein«, murmelte Graf von Mayendorf und trat ein.
Er war noch nie vorher in dieser Wohnung gewesen. Er kannte nur die kleine Dachwohnung in Mainz, in der Marieluise Reisner vor Viktorias Geburt gewohnt hatte. Sie hatte sich ihren Lebensunterhalt durch Musikunterricht verdient, als er sie kennengelernt hatte.
»Legen Sie doch bitte ab«, sagte Viktoria.
Rudolf Graf von Mayendorf zog seinen Mantel aus und legte den Hut auf den Garderobenständer. Verlegen strich er über seine Anzugjacke und spürte, dass das junge Mädchen ihn aufmerksam anblickte.
Seine Tochter Viktoria. Er durfte sich ihr gegenüber nicht verraten.
»Bitte, kommen Sie weiter ins Wohnzimmer.« Viktoria ging ihm voran. Das schmale schwarze Wollkleid, das sie trug, macht sie zerbrechlich schlank.
Das Wohnzimmer war mit hübschen Möbeln eingerichtet. Bunte Vorhänge und Kissen im Bauernstil vollendeten den Eindruck, dass hier mit wenigen finanziellen Mitteln und viel Geschmack ein gemütliches Heim geschaffen worden war.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte Viktoria. »Gleich koche ich uns erst einmal eine Tasse Kaffee.«
»Erzählen Sie mir bitte, wie es passiert ist«, bat Graf von Mayendorf.
»Mama musste sich einer an sich harmlosen Unterleibsoperation unterziehen. Während der Narkose setzte ihr Herzschlag aus. Auch eine Herzmassage konnte ihr nicht mehr helfen.« Viktorias Stimme war monoton, und Rudolf von Mayendorf begriff, dass sie sich große Mühe gab, ihre Ruhe und Gelassenheit nicht vor ihm zu verlieren.
Natürlich weiß sie nicht, wer ich bin, dachte er. Ich bin sicher, dass Marieluise ihr nichts von mir und über mich erzählt hat.
»Ich bin tief erschüttert«, versicherte der Graf.
»Wir waren hier sehr glücklich miteinander. Mama gab hin und wieder noch Musikstunden, hatte sich aber auch mit Übersetzungen französischer Romane befasst und verdiente ganz gut dabei. Und ich ...«
»Darf ich fragen, wie Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen?«
Viktoria schlug die braunen Augen zu ihm auf. Es durchfuhr ihn wie ein Schlag. Sie hatte Marieluises Augen. Ja, erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr sie ihrer Mutter ähnelte.
Meine Tochter!, dachte er und spürte, wie glücklich ihn diese Erkenntnis machte. Er hatte eine erwachsene Tochter. Sie war hübsch, offenbar intelligent und lebenstüchtig.
»Ich habe mein Reifezeugnis«, erwiderte Viktoria. »Jetzt arbeite ich in einem Exportbüro als Fremdsprachensekretärin. Ich behalte diese Wohnung bei, obwohl drei Zimmer eigentlich ein bisschen viel für mich allein sind. Vermieten möchte ich aber auch nicht. Ich habe nicht gern fremde Menschen um mich.«
Rudolf Graf von Mayendorf nickte. Er hörte Marieluise aus ihren Worten sprechen. Viktoria war so sehr Marieluises Tochter, dass die Vergangenheit wie ein Naturereignis auf ihn einstürmte.
Damals, nach der großartigen Hochzeit mit Irene hatte er gemerkt, dass sie ein verzogenes Großindustriellen-Töchterlein und arm an Zärtlichkeit und echtem Gefühl gewesen war. Alle hatten ihn um die schöne, elegante Irene beneidet, doch er hatte sich immer einsamer gefühlt.
Gewiss, sie war sechzehn Jahre jünger als er, und als er sie geheiratet hatte, war sie sechsundzwanzig Jahre alt gewesen, eine bekannte, viel umworbene Dressurreiterin mit Schneid und Rasse. Erst nach der Heirat hatte er gespürt, dass er sich in ihr geirrt hatte.
Der erste große Krach war nach einem knappen Vierteljahr erfolgt, als Rudolf Irene einmal schonungslos seine Meinung über ihre Ehe gesagt hatte.
