Mit Würde und Stil durch die Postmoderne - Alexander Basnar - E-Book

Mit Würde und Stil durch die Postmoderne E-Book

Alexander Basnar

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Beschreibung

Christen waren stets entsetzt über die Lebensweise der Welt, in der sie lebten. Sonst wären sie keine Christen geworden, hätten sie sich nicht etwas Besseres erhofft. Was macht unsere Zeit besonders? Früher waren die Heiden noch überzeugt, dass sie eine hervorragende Religion und sehr gute Werte hätten. In der gegenwärtigen Postmoderne ist jeder Optimismus erstorben, es gibt keine verbindenden Überzeugungen mehr, und die psychischen Erkrankungen sind die wahre Pandemie unserer Zeit. Menschenwürde wurde zu einer leeren Worthülse, und bei der Suche nach einer Anleitung zum Leben oder einem tragfähigen Sinn wird die Generation Z alleingelassen. Hinzu kommt die allgegenwärtige Weltuntergangsstimmung. Generation Z - sind wir wirklich am Ende? Wie sollen wir als Christen in Zeiten wie diesen leben? So wie immer, denn die Lehre Christi hat sich nicht verändert und hat heute dieselbe Kraft, Menschen zu verändern, uns Wert und Hoffnung zu vermitteln. Zahlreiche Fachartikel beschreiben, was uns in die Postmoderne geführt hat, und wie sich das auf das Leben(sgefühl) ausgewirkt hat. Dem wird in 33 Kapiteln ein Lebensstil gegenübergestellt, der auf Glauben, Hoffnung und Liebe gründet und uns über das "Post" hinaus in ein neues Zeitalter führt.

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INHALT

Vorwort

Knigges Albtraum

Was ist die Würde des Menschen?

Was zerstörte die Würde des Menschen?

Das Problem einer entwürdigten Menschheit

Antihierarchische Stilformen

Forever Young

Eine neu geschenkte Würde

Die Grundlage der Wahrheit

Ein Leben voll Gnade und Frieden

Ein erneuertes Denken

In Gemeinschaft das neue Leben lernen

Geisterfüllt statt moralinsauer

In Weisheit zuhören

Aus innerem Frieden heraus reden

Zum Dienst begabt

Frei von Geldliebe

Unsere äußere Erscheinung

Den Armen zugewandt

Gastfreundschaft

Ja zu Hierarchie!

Mann und Frau

Partnerwahl in Heiligkeit

Kindererziehung

Überwindung des Generationenkonflikts

Arbeitgeber und Arbeitnehmer

Bewährte Leiter

Geschwisterliche Korrektur

Unsere liebe Obrigkeit

Gewaltfreiheit

Die Mitmenschen um uns

Freizeit und Vergnügungen

Leben in Hoffnung

Über allem die Liebe

Vorwort

„O guter Gott, für welche Zeiten hast du mich aufbewahrt, dass ich

solches erleben muss!“ (Polykarp von Smyrna 69-155).1

Christen waren stets entsetzt über die Lebensweise der Welt, in der sie lebten. Sonst wären sie keine Christen geworden, hätten sie sich nicht etwas Besseres erhofft. Was macht unsere Zeit besonders? Früher waren die Heiden noch überzeugt, dass sie eine hervorragende Religion und sehr gute Werte hätten. In der gegenwärtigen Postmoderne ist jeder Optimismus erstorben, es gibt keine verbindenden Überzeugungen mehr, und die psychischen Erkrankungen sind die wahre Pandemie unserer Zeit. Menschenwürde wurde zu einer leeren Worthülse, und bei der Suche nach einer Anleitung zum Leben oder einem tragfähigen Sinn wird die Generation Z alleingelassen. Hinzu kommt die allgegenwärtige Weltuntergangsstimmung. Generation Z – sind wir wirklich am Ende?

Wie sollen wir als Christen in Zeiten wie diesen leben? So wie immer, denn die Lehre Christi hat sich nicht verändert und hat heute dieselbe Kraft, Menschen zu verändern, uns Wert und Hoffnung zu vermitteln. Darum dieses Buch. Auf rund 470 Seiten lege ich dar, wie wir, beginnend mit der Aufklärung vor rund 250 Jahren, an diesen „Totpunkt“ gekommen sind. Diese folgerichtige Entwicklung wird mit zahlreichen Fachartikeln (soziologisch, philosophisch, historisch) nachvollziehbar gemacht, um kontrastierend dazu die biblische Perspektive über die Menschenwürde und den christlichen Lebensstil zu entfalten. In 33 Kapiteln wird dabei fast jeder Lebensbereich besprochen, wobei ich auch mein eigenes Herz öffne, von meinen Erfahrungen und auch Fehlern schreibe, und was ich in meinen 37 Jahren in der Nachfolge Christi da und dort wahrgenommen habe.

