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Je nach Temperatur kann Luft unterschiedlich viel Wasserdampf aufnehmen. Sinkt die Lufttemperatur in der Nacht – ein klarer Himmel unterstützt diese Abkühlung –, muss die abkühlende Luft Wasserdampf abgeben: Der Taupunkt ist erreicht. Wasserdampf kondensiert nun an Gräsern und Blättern. Die Temperatur der Luft liegt gegen Morgen am niedrigsten, deshalb vollzieht sich diese Kondensation vor allem als Morgentau. Ist die Lufttemperatur tief genug, erfolgt die Verwandlung des Wasserdampfs nicht in flüssiges Wasser, sondern in Eis – das ist der Raureif. „Manchmal Tau“ besteht aus einer Lyrik-Sammlung, vier Lyrik-Sequenzen sowie einer Auswahl aus den Liedern der Bäume. Zwischen diesen Teilen stehen Haiku und Schwarz-Weiß-Fotografien. „Dichter in dürftiger Zeit“ heißt eine der Sequenzen. Dies war der Arbeitstitel des Buchs und sein Kern. Jede Zeit ist die dürftige Zeit, ist eines seiner Ergebnisse. Und jeden Tag kann sich etwas ereignen, das Himmel und Erde unversehens verändert, das etwas kippen lässt.
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Volker Friebel
Manchmal Tau
Lyrik und Haiku
Edition Blaue Felder, Tübingen
Edition Blaue Felder,
Volker Friebel, Denzenbergstraße 29, 72074 Tübingen (Deutschland)
www.Blaue-Felder.de
Texte, Bilder und Gestaltung: Volker Friebel
Lektorat: Elisabeth Menrad
Erstveröffentlichung: November 2019
Alle Rechte vorbehalten
ISBN PapierBuch: 978-3-96039-031-2
ISBN eBuch, epub-Format: 978-3-96039-032-9
Inhalt
Zurück geblieben
Haiku 1
Die Karten aufgedeckt
Papierschiffchen
In der Mitte der Welt
Strömen
Letzte Worte einer Seiltänzerin
Einfach vorbei
Mein Jubeldidubel
Ein Segelboot
Nicht zu Hause
Alles ist einfach
Dunkle Fenster
Gefrorener Wasserfall
Einfache Worte
Letzter Tanz
Offene Tür
Haiku 2
Dichter in dürftiger Zeit
Haiku 3
Acht Ansichten vom Hölderlinturm
Segelflieger
Studentin auf dem Treppenabsatz vor dem Philosophischen Seminar, Alte Burse
Pflastersteine vor der Alten Burse
Unglücklich liebende Frau
Handelsreisender
Geschichts-Professor, privat
Der Neckar
Spatz auf der Mauer
Haiku 4
Hölderlin in Tübingen
Haiku 5
Heilig / Der letzte Mensch
Haiku 6
Die Lieder der Bäume 1
Kiefer am Bergsee
Ringe um Ringe
Im Raureif
Nymphe in der Weide
Die Weide
Lindenblüten
Stangen ins Licht
Schaukel im Apfelbaum
Haiku 7
Die Lieder der Bäume 2
Gebogenes Herz
Nagel in der Fichte
Schlehengehölz
Esche im Schnee
Platane hinterm Taubenhaus
Birkenbesen
Samen geworfen
Sag, Wind
Haiku 8
Die Lieder der Bäume 3
Schleifspur
Die Buche
Birke im Moor
Wilder Bienenstock
Schriften vom Leben
Die Tanne
Apfelbaum an der Säge
Lieder der Bäume
Zu Buch und Autor
1
Wie lange saß ich im Wald,
sah in die Ewigkeit? Eine Stunde?
Einen Tag? Anderthalb Leben? Wie lange saß
dieser Fichtenzapfen? Wie lange der Fels?
Wie lange saß der Mörder im Schwerkraftschacht
eines Hochsicherheitstraktes? Wie lange saß
irgendeiner vor dieser Mauer aus Zeit? Wir sitzen alle,
auf der fleckigen Haut dieses Planeten. Wie lange
muss einer sitzen, bis er den Wind versteht,
die Kiefer, die Stechmücke? Muss er erst sein Blut
beflügelt zwischen Bäumen verschwinden sehen?
Muss er ihm nachwinken? Wie lange
hat irgendjemand jemals irgendetwas
wirklich vor dieser Mauer getan?
2
„Komm“, saust der Wind, „komm“,
flüstern schöne Gesichter auf Werbetafeln.
