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Drei der beliebten Patchwork hoch Bücher in einer Serie vereint. Jedes Buch ist in sich abgeschlossen. Erste Liebe, Verzweiflung und das Leben in einer Patchworkfamilie, da kommen viele Probleme auf unsere Protagonisten zu. Doch Probleme sind zum Lösen da und das versuchen die Mädels und Jungs in dieser Serie. Natürlich müssen sie dazu erst einmal ihre eigenen Gefühle in den Griff bekommen. Gefühle, vor denen sie das erste Mal in ihrem Leben stehen. Denn die Liebe schlägt manchmal wie ein Blitz ein und sich dagegen zu wehren fällt jedem schwer. In diesem Sammelband sind enthalten: Patchwork hoch Eins: Total verpeilt Patchwork hoch Fünf: Pure Verzweiflung Patchwork hoch Sieben: Chaos inklusive
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Bianka Mertes
Sammelband 2
Die geschilderten Personen und Ereignisse sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder
verstorbenen Personen sind rein zufällig.
© 2017 Bianka Mertes
Oberwindhagener Str. 26a
53578 Windhagen
Cover:
Bianka Mertes
Bildmaterial:
www.pixabay.de
Lektorat und Korrektorat:
Lektorat Buchstabenpuzzle Karwatt
www.buchstabenpuzzle.de
1. Auflage
Imprint: Independently published
ISBN: 979-8-6698-6503-0
Bianka Mertes
Patchwork hoch Eins
Total verpeilt
Die geschilderten Personen und Ereignisse sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder
verstorbenen Personen sind rein zufällig.
© 2019 Bianka Mertes
Oberwindhagener Str. 26a
53578 Windhagen
Cover:
Lektorat Buchstabenpuzzle Karwatt & Bianka Mertes
Bildmaterial:
www.pixabay.de
www.depositphotos.com
Lektorat und Korrektorat:
Lektorat Buchstabenpuzzle Karwatt
www.buchstabenpuzzle.de
1. Auflage
Imprint: Independently published.
ISBN-13: 978-1-7962-2319-4
Prolog
Schon im Kindergarten war ich jemand, der nicht gut mit anderen klar kam. Doch ich dachte mir mit sechs Jahren, was soll es, in der Schule wird alles anders. Nur hatte mein noch sehr kleines verwirrtes Gehirn eins nicht bedacht. Alle, die mit mir in einer Gruppe waren, wurden auch mit mir eingeschult.
Und so begann mein Leben in der Schule, wie es schon im Kindergarten aufgehört hatte. Als Außenseiter.
Mein Name, Luisa. Ich bin ein Meter sechzig groß und mit meinen fast fünfzehn Jahren, na ja sagen wir, ziemlich gut gebaut. Oder wie andere es sagten, meine Problemzonen schienen sich irgendwie auf den ganzen Körper zu verteilen. Aber wie auch immer, in meiner Klasse, war und blieb ich der Mittelpunkt. Auch wenn das nicht gerade positiv gemeint war. Denn wie schon vorhergesehen, blieb ich auch dort nicht vor meinen lieben Mitschülern verschont.
»Verdammt gib her.« Wie eine Bekloppte lief ich meiner Tasche hinterher, die zwei Jungs aus meiner Klasse meinten, als Frisbee zu benutzen. Jedes Mal, wenn ich bei dem einen angekommen war, landete sie schon wieder bei dem anderen. Ich war schon völlig außer Puste, als es Gott sei Dank zum Unterricht läutete und sie die Tasche auf meinen Tisch warfen. Vielleicht sollte ich das nächste Mal einfach auf den Gong warten.
Okay, zu meiner Erklärung. Ich musste vor zwei Wochen die Klassenstufe wechseln, weil meine Eltern sich in den Kopf gesetzt hatten, dass ich das Schuljahr nicht packen würde. Ihre Meinung. Meine zählte nicht.
Zum guten Schluss wurde ich von der Neunten in die Achte zurückgesetzt. Mitten im Schuljahr, echt klasse. Wer das kennt, dem brauche ich wohl nicht zu erzählen, dass man am ersten Tag schon mit Bauchschmerzen in die Schule geht.
In meiner alten Klasse war ich ja bereits die größte Außenseiterin aller Zeiten und ich dachte, na ja, vielleicht hatte es auch etwas Gutes zu wechseln. Aber, Pustekuchen. Als hätte ich das Wort ›Außenseiter‹ auf meine Stirn tätowieren lassen, ging es dort direkt weiter. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass ich meinen Mund nicht aufbekam. Oder, doch an den zwanzig Kilo zu viel, die ich auf den Rippen hatte? Ich denke es lag eher an beidem. Ansonsten war ich eigentlich sehr aufgeschlossen, hatte dunkle lange Haare, braune Augen und wie die anderen immer sagten, ein Gesicht wie ein Hefekuchen.
Toll, echt toll.
Wenn ich mir eins vorgenommen hatte, war es, dass ich die anderthalb Jahre noch durchzog, und mit einem guten Abschluss, diesen Sauhaufen verlassen würde. Also ließ ich mich normalerweise nicht auf solche Spielchen wie eben ein. Doch zu allem Überfluss waren in der Tasche nicht nur meine Hausaufgaben, die ich heute unbedingt abgeben musste, sondern auch noch eine Flasche O-Saft, die durch das hin- und herwerfen, geplatzt war.
Ernüchtert nahm ich das triefende Heft aus meiner Tasche, in dem die Aufgaben standen. Ich brauchte diese Note unbedingt. Sollte ich noch einmal mit einer schlechten nach Hause kommen, gäbe es wahrscheinlich die Hucke voll.
Ich versuchte, noch zu retten, was man konnte, trotz allem war die Tinte so sehr verlaufen, dass es eher einem Aquarell, als meinen Hausaufgaben glich. Meine Tischnachbarn sahen erst auf das Heft und dann auf mich und schüttelten nur die Köpfe. Okay, das war zu viel für heute. Tränen schossen in die Augen und als würde das nicht reichen, betrat auch schon unser Lehrer das Klassenzimmer. Er sah heute echt mies gelaunt aus. Toll, auch das noch.
Mein Magen drehte sich um hundertachtzig Grad und ein Knoten, so dick wie eine Apfelsine, schnürte mir die Kehle zu.
Ohne ein Wort und nur mit Handzeichen wies er mich darauf hin, dass ich meine Arbeit abgeben sollte. Prima Auftakt in den Tag. Von rechts hörte ich »Arme Socke« und von links »Erkläre es ihm«.
Zu allem Überfluss musste ich dazu sagen, dass ich trotz allem, was sie mir antaten, kein Kameradenschwein war. Natürlich taten die warnenden Blicke der zwei Typen das Übrige. Aber wahrscheinlich hätte ich auch so nichts gesagt, denn wie schon erwähnt, bekam ich kaum die Zähne auseinander. Schlimmer als mal wieder eine Auseinandersetzung mit meinen sehr strengen Eltern und einer Sechs für die Hausarbeit konnte es ja nicht werden.
Mit rasendem Herzen und feuchten Händen zwang ich mich unter den Blicken meiner Mitschüler zum Pult des Lehrers, der bereits die Hand nach meinen Aufgaben ausstreckte. Ich zitterte wie Espenlaub, als ich ihm das Heft überreichte. Zu allem Überfluss machten es mir meine doch so lieben Klassenkameraden auch nicht besonders leicht. Sie verfielen in schallendes Gelächter, nachdem der Lehrer erst mein Heft und dann mich fragend unter die Lupe nahm.
Ich hatte mich getäuscht, es konnte noch schlimmer werden. Selbst der Versuch, meinem Lehrer eine Erklärung zu liefern, ging voll daneben. Nein, ich durfte sogar beim netten Herrn Direktor, in seinem Büro, den schönen blauen Stuhl ausprobieren.
Knallrot, mit zitternden Beinen, ohne Worte, ohne vernünftige Erklärung und vor allem ohne Hausaufgaben. Aber wenigstens der Stuhl war bequem. Den Tag konnte ich auf jeden Fall als totalen Reinfall in meinem Tagebuch notieren. Hätte sich ein Loch vor mir im Erdboden aufgetan, ich wäre dankbar darin versunken.
Auch in den nächsten Tagen besserte sich kaum etwas. Der einzige Lichtblick, wenn ich das Klassenzimmer betrat, war dieser süße Kerl, der mir schon am ersten Tag aufgefallen war. Nicht dass er irgendein Interesse an mir kundgetan hätte, aber er hatte etwas an sich, dass mich in Träumereien verfallen ließ.
Da ich ganz hinten saß, hatte ich einen besonders guten Blick auf ihn. Da wurden sogar Hausaufgaben und Co zur reinen Nebensache. Natürlich nur, wenn er nicht auch zu denjenigen gehören würde, der nichts Besseres zu tun hatte, als sich ein Opfer zu suchen.
Also hieß es wieder einmal Zähne zusammenbeißen und durch. Das Problem war nur, dass mein Herz sich etwas anderes in den Kopf gesetzt hatte und jedes verdammte Mal, wenn ich ihn ansah, einen Luftsprung machte.