Es ist ein überaus praktisches Buch, das vor allem eines will: Hoffnung vermitteln. Wenn ich einen vermessenen Wunsch äußern darf: Möge jeder, der ernsthaft nach Antworten für das Leben sucht, sich durch diesen Schmöker durcharbeiten! Das klingt anachronistisch. Geht es nicht kürzer oder kompakter? Müssen es gleich so viele Seiten sein? Würde man den genetischen Bauplan eines Marienkäfers aufschreiben, wäre das ein ungleich dickeres Buch. Wieviel mehr ist der Mensch? Um uns selbst zu verstehen, um zu lernen, wie das Leben gemeint ist, können wir uns keine Abkürzungen erlauben. Das erfordert etwas Arbeit und Ausdauer, gerade weil uns die Grundlagen dazu meist weder in der Erziehung noch durch die Gesellschaft vermittelt werden.

Jedes dieser 33 Kapitel ist in sich weitgehend abgeschlossen und könnte selbst auf ein eigenes dickes Buch weiter ausgearbeitet werden. Es bleibt bei einem Denkanstoß, den jeder für sich weiter verfolgen darf. Gewiss habe ich da und dort einiges übersehen oder auch unausgewogen präsentiert; ich maße mir nicht an, alles zu wissen und zu verstehen. Doch was ich in den letzten Jahrzehnten gelernt habe, wovon mein Herz voll geworden ist, das will ich mit diesen Seiten teilen.

Ich wünsche allen Lesern einen großen Gewinn und ein gelungenes Leben, und dass sie erleben, was der Herr Jesus uns sagte:

„Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es im Überfluss haben.“ (Johannes 10,10).

Krumau am Kamp, im Juni 2024

1 Zitiert in Eusebius, Kirchengeschichte V,20

Knigges Albtraum

„Wir sehen die klügsten, verständigsten Menschen im gemeinen

Leben Schritte tun, wozu wir den Kopf schütteln müssen.“

(Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr von Knigge)2

Der Freiherr von Knigge (1752-1796), rutschte im Badezimmer auf der Seife aus. Er schlug mit dem Kopf gegen das Waschbecken und wurde bewusstlos. Während er am Boden lag, fand er sich plötzlich in einer fremden Zeit wieder – in einer fremden Welt. Er ging umher und beobachtete. Er war überaus „verwundert“:

Die verschwitzte Baseballkappe scheint mit ihrer Schädeldecke verwachsen und wird überdies verkehrt herum getragen. Durch die Löcher der zerrissenen Jeans blitzen die Knie hervor. Die Tattoos auf ihrer Haut erzählen seltsame Geschichten. Ihre Haarfarbe wechselt in regelmäßigen Abständen, wie sie auch ihr Geschlecht selbst bestimmen wollen. Ihre Sprache ist „vertiktokt“. Sozial retardiert kleben sie an ihren digitalen Geräten, ein Blickkontakt überfordert sie. Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist auf die Länge schriller Werbespots geschrumpft. Ihre Handschrift muss man als „Kakographie“ bezeichnen. Auch ist ihr Arbeitseifer endenwollend, die „Aufschieberitis“ jedoch schier unendlich. Ihre Partnerschaften sind „flexibel“. Treue und Ehre gelten als Unwort. Werte und Leitlinien für das Leben werden zwar händeringend gesucht, aber nicht mehr angeboten.

Willkommen in der Postmoderne! Willkommen in der postchristlichen Gesellschaft! Willkommen in der Generation Z!

Knigges Kopf brummte, als er erwachte und sich mühsam aufrappelte. Nach einer Tasse starken Kaffee ließ er seine Visionen revuepassieren. Er fasste einen Entschluss: Das muss verhindert werden! Er besorgte sich mehrere Bögen Papier und spitzte seinen Federkiel. Eine Anleitung für das Leben sollte es werden … Knigge ist gescheitert.

Woran scheiterte Knigge? Knigge war ein Mann der „Aufklärung“, ein Freimaurer, der idealistisch daran glaubte, dass der Mensch in seinem Wesen edel und gut sei. Der raue Stein müsse nur bearbeitet werden. Eine beherzte Bildung solle das ans Licht bringen:

„Keine Wohltat ist größer als die des Unterrichts und der Bildung. Wer jemals etwas dazu beigetragen hat, uns zu weiseren, besseren und glücklicheren Menschen zu machen, der müsse unsers wärmsten Danks lebenslang gewiss sein können.“3

Doch heute, 250 Jahre nach Beginn der aufklärerischen Bemühungen, scheint die Gesellschaft schlimmer dran zu sein als unter dem kirchlichen Diktat, welches zurecht kritisiert wurde.

Weder der kirchliche Zwang, noch der aufklärerische Optimismus brachte den guten Menschen hervor, den uns beide als Ideal vor Augen stellen. Die Kirche nennt sie „Heilige“, die Aufklärung spricht von „Humanisten“.

