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Miriam wird in ihrer Familie nur noch wie das Heimchen am Herd behandelt. Doch jeder Versuch auszubrechen, wird mit Ignoranz und Vorwürfen bestraft. Sie weiß, dass sie es niemals ohne fremde Hilfe schaffen kann, ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Doch dann trifft sie auf die Bestsellerautorin Josephine Hopkins, die ihr nicht nur eine helfende Hand reicht, sondern auch den Schlüssel, zu einer neuen Zukunft. Selbstbewusstsein, Hoffnung und Liebe und zudem eine alte längst vergessene Leidenschaft, das Schreiben. Wird Miriam in der Lage sein, sich zu befreien und einem neuen aufregendem Leben zu stellen?
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Seitenzahl: 338
Veröffentlichungsjahr: 2023
Bianka Mertes
Love me, heal me
Mein Leben, meine Träume und ich
© 2029 Bianka Mertes
Oberwindhagener Str. 26a, 53578 Windhagen
Cover: Bianka Mertes
Bildmaterial: pixabay.de&depositphotos.com
Lektorat, Korrektorat: Lektorat Buchstabenpuzzle
(www.buchstabenpuzzle.de)
2. Auflage
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40–44,
22359 Hamburg
ISBN: 978-3-347-81080-8
Bianka Mertes
Love me, heal me
Mein Leben, meine Träume und ich
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Über die Autorin
Kapitel 1
Miriam saß in der Küche an dem kleinen Tisch, der gerade für zwei Personen Platz bot. Der Tisch, an dem sich in ihrem Leben mittlerweile alles drehte. An dem Miriam alles peinlichst genau organisierte und der einzige Ort, an den sie sich einmal zurückziehen konnte. Von den anderen würde sich keiner freiwillig in die Küche verirren, schließlich hieß das ›Arbeit‹, vor der sie sich in dieser Familie, jedenfalls zu Hause, alle drückten.
Jetzt saß sie hier wie jeden Sonntag, mit einer Tasse Kaffee und ihrem Terminkalender vor sich ausgebreitet. Es war mittlerweile 23 Uhr und außer ihr schlief schon alles. Ihr Kopf schmerzte und ihre Beine fühlten sich an wie Blei, jedoch ließ sich diese Arbeit nicht aufschieben. Sie stöhnte und sah sich die folgenden Tage an, die bereits voll ausgefüllt waren. Termine über Termine, keine Zeit dazwischen, die sie einmal für sich nutzen konnte. Ihre einzige Freizeit lag darin, einen Kaffee zu trinken, wenn alle anderen schliefen. Nur dann konnte Miriam einmal durchschnaufen und die Seele baumeln lassen.
Montag stand noch ein Besuch in der Schule ihrer jüngsten Tochter an, den sie irgendwie dazwischenschieben musste. Der Klassenlehrer ihrer jüngsten Tochter bestand darauf. Es ging um die Klassenfahrt und war daher wichtig, da musste sie einfach hin. Miriam schnaufte und ließ den Kopf auf die Hand sinken. Warum hatte der Tag keine 48 Stunden? Aber auch dann wäre der Kalender wahrscheinlich überfüllt. Wenn sie zum vereinbarten Termin da sein wollte, musste wohl ihr Termin beim Arzt ausfallen. Schweren Herzens nahm sie den Kugelschreiber zur Hand, strich den Arzttermin im Kalender und trug den Schulbesuch ein. Somit konnte sie alle wichtigen Termine unterbringen, nur keine Zeit für sich. Sie blätterte völlig fertig durch den Kalender, in dem es kaum einen Tag in der Zukunft gab, der nicht markiert war.
Miriam nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, setzte sich im Stuhl zurück und streckte die schmerzenden Beine unter dem Tisch aus. Sie legte den Kopf in den Nacken, während sie in Gedanken an früher schwelgte. Wann bitte hatte sich das eigentlich alles so entwickelt? Früher war das noch alles anders. Nachdem sie ihren Mann Robert kennenlernte, was übrigens nur ein seltsamer Zufall war, traf Miriam sich mit Freunden und zusammen unternahmen sie auch viel. Sie gingen feiern, lachten ausgelassen und verfügten über viele Gemeinsamkeiten. Damals ging sie auch noch ihrer geregelten Arbeit nach. Es gab kaum einen Tag, an dem sich Miriam nicht glücklich fühlte. Sie vermisste diese alten Tage, an denen sie noch ausgelassen lachen konnte und mit einem Gefühl durch die Gegend lief, als könnte sie nichts und niemand aufhalten.
Doch nach der Hochzeit fing alles an, sich zu ändern. Robert war kaum noch zu Hause, ging lieber arbeiten und war oft mit seinen Kollegen unterwegs. Dann kam das erste Kind und alles war vorbei. Nach und nach wurde sie zur Einsiedlerin. Arbeiten hatte Robert ihr strengstens verboten, sie sollte sich ausschließlich um den Haushalt und das Kind kümmern. Eine echte Lebensaufgabe, wenn die nicht so einsam machen würde. Denn durch den Umbau des Hauses, den Miriam zum größten Teil selbst erledigen musste, kam sie auch kaum noch vor die Tür. Gern hätte sie sich einmal mit anderen Müttern ausgetauscht, doch durch die ganze Arbeit, die sie erledigen musste, wurde ihr selbst das kaum noch möglich. Anfangs versuchte sie noch, mit ihrem Kind, so oft es ging, den Park zu besuchen. Sie liebte es, die Sonne zu genießen, den Vögeln zuzuhören und den anderen Kindern beim Spielen zuzusehen, während sie mit ihrer Tochter auf einer Bank kuschelte. Doch mit der Zeit wurde die Arbeit mehr und ihre Zeit für sich immer weniger.
Es folgten Kind zwei und drei. Und schließlich die kleine Nachzüglerin, mit der keiner gerechnet hatte. Und somit wandelte sich Miriams Schicksal komplett. Aus dem Haus kam sie nur noch zum Einkaufen und wenn die Termine es von ihr verlangten. Ansonsten Haushalt, die Kinder versorgen und dem Mann den Hintern hinterhertragen. Ein Leben, das sie so nicht vorhergesehen oder geplant hatte.