Wenigstens wurden meine Noten besser, auch wenn meine Sachen noch immer als Punchingball verwendet wurden.
Zu Hause lief das dann ungefähr so ab. Essen, Hausaufgaben, Haushalt helfen, Tracht Prügel, Essen und Bett. Freizeit hatte ich zwar auch aber eben alleine. Als Außenseiterin hatte man da nicht die große Auswahl, mit wem man um die Häuser zog. Sollte ich doch mal die Nase voll haben, Stöpsel ins Ohr, Musik auf volle Lautstärke und einfach in die Natur marschieren. Alles vergessen, und von besseren Zeiten träumen. Das half wenigstens für kurze Zeit alles zu unterdrücken, auch wenn mich die Gegenwart schneller wieder einholte, als mir lieb war.
Endlich war das achte Schuljahr vorbei und die Ferien fingen an. Andere fuhren in Urlaub, unternahmen etwas mit ihren Freunden oder Familien und ich, na ja, wieder die Stöpsel ins Ohr. Das wurde langsam aber sicher zu einem unausweichlichen Hobby.
Aber da gab es auch noch etwas anderes, wofür ich die Ferien nutzte. Ich hatte mich fest dazu entschlossen, ein paar Kilos purzeln zu lassen. Gut und schön, nur wie. Also hatte ich tagelang nichts gefuttert, auch wenn ich wusste, dass das ungesund war, aber ich musste zugeben, dass es mir nicht mal schwerfiel. Die ganze Zeit zu Hause zu verbringen, hatte mir wortwörtlich den Appetit verdorben. Und zu guter Letzt hatte es gewirkt. Nach und nach zeigte meine Waage immer weniger an. Bis zum neuen Schuljahr hatte ich bereits zehn Kilo weniger auf den Hüften. Von achtzig Kilo auf siebzig Kilogramm, fehlten nur noch zehn. Das war das, was ich mir fest vorgenommen hatte.
Auch wenn es dann so war, wie ich vermutet hatte, dass meine Mitschüler anscheinend blind dafür waren. Denn auch in dem neuen Schuljahr änderte sich nichts. Außenseiterin blieb eben Außenseiterin. Aber vielleicht hatte ich mich ja einfach nur getäuscht und es lag gar nicht an meinem Übergewicht? Wie auch immer, ich hatte keine Ahnung, warum sie ausgerechnet mich ausgesucht hatten.
Doch zu meiner Überraschung wurde ich jetzt im Sportunterricht nicht immer als letzte gewählt und zudem noch von dem süßen Kerl.
Ein Lichtblick, dachte ich. Haha, aber nicht in diesem Universum. Ich hatte etwas getan, was mir nie aufgefallen wäre, hätte ›mein Süßer‹ mich nicht darauf aufmerksam gemacht.
»Die ist doch total in mich verschossen. Die lacht immer dann, wenn ich es auch tue, und starrt mich die ganze Zeit nur dämlich an.« Okay. Der Schuss ging völlig nach hinten los. Meine Schmetterlinge verflogen und anstelle hatte sich mein Herz gerade in einen eiskalten aber riesigen Stein verwandelt. Mein Magen drehte sich unaufhörlich, wobei mein Mittagessen bereits an meinem Zäpfchen spielte.
Unfähig auch nur ein Wort zu sagen, ließ ich es zu, dass sie sich mal wieder aus einem anderen Grund über mich lustig machen konnten. Ich weiß, ich war halt eine Idiotin. Doch auch danach mochte ich ihn noch immer. Wieso? Weil mein Herz sich partout in den Kopf gesetzt hatte ›den oder keinen‹. Dabei war mein Kopf schon viel weiter als mein Herz.
Dann kam die Klassenfahrt, auf die ich nicht mitwollte. Langweilen konnte ich mich schließlich auch zu Hause. Doch meine Eltern bestanden darauf, unter Androhung von Prügel natürlich. Nette Eltern? Jupp, durch und durch. Wahrscheinlich wären sie noch froh, wenn mein Lehrer mich dort irgendwo im Wald vergessen hätte.
Gut, das würde ich wahrscheinlich auch noch irgendwie überleben. Einfach den anderen aus dem Weg gehen, dachte ich mir. Leider kam es natürlich anders. Mit meinen ›besten Freundinnen‹ in einem Zimmer konnte ja nichts mehr schiefgehen. Da fragte man sich nur noch, wer all meine Klamotten verschwinden lassen hatte?
Nachdem ich sie dann aus einem Mülleimer gefischt hatte, ging es schnurstracks zur Wanderung. Tolle Sache, wenn man den Weg kannte und nicht gerade als Außenseiter abgestempelt war. Sie hatten bestimmt eine tolle Zeit, als sie im Wohnheim angekommen waren und ich noch immer den Weg suchte.
Trotz Blasen an den Füßen kam ich schließlich dann doch irgendwann heil an. Juhu. Endlich etwas in den Magen. Und wieder Pustekuchen. Ich war zwar da, aber zu essen gab es nichts mehr. Die Küche hatte schon geschlossen, schließlich war es auch kurz vor Mitternacht. Egal, ich hatte ja eh vor abzunehmen.
War ich froh, als es hieß ›Abreise‹, das kann sich keiner vorstellen.
Noch ein halbes Jahr durchstehen und endlich nicht mehr als Außenseiterin gelten.
Da ich jedoch nicht jeden einzelnen miserablen Tag meiner Schulzeit vor euch ausbreiten möchte, denn sonst könntet ihr auch meine Tagebücher lesen, springe ich zur Zeugnisvergabe.
Ja, tatsächlich hatte ich es geschafft und meinen Abschluss in der Tasche. Jetzt gab es nur noch eins, dass ich hinter mich bringen musste. Die Abschlussfeier.
Man hatte recht, wenn man dachte, warum ist sie überhaupt dahingegangen, aber ich hatte einen verdammt guten Grund. Der wichtigste in meinem Leben.
Wahrscheinlich der letzte Moment, an dem ich ›meinem Süßen‹ begegnen würde. Auch wenn ich die eineinhalb Jahre nichts erreichen konnte, wollte ich wenigstens einen letzten Versuch starten. Nur gucken. Denn für mehr blieb mir auch keine Zeit. Zwei Stunden hatten meine Eltern mir erlaubt. Zwei Stunden, in denen man nicht mal Zeit zum Essen, geschweige denn für mehr gehabt hätte. Vor allem, wenn man diese zwei Stunden auch noch allein herumsaß.
Ich brauchte gar nicht hoffen, dass sie sich verspäten würden, denn pünktlich wie die Maurer standen sie dann auch da mit ihrem Auto und holten mich ab. Auch wenn sich unsere Blicke zum Abschied, den ich gerade noch so über meine Lippen brachte, trafen, war meine Zeit um. Auch jetzt hatte ich bei ›meinem Süßen‹ keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Eine Zeit, der ich nachtrauerte, obwohl ich mich eigentlich freuen sollte.
Ich hatte meinen Abschluss und einen Lehrvertrag sollte ich am nächsten Tag unterzeichnen. Ich wollte unbedingt im Gastrogewerbe lernen. Also hatte ich mich schon in dem letzten halben Jahr, in dem die anderen nur Unsinn im Kopf hatten, darum bemüht. Und es hatte geklappt. Günstig von der Arbeitszeit und nicht in der Nähe meines Zuhauses. Was natürlich am besten war, mich kannte dort keiner und vielleicht hatte ich ja auch mal Glück und würde nicht mehr als Außenseiterin angesehen. Meine Stirn hatte ich jedenfalls vorher kontrolliert.
Der nächste Tag. Stolz wie Oskar fuhr ich mit meinem Fahrrad zur Unterzeichnung des Vertrages. Natürlich war ich nervös und keiner konnte mir erzählen, dass er es nicht war. Noch ein kleines Gespräch bei einer Cola. Die Leute unheimlich nett. Netter, als ich es mir hätte wünschen können. Die Gaststätte genau nach meinen Vorstellungen eingerichtet. Also fackelte ich nicht lange, bevor mir noch jemand meine Stelle wegschnappen konnte. Zufrieden unterzeichnete ich den Vertrag, den nun noch meine Eltern zu Hause unterschreiben mussten, und ließ den Kugelschreiber fallen, als ›mein Süßer‹ Tim, als ihr Sohn vorgestellt wurde. Unter Schnappatmungen versuchte ich, mich wieder zu beruhigen, doch mein Herz raste so schnell, dass ich das Blut in meinen Ohren bereits rauschen hören konnte. Wann zum Teufel hatte der Himmel eigentlich einmal Gnade mit mir?
Moment mal, fiel es mir dann plötzlich wie Schuppen von den Augen. Ich hätte den jetzt erneut drei Jahre an der Backe? Drei Jahre, auf die ich mich auf einmal nicht mehr so freute. Auch wenn ich ihn angehimmelt und eigentlich bereits damit abgeschlossen hatte, schwante mir Schlimmes. Zu allem Überfluss sollte er das Geschäft einmal übernehmen und war natürlich ebenfalls Lehrling im elterlichen Betrieb.