Mit diesem Buch will ich einen neuen Anlauf machen, denn es ist hoch an der Zeit. Ich bin Lehrer und erlebe hautnah die Kapitulation der Pädagogik vor den Fakten. Die Kollegen scheuen sich nicht nur, von Werten zu sprechen und diese zu vermitteln, es mangelt vielen selbst an einem gesunden Wertefundament. Mehr noch: es fehlt ein Menschenbild, das realistisch ist und zugleich Hoffnung vermittelt. Allein darauf lassen sich Werte begründen und Leitlinien für das Leben formulieren, die funktionieren und die man auch gerne annimmt.

Darum soll es gehen: Um Würde und Stil, um eine Handreichung für ein Leben im Einklang mit dem, was wir tatsächlich sind. Ich verspreche, dass es kein verstaubtes Benimmbuch im Stile Knigges wird.

2 Knigge, Über den Umgang mit Menschen, Erstdruck 1788, hier nach der 3. erweiterten Auflage von 1790. Erster Teil, Einleitung, 1

3 Knigge, Über den Umgang mit Menschen, Erstdruck 1788, hier nach der 3. erweiterten Auflage von 1790. Zweiter Teil, 10. Kapitel, 5.

Was ist die Würde des Menschen?

„Wo kommst du her, und wo willst du hin?“ (Genesis 16,8)

Wer bin ich? Was bin ich wert? Wer nimmt mich ernst? Was ist mein Platz im großen Ganzen? Was ist der Sinn meines Daseins? Wer sich diese Fragen nicht stellt, wird sie auch nicht beantwortet bekommen. Wer keine befriedigenden Antworten darauf kennt, dessen Leben wird die Verneinung all dessen sein: Du bist ein Niemand. Du hast keinen Wert. Niemand nimmt Dich ernst. Es gibt kein großes Ganzes. Dein Leben ist sinnlos. Worauf das hinausläuft, ist jedem klar.

Es ist jedoch erschütternd, wie diese Antworten – auch wenn man sie kaum auszusprechen wagt – zum Ausgangspunkt eines Lebensgefühls geworden sind, welches nicht erst (und nicht nur) die Generation Z prägt, sondern sich beginnend mit der Aufklärung sukzessive aufgebaut und verstärkt hat.

„Eine Studie, die 2018 durchgeführt wurde, zeigte, dass in den USA bereits 37 % dieser Altersgruppe in therapeutischer Betreuung waren. In keiner vorherigen Generation war der Wert so hoch. Allerdings lag dies seinerzeit mehr an der Bereitschaft, sich Hilfe zu suchen, als an einem Anstieg von psychischen Erkrankungen. Für die Zeit ab 2020 wurde weltweit eine Zunahme von psychischen Erkrankungen nachgewiesen, und zwar nicht nur unter Angehörigen der Generation Z. Laut einem Bericht der WHO nahmen im ersten Jahr der Pandemie weltweit sowohl Angststörungen als auch Depressionen um mehr als 25 Prozent zu.“4

Der Elefant im Raum, den niemand zu sehen scheint, sind die Eingangsfragen. Was ist das nun für eine ominöse „Generation Z“?

Die Soziologie hat die verschiedenen aufeinanderfolgenden Generationen der letzten etwas mehr als 100 Jahre in Abschnitte unterteilt und versucht, diese als Gruppen zu beschreiben (nach Geburtsjahren):

1883-1900 – Lost Generation

1901-1927 – Greatest/G.I. Generation

1928-1945 – Silent Generation

1946-1964 – Baby Boomers

1965-1979 – Generation X

1980-1995 – Millenials/Generation Y

1996-2010 – Zoomers/Generation Z

2010-2028 – Generation Alpha

Diese Gruppierungen sind nichts anderes als der Versuch, die Veränderungen des Lebensgefühls im Verlauf der Generationen zu erfassen und zu beschreiben. Ich wurde übrigens 1969 geboren. Mit Alpha beginnt eine neue Zählung, aber ich teile nicht den Optimismus der mit einem Neubeginn der Nummerierung mit Alpha zum Ausdruck kommen mag. Z ist eine fatale Bezeichnung, weil sie ein Ende vermittelt. No Future.

„Die Jugendstudie von 2022 zeigte, dass die Generation Z ihre Zukunftsaussichten gefährdet sieht. Die Covid-19-Krise und der Krieg in der Ukraine beeinträchtigen ihr Sicherheitsgefühl. Die Studie zeigt, dass bei Jugendlichen das Gefühl verbreitet ist, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren. Bei vielen ist die psychische Belastung gestiegen, fast die Hälfte fühlt sich unter Stress, mehr als jeder Dritte spricht von Antriebslosigkeit. Dazu hat auch der Verlust von Kontakten während der Pandemie beigetragen.