Mein Herz will bleiben, wo es nie war.
Mein Blut strömt im Kreis.
Heb ich den Blick, verschwimmt der Weg
mit dem Horizont.
Ob am Ende das Meer rauscht?
Oder die Quelle?
Ob ein Vogel am Wasser singt,
der mich mitsingen lässt?
3
Durch Einkaufszonen, vorbei an Rathaus
und Dom, an der Panzerkolonne,
die sich bereit macht zur Befriedung
des Horizonts, vorbei am Spiel-Casino
der Bank, angebaut Bretterbuden
all der Initiativen des guten Gewissens,
windschief, die Plakate halb losgerissen vom Leim
aus den Knochen der Ungläubigen, vorbei
am Theater der Sehnsucht, an Justizpalast,
Medienanstalt, an den Laternen
der verbogenen Wörter, vorbei,
vorbei, mit einem Lied tief in mir,
das klingen will, einem Rhythmus,
der tanzt.
4
„Meere, Quellen? Ein Vogel allerdings piept.
Willst du in die Gebärmutter zurück?
In den Moment, der Ei und Same vereinigt?
In einen anderen Irrtum, der vor dir zappelte?
Da sind keine Quellen. Ob durch Zufall entstanden,
ob unter einer planenden Hand:
Es sind Baupläne. Willst du den Baumeister suchen
und hoffen, dass er nicht ‚Zufall‘ heißt?
Und wenn du ihn findest? Wenn ein Stuhl
den Schreiner betrachtet, glaubst du, der spricht dann
mit ihm? Und falls doch? Er lädt ihn nicht
an den Esstisch, wo er Suppe löffelt und dem Bericht
der Tochter über ihren Schultag lauscht.“
Wir plaudern ein wenig, mein Schatten
und ich, tauschen gelegentlich
unsere Rollen. Wann er spricht, wann ich:
Vielleicht weiß es das Gras,
das wir streifen.
5
Solang die Worte dauern, scheint eine Antwort
ganz nah, als müsste jemand bloß weiter
die Lippen bewegen.
Doch plötzlich schwebt nur noch der Duft
der letzten Frage im Raum –
und der Himmel.
„Frage nicht“, singt die Amsel,
„dann werden sich alle Dinge ereignen.“
6
Gestalt um Gestalt überholt mich,
ein endloser Treck. Ideen, Versprechungen,
Menschen, die bald
zu Nebel werden,
noch weit unter dem Horizont.
Alles überholt mich,
was davonläuft vor der Herausforderung dieser Mauer
aus reiner Zeit.
Alles überholt mich,
was um seine Ziele weiß, weil dieses Wissen
seine Möglichkeiten beschränkt.
Alles überholt mich,
was im Klingeln der Werbe-Jingles
das Lied des Himmels verloren hat.
Alles überholt mich,
was vergessen hat, dass jeder Traum von Tau
und von Himmel spricht.
Alles überholt mich –
dass zum Sog des Horizonts noch der Sog
der Menschen hinzukommt.
Alles überholt mich –
dass sich im Sturm die Melodien der Werbe-Jingles
verwirren.
Unbezweifelbar singt ein Vogel.
7
Die Firma gibt eine neue Reihe heraus:
„Lieder der Vögel“. Vertretersitzung.
Das Scharren von Stiften auf weißem Papier.
„Für den Dreijahresvertrag mit Ina, der Amsel,
haben wir knapp eine Million bezahlt“,
unterrichtet stolz der Verlagschef.
„Aus ihrem ersten Album koppeln wir
‚Lied für einen Schlehendorn‘ aus.“ Geraune. Nicken.
Süße und Blut. Investitionen.
Ein Sinfonie-Orchester
begleitet.
8
Vom blauen Himmel ein Stück,
von den Gesängen der Amsel, vom Schmerz
der verlassenen Frau, von der Stille des Herzens,
von den Bewegungen zweier Liebender,
vom Geräusch des Wassers, das die Quelle
eben verlassen hat, vom Klang beginnenden Regens
auf den Dächern der Vorstadt, vom Weiher im Wald,
von den Tränen des Kindes, das so ganz in den Dingen ist,
dass es weint um die Bauklötze, die ein anderes Kind
umwarf, vom Schrei des Mannes, der mit dem Schwert
die Tyrannen-Festung gestürmt hat und nun nur
sich selbst im Spiegel des Thronsaals sieht,
von der Wirklichkeit eines Weltraumschiffs
auf dem Flug nach Alpha Centauri – von allem
will ich!