Damit hatte es sich wohl erledigt, dass mich keiner kannte. Und unwillkürlich erschien der unsichtbare Schriftzug ›Außenseiterin‹ wieder auf meiner Stirn. Dreckig grinsend nahm er sich eine Cola und verschwand. Klasse. Ich freute mich schon auf meine drei Jahre Lehrzeit.
Kapitel 1 Schlimmer geht immer
Bis zum ersten Tag meiner Lehre hatte ich es wenigstens geschafft, die restlichen zehn Kilo zu verlieren. Cool, wenn man bedachte, dass es außer meinen Eltern wahrscheinlich nie jemandem auffallen würde. Wenn es meine Eltern denn interessieren würde.
Es war klasse, wenn man schon am ersten Arbeitstag mit Bauchschmerzen erschien, das sollte man unbedingt mal ausprobieren. Vor allem, wenn man kerngesund war.
Na super.
Nervös trat ich meiner neuen Chefin gegenüber, die mich freundlich in Empfang nahm.
»Deine Sachen kannst du hier im Umkleideraum lassen und wenn du dich umgezogen hast, komm bitte zur Theke, dann gebe ich dir eine kleine Einweisung«, sagte die nette Frau, die ab jetzt meine Lehrherrin war. Ich schätzte sie um die vierzig, was man ihr aber nicht direkt ansah. Sie war groß, blond, trug eine Brille und war wahnsinnig attraktiv. Also das komplette Gegenteil von mir. Neben ihr wirkte ich eher wie eine kleine nichtssagende Kreatur. Aber sie behandelte mich wenigstens nicht als Außenseiterin. Schon mal ein großer Pluspunkt.
Ich tat, was sie sagte, schloss meine Sachen in einen der Spinde, zog mir schnell die schwarze Hose und weiße Bluse an, und die hellblaue Vorbindeschürze mit dem Logo der Gaststätte, über und ging zur Theke, an der sie bereits auf mich wartete.
Nach und nach wies sie mich in die Getränke und meinen Aufgabenbereich ein. Okay verstehen, war noch nie mein Problem, also hatte ich in kürzester Zeit alles kapiert.
Dann war die Küche dran, wo bereits zwei Köche ihr Unwesen trieben. Es roch herrlich hier und ich musste aufpassen, nicht alleine vom Geruch wieder zehn Kilo zuzulegen. Dann waren die Toiletten und die Gästezimmer dran. Ich kannte alles bereits wie meine eigene Westentasche, dass ihr sichtlich imponierte.
»Zuerst teile ich dich für die Gästezimmer ein. Die sind, neben des Essen, das Aushängeschild unseres Betriebes. Aber ich denke, das wird für dich kein Problem sein. Wenn alles gut läuft, kannst du als Nächstes mit an den Thekenbereich und die Gäste bedienen.« Sie lächelte mich freundlich an.
»Vielen Dank, ich werde Sie sicherlich nicht enttäuschen.«
»Wenn ich den Eindruck von dir gehabt hätte, wärst du heute nicht hier«, gab sie wieder freundlich zurück.
Ich glaubte, zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich gerade Anerkennung bekommen. Ich war total aus dem Häuschen und musste aufpassen, nichts Dummes zu plappern. Jedenfalls war ich so happy wie in meinem ganzen Leben noch nicht.
»Meinen Sohn kennst du ja bereits.« Schon sank mein Pegel an der ausgelassenen Freude in den Keller.
Er betrat grinsend das Gästezimmer und lehnte sich gelassen gegen den Türrahmen. Meine Stimmung veränderte sich nicht unbedingt, weil er es war, sondern, weil ich dieses Grinsen bereits zu gut kannte. Ich nickte ihm nur zu, denn mehr hätte ich eh nicht rausbekommen. Zudem wollte ich ihm keinen Grund für dumme Kommentare geben.
»Wer hätte gedacht, dass wir uns so wiedersehen«, meinte er schließlich und grinste noch breiter, als seine Mutter weg war und mich den Zimmern überließ. Ich wusste nicht genau warum, aber irgendwie legte sein freches Grinsen plötzlich bei mir einen Schalter um, der jahrelang eingerostet zu sein schien. Es kamen tatsächlich Worte aus meinem Mund. Und die waren nicht einmal nett gemeint.
»Ja, wer hätte das wohl gedacht«, gab ich nur schnippisch zurück und funkelte ihn böse an.
»Wow, was war das denn gerade? Du kannst ja sprechen.« Sein dreckiges breites Grinsen brachte mich zur Weißglut. Das hatte ich mir lange genug gefallen lassen. Und so nahm ich endlich einmal allen Mut zusammen.
»Ich kann auch noch ganz andere Sachen, wenn du mich weiter so dumm anmachst.« Es platzte einfach so aus mir hinaus. Wahrscheinlich hatte sich über die Jahre genug Frust aufgebaut, der jetzt unbedingt an die Oberfläche wollte. Nur leider konnte man meine Worte auch zweideutig verstehen, was mir erst viel zu spät auffiel. Und er nahm natürlich die zweite Variante. Knallrot sah ich zu, wie er an mich herantrat und seinen Mund an mein Ohr führte.
»Na ja, jetzt habe ich leider keine Zeit, aber das können wir gerne später ausprobieren.«
Zuerst war ich total verdattert und schloss nur noch die Augen in meiner Panik. Doch das änderte sich schnell, als er wieder einen Schritt von mir wegtat.
Okay, genug für heute, mein Körper war bereits mit Gänsehaut übersät und ich hatte absolut keine Lust mehr auf diese dämlichen Spielchen, aus der Vergangenheit.
»Ja, sicher träum weiter«, gab ich nervös zurück und schubste ich ihn von mir weg. Er lachte nur kurz auf und wedelte mit der Hand.
»Bis später dann.« Ich konnte nur ungläubig mit dem Kopf schütteln und musste mich einen kurzen Moment auf das Bett setzen, was ich eigentlich für den nächsten Gast fertigmachen sollte. Mein Herz raste wie wild, wobei meine Beine gerade wie reinster Pudding waren.
Wieso zum Teufel bekam ich auf einmal den Mund auf? Wenn ich das schon in der Schule gemacht hätte, wäre mir vielleicht einiges erspart geblieben. Aber nein, der Schalter musste ja ausgerechnet jetzt erst betätigt werden. So ein Mist.
Ich schaffte die Zimmer in der vorhergegebenen Zeit und meine Chefin war sichtlich beeindruckt, nachdem sie jedes einzelne kontrolliert hatte. Also wenigstens dazu taugte ich etwas. Nun hieß es, weiter sauber machen. Erst die Toiletten und dann den Bereich des Gastraumes. Für die Küche waren die Kochlehrlinge zuständig.
Die Toiletten hatte ich schnell hinter mich gebracht und war auch im Gastraum ziemlich fix unterwegs, als ich das Gefühl bekam, mich würde jemand beobachten. Ich sah zur Theke herüber und da saß kein geringerer als Tim und schluckte gerade in großen Zügen eine Cola herunter.
»Buh«, machte er, als sich unsere Blicke trafen. Na klar, meine Knie schlotterten vor Angst. Phhh, eingebildeter Affe. Unbeachtet putzte ich weiter den Boden, bis er plötzlich neben mir auftauchte.
»Also jetzt gerade hätte ich Zeit. Wenn du weißt, was ich meine.« Wieder dieses freche Grinsen im Gesicht.
Genervt drehte ich mich zu ihm um und zeigte ihm, eine Hand in die Hüften gelegt, den ausgestreckten Mittelfinger.
»Genau das meine ich.« Er nahm meinen Finger und wackelte damit hin und her. Okay, es reichte. Ich merkte, dass ich ein wenig rot anlief und darauf hatte ich absolut keinen Bock. Gehässig lächelnd drehte ich mich um, griff nach dem Wassereimer und goss ihn über ihn in aller Seelenruhe aus. Jetzt musste ich zwar noch einmal wischen, aber das war es mir wert. Stinksauer schlug er mir den Eimer aus der Hand, sagte noch ein paar ›nette‹ Worte und dackelte schließlich triefnass ab. So gut hatte ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt. Auch wenn ich bereits eine Ahnung hatte, dass er das nicht auf sich sitzenlassen würde. Doch in dem Moment war mir das so was von egal. Dieses Gefühl der Übermacht war einfach herrlich. Jetzt wusste ich zumindest, wie die anderen sich immer gefühlt hatten.
»Bist du vielleicht bekloppt.« Was? Wer redete denn da? Ich blickte auf meine linke Schulter und glaubte zu spinnen. Da saß ein Teufelchen und feilte sich gerade genüsslich seine Nägel. Wie von Sinnen versuchte ich, es von meiner Schulter zu wischen, doch es lachte mich nur aus.
»Vergiss es, so leicht bekommst du mich nicht mehr los.« Ich musste echt Hallus haben, denn so was passierte doch normalerweise immer nur in Filmen, oder?
»Also gut, du Schlaumeier. Und wieso bin ich jetzt bekloppt?«
»Du hättest mit ihm in die Kiste hüpfen sollen. Wer weiß, ob du so eine Gelegenheit noch einmal bekommst.« Okay, anscheinend drehte ich gerade durch. Ich redete mit einem kleinen durchtriebenen Teufel, den ich mir eindeutig nur einbildete.