Jetzt war sie zweiundvierzig und vollkommen auf die Familie und ihre Bedürfnisse fixiert. Keine Freizeit, kein eigenes Leben. Doch ihre Wünsche und Sehnsüchte trug sie noch immer tief in sich verborgen.
Auch wenn ihre Kinder jetzt fast alle in einem Alter waren, in dem sie schon für sich allein sorgen konnten, hieß das noch lange nicht, dass sie die Bequemlichkeit ablegen würden. Im Gegenteil, es war nirgends so schön wie im ›Hotel Mama‹.
Luisa war mittlerweile dreiundzwanzig und ihre Ausbildung als Anwaltsgehilfin schon lange erfolgreich hinter sich gebracht. Sie arbeitete als Sekretärin in einer angesehenen Kanzlei. Kurzerhand verknallte sie sich in ihren Chef Tim und die beiden waren seit geraumer Zeit ein Paar. Doch von zu Hause ausziehen kam für sie nicht in Frage. Sie war das Modepüppchen in der Familie und wurde ihrem aufbrausenden Charakters wegen liebevoll Hexe genannt.
Ein Jahr später kam dann Marc auf die Welt. Er wusste noch nicht wirklich, etwas mit seinem Leben anzufangen. Hing lieber mit seinen Freunden ab und musste sich mit seinem Auftreten als Punk immer wieder in den Mittelpunkt stellen. Nach der Hauptschule hieß seine Lebensweisheit: Erst einmal etwas chillen. Doch mittlerweile wurden aus diesem ›etwas‹ schon fast sechs Jahre, in denen er nicht einmal Anstalten machte, sein Leben in den Griff zu bekommen, geschweige sich nach einem Job umzusehen. Wenn Miriam aber mal etwas sagte, weil sie damit absolut nicht zurechtkam, kam von Robert nur: ›Lass den Jungen mal machen, der braucht seinen Freiraum.‹
Leona, von allen Leni genannt, wurde gerade einundzwanzig. Sie war total aus der Art geschlagen. Nach ihrem Studium wollte sie unbedingt Kinderärztin werden, was ja an sich auch nicht schlecht war. Sie war genauso arbeitswütig wie ihr Vater und daher bekam Miriam sie eher selten zu Gesicht. Jedoch änderte sich das nach ihren sprunghaften Bekanntschaften. Sie musste sich ausgerechnet mit einem der Oberärzte einlassen, was seiner Frau gar nicht gefiel. Seit dem Tag, an dem alles rauskam, lebte sie auch wieder unter dem Dach ihrer lieben Familie.
Dann unerwartet für uns, kam die Nachzüglerin Sylvana zur Welt. Mit ihren fünfzehn Jahren wusste sie, im Gegenteil zu allen anderen, genau was sie wollte. Seit einem schweren Autounfall war sie allerdings an den Rollstuhl gefesselt. Und auch wenn sie etwas übergewichtig war und von allen in der Klasse Pummelchen genannt wurde, ließ sie sich von ihren Zielen nie abbringen. Mit ihrer Gutherzigkeit brachte sie sich zwar oft in Schwierigkeiten und war daher etwas zurückhaltender geworden, aber gerade sie war diejenige, die Miriam in allem unterstützte. Ein Mädchen aus dem einmal eine wunderbare Frau werden würde.
Über Robert gab es nicht mehr viel zu erzählen. Arbeitswütig wie eh und je. Manchmal bekam Miriam eher das Gefühl, als würde er sich nur drücken, ein Teil der Familie zu sein. War ja auch einfacher, die ganze Verantwortung abzugeben, anstatt sich selbst einmal zu kümmern.
Seitdem Sylvana auf der Welt war, nahm er nicht nur nicht mehr am Familienleben teil, nein, er hatte sich sogar aus dem gemeinsamen Schlafzimmer zurückgezogen. Robert schlief lieber im Wohnzimmer auf der Couch. Also war Miriam auch im Bett allein. Sie fühlte sich mittlerweile wie ein Hausmädchen, das auf ihren nächsten Einsatz wartete. Sie fühlte sich schon lange nicht mehr glücklich oder geliebt in ihrer Beziehung, eher einsam und unattraktiv. Natürlich hatten ihre vier Kinder ihren Körper in Richtungen geformt, die sie am liebsten nicht gehabt hätte. Vom ständigen zu- und abnehmen blieben Dellen und Schwangerschaftsstreifen, dennoch kein Grund, sie wie eine Aussätzige zu behandeln und einfach links liegen zu lassen. Es tat verdammt weh, vom eigenen Mann nicht mehr beachtet zu werden. Nur in ihren Träumen war sie noch der Mensch, der von ihrem Mann einmal begehrt wurde. In der Realität gab es keine Schmuseeinheiten oder Zärtlichkeiten. Küsse komplette Fehlanzeige. Sie fühlte sich nur noch wie eine Leibeigene, die keinen eigenen Willen mehr haben durfte. Miriam musste einfach nur funktionieren, Tag und Nacht. Ob sie es wollte oder nicht.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es schon fast eins war. Höchste Zeit, ins Bett zu gehen, denn um sechs klingelte der Wecker wieder und der ganze eintönige Trott würde von vorn beginnen.
Sie stöhnte und ging ins Badezimmer, um sich bettfertig zu machen, wobei Miriam ihr Spiegelbild genauer betrachtete. Ihre dunklen schulterlangen Haare hatte sie bereits aus dem Zopf gelöst, in Locken fiel es über die schlaffen Schultern. Jedoch sah sie eine matte, blasse Person im Spiegel, die nichts mehr von der Lebendigkeit aufwies, die sie früher einmal besaß.
Der Tag war anstrengend und hatte sie völlig geschafft. Sie legte sich eine Hand auf ihre fahle Wange und stöhnte. Wenn ihr Leben weiter so voranschreiten würde, wäre ihr Gesicht bald mit Sorgenfalten übersät.
Miriam griff nach der Creme, die ihr Gesicht wenigstens über Nacht regenerieren sollte und verteilte sie großzügig im Gesicht. Sie gähnte und streckte ihre verkrampften Muskeln, während sie ins Schlafzimmer schlurfte, ins Bett fiel und anschließend das Licht löschte. Es dauerte nicht lange, bis sich ihr Körper die Ruhe nahm, die er brauchte und sie im Land der Träume verweilte.
