Lost Memories - Ma Neko - E-Book

Lost Memories E-Book

Ma Neko

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Als Fudo erwacht, befindet er sich in einer unbekannten Wohnung und stellt erschrocken fest, dass er keinerlei Erinnerungen mehr besitzt. 

Spontan entschließt sich sein Retter Hiroshi ihn bei sich wohnen zu lassen. Vielleicht aus einer Laune heraus, vielleicht um sich von seinem Liebeskummer abzulenken.

Aber Fudo ist das nicht genug. Er gibt alles, um für Hiroshi jemand Unersetzbares zu werden. Denn auch, wenn er keinerlei Erinnerungen an sein Leben davor hat, weiß er eines ganz sicher: Er will nie mehr zurück.

Die Fortsetzung von One Year

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Ma Neko

Lost Memories

One Year 2

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Vorwort

Hinweis vor dem Lesen: Lost Memories ist die direkte Fortsetzung zu One Year. Beide Geschichten können unabhängig voneinander gelesen werden, da Lost Memories allerding da anfängt, wo One Year aufhört, enthält dieser Teil Spoiler. Solltet ihr One Year noch nicht kennen, könnt ihr es kostenlos auf bookrix.de lesen.

 

Inhalt

 

Hiroshi freut sich über das Glück seines Bruders, auch wenn er noch seiner Liebe zu Masa nachtrauert. Allerdings sollte er schnell Ablenkung finden. Auf dem Heimweg von der Weihnachtsfeier findet er nämlich einen bewusstlosen jungen Mann, den er untypischerweise zu sich nachhause mitnimmt.

Als Fudo erwacht und feststellt, dass er keinerlei Erinnerungen mehr besitzt, bietet Hiroshi ihm ohne Zögern an, bei ihm zu bleiben. Doch Fudo reichen ein paar Worte nicht. Schließlich könnte sich Hiroshi jederzeit dazu entschließen, ihn einfach wieder auf die Straße zu setzen.

 

 

Wichtige Hinweise

 

Dieses Buch enthält homoerotische Szenen und ist nicht für Leser unter 18 Jahren bzw. homophobe Menschen geeignet.

Sämtliche Personen sind frei erfunden und eventuelle Ähnlichkeiten mit richtigen Menschen somit reiner Zufall.

 

 

Kapitel 1 – Begegnung

 

Ich konnte nicht mehr. Es war kalt. Der Schnee fiel langsam zur Erde, landete auf den Straßen und sammelte sich als rutschiger Schneematsch, der mir mit jedem Schritt beinahe die Füße wegriss. Mein Kopf dröhnte. Meine Sicht war verschwommen. Ich war orientierungslos. Ich schwankte und stützte mich an der Wand ab. Etwas stank fürchterlich. Ich machte einen weiteren Schritt, doch unter dem Schneematsch hatte etwas verborgen gelegen, das mir auch noch den schlechten Halt raubte. Ich landete der Länge nach im vom Schnee bedeckten Müll. Der Gestank in meiner Nase war undefinierbar. Zu viele Gerüche waren vermischt. Das Pochen in meinem Kopf wurde stärker. Am Ende der Gasse sah ich verschwommen die Beine der Menschen, die vorbeigingen. Ein Paar blieb stehen. Hatte mich jemand entdeckt? Wollte mir jemand helfen? Ich hatte keine Kraft mehr. Es wurde schwarz vor meinen Augen. Einen Moment später sank ich in eine tiefe Ohnmacht.

 

Er hob den Blick und betrachtete den großen Weihnachtsbaum, der im Park aufgestellt worden war. Die Lichter waren angegangen, sobald es dunkel geworden war. Der Anblick rief in ihm eine Nostalgie, aber auch Melancholie hervor, die er sich so nicht erklären konnte. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und dachte an den Tag zurück. Sein jüngerer Bruder Hideaki hatte heute Geburtstag gehabt. Aus der von seinen Eltern geplanten Verlobungsfeier war nichts geworden, da er sich letztendlich dafür entschieden hatte, seinem Herzen zu folgen und sein Leben mit seinem Liebsten Masa zu verbringen.

Hiroshi schob die Gedanken, was ihr Vater jetzt unternehmen würde, beiseite und dachte lieber an Masa. Sein Herz tat immer noch weh. Niemals hatte er sich so sehr verliebt. Aber Masa hatte sich letztendlich für seinen Bruder entschieden. Oder wohl eher von Anfang an. Aber wenn Hideaki jemals nachlässig werden würde, wäre Hiroshi zur Stelle und würde sich Masa schnappen. Allerdings bezweifelte Hiroshi, dass das jemals vorkommen würde.

Er wandte sich von dem Anblick ab und verließ den Park. Heute wollte er in seine Wohnung in der Stadt. Er würde es bei seinen Eltern nicht aushalten. Auf seinem Weg sah er viele Menschen. Vor allem Pärchen entdeckte er. Sie hielten Händchen, betrachteten die Dekoration der Läden und schienen in ihrer Welt. Hiroshi beschleunigte seinen Schritt etwas, drehte den Kopf weg und blieb stehen, als er an einer Gasse vorbeiging. Kurz zögerte er, dann drehte er um und ging zum Eingang der Gasse zurück. Er hatte sich nicht geirrt. Unter einer dünnen Decke aus Schnee lag eine Gestalt. Er trat näher heran. Langsam, vorsichtig, als erwarte er, dass die Gestalt jeden Moment aufspringen und auf ihn losgehen würde. Aber das tat sie nicht. Als er bei ihr war, ging er in die Hocke. Sofort entdeckte er eine Brieftasche. Er griff danach, musterte sie und stellte fest, dass sie leer war. Der Ausweis, der in einem Fach steckte, war so beschädigt, dass man ihn kaum mehr entziffern konnte. Fudo war das Einzige, das er lesen konnte. Er musterte die Gestalt. Es war ein Junge, etwa im Highschool-Alter. Vielleicht auch schon Student. Er hatte Verletzungen im Gesicht, die auf eine Prügelei hindeuteten. Seine Kleidung war schmutzig und teilweise zerrissen. Der Atem ging flach, war aber stabil. Hiroshi untersuchte den Jungen, tastete ihn vorsichtig ab, stellte aber fest, dass die Verletzungen alle eher oberflächlich waren. Nur am Hinterkopf entdeckte er eine Beule, die vielleicht größeren Schaden angerichtet haben könnte. Bei Kopfverletzungen wusste man ja nie.