»Lass sie in Ruhe. Genau das hätte sie eben nicht machen sollen.« Erschrocken blickte ich auf meine rechte Schulter und bereute es im nächsten Augenblick schon wieder. Da hatte es sich ein Engelchen bequem gemacht und zeigte mit erhobenem Zeigefinger auf den Teufel.
Oh Gott, anscheinend musste ich mir den Kopf gestoßen haben und hatte es nicht einmal bemerkt.
Komplett daneben blendete ich die zwei Kreaturen aus, versuchte mich, während ihrer Debatte, auf meine Arbeit zu konzentrieren und das Wasser wieder zu beseitigen.
Nur ahnte ich nicht, dass mein Chef alles aus der Küche mitangesehen hatte. Hochrot wollte ich zu ihm, mich entschuldigen und irgendeine Verteidigung hervorzaubern. Schließlich kippte wahrscheinlich nicht alle Tage jemand einen Eimer Wasser über seinen Sohn. Doch zu meiner Überraschung stand er im Kücheneingang und klatschte auch noch Beifall. Hä? Ich kapierte überhaupt nichts mehr.
»Endlich mal einer, der ihm die Leviten liest«, gab er lachend von sich.
Ich lachte ebenfalls kurz, aber ungläubig, und dachte schon darüber nach, wer mir half, wenn Tim zum Gegenschlag ansetzte. Wenn ich eins gelernt hatte, dann, dass er sich das sicherlich nicht gefallen ließ.
Okay, anscheinend ließ er an diesem Tag wohl doch noch einmal Gnade vor Recht ergehen, denn nichts passierte. Und auch diese zwei Figuren auf meinen Schultern hatten sich Gott sei Dank verzogen. Also zog ich mich nach getaner Arbeit wieder um und dackelte zu meinem Fahrrad. Ich freute mich schon, nach Hause zu kommen und todmüde in mein Bett fallen zu können. Bis ich dann auf meinem Drahtesel saß und die platten Reifen bemerkte. Alles klar, dass Wort ›Gnade‹ kam wohl nicht in seinem Wortschatz vor. Prima, endlich konnte ich heute mal meine Füße betätigen.
Sehr gut. Mit eineinhalb Stunden Verspätung und einer Standpauke meiner Eltern fiel ich endlich hundemüde ins Bett. Nach gefühlten fünf Minuten klingelte der Wecker. Oh Gott, zurück in die Arena.
Also anziehen, noch schnell Luft in meine Reifen pumpen und dann nix wie ab. Das Frühstück zu Hause hatte ich total vergessen und fuhr mit knurrendem Magen zu meiner Arbeitstelle.
Als Nächstes wieder ein breites Grinsen, auf dass ich lieber verzichtet hätte und der Kommentar ließ auch nicht lange auf sich warten.
»Guten Morgen. Gestern gut heimgekommen?« Ich atmete genervt aus und sah ihn verschlafen an.
»Ja klar, warum auch nicht.«
Ich dachte schon, Schachmatt. Blödsinn, er konnte es einfach nicht lassen.
»Ich dachte schon, du läufst dir die Schuhe durch«, meinte er und grinste breiter als breit. Mein Schalter reagierte.
»Wenn du mir jetzt weiter auf den Keks gehst, lernst du heute richtig schwimmen.« Ehrlich gesagt hatte ich mit einer anderen Reaktion gerechnet. Aber es kam mal wieder anders.
»Ich hätte nichts dagegen, wenn du mit mir nackt Baden gehst.« Stöhnend ließ ich den Kopf hängen und atmete einmal tief durch, um mich zu beruhigen. Dieser Kerl hatte wirklich für jeden Topf einen passenden Deckel. Sogleich schossen mir Bilder in den Kopf, die ich lieber angeekelt wieder weg schüttelte.
»Okay, und wer will dein Elend sehen?«, konterte ich noch selbstbewusst.
»Ich kann mich an Zeiten erinnern, da wäre es dir sogar recht gewesen.« Mir stockte der Atem und ich hatte gerade das Gefühl, in einem falschen Film zu sein.
Mit provozierendem Blick kam er näher an mich heran und das ging mir langsam echt auf den Kittel. Auch wenn er nicht unrecht hatte. Aber das Elend wollte ich mir trotz allem ersparen.
»Weißt du was? Wenn du erwachsen bist, können wir noch einmal darüber reden.« Ich ließ ihn einfach mit entsetztem Blick stehen, schloss mein Fahrrad ab, in der Hoffnung diesen Abend nicht laufen zu müssen, und begab mich in den Umkleidebereich. Unaufgefordert ging ich nach dem Umziehen in die Gästezimmer und machte mich an meine Arbeit. Aber wenn man denkt, es könnte nicht schlimmer kommen… na ja, es konnte.
Ich war gerade dabei, im zweiten Zimmer das Bett zu machen, als ich plötzlich von hinten geschubst wurde und der Länge nach auf der Matratze landete. Nur mit Mühe konnte ich mich noch herumdrehen, um zu gucken, wer der Übeltäter war, auch wenn ich bereits eine Ahnung hatte, wer es sein könnte. So schnell wie derjenige auf mir lag, konnte ich gar nicht reagieren, zudem hatte ich mich in meiner Annahme gründlich getäuscht. Mit großen Augen blickte ich in ein männliches Gesicht um die fünfzig. Er stank fürchterlich aus dem Mund und wollte mir andauernd mit seiner ekelhaften Zunge durch mein Gesicht lecken. Bah, igitt, wie ekelhaft. Er war verdammt schwer, total besoffen und ich hatte keine Kraft, ihn von mir wegzuschieben. Also nahm ich das einzige Werkzeug, das ich zur Verfügung hatte. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib und hoffte, dass mich jemand hörte.
»Jetzt stell dich doch nicht so an, meine kleine Knuspermaus«, gab er von sich und sabberte herum.
»Ich stell mich an, wann ich es will und ich bin keine Knuspermaus«, versuchte ich, ihm klarzumachen und ihn erneut von mir zu drücken. Seine Zunge kam gefährlich nah.
»Okay, dann eben mein Schneckchen?«, lallte er herum.
»Bah, ist ja ekelhaft, runter von mir.«
»Och, komm schon, wie wäre es denn mit …«, überlegte er krampfhaft, und hielt meine Arme fest, mit denen ich nach ihm schlug.
»Runter«, schrie ich noch lauter, wobei ich immer mehr in Panik geriet. Ich hatte solche Angst, dass ich kaum noch anständig Atmen konnte.
»Ach, ich weiß, meine kleine Wildkatze.« Er leckte mir über die linke Wange, doch bevor er weitermachen konnte, wurde er auf einmal mit voller Wucht von mir runtergerissen.
Erleichtert sah ich auf, konnte aber niemanden erkennen, denn der dickliche Mann verdeckte denjenigen mit seinem Körper.
»Sie ist vielleicht eine kleine Wildkatze, aber mit Sicherheit nicht deine.« Den Kinnhaken, den er verpasst bekam, konnte ich sogar hören. Angewidert wusch ich mir seinen Sabber aus dem Gesicht und nahm die Hand, die mir gereicht wurde. Erst jetzt realisierte ich, wer mir da zur Rettung kam. Total verdattert sah ich in seine braunen Augen, die mich merkwürdig musterten.
»Ist alles in Ordnung mit dir?« Erst seine verärgerte Stimme brachte mich in die Realität zurück.
»Ja«, bekam ich merkwürdig kleinlaut heraus. Der Kampfgeist, den ich eben noch hatte, war wohl irgendwie gerade auf Reisen. Doch viel Zeit zum Überlegen hatte ich nicht. Schon kamen auch seine Eltern in den Raum und sahen sich die Misere an, die er angerichtet hatte und auf mich. Ich kam mir gerade wie ein Ausstellungsstück in einem Geschäft vor.
»Er hat sie angegriffen und wollte sich gerade über sie hermachen. Also guckt nicht so verärgert drein.« Er versuchte, sich zu verteidigen, als hätte er irgendwas Falsches gemacht. Nur verstand ich nicht, warum ausgerechnet er mir geholfen hatte.
»Oh man, geht es dir gut?« Seine Mutter sah mich so entgeistert an, während sie sich zu mir setzte, dass ich leicht lächeln musste.
»Ja mir geht es gut.«
»Ich ruf die Polizei. Der Kerl gehört hinter Gitter«, rief ihr Mann, der schon sein Handy gezückt hatte.
»Ich glaube, das war Aufregung genug für einen Tag. Ich denke, wir sollten dich nach Hause schicken.« Das besorgte Gesicht von seiner Mutter ließ mir keine Ruhe. Ich war okay. Mir war nichts geschehen, auch wenn ich diesen fürchterlichen Atem wahrscheinlich noch in hundert Jahren riechen würde. Trotzdem zitterte mein Körper noch immer wie Espenlaub.
»Nein, geht schon. Ich mach weiter.« Verständnislose Blicke von Tim und seiner Mutter. Okay, verständlich? Wenn die wüssten, was mich zu Hause erwarten würde, wenn ich zu früh kam. Da blieb ich lieber bis zum Schluss.