Es war erst 6:15 Uhr. Miriam war bereits gewaschen, fertig angezogen und der Kaffee lief auch schon. Gerade als sie den Frühstückstisch deckte, kam ihr Mann aus dem Wohnzimmer ins Esszimmer geschlurft.
Wie jeden Morgen standen seine Haare in alle Himmelsrichtungen ab, wobei ihm selbst das nicht schlecht stand. Auch mit seinen fünfundvierzig Jahren und dem leichten Ansatz von Grau, sah er noch gut aus.
Aber es war nur das trügerische Bild, das er aufrecht erhielt und stand in keinem Zusammenhang zu seinem Wesen. Er war ein Schauspieler, der nach außen hin den perfekten Ehemann und liebenden Vater mimte. Auch wenn das alles andere als der Wahrheit entsprach, beherrschte er seine Rolle perfekt. Wahrscheinlich war Miriam der einzige Mensch, der ihn auch ohne seine Maske kannte.
»Ich komme heute später nach Hause.« Ohne auf eine Antwort zu warten, trottete er weiter Richtung Badezimmer, wo er sein allmorgendliches Ritual in Angriff nahm. Die Zeitungen stapelten sich bereits auf dem kleinen Schränkchen neben dem Waschbecken.
Miriam seufzte genervt. Konnte er nicht wenigstens einmal früher daheim sein und etwas Zeit mit der Familie verbringen? Zudem konnte auch Miriam dringend etwas Unterstützung gebrauchen. Im Haus waren so viele Reparaturen angefallen, die sie nicht alle allein bewältigen konnte. Zudem geriet ihr Sohn mittlerweile völlig aus der Bahn und ihre Jüngste hätte bestimmt auch gern einmal wieder etwas mit der gesamten Familie unternommen. Doch das alles kümmerte ihn einen feuchten Kehricht. Hauptsache er konnte Überstunden schieben und dem allen entfliehen, sozusagen vor der Verantwortung drücken. Es war nicht leicht, die Familie zusammenzuhalten, wenn nicht alle an einem Strang zogen und jeder nur noch das machte, was er für richtig hielt. Sie waren eine Familie, warum kümmerte das keinen? Doch mittlerweile quälte Miriam noch ein ganz anderer Verdacht, den sie bis jetzt für sich behielt. Handelte es sich wirklich nur um Überstunden, oder existierte eine andere Frau, die ihn glücklich machte und Miriams Platz einnahm? Doch das waren nur Spekulationen und sie verfügte über keinerlei Beweise.
Ein schmerzhafter Stich fuhr durch ihr Herz, der allein nur bei dem Gedanken daran immer heftiger wurde. Auch wenn sie sich mittlerweile auseinandergelebt hatten, gab es ja einmal eine Zeit, in der sie sich liebten. Wobei sich bei ihr das Gefühl so allmählich verabschiedete. Denn die glückliche Zeit war schon längst zurückgelassen, während sie die Realität schneller einholte, wie ein D-Zug fahren konnte. Zurück blieben nur ein trauriges Gefühl und eine Sehnsucht, die Robert jedenfalls nicht mehr stillen wollte.
Miriam sah auf die Uhr. In zehn Minuten würden auch die anderen eintrudeln und ihr Frühstück einfordern. Keine Zeit, sich jetzt über ihren Mann Gedanken zu machen.
Es folgte der gleiche Trott wie jeden Wochentag. Alle setzten sich an den Tisch, schaufelten das Frühstück in sich hinein und verschwanden wieder. Miriam blieb allein mit dem Chaos zurück, das sie auch ohne ein weiteres Wort erledigte, schließlich hatte sie auch keine große Wahl.
»Soll ich dir helfen, Mama?« Ausgerechnet Sylvana, die mit ihrem Rollstuhl schon mehr als genug Schwierigkeiten in der kleinen Wohnung hatte, bot ihre Hilfe an. Sie kam eindeutig nicht nach ihrem Vater und darauf war Miriam am meisten stolz. Wobei sie mehr Grips im Kopf besaß, als manch anderer in dieser Familie. Auf der Stelle wurde Miriams Herz schwer wie ein Stein und sie hockte sich zu ihrer Tochter.
»Nein, bin schon fertig.« Sie lächelte die Kleine an und versuchte, ihren Unmut und die Enttäuschung zu überspielen. Sylvana musste schon genug ertragen, da brauchte sie sich nicht auch noch um die Probleme ihrer Mutter zu sorgen.
Doch Sylvana war nicht auf den Kopf gefallen, sie hatte bereits schon zu viel mitbekommen, wie Miriam schließlich erfahren musste. Das Gesicht ihrer Tochter verzog sich zu einem grimmigen und sie stemmte die Hände in die Hüften, während sie Miriam böse ansah.
»Glaubst du wirklich, ich merke nicht, wie es dir geht? Mama, du solltest endlich auch einmal an dich denken.«
Auch wenn Miriam immer die Harte spielte, was ihr nicht besonders leicht viel, öffneten sich bei den Worten ihrer Tochter jedoch die Pforten der Tränen. Schnell strich sie sie wieder aus dem Gesicht und nahm Sylvanas Hand in ihre, die sie liebevoll streichelte.
»Hör zu, Schatz. Ich freue mich, dass du an mich denkst, aber hier gibt es so viel zu tun und ich bin nun mal die Einzige, die sich um alles kümmert. Mir geht es gut und es reicht mir, wenn ich weiß, dass ihr an mich denkt.« Seicht streichelte sie den dunklen Lockenkopf, während Sylvana sie misstrauisch beäugte.
Miriam war keine gute Lügnerin, doch Sylvana beließ es erst einmal dabei. Sie wusste, dass sie ihre Mutter nicht so schnell umstimmen konnte. Außerdem war es langsam allerhöchste Zeit, in die Schule zu kommen.
Kapitel 2
Alle waren bereit und warteten nur noch auf Miriam, die sich noch die Jacke überzog, dann konnte das allmorgendliche Ritual weiter seinen Lauf nehmen. Die ganze Familie quetschte sich in den blauen Mini und hoffte, ohne Blessuren wieder aussteigen zu können. Nur Marc blieb verschont, der anstatt sich Arbeit zu suchen, lieber bis in die Puppen schlief.