Hiroshi dachte nach, sah in Richtung Straße und überlegte, welche Möglichkeiten er jetzt hatte.

Er könnte ihn liegen lassen, aber dann würde er ihm praktisch dem Tod überlassen. Ein Krankenwagen würde ihn bestimmt auch mitnehmen. Doch das bedeutete Aufregung und konnte auch stressig werden. Zumal es nicht notwendig schien. So schlimm waren die Verletzungen ja nicht.

Vielleicht war es der Wunsch, einfach nicht den Weihnachtsabend alleine verbringen zu müssen. Jedenfalls entschied sich Hiroshi – eine Entscheidung aus dem Bauch heraus, was für ihn eher untypisch war – diesen Fremden mitzunehmen. Die Gestalt war klein und zierlich. Niemand, der ihm körperlich überlegen sein konnte. Er befreite den Kleinen von dem Schnee, zog sich den Mantel aus und warf ihn über den Ohnmächtigen. Mühsam verfrachtete er ihn auf seinen Rücken, sodass er ihn huckepack tragen konnte. Die Brieftasche hatte er sich unbewusst in die Tasche gesteckt. Sie gehörte wohl ohnehin dem Kleinen. So ging Hiroshi nachhause und ignorierte die Blicke der Passanten.

 

Nur schwer konnte ich mich von dieser Taubheit befreien. Ich fühlte mich, als wäre ich unter Wasser. Irgendwo in der dunklen Tiefe. Jedes Geräusch drang nur dumpf an mein Ohr. Ich brauchte lange, um zu verstehen, dass ich nicht mehr in der Gasse lag, in der ich zusammengebrochen war. Und ich brauchte eine weitere Ewigkeit, ehe ich mich in der Lage sah, die Augen zu öffnen. Das Weiß der Decke tat mir in den Augen weh. Ich kniff sie wieder zusammen und drehte den Kopf. Vorsichtig öffnete ich sie wieder und sah mich um. Ich befand mich in einem Schlafzimmer. Klein, aber mit hochwertigen Möbeln. Da genügte ein Blick. Ich rollte mich leicht auf die Seite, stützte mich auf meiner Hand ab, die weniger schmerzte, und setzte mich auf. Für einen Moment stoppte mich der Schwindel. Ich rieb mir über das Gesicht. Erst als der Schwindel sich legte, sah ich mich um. Das war kein Krankenzimmer. Hatte mich jemand mitgenommen? Warum? Und wer? Ein Samariter oder ein Psychopath?

Ein Stechen in meinem Kopf legte jede weitere Überlegung lahm. Ich bekam kaum mehr etwas mit. Spät merkte ich, dass jemand das Zimmer betreten hatte. Ich blickte auf und musterte den Mann.

Er war etwa 185 cm groß und ich schätzte ihn auf Mitte 20. Er hatte kurze, dunkle Haare, die ordentlich gekämmt waren. Er trug Hemd und Anzughose. Seine Gesichtszüge waren markant und männlich. Seinen Blick konnte ich nicht deuten. Er wirkte kühl, gleichgültig, distanziert.

„Hier. Gegen deine Kopfschmerzen.“, brach der Mann sein Schweigen. Er hielt mir eine Tablette und ein Glas Wasser hin. Stumm nahm ich beides entgegen und schluckte die Medizin, ohne weiter darüber nachzudenken. Das Glas Wasser leerte ich mit einem Zug und gab es zurück.

„Wie geht’s dir, Fudo-san?“, fragte der andere plötzlich. Kannte er mich? Waren wir uns schonmal begegnet? Ich versuchte mich zu erinnern und erstarrte.

„Ah, dein Name stand auf dem Ausweis. Allerdings nur der Vorname. Der Rest war zu kaputt.“, erklärte er, was ich allerdings kaum registrierte.

„Wo kommst du her? Ich bring dich nachhause, sobald es dir besser geht. Aber erst solltest du wohl zuhause anrufen und Bescheid geben, dass es dir gut geht.“, sprach er weiter.

Ich reagierte nicht.

„Fudo-san?“, sprach er mich erneut an.

„I-ich kann mich nicht erinnern. An gar nichts. Mein Kopf ist völlig leer.“, stieß ich hervor. Egal, wie sehr ich mich anstrengte, es kamen keine Erinnerungen. Ich konnte nicht mal sagen, ob er mich bei meinem eigenen Namen genannt hatte.

Er musterte mich einen Moment und setzte sich dann an die Bettkante.

„Wirklich nichts? Auch nicht, wie du heißt?“, bohrte er nach. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. Was sollte ich jetzt machen?

Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Kopf, die mich sanft streichelte.