Auch der Deloitte Millennial Survey von 2019 zeigt, dass die Generation Z ebenso wie die Millenials pessimistisch in die Zukunft blicken. Diese Tendenz ist in Deutschland noch ausgeprägter als in anderen Ländern. Nur 10 % der Millennials und nur 7 Prozent der Generation Z glauben an eine Verbesserung der sozialen und politischen Lage (Klima, Terrorismus, Rente). Die Ambitionen der jungen Menschen bezüglich Vermögensaufbau, Eigenheim oder Reisen bleiben in Deutschland deutlich hinter dem internationalen Durchschnitt zurück. Auch sind die deutschen Befragten weniger ambitioniert, selbst die Gesellschaft zu verbessern.“5

Das deckt sich mit meinen Beobachtungen aus meiner eigenen langjährigen pädagogischen Tätigkeit. Keineswegs gilt das überall so. Es trifft auf jene Regionen und Gesellschaften zu, die ich als „entwurzelt“ bezeichnen würde. Menschen, die von ihrer Geschichte und geerbten Kultur abgeschnitten wurden und vor allem den Bezug zu Gott verloren haben. Das gilt besonders für die westliche Gesellschaft. Und hier ist auch die Ursache zu suchen, warum es bei Zuwanderung aus „nichtaufgeklärten“ Kulturen zu Integrationsproblemen kommen muss, da diese auf anderen Paradigmen aufbauen, wobei es egal ist, ob man diese bewusst angenommen hat oder unreflektiert darin sozialisiert wurde.

Bevor ich darauf eingehen kann, wie es zu diesem Verlust gekommen ist, muss ich erläutern, was wir verloren haben: unsere Würde. Was ist das? Wie wird sie hergeleitet und begründet?

Würde ist ein dem Menschen innewohnender Wert. Er gebietet Achtung und begründet den Selbstwert. Menschenwürde hängt also direkt mit den Fragen zusammen: Wer bin ich? Was bin ich wert? Wer nimmt mich ernst? Was ist mein Platz im großen Ganzen? Was ist der Sinn meines Daseins? Darum spricht man auch viel von „Menschenwürde“, ohne jedoch den Begriff mit einem allgemeingültigen Inhalt zu füllen. Das lässt sich mit dem vorherrschenden Individualismus, der Idee, sein Leben selbst zu definieren und zu gestalten, nur schwer vereinbaren. Darum ist praktisch alles Reden von „Menschenwürde“ floskelhaft.

„Menschenwürde: Der unantastbare Wert, der jedem Menschen innewohnt und sich in seiner Freiheit zur Selbstbestimmung, seiner Individualität und seinem Recht aus menschlicher Würde ausdrückt.“6

Die Würde des Menschen kann nicht darin bestehen, dass jeder das Recht behauptet, aus seinem Leben zu machen, was er will. Warum nicht? Weil „Mensch“ ein „Allgemeinbegriff“ ist, und daher muss „Menschenwürde“ aus der Erkenntnis folgen, was den Menschen an sich ausmacht, und kann nicht darauf reduziert werden, was der Einzelne meint zu sein und werden zu wollen. Wenn man sich darauf geeinigt hat, was ein Mensch ist, dann schränkt das unsere Optionen ein. Wir können uns nicht als Hund gebärden oder meinen wie ein Vogel fliegen zu können (Ikarus hat das probiert und ist gescheitert). Dasselbe gilt auch für unser Mannsein und Frausein. Was wir sind, bestimmt, was wir werden können, und gibt uns eine Auswahl an Möglichkeiten im Rahmen unseres Seins.

Aus diesem Sein folgt also ein Sollen, dem man folgen sollte, was man aber auch verwerfen kann. Würde als Beliebigkeit zu umschreiben, wie das in der zitierten Definition geschieht, ist daher weniger als unbefriedigend. Es ist, als habe die Philosophie die Sophia (Weisheit) betrogen und sich mit Psyche (Seele) und Soma (Körper) wechselseitig ins Bett gelegt. Damit aber ist der Mensch auf sich selbst und seine Empfindungen und Begierden zurückgeworfen.

Wer oder was der Mensch ist, kann nur von dem beantwortet werden, der ihn erschaffen hat. Wir müssen also bei Gott beginnen, bei dem Gott, den unsere westliche Gesellschaft in den letzten 250 Jahren abgeschafft und aus dem Bewusstsein verdrängt hat. Wir müssen zu Gott zurückgehen, um Klarheit zu gewinnen, denn angesichts des Totpunktes, an dem wir angelangt sind, bleibt uns keine andere Wahl als zu hinterfragen, ob die geisteswissenschaftlichen Entwicklungen seit der Aufklärung tatsächlich der Weisheit letzter Schluss waren. Oder wollen wir darauf warten, bis 100% unserer Jugendlichen (unserer Zukunft!) in der Psychiatrie gelandet sind?

Schlagen wir also das Buch Genesis auf:

„Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen nach unserem Bild, uns ähnlich; die sollen herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über die ganze Erde, auch über alles Gewürm, das auf der Erde kriecht!