Zuerst lieferte Miriam ihren Mann ab, danach folgte Leona, kurz darauf Luisa und zum guten Schluss fuhr Miriam Sylvana zur Schule. Nur gut, dass sie dort einen zweiten Rollstuhl deponiert hatten, denn es war schlicht unmöglich, den auch noch in den Mini zu quetschen.
»Bis später, mein Schatz«, verabschiedete Miriam sich von ihrer Tochter, die sie ganz fest in die Arme nahm. Miriam wusste, dass sie ihren Kummer spürte und umso schwerer fiel es ihr, die gute Miene aufrecht zu erhalten. Schweren Herzens gab sie Sylvana noch einen Kuss, bevor sie in das Schulgebäude rollte. Sie sah Sylvana noch nach, bis sie verschwunden war, seufzte schwer und setzte sich dann hinter das Lenkrad.
Drei Sunden später schloss sie endlich die Haustür auf. Nicht mehr lange und sie konnte schon wieder losfahren und ihre Familie wieder einsammeln. Der Einkauf nahm diesmal mehr Zeit in Anspruch als sonst. Nachdem sie Sonntags bereits alle Angebote herausgeschrieben hatte, wurde Miriam schon bewusst, dass an der Fleischtheke eine Horde von wildgewordenen Hausfrauen auf sie warten würde. Rinderrouladen und Hackfleisch zu einem unschlagbaren Preis, da schlug wohl jeder zu. Der Schlange nach zu urteilen, war sie wirklich nicht die Einzige, die so dachte. Alle waren bereits früh auf den Beinen, nur um das beste Stück Fleisch zu ergattern. Am liebsten wäre sie allein bei dem Anblick der Schlange von Kunden wieder herumgedreht. Doch das I-Tüpfelchen war, als diese dicke, alte, schnaufende Frau meinte, sie könnte sie einfach über den Haufen rennen und sich vordrängeln. Auch wenn Miriam sich zu Hause nicht durchsetzen konnte, bei den Angeboten wurde sie zur Furie. Da ließ sie sich nichts streitig machen und wunderte sich jedes Mal über sich selbst, warum sie das bei ihrer Familie nicht konnte. Aber insgeheim wusste Miriam warum. Es war einfach nur pure Angst, irgendwann allein dazustehen. Kein Beruf, kein Geld, keine Hoffnung, auf eigenen Beinen stehen zu können. Zudem kamen noch die Sorgen um Sylvana, die sie brauchte und sich auf Miriam verließ.
Sie stöhnte sorgenvoll und ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen. Ihre Beine schmerzten und sie war bereits jetzt total geschafft. Doch noch war der Tag nicht vorüber. Das Mittagessen wartete noch darauf, vorbereitet zu werden, und ihre Kinder musste sie auch nachmittags wieder einsammeln. Ein langer Tag, den sie gern anders verbracht hätte. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, was sie alles mit dieser Zeit anstellen könnte, denn dann würde sie in Selbstmitleid verfallen und das konnte sie absolut nicht gebrauchen. Sie musste stark sein, auch wenn ihr das nicht immer leicht fiel. Nur ihr Mann kam ja später nach Hause und so wie es aussah, würde er wohl gebracht werden. Ansonsten müsste sie später noch einmal ins Auto steigen und losfahren.
Wie gern hätte sie nur einmal einen Tag erlebt, der sich nur um sie drehte. Sie lachte kurz bei dem Gedanken daran, denn in diesem Leben würde das wohl nicht mehr geschehen.
Lustlos stand sie wieder auf und verstaute die Einkäufe, bevor sie sich einen Kaffee aufsetzte, um wach zu bleiben. Denn ohne den würde sie den Tag nicht überstehen.
»Guten Morgen.« Erschrocken drehte sie sich zu ihrem Sohn um. Ein Blick auf die Wanduhr verriet ihr, dass das absolut noch nicht seine Zeit war. Normalerweise schlief er mindestens bis fünfzehn Uhr.
»Bist du aus dem Bett gefallen?«, wollte sie erstaunt wissen, während sie sich eine Tasse aus dem Schrank holte.
»Nein, Peter hat einen dreitägigen Ausflug geplant und ich weiß echt nicht, warum ich da so früh antanzen muss.«
Er stand gähnend im Türrahmen und zerwühlte sich seine ohnehin schon in alle Himmelsrichtungen abstehenden Haare.
Miriam sah ihn verdattert an. Nicht nur, dass sie davon überhaupt nichts wusste, aber was sie noch nachdenklicher werden ließ, war die Frage, woher er das Geld dafür hatte. Sie glaubte nicht, dass Peter das übernehmen würde, denn so viel konnte er in seiner Ausbildung schließlich auch nicht verdienen.
»Und woher hast du das Geld dafür?«, fragte sie geradeheraus. Mit Arbeit das Geld verdienen, kam für ihn absolut nicht in Frage, da musste man ja früh aufstehen und was noch schlimmer war, sich bewegen.
»Papa hat es mir gegeben. Er meinte, ich soll mir eine schöne Zeit machen«, erklärte er Miriam trocken, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.
Er gähnte erneut und setzte sich schlaksig an den Tisch.
Miriam blieb der Atem im Hals stecken. Sie musste das ganze Wochenende damit Zeit verbringen, die Sonderangebote zu durchforsten, damit sie den Monat über die Runden kamen und Robert warf Marc das Geld in den Rachen? Also irgendwie lief in dieser Familie ganz gewaltig etwas falsch. Das ging eindeutig zu weit. Vor allem würde Marc sich so nie eine Arbeit besorgen. Warum auch, er bekam ja alles von seinem Vater in den Hintern geschoben. Wie gern hätte sie ihn zur Rede gestellt, doch da Robert das Geld nach Hause brachte, war dieses Thema tabu für Miriam, das stellte er von Anfang an klar. Anfang des Monats knallte er ihr das Haushaltsgeld auf den Tisch, das bei normalen Familien gerade für eine Woche reichte. Wenn sie Mehrausgaben hatte, wie zum Beispiel bei der Klassenfahrt ihrer Tochter, hieß es: »Spare es beim Haushaltsgeld ein. Du bekommst ja genug.«
Klar, für eine Person vielleicht, jedoch musste sie damit einen fünf Personenhaushalt ernähren. Sie fragte sich echt manchmal, wie er sich das vorstellte.