„Ich weiß nicht, was passiert ist, aber mach dir keine Sorgen. Deine Verletzungen sind alle oberflächlich. Vermutlich hast du einen Schlag auf dem Kopf bekommen und leidest deshalb an Amnesie.“, sprach er ruhig auf mich ein. Ich wurde selbst etwas ruhiger und sah ihn an.

„Ich heiße Hiroshi. Solange es notwendig ist, kannst du hierbleiben. Am besten wäre wohl, wenn du dich in den nächsten Tagen im Krankenhaus mal untersuchen lässt. Und wenn deine Erinnerungen nicht zurückkehren, sollten wir vermutlich die Polizei einschalten.“, fuhr er fort. Panik stieg in mir hoch. Ich packte ihn am Hemd und sah ihn flehend an.

„Kein Krankenhaus und keine Polizei!“, widersprach ich sofort. Er sah mich einen Moment überrascht an, dann wich dieser Ausdruck wieder. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und wandte sich ab.

„Ich weiß nicht, warum du so dagegen bist, aber es liegt nicht in meiner Art mich einzumischen, wenn es mich nichts angeht.“, erwiderte er und stand auf.

„Nichtsdestotrotz kannst du vorerst hierbleiben. Ich bin die meiste Zeit sowieso in meinem Elternhaus, also steht diese Wohnung hier oft leer. Das Bad ist fertig. Ich habe dir ein paar Sachen rausgelegt.“, fügte er hinzu und verschwand wieder.

Ich sah ihm hinterher. Warum war ich gerade so ausgeflippt? Hatte ich etwas angestellt? Vielleicht hatte ich ja ein Verbrechen begangen? Sofort schüttelte ich den Kopf. Warum war er nur so leer?

Ich schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Kurz war mir etwas schwindelig, doch sobald ich nicht mehr schwarzsah, stand ich auf. Ich bewegte mich langsam, stützte mich an der Wand ab und steuerte die Tür an. Am Flur orientierte ich mich kurz. Ich hörte Geräusche, die wohl vom Klappern des Geschirrs herrührten. Nach dem Ausschlussprinzip wählte ich eine Tür und steuerte sie an. Als ich sie öffnete, sah ich ins Bad. Erfolg beim ersten Versuch! Aber die kleine Freude darüber wurde von einer Welle der Übelkeit überlagert. Ich vertrug keine Tabletten. Das hätte mir vorhin einfallen sollen. Ich trat ein, schloss die Tür hinter mir und zog mich aus. Meine Kleidung war in einem schäbigen Zustand. Was hatte ich nur angestellt?

Ich hatte überall Kratzer und blaue Flecken. Manche Stellen schmerzten. Ich ließ meine Kleider am Boden liegen und stieg in die Wanne. Das Wasser war heiß und tat gut, auch wenn ein paar größere Kratzer brannten. Ich wusch mich gründlich und genoss es eine Weile. Ich lauschte. Die Geräusche in der Wohnung hielten sich in Grenzen. Hiroshi war wohl gerade in der Küche. Ich dachte über den Mann nach, der mich aufgelesen hatte. Auf den ersten Blick hatte er ziemlich kaltherzig gewirkt, aber nach den ersten Worten hatte ich gemerkt, dass dieser Eindruck täuschte. Sonst hätte er mich niemals mitgenommen und würde mich nicht hier wohnen lassen. Ich hatte wirklich Glück gehabt. Was wäre wohl aus mir geworden, hätte er mich nicht mitgenommen?

 

 

Kapitel 2 – Vertrag

 

Ich zupfte am Ärmel und versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass die Sachen für mich viel zu groß waren. Hiroshi hatte eine graue Jogginghose und ein langärmliges Shirt bereitgelegt. Beides wirkte so, als wäre es kaum getragen worden. Das Bad hatte gutgetan. Doch als ich danach einen Blick in den Spiegel geworfen hatte, hatte mir immer noch ein Fremder entgegengeblickt. Ich hatte eine Weile davor gestanden und meinen Vornamen laut ausgesprochen, in der Hoffnung der Rest würde automatisch folgen. Doch nach den beiden Silben war ich stumm geblieben.

Inzwischen hatte ich den Gedanken beiseitegeschoben, dass ich mich an nichts erinnern konnte. Vielleicht dauerte es nur ein paar Tage. Vielleicht aber auch Monate oder Jahre. Oder ich bekam meine Erinnerungen nie mehr wieder. Mir wurde etwas flau in der Magengegend, doch als mir einfiel, dass ich vermutlich Hiroshi dazu bringen könnte, mich bei ihm bleiben zu lassen, verflog dieses Gefühl wieder. Ich dachte nicht weiter über den Grund dafür nach, sondern steuerte eine der Türen an, die ich noch nicht geöffnet hatte.

Als ich mich in dem Raum umsah, stellte ich fest, dass es das Wohnzimmer war, welches in Essbereich und Küche überging. Die eine Hälfte des Raums, der Wohnbereich, wurde von einem großen, grauen Sofa dominiert. Eine Fernsehlandschaft nahm die Wand davor ein, gemeinsam mit einem Regal, dessen einzelne Fächer entweder mit DVDs, Bücher oder Dekoartikeln befüllt waren. Ein moderner Esstisch hatte in der anderen Hälfte seinen Platz gefunden. Dabei standen sechs passende Stühle. Die Küche war modern, mit Edelstahl und Steinplatten. Im ersten Moment kam ich mir vor wie in einer dieser Vorführwohnungen, die in Möbelhäusern aufgestellt waren. Ein paar Pflanzen brachten etwas Farbe und Leben in den Raum, aber es gab hier keine persönliche Note. Vielleicht könnte ich anhand der DVDs und Bücher zumindest Hiroshis Geschmack in diesen Bereichen erkennen, aber das wäre auch schon alles.