Und Gott schuf den Menschen in seinem Bild, im Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie.

Und Gott segnete sie; und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan; und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über alles Lebendige, das sich regt auf der Erde!“ (Genesis 1,16-28).

Der Mensch ist Gott ähnlich. Er ist in Seinem Bild geschaffen. Gott gab den Menschen einen Auftrag, der sie in Seine Schöpfungsabsichten einbinden sollte, und damit sowohl die Verantwortung als auch die Befähigung, über Seine gute Schöpfung zu walten. Das ist mit „herrschen“ gemeint – wir haben aufgrund unserer Missverwaltung der Schöpfung und unseres bösen Umgangs mit Macht und Autorität den falschen Schluss gezogen, dass Herrschaft per se böse ist. Das Gegenteil ist der Fall: Wir sind böse geworden, und darum ist das herausgekommen, was wir vor Augen sehen, wofür wir uns auch schämen.

Dass Gott uns in Seinem Bild erschaffen und beauftragt hat, macht einen großen Teil unserer Würde aus. Wir sollen gegenüber allem, was lebt, Repräsentanten Gottes auf Erden sein. Auch einander gegenüber. Darum ist der Mensch heilig und unantastbar. Später, nachdem schon viel schiefgegangen war, bekräftigt Gott diese Unantastbarkeit:

„Jedoch euer eigenes Blut will ich fordern, von der Hand aller Tiere will ich es fordern und von der Hand des Menschen, von der Hand seines Bruders will ich das Leben des Menschen fordern. Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn im Bild Gottes hat Er den Menschen gemacht.“ (Genesis 9,5-6).

Weder Tieren noch Menschen ist es gestattet, einen Menschen zu töten. Aus der Gottesebenbildlichkeit ergibt sich ein unbedingter Lebensschutz (auch während der Schwangerschaft). Als Kain Abel erschlug, gestattete Gott keinem Menschen, diese Blutschuld zu rächen, indem jemand Kain tötete. Da aber das Morden überhandgenommen hatte, gebot Gott, Mörder mit dem Tod zu bestrafen, damit der Gewalt Einhalt geboten würde. Wir wissen, dass auch das von uns Menschen „missverwaltet“ wurde. Doch die Würde des Menschen schließt nicht nur Mord und Totschlag aus. Jakobus schreibt:

„Mit der Zunge loben wir Gott, den Vater, und mit ihr verfluchen wir die Menschen, die nach dem Bild Gottes gemacht sind; aus ein und demselben Mund geht Loben und Fluchen hervor. Das soll nicht so sein, meine Brüder! Sprudelt auch eine Quelle aus derselben Öffnung Süßes und Bitteres hervor?“ (Jakobus 3,9-11).

Die Menschenwürde leitet sich von Gott her. Sie wurde uns verliehen und in uns grundgelegt. Sie ist unantastbar, weshalb auch wir unantastbar sind. Darum gibt es weder unwertes Leben, noch unerwünschtes Leben, noch qualitative Unterschiede unter „Rassen“. Wir sind eine Familie, wie Paulus sagte:

„Und er hat aus einem Blut jedes Volk der Menschheit gemacht, dass sie auf dem ganzen Erdboden wohnen sollen, und hat im voraus verordnete Zeiten und die Grenzen ihres Wohnens bestimmt, damit sie den Herrn suchen sollten, ob sie ihn wohl umhertastend wahrnehmen und finden möchten; und doch ist er ja jedem einzelnen von uns nicht ferne; denn »in ihm leben, weben und sind wir«, wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: »Denn auch wir sind von seinem Geschlecht.«“ (Apostelgeschichte 17,26-28).

Unsere von Gott gegebene Würde kann nicht ohne Ihn bestehen, sie bedarf der ständigen Rückbindung an Ihn. Darum ist der Mensch in seinem Wesen religiös und suchend, auch wenn ihm der Gott der Bibel noch völlig unbekannt ist. Tiefgründigen Philosophen wie Epimenides oder Aratus (beide zitiert Paulus hier) ist das schmerzhaft bewusst; schmerzhaft deshalb, weil sie zwar suchten, aber die Antwort nicht kannten. Salomo, der als der weiseste Mann seiner Zeit galt, stellte fest:

„Er hat alles vortrefflich gemacht zu seiner Zeit, auch die Ewigkeit hat er ihnen ins Herz gelegt – nur dass der Mensch das Werk, das Gott getan hat, nicht von Anfang bis zu Ende ergründen kann.“ (Prediger 3,11).

Die Resignation in der Gottsuche, welche unsere Kultur kennzeichnet, führt vom Schmerz weiter in die Psychiatrie. Darum geht es um entscheidende Fragen, denen wir uns alle stellen müssen.