Sie verstand weder Marc, der so faul wie ein Faultier war, noch ihren Mann, der sie bei allem knapp hielt. Wie gern hätte sie selbst etwas dazu verdient, um Sylvana und sich selbst auch mal etwas zu gönnen, aber selbst das hatte er ihr ja verwehrt.
»Du bist wohl wahnsinnig. Kümmer dich um den Haushalt und die Kinder, dann hast du genug zu tun«, war seine Antwort, nachdem sie in der Zeitung eine freie Stelle, als Verkäuferin gefunden hatte und sich bewerben wollte.
Nachdem sie ihm erklärte, dass sie das Geld gut gebrauchen konnten, flippte er völlig aus.
»Du bekommst genug, dann musst du eben besser haushalten«, waren seine abfälligen Worte.
Noch weniger und es blieb nicht mal mehr etwas für ihren Kaffee übrig, ohne den sie die ganze Tortur nicht überleben würde.
Sie hatte keinen Überblick über die Finanzen, wie viel Geld verdiente ihr Mann im Monat wirklich? Jedenfalls musste er noch genug übrig haben, um es Marc in den Hintern schieben zu können.
»Wie viel?« Sie konnte einfach nicht anders, als zu fragen. Es ließ ihr einfach keine Ruhe.
»Ist das nicht seine Sache?« Marc sah sie genervt an, als wäre es eine Strafe, ihn um diese Uhrzeit anzusprechen.
Miriam rechnete mit allem, aber nicht mit einer solchen Antwort. Und zum ersten Mal platzte ihr so richtig der Kragen. Sogar die Folgen waren ihr mittlerweile egal. Schlimmer konnte es ohnehin nicht mehr für sie werden.
»Nein, ist es nicht«, schrie sie schon fast wütend heraus. »Ich werde hier jeden Monat so kurz gehalten, dass ich jeden Cent dreimal rumdrehen muss, während er das Geld zum Fenster herausschmeißt. Zudem könntest du auch langsam mal deinen Hintern in Bewegung setzen und dein eigenes Geld verdienen. Also wie viel hat er dir gegeben?« Marc sah so verblüfft drein, dass er im ersten Moment keinen Ton heraus bekam. Erst als Miriam ungeduldig die Hände in die Hüften stemmte und ihn sauer ansah, schien er aus seinem Winterschlaf zu erwachen.
»250€«, gab er schließlich kleinlaut zu.
»250€?« Miriam brachte die Frage nur noch verdattert und ungläubig heraus. Sie lachte geschockt auf und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Das war echt zu viel. Sie konnte nicht glauben, was sie gerade hörte. Und wieder drängte sich eine Frage in ihren verwirrten Kopf. Was zur Hölle verdiente Robert wirklich, wenn er so mit dem Geld um sich schmeißen konnte? Zudem, wie viel Geld scheffelte er in seine Geldbörse und wofür? Denn normal war das ja wohl nicht und es musste einen Grund dafür geben.
Oder es gab jemanden, mit dem er es lieber durchbrachte, wobei sie ihre Gedanken wieder zu ihrem ersten Verdacht führten. Hatte er eine andere? Auch wenn Miriams Liebe zu Robert sich über die Jahre der Unterdrückung verflüchtigte, zog sich ihre Brust bei diesem Gedanken schmerzlich zusammen. Sie erstickte fast bei der Ungewissheit.
Miriam entschied sich dazu, Mark ziehen zu lassen. Es machte sowieso keinen großen Sinn, sich deswegen mit ihm anzulegen. Das müsste allein ihr Mann ausbaden. Zudem verstärkte sich auch der Verdacht immer mehr in ihr, dass er eine Affäre hatte, je mehr Miriam darüber nachdachte. Denn welcher Bauarbeiter kam jeden Abend erst nach 23 Uhr nach Hause, wobei es da schon stockduster war?
Gegen 16 Uhr holte sie dann Sylvana wieder von der Schule ab, die sofort spürte, dass Miriam anders war als sonst. Während Miriam ihr half, sich auf den Beifahrersitz zu setzen, versuchte sie, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
»Und wie war dein Schultag heute?« Wenn Miriam eins konnte: Geschickt vom Thema ablenken. Dennoch wusste sie auch, dass Sylvana nicht auf den Kopf gefallen war. Gerade sie wäre wahrscheinlich die Einzige, der es sofort auffallen würde. Zudem war sie ja auch die Einzige, die sich für Miriams Befinden und Probleme interessierte.
»So wie immer. Viel Blabla und wenig lehrreich.«
Sie grinste Miriam breit entgegen, die sich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Wenigstens Sylvana schaffte es immer wieder, sie ein wenig aufzumuntern.
»Okay, ich hoffe nur, dass du so auch deinen Abschluss schaffst.«
»Mama, du kennst mich doch, was die Lehrer uns nicht beibringen, lerne ich aus Büchern. Die wissen im Übrigen sowieso viel mehr als manche Lehrer an unserer Schule.«
»Meine kleine Lesemaus.«
Miriam lachte, strich ihr sanft über den Kopf und drückte ihr einen liebevollen Kuss auf die Stirn, bevor sie vorne einstieg und sich selbst anschnallte.
Sylvana war nicht immer so drauf gewesen. Früher wurde sie oft wegen ihres Übergewichtes, was sie allein der Unbeweglichkeit zu verdanken hatte, gemobbt. Erst nachdem sie die Schule wechselte und Freunde fand, ging es mit ihr jeden Tag ein Stück bergauf. Sie war stolz auf ihre Tochter, die sich, im Gegensatz zu sich selbst, nicht fertigmachen ließ. In dieser Beziehung konnte Miriam wirklich noch einiges von ihr lernen.
Sie startete den Motor und wollte gerade losfahren, als Sylvana die Frage stellte, die Miriam hoffte, nicht von ihr zu hören.
»Was ist heute los mit dir?«
Sylvana sah ihre Mutter ernst an. Es war klar, dass Miriam ihr nichts mehr verheimlichen konnte, trotzdem tat sie erst einmal auf nichtswissend.