 

„Geht es dir besser?“, riss mich die Stimme des anderen Mannes aus meinen Gedanken. Ich zuckte leicht zusammen und sah ihn an.

„Äh, ja. Danke! Und danke für die Sachen.“, gab ich von mir und ging zu ihm in die Küche. Mit etwas Abstand blieb ich stehen und sah ihm zu, wie er in einem Topf rührte.

„Hast du Hunger?“, fragte er.

„Und wie! Ich habe voll Kohldampf!“, antwortete ich, ehe ich es verhindern konnte. Sofort schlug ich mir die Hände vor den Mund. Ich hatte mich doch eher zurückgehalten, weil ich nicht wollte, dass er mich für asozial oder ungebildet oder etwas in derart hielt. Ich hatte Angst, dass er mich dann rauswarf. Immerhin konnte Hiroshi bei seiner Art und der Wohnung kein armer Schlucker sein.

Aber entgegen meiner Befürchtungen reagierte er anders als erwartet. Er hatte den Kopf leicht gedreht, sodass ich sein Profil sehen konnte. Ein leichtes Schmunzeln zierte seine Lippen.

„Du brauchst dich nicht zurückhalten. In meinem Alltag gibt es schon zu viele, die nur auf den äußeren Schein achten und oft die schönsten Worte von sich geben, in Wirklichkeit aber überhaupt nichts damit preisgeben. Wenn ich hier bin, will ich davon Abstand.“, meinte er. Ich seufzte erleichtert auf. Aber ganz konnte ich mich nicht darauf verlassen, dass er mich mit meiner Art länger hierbleiben ließ. Ich musste ihm auch zeigen, dass ich ihm nützlich sein konnte.

„Kann ich irgendwie helfen?“, fragte ich. Einen Moment dachte er nach.

„Du kannst den Tisch decken. Teller sind dort im Schrank und Besteck in der Schublade.“, antwortete Hiroshi und deutete auf die entsprechenden Bereiche. Ich folgte der Aufforderung und holte Teller samt Besteck, um es auf den Tisch zu stellen. Dann brachte ich die Schüsseln zum Tisch, die Hiroshi mir in die Hand drückte, bis er schließlich selbst mit dem Topf kam. Er verteilte das Essen auf die Teller und wir setzten uns. Schweigend begannen wir mit dem Essen. Währenddessen grübelte ich darüber nach, wie ich sichergehen konnte, dass ich bleiben durfte. Ich hatte keinerlei Erinnerungen, aber das starke Gefühl, dass ich unbedingt hierbleiben wollte. Bei Hiroshi würde es mir gut gehen. Besser als anderswo. Da war ich mir sicher.

 

Wir beendeten das Essen, ohne dass ich zu einer Idee gekommen war. Es war wirklich lecker gewesen. Ein bisschen hatte mich diese Tatsache überrascht. Hiroshi wirkte nicht wie jemand, der sich mit solchen alltäglichen Dingen wie Haushalt und Kochen beschäftigte. Ein Teil von mir hatte vermutet, dass er sich von Fertiggerichten ernährte oder immer nur auswärts aß. Aber da hatte ich mich wohl getäuscht.

„Du kannst wirklich gut kochen.“, sprach ich diesen Gedanken auch aus. Irgendwie wollte ich die Stille vertreiben. Und ein Gespräch in Gang bringen, das mir half, mehr über ihn zu erfahren, damit ich eine Möglichkeit finden konnte, mich für ihn unersetzlich zu machen.

„Hm, naja.“, gab er von sich. In mir machte sich Enttäuschung breit, dass er so wortkarg war.

„In der Wohnung gibt es wenig zu tun. Das Kochen war früher für mich eine nette Abwechslung. Da kann ich entspannen. Inzwischen habe ich mir auch einiges beigebracht.“, schob er noch nach, was meine Enttäuschung wieder etwas linderte.

„Vielleicht kann ich ja mal was für dich kochen.“, meinte ich spontan, ohne groß darüber nachzudenken. Er sah mich mit einem undefinierbaren Blick an.

„Kannst du denn kochen?“, bohrte er nach. Sein Ton war neutral, nüchtern, kein bisschen urteilend. Es war eine sachliche Frage, die mich allerdings nachdenklich machte.

„Das… werden wir wohl erst erfahren, wenn ich es versucht habe.“, gab ich langsam und etwas beschämt von mir. Vielleicht hätte ich vorher mal probieren sollen, ob ich überhaupt in der Lage war, etwas Essbares zu fabrizieren, als mit so einem Vorschlag herauszuplatzen.

Auf Hiroshis Lippen erschien ein leichtes Schmunzeln. Das Schweigen war irgendwie angenehm, die Stimmung zwischen uns war gut. Hiroshi war umgänglicher, als er auf den ersten Blick erschien.

 

Unsere Zweisamkeit wurde vom Klingeln an der Tür gestört. Hiroshis Gesichtsausdruck nach zu schließen erwartete er eigentlich niemanden. Er erhob sich und automatisch stand ich selbst auf. Als er mich kurz fragend ansah, griff ich schnell nach den Tellern und begann den Tisch abzuräumen. Hiroshi wandte sich ab und verschwand im Flur, um die Wohnungstür zu öffnen. Ich stellte das Geschirr in der Spüle ab und schlich dann auf Zehenspitzen zur Tür, um in den Flur zu lauschen.