Dass Gott uns beauftragt, zeigt, dass Er uns etwas zutraut. Er hat uns mit Intelligenz und Kreativität begabt, damit wir diese sinnvoll einsetzen und darin Kraft, Freude, Bestätigung und Sinn finden. Losgelöst von dem Auftrag und losgelöst von Gott entwickeln diese Gaben ein egozentrisches und destruktives Eigenleben. Mit demselben Feuer kann man Brot backen oder einen Wald anzünden. Mit derselben Intelligenz kann man Probleme lösen und Probleme schaffen. Dieselbe Kreativität kann zur Ehre Gottes und dem Wohl der Schöpfung zum Einsatz kommen oder für Perversion und Selbsterhöhung missbraucht werden.

Zuletzt hat Gott den Menschen männlich und weiblich geschaffen und uns damit unterschiedlich begabt und berufen. Eine Frau kann nicht tun, wozu allein der Mann berufen ist, und umgekehrt. Die besondere Tragik heute besteht darin, dass sogar das so Offensichtliche geleugnet und bekämpft wird. Nach dem Schöpfungswillen Gottes ist die Würde eines Mannes eine auftragsbezogen andere als die der Frau, und doch benötigen sie einander, um Gottes Auftrag – fruchtbar zu sein und die Erde zu füllen – verwirklichen zu können.

Suchen wir in der Bibel den Begriff „Würde“, müssen wir vom Konzept her an Begriffe wie „Ehre“ oder „Herrlichkeit“ denken. Das griechische Wort dafür ist „doxa“7 und umfasst Bedeutungen wie: Meinung, Urteil, Ansicht, Glanz, Schein, Majestät, Würde, Ehre, Herrlichkeit. Die Wurzel des Wortes hat mit „dokeo“ zu tun, welches einen Nachdenkprozess beschreibt. Unsere Würde erschließt sich uns nicht, wenn wir nicht bereit sind (oder werden), gründlich nachzudenken, uns eine Meinung zu bilden, unseren Wert zu bestimmen und anzunehmen. Wir brauchen also einen glaubwürdigen und allgemeinen Ausgangspunkt, der den Menschen an sich beschreibt.

Die Bibel beginnt bereits bei der Erschaffung des Menschen, uns dessen Würde zu beschreiben und nahezubringen.

Halten wir inne: Ist das alleine nicht bereits wunderbar? Wird es nicht durch die Erfahrungen der Menschen von Beginn an bestätigt? Ist es nicht das, was in uns brennt, was wir von Natur aus erstreben? Die Erkrankung der Seele beginnt mit dem Verleugnen dessen, was wir sind. Darin besteht der Verlust der Würde, unsere Selbstentwürdigung.

Wie beantworten sich nun die Eingangsfragen?

Wer bin ich? Was bin ich wert? Wer nimmt mich ernst? Was ist mein Platz im großen Ganzen? Was ist der Sinn meines Daseins?

Ich bin von Gott in Seinem Bild und zur Gemeinschaft mit Ihm erschaffen worden. Er selbst nimmt mich so ernst, dass Er mich zur Mitarbeit in Seiner Schöpfung berufen hat. Ich bin Teil der Menschheitsfamilie, die diesem Auftrag nur gemeinsam gerecht werden kann. Der Sinn meines Lebens besteht darin, Gott zu kennen und in Seinem Auftrag zur Entfaltung zu kommen.

4https://de.wikipedia.org/wiki/Generation_Z

5 Ebda.

6https://www.studysmarter.de/studium/rechtswissenschaften/oeffentliches-recht/menschenwuerde/

7 entspricht dem hebräischen kâbôd

Was zerstörte die Würde des Menschen?

„Hast du dir dies nicht selbst bereitet, indem du den Herrn, deinen

Gott, verlassen hast zu der Zeit, als er dich auf dem Weg führte? …

Deine Bosheit straft dich, und deine Abtrünnigkeit züchtigt dich!

Erkenne doch und sieh, wie schlimm und bitter es ist, dass du den

Herrn, deinen Gott, verlassen hast, und dass keine Furcht vor mir in

dir ist! spricht der Herrscher, der Herr der Heerscharen.“

(Jeremia 2,17+19)

Zur Würde des Menschen gehört die Freiheit. Darin hat der Artikel über die Menschenwürde auch grundsätzlich recht:

„Menschenwürde: Der unantastbare Wert, der jedem Menschen innewohnt und sich in seiner Freiheit zur Selbstbestimmung, seiner Individualität und seinem Recht aus menschlicher Würde ausdrückt.“8

Darum hat Gott dem Menschen auch eine Wahlmöglichkeit gegeben, gemäß der ihm verliehenen Würde und Berufung zu leben, oder eigene Wege zu gehen. Das war der verbotene „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.“ Wenn wir frei sind zu wählen, warum war der Baum dann verboten? Weil es gute und schlechte Entscheidungen gibt. Nicht jede Wahl, die wir treffen, ist nützlich. Paulus schreibt einmal, bezogen auf weit weniger bedeutende Wahlmöglichkeiten:

„Alles ist mir erlaubt – aber nicht alles ist nützlich! Alles ist mir erlaubt – aber ich will mich von nichts beherrschen lassen!“ (1. Korinther 6,12).