»Was meinst du?«, fragte sie stattdessen und hielt den Blick sturheil auf die Straße gerichtet.
»Du weißt schon, dass ich merke, wenn du versuchst, mir etwas zu verheimlichen, oder?« Ja, das wusste sie nur zu gut. Im Schauspielern hätte sie wahrscheinlich eine glatte Sechs kassiert. Dennoch hatte sie jetzt keine große Lust, ihre Probleme im Auto vor ihrer Tochter auszubreiten.
»Wir reden darüber, wenn wir zu Hause sind, okay?« Ein kurzer Blick zu ihrer Tochter ließ sie wissen, dass Sylvana nicht klein bei geben würde. Jedenfalls nickte sie und beließ es vorerst dabei. Erleichtert atmete sie aus.
Eine kleine Gnadenfrist, die jedoch schneller im Nichts verpuffte, als sie gedacht hätte.
Miriam fuhr gerade in die Hauptstraße ein, als sie beinahe eine Vollbremsung hinlegte. Erschrocken sah Sylvana zu ihrer Mutter, die wie hypnotisiert einen Punkt in der Gegend fixierte und unter Schnappatmungen zu leiden schien. Sie folgte schließlich dem Blick ihrer Mutter und ihr blieb der nächste Atemzug im Hals stecken.
»Das … das ist doch Papa, oder?«, stotterte sie fragend, während sie besorgt Miriams Gesicht musterte.
»Ja, das ist Papa.« Miriam konnte keine andere Antwort geben. Ein Kloß hatte ihr den Hals zugeschnürt, sodass sie kaum noch Luft bekam. Sie schluckte fest, um ihn wieder loszuwerden. Und es dauerte eine ganze Weile, bis sie wirklich realisierte, was sich da gerade vor ihren Augen abspielte. Ihr eigener Mann knutschend mit einer Blondine mittleren Alters. Und das keine fünfhundert Meter von der Schule seiner Tochter entfernt. Eigentlich sollte sie ihn sofort zur Rede stellen, doch ihr Herz schmerzte im Moment so sehr, dass sie sich kaum rühren konnte.
Es war ja nicht so, als hätte sie es nicht schon vermutet, es dennoch mit eigenen Augen zu sehen, tat verdammt weh, auch wenn sie schon lange nicht mehr so für ihn empfand wie damals. Zudem musste er es auch nicht so offensichtlich machen und schon gar nicht auf die Gefahr hin, dass seine eigene Tochter es sehen könnte. Wie konnte er nur. Sie ballte sauer die Fäuste.
Sylvana sah wieder zu ihrer Mutter, der eine Träne der Wut über das Gesicht kullerte, sich jedoch ein Lächeln ins Gesicht zwang und sich wieder ihrer Tochter zuwandte.
»Fahren wir heim. Du hast bestimmt Hunger.« Ohne auf eine Antwort zu warten gab sie Gas und war froh, um die nächste Ecke biegen zu können, um dieses Elend nicht länger sehen zu müssen. In ihrem Inneren brodelte es, doch sie würde den Teufel tun, ihn jetzt in aller Öffentlichkeit zur Rede zu stellen. Die Genugtuung würde sie ihm nicht gönnen.
»Was machst du jetzt, Mama?« Das war die erste Frage von Sylvana, nachdem Miriam ihr in den Rollstuhl half und in die Küche schob. Und um ehrlich zu sein, wusste sie keine Antwort darauf. Ihr gingen gerade zu viele Sachen durch den Kopf.
»Wirst du dich von Papa trennen?« Miriam sah ihre Tochter traurig an. Sie wusste es wirklich nicht. Aber eine Trennung? Sie hatte all die Jahre in ihrer Ehe kein einziges Mal auf eigenen Beinen gestanden und war nicht gerade zuversichtlich, ob sie das jetzt auch noch konnte. Zudem konnte sie auch nicht die Familie von heute auf morgen im Stich lassen.
»Ich weiß überhaupt nichts mehr«, gab sie das erste Mal offen und ehrlich zu.
Die Angst, von heute auf morgen allein dazustehen und für alles selbst zu sorgen, durchzog ihren Körper. Erschöpft ließ sie sich auf einem der Stühle nieder und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
»Aber das kannst du doch nicht mit dir machen lassen, Mama. Es ist ja nicht nur Papa. Alle behandeln dich doch wie eine Sklavin, die zu parieren hat.«
Miriam sah ihre Tochter erstaunt an. Sie hätte nie vermutet, dass ausgerechnet einer Fünfzehnjährigen all diese Sachen auffielen, die sie selbst über die Jahre verdrängte. Sylvana war weitaus reifer als Miriam mit 42.
»Wieso bist du nur so schlau?« Sie strich ihrer Tochter sanft über den Kopf und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Ganz einfach. Weil ich mehr von dir als von Papa geerbt habe.« Miriam lachte los. So ein Kompliment hatte sie schon lange nicht mehr bekommen.
»Aber trotzdem ist das alles nicht so einfach, mein Schatz. Ich habe weder Arbeit noch Geld gespart. Zudem habe ich euch gegenüber auch eine große Verantwortung. Wie soll das alles werden, wenn ich von heute auf morgen das Handtuch schmeiße? Das kann ich nicht machen.« Auch wenn sie es gern versucht hätte, ihr fehlte einfach der Mut dazu. Was sollte denn aus Sylvana werden, wenn sie einen Fehlschlag erlitt? Nein, das war zur Zeit absolut unmöglich.
Sylvana sah sie nachdenklich an und Miriam fragte sich, was jetzt wieder in diesem hübschen Köpfchen vor sich ging. Dieses Mädchen war echt einzigartig und den anderen im Benehmen und Denken weit voraus.
»Hattest du mir nicht einmal erzählt, dass du früher gern geschrieben hast?«
»Oh Gott, weißt du, wie lange das schon her ist? Das war ja schon fast in der Steinzeit.« Miriam lachte bei dem Gedanken daran.