„Masa-san, was machst du hier?“, hörte ich Hiroshi den Besucher fragen. Sein Ton war überrascht, gleichzeitig aber auch sanft und irgendwie liebevoll. Das machte mich neugierig und ich ging näher zur Tür, die nur angelehnt war. Vorsichtig spähte ich durch den Spalt. Hiroshi stand mit dem Rücken zu mir. Vor ihm stand eine zierliche Person. Er schien etwa in meinem Alter. Vielleicht auch etwas älter. Klein, schlank, mit femininen Gesichtszügen, irgendwie noch eine kindliche Erscheinung, mit schulterlangen, dunkelblonden Haaren und großen, bernsteinfarbenen Augen. Er lächelte leicht, als er zu Hiroshi aufblickte. Doch es schien leicht verlegen.

„Ich wollte nochmal mit dir reden. Und dir was vorbeibringen. Die Feier gestern war doch irgendwie zu spontan.“, gab dieser Masa-san mit heller, klarer Stimme von sich. Irgendwie gefiel mir die Atmosphäre zwischen den beiden nicht. Hiroshi hatte den Kopf etwas gedreht, sodass ich sein Profil sehen konnte. Sein Ausdruck war entspannt und liebevoll, aber in seinen Augen entdeckte ich auch etwas wie Trauer. Oder war dieser Begriff zu stark gewählt?

„Gibt es wirklich noch etwas zu besprechen? Mir ist klar, dass du dich niemals für mich entschieden hättest. Selbst wenn es anders gekommen wäre.“, antwortete er. Verwirrt ließ ich mir diese Worte durch den Kopf gehen. War zwischen ihnen etwa die Art von Beziehung gewesen? Der Ausdruck des Besuchers wurde jetzt gequält.

„Es war immer Hide-san.“, bestätigte er so leise, dass ich ihn fast nicht verstanden hätte.

„Ich weiß. Gegen meinen kleinen Bruder komme ich nicht an.“, gab Hiroshi mit einem Seufzer von sich, was mich aufhorchen ließ. Familienprobleme? Zwei Brüder, die dieselbe Person liebten? Aber… diese Person war ein Mann. Oder doch nicht? Masa-san war… androgyn. Außerdem trug er einen dicken Wintermantel, weshalb ich seine oder ihre Figur kaum ausmachen konnte. Aber das Geschlecht war wohl bei ihm egal, denn er oder sie war hübsch und hatte etwas an sich, womit ich mich einfach nicht messen konnte.

Ich erwartete, dass die beiden das Thema noch vertieften, aber Masa-san schien genug davon zu haben.

„Ohne dich hätte sich Hide-san nicht für mich entschieden und wir wären jetzt nicht zusammen.“, fuhr er etwas fröhlicher fort. Also hatte Hiroshi selbst dafür gesorgt, dass sein Bruder mit der geliebten Person zusammenkam? Er war wirklich eine großzügige und herzensgute Person. Ein hilfsbereiter Mensch.

„Wer weiß. Hideaki hatte schon immer seinen eigenen Kopf. Und als ich dich kennengelernt habe, war ich mir sicher, er würde einen Weg finden, wie er mit dir zusammenbleiben könnte.“, entgegnete Hiroshi und wirkte irgendwie traurig.

„Hm. Ich habe hier einen Kuchen für dich. Mein Chef hatte mir mit dem Rezept geholfen. Es ist nicht viel, aber ich wusste nicht, was ich dir sonst geben könnte.“, lenkte der Kleinere ab.

Es wirkte, als würden die beiden sich bald verabschieden. Und wenn nicht, würde Hiroshi ihn hereinbitten. Ich wollte nicht beim Lauschen erwischt werden, deshalb wandte ich mich um und tapste schnell auf Zehenspitzen in die Küche zurück. Ich drehte das Wasser in der Spüle auf, steckte den Stöpsel ein und fügte einen Spritzer Geschirrspülmittel hinzu, das auf der Anrichte stand. Dann nahm ich den Lappen und reinigte das Geschirr.

Ich hörte die Haustür zufallen und Schritte. Hiroshi kam zurück, mit dem Kuchen in der Hand.

„Wer war das?“, fragte ich in einem völlig beiläufigen Tonfall. Ich spürte Hiroshis Blick in meinem Nacken. Ob er wusste, dass ich gelauscht hatte? Als ich kurz über meine Schulter linste, sah er auf das Geschirr in meinen Händen. Ihm schien aufgefallen zu sein, dass ich gerade erst angefangen hatte, doch er sagte nichts dazu.

„Ein Freund. Ich war gestern bei ihm auf einer Weihnachtsparty. Unsere Familienfeier war ausgefallen und ich wurde spontan von ihm eingeladen.“, erklärte er, während er aus den Schubladen ein großes Küchenmesser hervorholte und den Kuchen anschnitt.

„Willst du auch ein Stück?“, bot er mir an. Ich zuckte leicht zusammen, weil ich vollkommen in Gedanken versunken war und ihn beobachtet hatte, während ich in meiner eigenen Tätigkeit innegehalten hatte.

„Äh, j-ja, gern.“, antwortete ich etwas überrumpelt. Hiroshi wandte sich um, öffnete den Hängeschrank neben mir und holte kleine Teller herunter. Er war viel größer als ich. Mit den Augen verfolgte ich seine Bewegungen.