»Gut, aber wenn irgendetwas sein sollte, bestehe ich darauf, dass du nach Hause gehst, verstanden? Und du weichst ihr heute nicht mehr von der Seite«, wandte sie sich an ihren Sohn.
Tim stand da mit offenem Mund, wollte was erwidern, aber die Worte blieben ihm, beim erhobenen Zeigefinger und festem Blick seiner Mutter, im Hals stecken. Nur ein böser Blick in meine Richtung als Antwort. Toll, als hätte ich darum gebeten. Aber ich wusste, dass ich mich wenigstens noch bei ihm bedanken musste.
»Danke«, bekam ich schließlich heraus, nachdem seine Mutter das Zimmer verließ und die Polizei herein begleitete.
»Das habe ich nicht für dich getan, also bilde dir nichts ein. Ich wollte nur nicht, dass der arme Kerl Albträume wegen dir bekommt.« Er verschränkte mit zusammengekniffenen Augen die Arme vor der Brust.
Ich musste in mich hineinlachen. Wieso konnte er es nicht zugeben? Ich wurde einfach nicht schlau aus diesem Kerl. Aber ich spielte sein Spielchen mit.
»Okay, dachte ich mir schon.«
»Dann ist es ja gut.« Noch ein böser Blick und er verließ das Zimmer. Dummer Kerl. Auch wenn ich froh war, dass er mir geholfen hatte, war und blieb er ein Blödmann.
Nach kurzer Befragung durch die Polizei durfte ich dann endlich zurück an meine Arbeit, doch bei jedem Bett, das ich machte, zitterten meine Hände und ich hatte das Gefühl, als wenn gleich wieder einer auf mich springen würde.
»So gut wie du tust, geht es dir wohl doch nicht«, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir und schrak zusammen. Bis ich realisierte, wer mit mir redete, stand Tim bereits neben mir und musterte mich argwöhnisch. Okay, ihm schien nicht entgangen zu sein, dass ich mich noch immer unwohl fühlte.
Er riss mir die Bettwäsche aus der Hand und zog mich aus dem Raum.
»Hey, was soll das? Ich habe doch schon gesagt, dass es mir gut geht und außerdem muss ich meine Arbeit noch fertig machen«, protestierte ich und versuchte, mich aus seinem Griff zu lösen. Wenn er verflucht noch mal nicht so stark wäre.
»Bist du nicht ganz dicht im Oberstübchen? Deine Hände zittern wie Espenlaub und du schreckst bei jedem Geräusch zusammen. Also sag mir nicht, dass du in Ordnung bist.« Er blieb ruckartig stehen und sah mich böse an. Oder besorgt? Nein böse, eindeutig böse.
»Grrr«, knurrte ich laut, »lass mich endlich los.« Mit der freien Hand versuchte ich, seine zu lösen, was allerdings absolute Zeitverschwendung war.
»Nein«, brüllte er mich an.
Mein Gesicht verzog sich zu einem »Du Arschloch«-Gesicht und ich versuchte erneut, mich mit aller Kraft loszureißen. Und ich musste zugeben, dass ich echt nicht geglaubt hätte, meine Hand wenigstens ein paar Millimeter zu bewegen, aber es klappte. Tim lachte kurz auf, verdrehte die Augen, machte einen Ruck mit seiner Hand und ich landete total verdattert an seiner Brust. Wow, im ersten Moment blieb mir der Atem weg, eine wirklich nette Brust. Ich fing mich aber ziemlich schnell, zwar zu schnell für meinen Geschmack, aber ich fing mich und versuchte erneut, ihn wegzuschieben. Haha, netter Versuch, doch je mehr ich mich wehrte, umso näher zog er mich an sich heran. Okay, schließlich gab ich auf. Widerstand zwecklos.
»Du bist echt doof. Ich an deiner Stelle wäre ja freiwillig an seiner Brust hängen geblieben.« Oh man. Wieder hatte ich den Teufel persönlich auf meiner linken Schulter sitzen. Doch diesmal lutschte er genüsslich an einem Lolli, anstatt sich einer Maniküre zu unterziehen.
»Jetzt lass sie endlich in Ruhe, du gemeines Ding. Nicht jeder ist so ein Lustmolch wie du«, mischte sich jetzt auch noch der Engel ein.
Okay, es reichte, ich hatte die Nase gestrichen voll, sollten die beiden sich doch einen anderen Platz für ihre Plauderei aussuchen und nicht meine Schultern.
Ich spürte, wie Tim mich noch näher an sich drückte, wobei mein Herz einen gewaltigen Satz machte, bevor es zu rasen begann. War ja klar, dem gefiel es, so dicht an ihm zu kleben. Aber ich hörte auch noch einen Herzschlag und da ich mir ziemlich sicher war, nicht schwanger zu sein, blieb nur Tims. Und wenn ich mich nicht verhörte, schlug es ebenfalls etwas schneller als normal. Ne Blödsinn, das konnte nicht sein, lachte ich in mich hinein.
»Ich bringe dich nach Hause. Das mit dir hat heute keinen Zweck«, murmelte er und schob mich so schnell von sich, als hätte er gerade einen riesigen Fehler gemacht. Okay ich war vielleicht nicht die Traumfrau schlechthin, aber trotzdem musste er es ja nicht so deutlich demonstrieren, oder? Aber ich wusste auch, dass er recht hatte. Ich war nicht ich selbst. Wahrscheinlich würde ich heute mehr falsch, als richtig machen, also gab ich mich geschlagen.
»Okay«, bekam ich wenigstens noch kleinlaut heraus, bevor er mich zum Umkleideraum zog.
»Zieh dich um, ich sage meinen Eltern nur kurz Bescheid.« Schon war er verschwunden. Selbst jetzt zitterten meine Finger noch. Und gerade als ich versuchte, meine Jacke zuzuknöpfen, tauchte er wieder auf. Mit einem Helm in der Hand. Hatte er jetzt auch noch Angst, dass ich mir den Kopf stoßen könnte?
Ich fingerte noch immer nervös an meiner Jacke herum, doch die Knöpfe wollten einfach nicht in ihr Loch. Tim schüttelte genervt den Kopf, kam zu mir und übernahm diesen Part. Ich ließ es geschehen, auch wenn ich nicht genau wusste warum.
»Fertig«, meinte er schließlich, nachdem er den letzten zugeknöpft hatte, und sah mich ziemlich merkwürdig dabei an. Ich wusste, dass ich mir ziemlich gern Sachen einbildete, aber dieser Blick hatte etwas, etwas ›Liebevolles‹? Ich drehte wahrscheinlich gerade am Rad. Niemals. Thhh.
»Komm«, befahl er schon fast und ich trottete hinter ihm her. Vor einem Roller blieben wir stehen und er reichte mir den Helm. Hä? Ich auf diesem Ding? Mit ihm? Niemals, ich war doch nicht lebensmüde. Ich schüttelte energisch den Kopf und drückte ihm den Helm in die Hand.
»Stell dich nicht so an, ich weiß, wie man fährt.« Okay, mochte ja sein, aber ich war keine normale Person.
»Ich bin eine kostbare Fracht und ich setze mich bestimmt nicht zu dir auf dieses Ding. Außerdem brauche ich morgen mein Fahrrad.«
Was nicht mal gelogen war. Er lachte, und zwar mich nicht ›an‹.
»Welche kostbare Fracht? Hast du einen Goldschatz in deiner Tasche?« Okay, das war unterhalb der Gürtellinie. Ich kam auch allein nach Hause. Sauer drehte ich mich um, ließ den Helm, den er ja nicht an sich nehmen wollte, auf den Boden fallen und ging zu meinem Rad.
»Hey, bist du noch ganz dicht?« Wahrscheinlich regte er sich gerade wegen seines Helms so auf, aber das ging mir am Hintern vorbei.
Wie eine Bekloppte fingerte ich mit zitternden Händen an dem Schloss herum. Wenn ich nicht so zittern würde, hätte ich es schon zehnmal aufgehabt. Schließlich gelang es mir, aber irgendjemand wagte es, das Schloss wieder einrasten zu lassen. Grrr. Stocksauer drehte ich mich um und stampfte wütend auf dem Boden auf. Schließlich war ich froh, es gerade geschafft zu haben.
»Was fällt dir eigentlich ein?«
»Das könnte ich wohl eher dich fragen«, konterte er und begutachtete den blöden Helm von allen Seiten. Ich verschränkte sauer die Arme vor der Brust und lachte kurz verständnislos auf.
»Das Ding scheint dir eh wichtiger zu sein, als ich. Also lass mich jetzt endlich in Ruhe.« Der böse Blick, den er mir entgegenbrachte, ging mir unter die Haut. Ich wusste zwar nicht, ob wegen des Helms oder meiner Aussage, aber er hatte Wirkung auf mich.
»Los komm jetzt und keine Widerrede. Ich musste es meinen Eltern versprechen und da werde ich mich wohl kaum widersetzen.« Aha, daher wehte also der Wind. Und ich hatte schon Hoffnung, er würde sich vielleicht mal Sorgen um jemanden machen. Oh man, wie konnte man nur so dämlich sein.