»Na und, so was verlernt man doch nicht. Du hast Angst, nicht auf eigenen Beinen stehen zu können, und Papa wird dich nie arbeiten gehen lassen. Also muss etwas her, was du heimlich und von hier aus machen kannst. Und was wäre da besser geeignet?« Miriam sah ihre Tochter verwirrt an. Auch wenn sie es nicht für möglich hielt, brachte Miriam der Gedanke ihrer Tochter wirklich zum Nachdenken.
»Aber das heißt ja nicht gleich, dass ich damit auch Geld verdienen kann«, gab sie schließlich zu bedenken.
»Hast du es denn schon versucht?« Sylvana verdrehte genervt die Augen.
Sylvana hatte recht. Sie hatte es nicht versucht und wusste nicht, ob sie Erfolg haben würde, dennoch machte ihre Tochter ihr das gerade schmackhaft. Früher war Miriam schließlich auch nicht so schlecht im Schreiben, wobei zwei ihrer Geschichten sogar schon einmal in der Zeitung waren. Klar, ein Käseblättchen, aber auch die konnten sich ihre Artikel aussuchen.
»Nein und vielleicht hast du wirklich recht. Ein Versuch kann nicht schaden. Vor allem habe ich nichts zu verlieren.« Sie lächelte die Kleine nachdenklich an.
»Und komm mir jetzt nicht damit, dass du keinen Laptop hast. Du kannst meinen haben, wenn du einen brauchst. Gut, dann wäre das ja geklärt und wenn du so richtig berühmt bist, schmeiß Papa raus.« Sylvana saß grinsend in ihrem Rollstuhl und drohte Miriam mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger. Sie hatte recht, sie kam eindeutig nicht nach ihrem Vater.
»Okay.« Sie schloss ihre Tochter überschwänglich in die Arme und eine Träne der Freude und des Stolzes verließ ihre Augen. Sylvana war das lebendige Beispiel einer liebenden Tochter und würde ihren Weg bestimmt bravourös meistern. Da war sich Miriam absolut sicher. Wobei sie sich manchmal wünschte, sie könnte sich nur eine kleine Scheibe von ihr abschneiden.
Miriam lag bereits im Bett und dachte noch über Sylvanas Worte nach, als sie hörte, wie ihr Mann die Tür aufschloss. Sie sah auf den Radiowecker. 0:31 Uhr, bestimmt keine Uhrzeit, an der er noch arbeiten würde. Die Gedanken überschlugen sich und ihr wurde schlecht bei dem Gedanken daran, was er wohl mit dieser Frau alles angestellt haben könnte. Dreiundzwanzig Jahre Ehe setzte er einfach so aufs Spiel und behandelte seine eigene Ehefrau wie eine Leibeigene ohne eigenen Willen, während er mit einer anderen auf Liebkind machte. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie das noch über sich ergehen lassen musste. Und schon schien ihr Sylvanas Vorschlag der einzige Ausweg aus ihrer jetzigen Situation zu sein.
Doch zuerst sollte Miriam sich an Gedichten oder kleinen Geschichten versuchen, bevor sie sich an einen Wälzer wagte. Sie hatte lange nichts mehr zu Papier gebracht und wenn Miriam wirklich Erfolg haben wollte, musste sie sich langsam wieder in die Materie einarbeiten. Denn so einfach schrieb sich kein Buch, vor allem wenn man nicht einmal über ein geeignetes Thema verfügte.
Für kurze Geschichten hatte sie schon eine Menge Ideen in ihrem Kopf herumspuken, bis sie ins Bett gegangen war. Jedoch musste auch das alles heimlich vonstattengehen. Sie wollte sich gar nicht erst ausmalen, was passieren würde, wenn Robert oder die anderen davon erfahren würden. Miriam gähnte und streckte ihre müden Knochen, bevor sie auf den Wecker sah.
Vorher jedenfalls musste sie erst einmal schlafen. Der nächste Tag würde wieder genauso anstrengend sein wie dieser. Den Termin in der Schule hatte sie nach dem ganzen Stress lieber auf morgen gelegt, wenn sie sich wieder beruhigt hatte. Ansonsten hätte sie bei einem falschen Wort des Lehrers vielleicht doch noch die Geduld verloren und das, obwohl der arme Kerl nicht einmal etwas dafür konnte.
Der nächste Tag verging wie alle anderen auch. Frühstücken, alle ins Auto, alle raus lassen und nach an einem langen anstrengenden Tag wieder einsammeln. Marc war der Einzige, der ihr nicht in die Queere kam, da er ja noch mit seinen Freunden auf Tour war. Ihr Mann meinte, er müsste wieder länger arbeiten und wie das aussah, wusste sie ja bereits. Dafür brauchte selbst sie nicht einmal eine hohe Vorstellungskraft. Sie hoffte nur, dass er sich mit der blonden Tussi nicht übernahm und total mit seinem Geld verausgabte. Nur ließ sie sich in seiner Gegenwart nichts anmerken und spielte weiterhin das kleine Dummchen.
Den Termin in der Schule hätte sie sich eigentlich auch sparen können. Sie musste nur hin, um schließlich zu erfahren, dass Sylvana sich gut gemacht hatte und keine Probleme verursachte, es fiel nicht einmal ein Wort über die Klassenfahrt. Das hätte man ihr auch getrost am Telefon erzählen können, dann hätte sie sich nicht so abhetzen müssen und ihren eigenen Termin beim Arzt wahrnehmen können.
Vollkommen geschafft fiel sie am Abend ins Bett. Jedoch hatte sich eine Kleinigkeit geändert. Miriam sammelte durch den ganzen Tag hinweg so viel an Inspiration, dass sie diese als Kurzgeschichten zu Papier brachte. Ohne zu bemerken, wie schnell die Zeit verging, sah sie um 2:38 Uhr erschrocken auf den Wecker.
»Oh Gott. Ich muss in gut drei Stunden schon wieder aufstehen.«
Ihren Mann hörte sie auch noch nicht nach Hause kommen, also wurde es wohl noch später als sonst. Aber vielleicht kam er ja auch gar nicht mehr zurück.
Sie legte schnell den Block und den Kugelschreiber zur Seite, streckte ihre müden Knochen noch einmal kurz und schlief auch sofort darauf ein.
Miriam träumte gerade von ihren zu Papier gebrachten Geschichten, als sie beim grellen Ton des Weckers aus dem Schlaf hochschreckte. Müde und gerädert stellte sie ihn aus und setzte sich auf. Sie rieb sich über ihre noch halb geschlossenen Augen und gähnte herzhaft.