„Das kann man auch später noch machen.“, meinte Hiroshi mit einer Kopfbewegung in Richtung der Spüle. Ich nickte knapp, ließ das Geschirr los und trocknete mir mit einem Geschirrtuch die Hände. Dann folgte ich Hiroshi zurück zum Küchentisch und setzte mich auf denselben Stuhl wie vorhin. Hiroshi hatte den Kuchen vor mir platziert. Er sah lecker aus. Ich musterte die Schichten. Fluffiger Teig mit einer dünnen roten Fruchtschicht. Ganz oben Creme mit essbarem Dekor. Keine aufwendigen Kunstwerke, aber auch nichts, das jede Hausfrau mal eben so schnell und leicht hinbekommen würde. Mit der Gabel stach ich etwas davon ab und schob mir das Stück in den Mund. Es war einfach lecker. Irgendwie gefiel mir das nicht. Ich sah zu Hiroshi. Er hatte die Augen geschlossen, während er kaute. Einen Moment fragte ich mich, wann er sich die Brille aufgesetzt hatte. War ich so in Gedanken gewesen? Sein Ausdruck war entspannt. Er genoss den Nachtisch wirklich. Mir war der Appetit verdorben, doch ich schob mir den Rest des Kuchens in den Mund. Dann stand ich auf, nahm meinen Teller und ging wieder in die Küche, um weiter abzuwaschen. Immer wieder linste ich zu Hiroshi, der sich Zeit beim Essen nahm. Wenn ich vorher noch irgendwie gezweifelt hätte, wäre ich mir inzwischen jetzt sicher, dass Hiroshi diesen Masa-san liebte. Aber seine Gefühle wurden nicht erwidert.

Vielleicht war das ja meine Chance? Ich trocknete das Geschirr ab, während ich genauer darüber nachdachte. Hiroshi hatte inzwischen aufgegessen, seinen Teller abgestellt, welchen ich schon abgewaschen hatte, und hatte sich mit einem Buch auf die Couch gesetzt und nicht mehr gerührt. Ich hatte das Geschirr verräumt, hoffentlich hatte ich immer den richtigen Platz gewählt, und tigerte durch die Wohnung. Ich ging zur Glastür, die zum Balkon führte, welcher um diese Zeit von Schnee bedeckt war, blickte hinaus, sah aber immer wieder kurz zu ihm. Ich ging weiter zu dem Regal, sah die DVDs durch, dann die Bücher, als wollte ich mir selbst eine Lektüre suchen. Ich zögerte. Einerseits war ich fremd in der Wohnung, andererseits führte ich mich so auf, als würde ich hier schon länger wohnen. Aber Hiroshi machte keinerlei Anstalten, mir irgendwelche Grenzen zu setzen. Während meiner scheinbaren Suche nach etwas Lesestoff versuchte ich, mir einen Plan auszudenken, der mir die nötige Sicherheit bringen würde, hierbleiben zu dürfen.

Ich gab es auf, mir ein Buch zu suchen. Ich hatte die Titel auf den Buchrücken zwar überflogen, aber nichts hatte mich wirklich angesprochen. Es klang ohnehin nach schwieriger Lektüre und ich hatte nicht das Gefühl, als ob ich eine Leseratte wäre. Ich wandte mich um, ging zur Couch und ließ mich darauf gleiten, ohne Hiroshi sonderlich zu stören. Ich zog die Beine an die Brust, schlang meine Arme um die Knie und beobachtete ihn. Er hatte sich in eine Ecke gesetzt, ein Bein aufgestellt, das andere untergeschlagen, den Blick auf das Buch gerichtet. Ich lauschte seinen Atemzügen und dem regelmäßigen Knistern von Papier beim Umblättern.

„Brauchst du etwas?“, durchbrach er plötzlich die Stille, ohne jedoch den Blick vom Buch zu nehmen.

„Nein, ich… Nichts.“, gab ich von mir, wandte den Blick ab, schluckte und fasste meinen Mut zusammen. Auf allen Vieren krabbelte ich etwas näher zu ihm. Langsam. Lauernd. Fast, als wollte ich ihn anspringen.

„Hiroshi? Darf ich wirklich hierbleiben?“, fragte ich vorsichtig. Endlich nahm er den Blick von seiner Lektüre und sah mir direkt in die Augen. Er schien mein Verhalten verstehen zu wollen.

„Habe ich doch gesagt. Du kannst ruhig hierbleiben.“, antwortete er.

„Aber… ich will eine Versicherung. Ich kenne dich doch eigentlich gar nicht. Woher soll ich wissen, dass du mich nicht in den nächsten Tagen gleich wieder rauswirfst, wenn dich meine Anwesenheit doch stört?“, erwiderte ich.

„I-ich kann dir nützlich sein. Ich kann den Haushalt machen und für dich kochen. Glaub ich. Ich kann dir Gesellschaft leisten. Und dich von diesem Masa-san ablenken. Und ich kann noch viel mehr machen.“, fügte ich hinzu. Hiroshi sah mich einen Moment schweigend an, dann klappte er sein Buch zu, legte es auf den Tisch und sprang auf. Erst jetzt, als ich mir meine Worte nochmal durchdachte, wurde mir klar, dass ich ihn womöglich ziemlich bedrängt hatte. Vielleicht hatte ich jetzt das Gegenteil von dem bewirkt, was ich wollte. Panik stieg in mir hoch und ich dachte fieberhaft nach, wie ich meinen Fehler wieder korrigieren konnte. Doch da kehrte Hiroshi bereits zurück. Er hatte sich Stift und Papier geholt und schrieb etwas darauf. Ich war noch mit einer Lösung für meinen Fehler beschäftigt, weshalb ich kaum darauf achtete. Schließlich war er fertig, setzte scheinbar noch seine Unterschrift unten hin und gab mir dann das beschriebene Blatt. Verwirrt nahm ich es entgegen.

 

Vertrag

 

Ich, Hiroshi Tuyoshi, verpflichte mich hiermit Fudo Unterschlupf zu gewähren, sowie ihn mit Nahrung, Kleidung und sonstigen Dingen zu versorgen, die er braucht.