»Ich habe es meinen Eltern versprochen. Die hauen mich sonst«, äffte ich ihn nach und wendete mich beleidigt ab.
»Hey, verarsch mich nicht.« Er zog mich am Arm zu sich ran und sah mich sauer an. Ich verzog meine Miene zu einem »Selbst Schuld« und dachte mir den Rest. Ich glaube, das gefiel ihm nicht so ganz.
»Okay, wenn du es nicht anders haben willst.« Mit einem Ruck hob er mich einfach hoch, trug mich zu seinem Roller, setzte mich drauf und stülpte den Helm über meinen Kopf. Ich hatte nicht mal Zeit zum Protest. Dann setzte er sich vor mich und ohne weitere Warnung, startete er dieses Ding und fuhr los. Durch den plötzlichen Ruck wäre ich beinahe nach hinten runtergefallen. Aus Angst hielt ich mich an seiner Jacke fest und er hatte nichts Besseres zu tun, als meine Hände zu nehmen und sie sich um seinen Bauch zu legen. Geschockt blickte ich auf seinen Rücken.
»Halt dich richtig fest, sonst verliere ich vielleicht doch noch meine kostbare Fracht«, schrie er gegen den Wind und lachte laut los.
Arschloch. Doch weil ich nicht unbedingt sterben wollte, tat ich es, auch wenn ich über den Fahrtwind hinweg noch mein eigenes Herz pochen hören konnte.
Selbst wenn ich es nicht gern zugab, musste ich sagen, dass er ein guter Fahrer war. Auf jeden Fall kamen wir heil bei mir zu Hause an. Moment mal, woher wusste der überhaupt, wo ich wohne?
Schließlich hielt er die Maschine, stellte sie aus und stieg ab. Dann nahm er mir den Helm vom Kopf und sah mich herausfordernd an.
»Na, lebst ja noch.« Er lachte. Haha, sehr witzig. Ich verdrehte die Augen und stieg von diesem Ding und überlegte schon, wie ich morgen zur Arbeit kommen sollte.
»Ich hole dich morgen früh ab, dann kannst du abends wieder mit deinem Rad fahren«, kam er mir meiner Frage zuvor.
Er zwinkerte mir zu und wollte gerade seinen Helm wieder anziehen, als meine doch so lieben Eltern aus dem Haus gestürmt kamen. Oh Gott, bitte hab Erbarmen. Nicht vor ihm. Bitte.
Doch mein Stoßgebet wurde wie immer nicht erhört. Sie machten mich so richtig schön rund und das vor Tim. Natürlich durfte auch eine Ohrfeige nicht fehlen, die mein Vater mir gern und oft verpasste. Und ein paar nette Wörter, die ich hier nicht wiederholen möchte, waren auch noch dabei. Danke lieber Gott, dass du nie da warst, wenn ich dich brauchte.
Tim stand nur da und versuchte, noch immer zu verstehen, was gerade geschehen war, da zogen mich meine Eltern schon ins Haus. Ach, hätte ich fast vergessen, natürlich durfte er mich am nächsten Tag nicht abholen, schließlich wollte meine Mutter keine Schlampe großziehen.
Ich wusste nicht, wie lange er da noch sprachlos gestanden hatte, doch als ich endlich in mein Zimmer durfte, von wo ich auf den Hof gucken konnte, war er weg.
Mir liefen die Tränen und mein Herz war schwer wie Stein. Ich konnte ziemlich viel aushalten, musste ich ja bis jetzt auch, aber das alles vor ihm zu machen, war ziemlich überflüssig. Und mit einem Mal hatte ich Angst, am nächsten Tag zur Arbeit zu gehen. Ich würde abermals zum Gespött und zur allseits bekannten Außenseiterin mutieren. Mein Leben war ein Haufen Schrott. Ich hätte zu gern gewusst, was er in diesem Moment gedacht hatte. Er kam ja nicht mal dazu, zu erklären, warum er mich heimgebracht hatte. Und ich übrigens auch nicht, das war in dieser Familie Nebensache. Aber vielleicht war es auch ganz gut so, sonst hätten sie mich nicht mal meine Ausbildung beenden lassen. Schlimmer geht eben immer.
Kapitel 2 Wohl oder übel
Nachdem ich die Nacht gut überstanden hatte und mein Vater es nicht für nötig hielt, mich zur Arbeit zu fahren, musste ich wohl oder übel laufen. Also hieß es noch früher aus den Federn als sonst.
Meine Wange tat noch immer weh und war über Nacht angeschwollen, aber überschminken ging auch nicht. Absolutes Schminkverbot. Klasse. Ich war jetzt fast siebzehn und kannte Kosmetika nur aus der Werbung und aus dem Laden.
Ich hatte von meiner Tante einmal einen kleinen Probelippenstift geschenkt bekommen. Eine schöne Farbe übrigens, leicht Rosé. Oh Gott, war das ein Theater. Eine Woche durfte ich keine Musik hören, war auch das einzige, dass sie mir nehmen konnten. Aber die Ohrfeige hatte auch gesessen.
Ich glaube, ich war mittlerweile so abgehärtet, was das betraf, ich spürte die nicht mal mehr. Nur gestern war es eine komplett andere Situation. Zum ersten Mal hatte es jemand mitbekommen. Und dann noch jemand, den ich eigentlich sehr gern hatte. Okay, kein Grund zum Heulen, er konnte mich ja eh nicht leiden.
Ich war gerade eine halbe Stunde unterwegs, da fing es, wie aus Kübeln, an zu regnen. Natürlich hatte ich keinen Schirm, dumme Frage. Und noch fast eine Stunde Fußmarsch vor mir. Also wenn ich nicht klitschnass ankommen wollte, musste ich wohl oder übel einen Platz finden, an dem ich mich unterstellen konnte.
Da kam mir die Bushaltestelle ganz recht. Nix wie rein ins Trockene bis der Bus kam, durch eine Pfütze fuhr und alle Versuche, nicht nass zu werden, mit einem KLATSCH vergebens waren. Wütend stampfte ich mit dem Fuß auf. Wieso musste so was auch immer mir passieren?
Frustriert ließ ich mich auf der Bank nieder und hoffte wenigstens, dass der Regen bald nachlassen würde, auch wenn es momentan nicht danach aussah. Es wurde allmählich kalt durch die nassen Klamotten. Ich zitterte schon, also zog ich meine Beine an und legte müde meinen Kopf auf die Knie. Am liebsten wäre ich so geblieben. Nichts sehen und nicht gesehen werden. Doch das Glück wurde mir leider nicht zu teil. Wieso auch? War ja schließlich ich.
»Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?« Moment mal, die Stimme kannte ich doch und die gehörte einer Person, der ich heute am wenigsten begegnen wollte. Trotzdem hob ich langsam meinen Kopf. Lachend sah er mich an und streckte mir den Helm entgegen. Ich schluckte. Er hatte doch gestern live miterlebt, was geschah, wenn ich mit ihm erwischt werden würde, also warum?
»Komm schon, ich beiße nicht.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, konterte ich ein wenig unsicher. Er lachte laut los und wurde im nächsten Moment ernst, als er einen Blick auf meine Wange warf.
»Kommt die kostbare Fracht jetzt, oder will sie lieber hier versauern?« Wieso sagte er nichts zu der geschwollenen Wange? Hatte er etwa Angst, mich blamieren zu können? Ich lachte innerlich. Feigling, sprich es doch einfach aus. Nicht nur in der Schule eine Außenseiterin.
»Habe ich eine Wahl?« Tränen traten mir in die Augen. Verdammt, wieso ausgerechnet jetzt?
»Man hat immer eine Wahl.« Er stieg ab, kam zu mir, hob leicht mein Gesicht an und begutachtete meine geschwollene Wange.
»Und welche Farbe hat sie jetzt?«, meinte ich bitter.
Irgendwie tat es weh, dass er so nett zu mir war. Der alte Tim war mir gerade eindeutig lieber.
»Machen die das öfter?« Er sah mich jetzt so ernst und mitleidsvoll an, ich hielt es einfach nicht mehr aus. Es war mir megapeinlich und mein Herz schmerzte. Also sah ich keinen anderen Ausweg und stellte auf stur.
»Ich weiß nicht, wovon du redest. Also ich geh schon mal vor, wir treffen uns dann da. Bis später.« Mitleid war das Letzte, was ich jetzt brauchte. Und schon gar nicht von ihm.
»Jetzt hilft er dir mal und du bist auch nicht zufrieden?« Ich verdrehte nur die Augen, als das Teufelchen mich kopfschüttelnd ansah.
»Sie hat doch wohl schon genug durchgemacht, warum machst du ihr jetzt noch Vorwürfe?« Der Engel sah ihn wütend an und er hatte nichts Besseres zu tun, als ihm die Zunge herauszustrecken.
Na ja, wenigstens da hatte das Teufelchen ausnahmsweise einmal einen Punkt. Tim versuchte, mir zu helfen, aber wahrscheinlich war ich gerade innerlich so kaputt, dass ich es nicht zu schätzen wusste.