Manche Wahlmöglichkeiten sind zwar lediglich gesundheitsschädigend oder machen abhängig – dennoch raten wir ganz selbstverständlich jedem davon ab! Anderes ist so gefährlich oder gefährdend, dass es gesetzlich verboten ist. Bei manchen Dingen sagt es schon der gesunde Menschenverstand, dass man besser die Finger davon lässt.

Der verbotene Baum betrifft die Frage, wer zu entscheiden hat, was gut und böse ist. Dieses Recht hat sich Gott exklusiv vorbehalten, denn Er ist der Schöpfer. Alles, was existiert, existiert allein durch Seinen Willen, und die ganze Schöpfung ist aufeinander abgestimmt. Was gut oder böse ist, ist also nicht von Seiner Schöpfungsidee zu trennen. Es war nicht sein Wille, dass wir nie erfahren sollten, was richtig und falsch ist, sondern, dass wir es nicht unabhängig von Ihm lernen. Wir sollen die Schöpfung in Seinem Sinn regieren, nicht eigenmächtig nach unserem Gutdünken.

Freiheit kann es also nur im Rahmen des Guten geben, im Rahmen dessen, wie Gott sich diese Welt vorgestellt hat. Es wäre aber keine Freiheit, wenn wir nicht auch „Nein“ sagen könnten. Das „Nein“ ist nicht erlaubt, aber möglich – und es hat Konsequenzen, die Er uns nicht verschwiegen hat. Die Konsequenz ist der Verlust des ewigen Lebens, indem wir vom Baum des Lebens getrennt und aus dem Garten Eden – dem Ort der unmittelbaren Begegnung mit Gott – verbannt werden.

Die Verführung zu dieser „Ursünde“ ging mit einem falschen Versprechen einher:

„Keineswegs werdet ihr sterben! Sondern Gott weiß: An dem Tag, da ihr davon esst, werden euch die Augen geöffnet, und ihr werdet sein wie Gott und werdet erkennen, was gut und böse ist!“ (Genesis 3,4-5).

Wir wissen aus Erfahrung, dass die Schlange gelogen hat, denn wir sind alle sterblich und erwarten unseren Tod mit Grauen. Wir sind uns täglich unserer Beschränkungen und Grenzen bewusst, also alles andere als Gott gleich. Wir alle sind „jenseits von Eden“ geboren und tragen die Konsequenzen der Entscheidung unserer ersten Eltern. Um das etwas nachvollziehbarer zu machen: Ich habe einen slowakischen Namen, kann aber kein slowakisch, weil meine Großmutter als junge Frau nach Wien gezogen ist. Darum lebe ich in Österreich, rede und denke wie ein Österreicher und liebe Schnitzel. Im Gegensatz zum Garten Eden könnte ich in die Slowakei zurückgehen, würde dort aber immer als Fremder wahrgenommen werden. Die Rückkehr in den Garten Eden ist uns in diesem Leben zwar verwehrt, aber in der Auferstehung zugesagt. Das ist das Thema des Evangeliums.

Die ganze Menschheitsgeschichte steht unter dieser Verheißung, Gott steht uns also nicht feindselig gegenüber, sondern bietet jedermann zu jederzeit Versöhnung an. Die Fragestellung ist nun genau umgekehrt: Wollen wir unser eigenmächtiges Bestimmen von Gut und Böse lassen und neu lernen, wie es Gott festgelegt hat, oder halten wir fest an unseren eigenen Wegen? Dann begehen wir statt eines Sündenfalls einen „Tugendfall“ und kehren von der Ursünde um. Diese Wahlmöglichkeit besteht auf mehreren Ebenen:

Gott hat jedem Menschen die Ewigkeit ins Herz gelegt, damit er beginnt Gott zu suchen – und diese Suche nimmt Er wahr:

„Denn die Augen des Herrn durchstreifen die ganze Erde, um sich mächtig zu erweisen an denen, deren Herz ungeteilt auf ihn gerichtet ist.“ (2. Chronik 16,9).

Offenbar gibt es zu jederzeit und überall Menschen, auf die das zutrifft, wenn es auch nur wenige sind. Dabei nimmt Er wahr, ob diese Suche nur eine philosophische Spekulation ist, oder ein ernsthaftes Bemühen um das Gute erweckt hat:

„Wer ist der Mann, der Leben begehrt, der sich Tage wünscht, an denen er Gutes schaut? Behüte deine Zunge vor Bösem und deine Lippen, dass sie nicht betrügen; weiche vom Bösen und tue Gutes, suche den Frieden und jage ihm nach! Die Augen des Herrn achten auf die Gerechten und seine Ohren auf ihr Schreien.“ (Psalm 34,13-16).