Im Gegenzug wird Fudo für Ordnung in der Wohnung sorgen und mich bei Bedarf unterhalten.

 

Dauer des Vertrags: 1 Jahr (egal ob die Amnesie noch anhält oder nicht)

 

Bedingungen: Untersuchung im Krankenhaus

 

Vertragsauflösung: mit beiderseitigem Einstimmen oder wenn Fudos Verhalten für mich Ärger bedeutet

 

Ich überflog das Blatt ein zweites Mal, aber der Inhalt blieb derselbe. Ich hatte mir eine Versicherung gewünscht, aber ganz bestimmt keinen Vertrag erwartet. Ich war mir nicht sicher, ob das hier überhaupt rechtliche Gültigkeit hätte, aber wenn ich genau darüber nachdachte, wusste ich auch nicht, welche Art von Versicherung ich eigentlich erwartet hatte.

„Warum gerade 1 Jahr?“, war meine erste Frage. Den Rest musste ich erst noch verarbeiten. Er zuckte mit den Schultern.

„Schien mir eine gute Zeitspanne.“, antwortete er lapidar.

„Und was meinst du mit ‚Ärger‘?“, hakte ich nach. Diesmal ließ er sich länger Zeit.

„Meine Familie ist sehr erfolgreich und oft in den Medien. Wenn du mal ein paar Teller zerbrichst oder ein Fenster kaputt machst, stört mich das nicht groß. Ich bin alles andere als arm. Vermeide aber alles, was in einen öffentlichen Skandal ausarten könnte!“, erklärte er und musterte mich. Ich dachte über seine Worte nach. Ich hatte eine ungefähre Vorstellung davon, welche Art von Ärger er meinte, aber man konnte wohl nicht immer voraussehen, wie sich die Dinge entwickeln würden.

„I-ich gebe mein Bestes.“, antwortete ich. Meine Lippen formten sich zu einem Lächeln. Ich hatte wirklich Glück gehabt, dass gerade Hiroshi mich aufgelesen hatte.

 

Kapitel 3 – Jänner

 

Ich hatte mich schnell an mein neues Leben gewöhnt. Wobei es vermutlich leicht war, da ich mein altes ohnehin vergessen hatte. Hiroshi hatte mich zwei Tage, nachdem ich den Vertrag bekommen hatte, in ein Krankenhaus geschleppt, um mich durchchecken zu lassen. Ich hatte etwas Angst davor gehabt, weil ich befürchtet hatte, dass jemand die Polizei verständigen würde. Ich war etwa 18 Jahre alt. Vielleicht vermisste mich jemand? Aber ich wollte nicht zurück. Wo auch immer das war.

Trotz meiner Befürchtungen war der Arztbesuch ohne Schwierigkeiten vonstattengegangen. Ich wusste nicht, was Hiroshi dem Arzt erzählt hatte, aber es hatte bewirkt, dass mich niemand weiter ausfragte. Ich hatte eine aufwendige Untersuchung über mich ergehen lassen, samt Röntgen und CT, sowie Blutprobe, was allerdings alles unauffällig gewesen war. Bis auf ein paar leichteren Verletzungen, die vermutlich von einer Prügelei oder so herstammten, und der Beule an meinem Hinterkopf hatten sie nichts gefunden und mich wieder gehen lassen. Der Arzt hatte mir erklärt, dass sie nichts gegen meine Amnesie tun konnten. Die Ursachen dafür waren vielschichtig und nicht eindeutig. Und bei jedem verlief der Heilungsprozess anders. Es konnte sein, dass es nur ein paar Tage dauerte. Oder aber Wochen, Monate, vielleicht Jahre. Ich könnte mich Stückchenweise erinnern vielleicht auch vollständig, wenn es einen bestimmten Auslöser gab. Manche Erinnerungen könnten aber auch für immer verloren sein.

Der Arzt hatte mir geraten, dass ich nichts erzwingen sollte. Das Beste wäre, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Außerdem sollte ich vertraute Orte besuchen. Vielleicht lösten die etwas aus.

Ich hatte nur zustimmend genickt, mich gleichzeitig aber etwas darüber gewundert. Vertraute Orte, wo ich nicht mal jemanden hatte, der mich kannte? Wie sollte das denn gehen?

 

Ich streckte mich und beugte mich dann über das Waschbecken, um mein Gesicht zu waschen. Mit dem Handtuch trocknete ich mich ab und beendete meine Morgentoilette. Ich verließ das Bad und ging in den Wohnbereich. Heute war ich alleine. Hiroshi hatte in seinem Elternhaus übernachtet. Nach den Feiertagen war er tagsüber außer Haus gegangen, aber abends immer wieder gekommen. Doch seit das neue Jahr begonnen hatte, war er in seinem Elternhaus geblieben und hatte nur ein-, zweimal am Tag angerufen, um sich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen. Ansonsten war ich aber allein. Ich verbrachte meine Zeit damit, durch die Zimmer zu streunen, mich mit der Einrichtung vertraut zu machen, ein paar DVDs zu gucken oder doch mal in einem Buch zu stöbern. Raus traute ich mich eigentlich nicht. Ich wollte nicht plötzlich jemandem aus meiner Vergangenheit begegnen. Vor allem nicht allein. Wie sollte ich mich dann verhalten?