»Ich verkümmere an deiner Seite«, hatte er erklärt. »Du hast nur deine Pferde, deine Garderobe, deine Kosmetik im Sinn. Ich bin nur der Rahmen für deine Schönheit, für deine strahlende Erscheinung. Aber dass ich auch ein Mensch bin, ein Mann, scheinst du zu vergessen.«
Daraufhin war er in Urlaub gefahren – allein. Während dieser Reise hatte er ernsthaft überlegt, ob er sich nicht von Irene scheiden lassen sollte.
Dann hatte er Marieluise kennengelernt, das stille Mädchen mit den großen braunen Rehaugen.
♥♥♥
Erschrocken fuhr Graf von Mayendorf hoch, als Viktoria mit dem Kaffee zurückkehrte. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie hinausgegangen war, so sehr war er in die Vergangenheit eingetaucht.
Sie goss den Kaffee ein.
»Vielen Dank«, sagte Graf Rudolf und trank einen Schluck. »Ich bin immer noch zutiefst erschüttert.
»Ich muss irgendwie damit fertig werden«, sagte Viktoria. »Ich war fassungslos, als ich das Schreckliche erfuhr.« Tränen traten ihr in die Augen.
»Es tut mir so leid, Fräulein Reisner«, versicherte der Graf und räusperte sich. »Sie arbeiten also als Fremdsprachensekretärin?«
»Ja, ich kann auch französische und englische Stenografie.«
»Dann«, sagte er, »hätte ich einen Vorschlag, Fräulein Reisner. Ich besitze eine große Maschinenfabrik. Es handelt sich um das ›C.-W.-M.-Werk‹ bei Koblenz.«
»›C.-W.-M.‹?«, wiederholte Viktoria fragend.
»Ja, das Werk heißt nach meinem Ururgroßvater, Fräulein Reisner. Carl Wilhelm von Mayendorf. Ich würde Ihnen auf jeden Fall mehr zahlen als Ihr augenblicklicher Chef.«
»Wollten Sie deshalb mit meiner Mutter sprechen? Weil Sie eine Sekretärin brauchen?«, fragte Viktoria.
»Nein, gewiss nicht. Aber ich habe Ihre Mutter sehr geschätzt, Fräulein Reisner, und ich möchte etwas für Sie tun.«
»Warum sollte ich Frankfurt verlassen?«
»Es ist sehr schön in Koblenz«, versicherte der Graf. »Eine herrliche Gegend mit dem Rhein und der Mosel. Wirklich, man kann sich dort wohlfühlen. Ich wäre sehr froh, wenn ich Ihnen die Leitung meiner Exportabteilung übergeben könnte.«
»Die Leitung der Exportabteilung Ihres Werkes?«, stieß Viktoria entgeistert hervor.
»Ja!« Rudolf von Mayendorf nickte. Er dachte flüchtig an den jetzigen Leiter seiner Exportabteilung, Hermann Freyburg. Er war schon mehr als dreißig Jahre im Werk, war ungemein tüchtig und ein guter Verhandlungsführer. Die Männer, die ihm zur Seite standen, waren ebenfalls Spezialisten auf ihrem Gebiet.
Ihm wurde ein bisschen heiß bei dem Gedanken, dass Viktoria zustimmen könnte. Wie sollte er vor den Kollegen diesen ungewöhnlichen Schritt begründen?
»Sie wollen mir also tatsächlich die Leitung der Exportabteilung übertragen?«, hakte Viktoria nach. »Wie groß ist denn die Abteilung?«
Der Graf spürte, dass er nicht mehr zurückkonnte. Der Wunsch, Viktoria in seiner Nähe zu haben und in die Belange seines Werkes einzuweihen, hatte ihn zu diesem absurden Vorschlag getrieben.
»Ich weiß nicht genau. Zwanzig Schreibdamen, vier Ressortchefs und natürlich der Leiter der Abteilung.«
»Ist der bisherige Leiter der Abteilung zur Konkurrenz übergetreten?«, erkundigte sich Viktoria. »Ich bin neunzehn Jahre alt, vergessen Sie das nicht. Glauben Sie vielleicht, dass ich mich gegen die vier Ressortchefs und die zwanzig Schreibdamen durchsetzen kann?«