Ihr Blick fiel auf die geschriebenen Zeilen, die neben ihr auf dem Bett lagen. Nachdenklich nahm sie eine der Geschichten in die Hand, die sie gestern Nacht noch schnell zu Papier gebracht hatte, und las sie sich noch einmal durch.
»Oh man, was habe ich da bloß für einen Mist geschrieben.«
Die Idee zur Geschichte war an sich nicht schlecht gewesen, doch ihre Umsetzung dafür grauenhaft.
Kopfschüttelnd zerdrückte sie die Seite in der Hand und sortierte die restlichen Texte nach ihrer Tauglichkeit. Zum guten Schluss besaß sie noch ganze zwei Seiten von sieben. So schlecht waren die Aussortierten nicht, aber irgendetwas gefiel Miriam noch nicht so richtig und sie wollte es richtig machen, schon für Sylvana.
Sie sollte es nicht überstürzen und sich Zeit nehmen, damit die Ideen und Geschichten reifen konnten. Die zwei übrig gebliebenen Zettel legte sie sorgfältig in ihren Nachttischschrank und schwang ihre müden Knochen aus dem Bett. Sie streckte sich gähnend, zog sich an und sammelte die zerknüddelten Seiten ein, die sie im Hausmüll entsorgen wollte. Genervt über den bevorstehenden Tag, schlurfte sie in die Küche, entsorgte ihre Ideen im Müll und begab sich an die Vorbereitungen des Frühstücks.
Dann setzte sie sich erst einmal eine starke Tasse Kaffee auf, die sie durch den Vormittag bringen sollte, denn ohne wäre sie wahrscheinlich sofort im Stehen wieder eingeschlafen.
Nach und nach versammelten sich alle im Esszimmer, nur von ihrem Mann konnte sie noch nichts gesehen. Nachdem sie im Wohnzimmer nachsah, musste sie entgeistert feststellen, dass er die Nacht offensichtlich nicht zu Hause verbracht hatte. Wo er schlief, darüber brauchte sie sich ja keine großen Gedanken machen. Auch wenn Miriam ihr Leben in eine neue Bahn lenken wollte, ging es ihr dennoch ziemlich nahe. Sie schluckte und versuchte, ihre Fassung zurückzugewinnen und sich nicht ihrer Traurigkeit darüber hinzugeben. Vor den anderen so aufzutauchen, schien ihr nicht gerade richtig zu sein. Sie hatte bis jetzt gekämpft und die Strake gemimt, trotzdem war auch Miriam irgendwann am Ende.
Außerdem waren die sowieso alle, außer Sylvana, auf Roberts Seite.
Mit einem Mal hörte sie lautes Gegröle aus der Küche und atmete tief durch. Wenigstens die hatten ihren Spaß. Sie straffte die Schultern und rannte nichts ahnend direkt in ihr Verderben.
In der Küche stand Luisa mit einem zerknitterten Zettel in der Hand und las lachend die Zeilen vor, die Miriam sehr bekannt vorkamen. Warum bitte holten die den aus dem Müll? Wobei die sonst nie an die Mülleimer gingen, geschweige denn, den freiwillig leerten. Miriam schoss die Schamesröte ins Gesicht und der Puls schlug ihr bereits bis zum Hals, wobei er einen Kloß bildete, der ihr das Atmen unheimlich erschwerte.
Luisa und Leona stritten sich darum, wer die nächsten Zeilen vorlas und Sylvana saß hilflos in ihrem Rollstuhl und versuchte, sie daran zu hindern. Wenn Miriam das gewusst hätte, hätte sie die Briefe lieber verbrannt, als sie im Hausmüll zu entsorgen.
»Wer bitte verzapft so einen Mist?« Leona hatte den Zettel ergattert und kam aus dem Lachen nicht mehr heraus.
»Besonders die Überschrift ist der absolute Hammer - Der Fluss der Wahrheit - wer bitte schreibt so einen schmalzigen Scheiß.«
Miriam schluckte. Sie wusste ja, dass ihre Familienmitglieder nicht gerade die größten Leser waren, aber das übertraf wirklich ihre schlimmsten Befürchtungen. Sie fing gerade erst an, sich mit dem Vorschlag von Sylvana anzufreunden, und ihre Projekte steckten noch in den Kinderschuhen, doch selbst sie rechnete nicht mit einer solch heftigen Reaktion. Wobei sie gerade darüber nachdachte, dass es besser sei, wieder aufzuhören. Denn es konnte nur noch schlimmer als besser werden, so wie die sich gerade aufführten.
»Das gehört mir, gib es her.«
Sylvana schlug immer wieder auf das rechte Bein von Leona ein, die sie nur grinsend ansah und den Zettel demonstrativ in die Höhe hielt.
»Du willst mir doch nicht weismachen, dass dieser Schund von dir ist?«
Miriam kribbelte es bereits unter den Nägeln, ihnen die Leviten zu lesen, doch Sylvana kam ihr als rettender Engel zuvor.
»Das ist ein Schulprojekt. Was kann ich dafür?«
Sauer stemmte Sylvana die Hände in die Hüften.
»Obwohl, wenn ich so darüber nachdenke, passt das absolut zu unserem lesenden Pummelchen.« Luisa zwinkerte Leona verschwörerisch zu, die den Zettel von ihr entgegennahm.
»Was interessiert es euch? Ihr habt ja noch nicht einmal ein Buch außerhalb der Schule in die Hand genommen.«
Sylvana zog einen Schmollmund und Miriams Herz sank ihr in die Hose. Ihre jüngste Tochter versuchte hier gerade mit allen Mitteln, Miriams Zukunft zu retten, wohingegen alle anderen sich ihren Mund darüber zerrissen und ihr Schaffen in den Dreck zogen. Wütend ballte sie die Hände und ihr Pulsschlag hämmerte gegen ihren Brustkorb. Sie hatten nicht das Recht, ihre jüngere Schwester so fertigzumachen, zudem die geschriebenen Zeilen auch von Miriam stammten. Sie wollte und konnte es nicht zulassen, dass Sylvana alles auf sich nahm.