Ich ging zum Kühlschrank und musterte den Inhalt. Er war immer voll. Es gab auch immer die besten Sachen. Eine Haushälterin brachte die Sachen immer. Sie war so leise, dass ich ihre Anwesenheit kaum wahrgenommen hatte. Auch die Wohnung hatte sie immer schnell in Ordnung gebracht. Beim ersten Mal hatte sie mich total überrascht. Die nächsten Male hatte ich mich ins Schlafzimmer zurückgezogen und gewartet, bis sie wieder gegangen war. Sie war vermutlich keine böse Person, aber ich hatte nicht das Bedürfnis sie näher kennenzulernen.

Über Hiroshi hatte ich inzwischen einiges herausgefunden. Oder eher über seine Familie. Eine reiche Unternehmerfamilie, die zur Oberschicht gehörte. Wohlhabend, erfolgreich und ständig in den Medien präsent. Sie hatten scheinbar ihre Finger in allen größeren Geschäften im Spiel. Es gab kaum einen Bereich, wo ihr Name nicht auftauchte.

Hiroshi fungierte wohl als Geschäftsführer in der Hauptfiliale. Er war ein vielbeschäftigter Mann. Vermutlich würde ich ihn in nächster Zeit nicht so oft zu Gesicht bekommen. Dieser Gedanke machte mich irgendwie traurig. Aber es gab noch etwas anderes, das mich beschäftigte.

In der Zeitung hatte ich einen Bericht über seinen jüngeren Bruder gefunden. Oder eher Halbbruder. Hideaki, der an Heilig Abend eigentlich seine Verlobung hätte bekanntgeben sollen, hatte sich wohl von seiner Familie losgesagt. Details darüber hatte es nicht gegeben, aber ich hatte mir den Rest schon denken können. Immerhin hatte ich ja das Gespräch mit Masa-san belauscht. Da war es eindeutig, was passiert war. Hideaki hatte sich in Masa-san verliebt und sein Leben in Wohlstand aufgegeben.

Aber jetzt musste wohl ein anderer diese Lücke ausfüllen. Ob Hiroshi jetzt heiraten sollte? Wie er wohl darüber dachte? Ich hatte nicht sehr oft die Gelegenheit mit ihm zu sprechen, aber ich hatte ihn doch ganz gut kennengelernt. Er wirkte oft eiskalt, war aber ausgesprochen aufmerksam und zeigte mir immer Mitgefühl. Über die Arbeit sprach er eigentlich nie. Selbst für Geschäftstelefonate verließ er den Raum. Aber ich hatte das Gefühl, dass er sich gegen seine Familie nicht wehren würde. Selbst schien er kein großes Interesse an Frauen zu haben. Hochzeit und Familiengründung schienen für ihn kein Thema. Zumindest hatten wir nie wirklich darüber gesprochen. Wobei seine Gefühle für Masa-san in mir den Verdacht erregten, dass er kein sonderliches Interesse an Frauen allgemein hatte. Aber auch Männer waren wohl für ihn kein Thema. Nur mit Masa-san pflegte er wohl etwas Kontakt. Außerhalb der Arbeit hatte er wohl auch wenig Interessen. Er ging keinem Hobby nach, traf nie irgendwelche Freunde – zumindest meines Wissens nach – und schien keine bestimmten Pläne zu haben.

Ich holte die Reste der Pizza aus dem Kühlschrank, die ich mir gestern Abend bestellt hatte, und schloss ihn wieder. Wie sich herausgestellt hatte, war ich vor meiner Amnesie kein Koch gewesen. Wenn Hiroshi da war, hatte er etwas zubereitet. Ich musste es aber unbedingt lernen. Sonst würde ich hier nämlich gar keinen Beitrag leisten. Die Sache mit der Ablenkung war ja auch nicht gerade einfach umzusetzen, immerhin war er so gut wie nie hier. Während ich die Pizza warm machte und mich an der Kaffeemaschine bediente, grübelte ich über meine Situation nach.

Meine Erinnerungen hatten sich bisher nicht wirklich zurückgemeldet. Manchmal wusste ich wieder, welches Essen ich gern hatte oder was ich überhaupt nicht mochte. Beim Fernsehen hatte ich eine klare Tendenz zu alten Krimis. Aber ich kannte immer noch nicht meinen vollständigen Namen, oder meinen Geburtstag oder meine Adresse. Ich wusste nicht, wer meine Eltern waren, ob ich Geschwister hatte, ob ich noch zur Schule ging. War ich weggelaufen? Hatte man mich rausgeworfen? Warum war ich verprügelt worden? Oder hatte ich mich selbst geprügelt? War ich Opfer oder Täter? Hatte ich ein Ziel im Leben gehabt? Oder hatte ich so in den Tag hineingelebt? Manchmal stellte ich mir diese und unzählige weitere Fragen. So lange, bis ein stechender Schmerz in meinem Kopf jeden klaren Gedanken verdrängte.

Ich setzte mich mit meinem nicht gerade ausgewogenem Frühstück an den Tisch und schlang es stumm hinunter.

Ich wollte von Hiroshi gebraucht werden. Dieses Gefühl wurde für einen Moment unheimlich stark. Gleichzeitig wurde mir aber klar, dass es mir nicht um Hiroshi im Speziellen ging. Ich wollte allgemein, von irgendjemandem, gebraucht werden. Nach allem, was ich über mein vergangenes Leben wusste, war mir klar, dass ich einige Probleme gehabt hatte.

 

Nach dem Frühstück wusch ich artig das Geschirr, dann suchte ich mir eine Beschäftigung. Aber das war nicht so einfach. Ich wollte nicht fernsehen und die wenigen Bücher in den Regalen, die mich halbwegs interessiert hatten, hatte ich bereits alle durch. Ansonsten gab es nichts zu tun. Wie ich mich wohl früher beschäftigt hatte?