»Hey, ist okay, schließlich geht es mich auch nichts an«, meinte Tim schließlich, zog mich zurück und schob mich zum Roller.
»Stimmt. Es geht dich nichts an. Mein Leben geht keinen etwas an.« Ich setzte mich aber schließlich auf den Roller, denn sogar die Lust am Laufen war mir vergangen. Und nass käme ich so oder so da an. Da war es egal wie.
Er sagte nichts mehr, stieg auf und fuhr los.
Schließlich kamen wir auch beide klitschnass vor der Gaststätte zum Stehen. Ich zitterte bereits am ganzen Leib. Es war wirklich saukalt.
»Geh schon rein und zieh dir was Trockenes an.« Ich musste innerlich lachen. Der Typ war echt der Hammer.
»Ja klar, ich habe auch meinen ganzen Kleiderschrank hier bei euch geparkt.« Ich legte den Kopf schief und sah ihn fragend an.
»Warte, ich komme schon.« Tim schob seine Maschine ins Trockene und kam dann zu mir, nahm mal wieder meine Hand und zog mich mit sich. Die warme Luft, die mir innen entgegenschlug, tat wahnsinnig gut. Aber wohin brachte er mich eigentlich? Wir gingen eine Treppe im privaten Bereich hoch und blieben vor einer Zimmertür stehen.
»Das ist mein Zimmer und hat noch kein Mädchen zu Gesicht bekommen, also benimm dich«, meinte er grinsend, wartete aber keine Antwort ab und zog mich einfach mit rein.
»Setz dich«, bot er mir seinen Schreibtischstuhl an.
Okay, aber so nass wie ich war, blieb ich lieber stehen. Er hatte ein schönes Zimmer. Das erste Jungenzimmer in meinem Leben, das ich sehen durfte. Oh Gott, wenn das jetzt meine Eltern wüssten.
Plötzlich kam ein Handtuch angeflogen und ich fing es erschrocken auf. Verdattert sah ich ihn an.
»Trockne dich erst mal ab, sonst wirst du noch krank an deinem dritten Arbeitstag.« Doch das war gar nicht der Grund, warum ich so verdattert dreinschaute. Er stand vor mir, ein Handtuch um den Hals geschlungen, und zwar nur das Handtuch. Sein T-Shirt hatte sich wohl in Luft aufgelöst. Mein Herz machte einen gewaltigen Luftsprung. Verräter. Und trotzdem kam ich mir bescheuert vor, ihn so anzustarren, und meinem Gesicht verlieh es die Farbe Rot, passend zu meiner Wange. Klasse. Schnell drehte ich mich weg, um wenigstens noch ein bisschen Würde zu wahren, auch wenn davon schon lange nichts mehr übrig war. Ich hörte, wie er kurz auflachte.
»So schüchtern? Oder gefällt dir vielleicht nicht, was du gerade gesehen hast?« Die Stimme so nah hinter mir, dass ich seinen Atem in meinem Nacken spüren konnte. Mein Gehirn setzte fast komplett aus, aber mein Herz und meine Gänsehaut waren absolute Verräter, mit denen ich noch ein ernstes Wörtchen reden musste.
»Ich … ich habe nicht gesagt, dass es mir nicht gefällt.« Moment mal, was plapperte mein Mund denn da gerade? Noch ein Verräter. Auch ohne, dass ich ihn sehen konnte, wusste ich, dass Tim grinste. Oh man.
»Und warum drehst du dich dann rum?« Sein Ernst? Wirklich?
»Weil es sich nicht gehört!?« Ich wusste nicht mal, ob ich eine Antwort gab oder eine Frage stellen wollte. Er machte mich so was von nervös, ich hantierte sogar schon mit meinen Fingern rum.
»Sagt wer?« Doch in dem Moment, in dem ich antworten wollte, drehte er mich zu sich herum und sein Blick … Oh Gott, ich glaubte, sterben zu müssen. Wenn ich nicht so verdammt nervös gewesen wäre, hätte ich vielleicht auch einen Ton heraus bekommen. Und dann strich der mir auch noch eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. Jetzt war Ende. Jetzt bekam ich mein Zittern gar nicht mehr unter Kontrolle. Mein Herz machte, was es wollte und meine Beine gehörten mir schon lange nicht mehr.
Er nahm das Handtuch, das er mir zugeworfen hatte und legte es über meine nassen Haare. »Du erkältest dich wirklich noch«, gab er ernst von sich und rubbelte langsam.
Sein Blick. Ich hatte das Gefühl, als würde meiner an seinem festkleben. Wieso fiel es mir gerade so schwer, zu atmen, und was bewegte sich da in meinem Bauch? Schmetterlinge? Panik? Auf jeden Fall ein Gefühl, dass ich nicht unter Kontrolle halten konnte.
»Ich … ich kann das alleine.« Wieso stotterte ich eigentlich?
»Sicher?«, meinte er und grinste leicht.
»Wieso stellst du mir eigentlich immer eine Frage?« Ich hibbelte nervös hin und her.
»Weil du gerade so süß aussiehst, man könnte den Eindruck bekommen, als wäre ich der erste Kerl, mit dem du allein bist«, konterte er und schmunzelte.
Okay, das Stichwort. Mein Stichwort, um mich total in eine Tomate zu verwandeln. Verlegen fingerten meine Finger an dem Handtuch und meine Augen schauten auf den Boden. Peinliche Situation? Ja und wie. Man könnte auch sagen, er hatte den Nagel aber so was und mit voller Wucht auf den Kopf getroffen. Und in dem Moment war mir klar, dass ich nichts mehr sagen musste.
»Ist das dein Ernst?« Auch wenn ich ihn nicht ansah, wusste ich durch die Art der Frage, dass er mich entsetzt anguckte. Und auf einmal stellte sich mein Schalter wieder auf Abwehr.
»Jetzt tu nicht so, als wüsstest du nicht, dass ihr mich in der Schule nicht mal mit dem Arsch angeguckt habt. Im Gegenteil, ihr habt mich bloßgestellt, wo es nur ging. Und du …« Ich lachte kurz gehässig auf. »Du warst ja wohl auch nicht besser. Nein, du hattest nicht Besseres zu tun, als meine Schwärmerei für dich ins Lächerliche zu ziehen. Okay, vielleicht bin ich keine Traumfrau, aber auch ich habe Gefühle. Ich könnte mich heute noch Ohrfeigen, wenn ich daran denke, dass ich mich in dich verknallt hatte.« Ich war so in Rage, dass ich nicht mal merkte, was mein Mund alles von sich gab. Bis er grinsend vor mir stand. Um Himmels willen, hatte ich das etwa gerade alles laut gesagt?
»Also hatte ich damals doch recht«, meinte er schließlich und grinste noch breiter.
Ich versuchte, Luft zu bekommen. Irgendwer hielt mir die Kehle zu. Aber leugnen brachte wohl auch nichts mehr.
»Und wenn schon«, kam es mir kleinlaut über die Lippen. Und mein Blick war wieder auf dem schönen Laminatboden gefesselt.
Er lachte nur kurz. Toll. Ich hatte mich gerade voll zum Deppen gemacht.
»Und wie ist es jetzt?« Er hob langsam mein Gesicht an und sah mich komisch an.
»Was … was soll jetzt sein?« Tim zog einen Mundwinkel zu einem schelmischen Grinsen hoch. Oh, bitte tu das nicht, das macht mich noch nervöser.
»Bist du noch immer in mich verknallt?«
Und wieso flüsterte der jetzt. Menno. Jetzt hatte ich absolut nichts mehr unter Kontrolle.
»Warum sollte ich?«, konterte ich und reckte trotzig mein Kinn, was ihn nur noch mehr grinsen ließ.
»Okay, dann hast du ja nichts zu befürchten.« Hä, wie?
»Was nicht zu befürchten?«
Er sah mich nachdenklich aus verengten Augen an, ließ mich los und meinte schließlich: »Das sage ich dir später einmal.«
Ich verstand gar nichts mehr. Er ging zum Schrank und warf mir ein paar Klamotten entgegen und wies mit dem Kopf auf eine Tür.
»Geh dich umziehen. Wenn du Fieber bekommst, hängen sie mir das noch an.«
Er zwinkerte. Okay, auch wenn ich normalerweise nicht blöd war, verstand ich absolut nichts mehr. Ich war total überfordert und mein Gehirn resignierte. Zudem ließen Engelchen und Teufelchen einmal keinen blöden Kommentar ab. Wow. Also ging ich mich lieber umziehen, als mir meinen Kopf noch weiter zu zerbrechen.
Als ich zurückkam, hielt er die Tür zu seinem Zimmer auf und überließ mir den Vortritt.
»Aber hiergegen sollten wir was machen, bevor sich noch die Gäste erschrecken.« Er strich mir so sanft über meine Wange, dass ich erschrak und mein Herz trotzdem einen Sprung machte. Mistding.
»Wie ist das denn passiert?«, wollte seine Mutter wissen, nachdem er sie gebeten hatte, es mit Make-up etwas zu vertuschen. Ich konnte doch nicht sagen, dass mein Vater das war.
»Das war meine Schuld.« Der würde doch jetzt wohl nicht…
»Ich habe ihr den Helm entgegengeworfen, und wie es aussieht falsch gezielt.« Erleichtert atmete ich aus. Bis eben hatte er noch lässig im Türrahmen gestanden, doch nach diesen Worten war er plötzlich verschwunden. Er hatte mir tatsächlich gerade geholfen. Vielleicht war er doch nicht so schlecht, wie er sich immer gab.
»So fertig.« Meine Chefin legte den Pinsel zur Seite.
»Und was sagst du, sieht man doch kaum noch«, meinte sie stolz und begutachtete ihr Werk.
Ja, äußerlich sah man wirklich nichts mehr, doch innerlich war ich noch genauso hässlich wie vorher. Meine Wunden und Narben würden nie verschwinden.
Ich hatte keine andere Wahl, als jeden Abend wieder in die Höhle des Löwen zu spazieren. Ich war gerade siebzehn und hatte meine Lehre angefangen. Es lagen noch drei Jahre vor mir, an denen ich wohl jeden Tag für etwas bestraft wurde, worum ich nie gebeten hatte.
Geboren worden zu sein.
Drei Jahre und dann wäre ich vielleicht endlich frei. Ich wäre in der Lage, mein eigenes Geld zu verdienen, mir eine eigene Wohnung zu suchen und ordentlich an meinem Selbstbewusstsein zu feilen. Vielleicht würde ich einen netten Mann kennenlernen und mir könnte keiner mehr etwas vorschreiben.
Doch bis dahin würde ich mich anstrengen, ein besserer Mensch zu werden. Jemand, zu dem man aufsehen konnte. Jemand, den auch Tim gernhaben könnte.
Drei verdammt lange Jahre, in denen ich wohl oder übel jeden Tag in mein Gefängnis zurückkehren müsste.
Kapitel 3 Doof bleibt Doof
Drei Tage lang wurde mein Gesicht von meiner Chefin mit dem Pinsel bearbeitet, bis fast nichts mehr von dem Schlagabtausch meiner Eltern zu sehen war. Auch wenn sie keine Wunder vollbringen konnte, sah ich wenigstens wieder passabel aus. Okay, ein Schönheitschirurg wäre auch zu teuer gewesen.
Die Arbeit machte mir Spaß, das nach Hausegehen weniger. Blieb nur noch dieser komische Vogel von Tim, der mich mit seinen ›netten‹ Aktionen immer wieder auf die Palme brachte. So auch heute wieder.
Die Zimmer waren gemacht, die Toiletten und der Gastraum sauber. Dachte ich zumindest.
»Ups«, hörte ich schon das Unheil auf mich zurollen.
Ups? Jetzt mal im Ernst, wie hätte ich darauf reagieren sollen, wenn sich nach einer Stunde vom Schrubben schon Blasen an meinen Händen bildeten und ich dann mitbekomme, wie so ein Depp nichts Besseres zu tun hatte, als ein Fass anzuschlagen. Mit dem Ergebnis, dass Bier in alle Himmelsrichtungen spritzte und sogar vor den schön dekorierten Fenstern keinen Halt machte, geschweige denn vor mir. Eingelegtes Hühnchen, grrr. Geil, oder? Ich hätte ihn am liebsten in seine Einzelteile zerlegt. Vor allem das freche Grinsen, dass er dabei aufgelegt hatte. Ey, echt mal, ging gar nicht. Mein Schalter von zufrieden auf ›Sturm‹. Sein Grinsen noch breiter. Okay, Schalter schoss auf ›Krawall‹.
»Sag mal, gehts noch? Ich war gerade fertig.« Mein böser Blick sollte ihm eigentlich Warnung genug sein, doch irgendwie sah er ihn wohl als regelrechte Einladung an. Auf jeden Fall holte er den Schrubber und drückte ihn mir in die Hand.
»Ich glaube, du hast da noch einige Stellen vergessen.«
Der hatte echt den Knall nicht gehört. Was zum Teufel hatte ich in meinem Leben verbrochen, dass der Kerl meinte, er könnte mit mir anstellen, was er wollte? Vor allem, wie schnell konnte der sein Wesen ändern?
Also gut, da ich sowieso gerade auf hundertachtzig war, dachte ich, eine Tracht Prügel könnte nicht schaden, holte mit dem Schrubber aus, zielte und mein Chef kam um die Ecke. Na klasse, der hatte mir gerade den ganzen Tag versaut. Tims breites Grinsen wurde noch breiter und ich glaubte, auf seiner Schulter gerade mein Teufelchen sitzen zu sehen.
»Was ist denn hier passiert?«, wollte mein Chef natürlich wissen.
»Das Fass ist geplatzt und sie weigert sich, mir zu helfen.«
Und diesmal grinste nicht nur er, sondern auch das Teufelchen. Verdammt, dieser Mistkerl.
Mein Chef guckte fragend von einem zum anderen und ich dachte gerade noch, okay das war es, heute werden Überstunden geschoben, doch zu meinem Erstaunen, Pustekuchen.
»Du hast es verbockt, also machst du auch sauber.« Er nahm mir den Schrubber ab und drückte ihn Tim in die Hand.
Haha, der Himmel kannte also doch so was wie Erbarmen.
»Aber …«, wetterte Tim.
Sein Blick sagte mir »na warte, dich kriege ich auch noch anders dran«. Meiner »dann versuch es doch«. Ich wusste nicht, dass man sogar mit Blicken einen Schlagabtausch führen konnte.
»Ich brauche sie heute in der Küche. Unser Küchenlehrling ist krank und du weißt, dass ich dann allein in der Küche bin. Also wenn ich gleich wiederkomme, ist hier sauber, verstanden?« Knurrend machte Tim sich an die Arbeit und ich kann gar nicht sagen, wie gut das tat, hihi. Ein echtes Hochgefühl. Bis ich meinem Chef in die Küche folgte.
Okay, ich dachte, mich trifft gerade ein Vorschlaghammer, nachdem ich hinter ihm die Küche betrat. Ich hatte mich schon auf ein wenig Unordnung eingestellt, doch was da wirklich auf mich wartete, übertraf meine schlimmsten Vorstellungen. Hatten die hier eine Party gefeiert? Aufräumen komplette Fehlanzeige. Das Geschirr stapelte sich bis unter die Decke, der Boden sah aus, als hätten sie eine Schlacht geschlagen und der ganze Müll wurde einfach liegengelassen. Nur schien es auch Tote gegeben zu haben, denn überall auf dem Boden lag Blut verteilt. Mein Lustpegel stürzte auf unterdurchschnittlich.
»Unser Lehrling hat sich gestern Abend in die Hand geschnitten und hat geblutet wie ein Schwein, aber da ich mit ihm noch die halbe Nacht im Krankenhaus verbracht habe, kam ich hier zu nichts.«
Okay, erklärte wenigstens das Blut.
»Es wäre also nett von dir, wenn du hier ein wenig Ordnung schaffen könntest, ich muss das Essen gleich vorbereiten. Zu allem Überfluss habe ich jetzt noch einen wichtigen Termin mit einem Kunden. Ich weiß echt nicht, wo mir gerade der Kopf steht. Eigentlich sollte Tim mir gestern die Arbeit abnehmen, aber der hatte wohl eine Verabredung und war plötzlich verschwunden.« Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
Und das war wohl eine dezente Aufforderung, mir den Schrubber erneut zu schnappen. Meine Schultern hingen soweit durch, dass sie schon fast die Füße erreichten.
Na ganz klasse. Tim machte sich aus dem Staub und ich konnte sehen, wie ich das Chaos wieder richtete.
»Haha«, hörte ich vom Gastraum her das höhnische Lachen von Tim. Genervt rollte ich mit den Augen.
Okay, der Tag war eindeutig gelaufen. Putzen, spülen und ein nervender Kerl. Eindeutig zu viel und eine Seite im Tagebuch, die man besser leer ließ. Auch wenn ich mir sicher sein konnte, dass seine kleine Rache noch nicht gestillt war.
Aber anscheinend hatte ich mich getäuscht. Nichts ahnend, wie schnell die Zeit verging, wurde der Feierabend, ohne weitere Vorkommnisse, eingeläutet. Sehr zur Freude meines Egos. Gerade auf dem Weg zum Umziehen kam mein Chef mir in die Quere.
»Ich danke dir, dass du dich bereit erklärt hast, mir beim Aufräumen noch zu helfen. Es ist schwierig, wenn man allein in der Küche steht und zu nichts anderem kommt, außer zum Kochen. Ich weiß das wirklich zu schätzen, obwohl du eigentlich schon Feierabend hast und normalerweise keine Überstunden machen darfst. Ich muss jetzt noch zum Steuerberater, also schaffe ich das leider nicht mehr. Dafür darfst du dann an einem anderen Tag früher gehen, versprochen«, meinte er und strahlte über das ganze Gesicht.
Hä? Was? Wer? Wieso? Bitte wann …? Ein Lichtblick erhellte mich. Okay, man konnte eine Rache auch ausüben, ohne sich die Finger selbst dreckig zu machen. Ich war nicht nur doof, sondern auch noch dämlich.