Im Grunde wissen wir, was gut und böse ist – wenigstens in den Grundzügen. Ebenso kennen wir aber gegenteilige Neigungen in uns, die uns zur Lüge, zum Ehebruch, zum Geiz, zur Maßlosigkeit bis hin zum Totschlag verleiten. Wir stehen also in der Spannung zwischen der Stimme unseres Gewissens, dem Bewusstsein der Ewigkeit und der Sehnsucht nach Gott auf der einen Seite, und unseren eigenen Begierden und Wünschen, unseren Trieben und gesellschaftlichen Werten, die der Versöhnung mit Gott entgegenstehen.

Darüber hinaus erwählte Gott Menschen, denen Er sich offenbarte, die Er zu einem Volk werden ließ, das der Welt zeigen sollte, wie ein Leben unter der guten Führung Gottes aussieht:

„So bewahrt sie nun [meine Gebote] und tut sie; denn darin besteht eure Weisheit und euer Verstand vor den Augen der Völker. Wenn sie alle diese Gebote hören, werden sie sagen: Wie ist doch dieses große Volk ein so weises und verständiges Volk!

Denn wo ist ein so großes Volk, zu dem sich die Götter so nahen, wie der Herr, unser Gott, es tut, so oft wir ihn anrufen? Und wo ist ein so großes Volk, das so gerechte Satzungen und Rechtsbestimmungen hätte, wie dieses ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege?“ (Deuteronomium 4,6-8).

Aus diesem Volk kam der Messias, Jesus Christus, und die Christenheit sollte das Wort Gottes allen Menschen auf dieselbe Weise durch das Vorbild eines gottesfürchtigen Lebens bekannt machen.

Gott will, dass wir eine faire Wahlmöglichkeit haben, und Er hat jedem Menschen auf all diesen Ebenen – Ewigkeit im Herzen, Gewissen und Verkündigung des Wortes – die Voraussetzungen geschaffen, frei entscheiden zu können. Darum vollzieht in gewissem Sinne jeder Mensch, ab dem Alter, wo er geistig in der Lage ist, moralische Entscheidungen zu treffen, auch seinen persönlichen Sündenfall. Ebenso kann jeder Mensch nachdenklich werden und sich auf die Suche nach Gott begeben.

Die Geschichte Europas ist wesentlich geprägt vom Christentum, und keineswegs wurde da alles richtig gemacht. Die Kirche operierte seit dem vierten Jahrhundert (konstantinische Wende, Staatskirchentum) zusehends mit Zwängen und Drohungen, was sehr viel Unzufriedenheit bewirkte, die sich zuerst in der Reformation und dann in der Aufklärung entlud. Nichtsdestotrotz brachte die christliche Zivilisation sehr viel Gutes, von dem wir noch heute zehren.

Die Aufklärung jedoch war der große Sündenfall Europas, begründet durch Philosophen, welche die Vormundschaft der Kirche abschütteln wollten und davon ausgingen, dass der Mensch von sich aus gut sei und sich und die Welt ohne Kirche noch viel besser gestalten könne. Ihre Schriften strotzen vor selbstbewusstem Optimismus. Der Leitsatz Immanuel Kants (1724-1804) steht über diesem intellektuellen Aufbruch:

„Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“9

Praktisch bedeutet das, dass der Mensch sein eigener Herr sei und aus sich selbst heraus zur Vollkommenheit strebe und frei sei, diese zu erreichen:

„Zur inneren Freiheit aber werden zwei Stücke erfordert: seiner selbst in einem gegebenen Fall Meister und über sich selbst Herr zu sein, d. i. seine Affekte zu zähmen und seine Leidenschaften zu beherrschen.“10

Meines Wissens hat jedoch niemand die Ablehnung von Gottes Weisung so klar abgelehnt wie Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781):

„Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: "Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!"11

Wenn wir unser eigener Herr sind und unser Verstand der einzige Zugang zur Erkenntnis ist, dann ist es folgerichtig, dass man sich von Gott, an den man nicht länger glauben will, auch nichts sagen lassen will. Deutlicher kann man es nicht ausdrücken. Für Lessing ist das aufrichtige Streben nach Wahrheit edler, als das Geschenk der Offenbarung vertrauensvoll anzunehmen, auch wenn das den ewigen Irrtum bedeute.

Die deutschen und französischen Aufklärer waren hier deutlich radikaler als die englischen und amerikanischen, die Gott zumindest als Schöpfer gelten ließen, aber davon ausgingen, dass Er sich um die Belange der Menschen nicht weiter kümmere. Dieser philosophische Glaube heißt „Deismus“. An die Stelle der Offenbarung Gottes trat nun die „Wissenschaft“, das eigenständige Forschen und Mutmaßen über die Geheimnisse des Lebens. Die zehn Gebote wurden durch die Menschenrechte ersetzt. Dabei sticht ein Unterschied zwischen der ersten (amerikanischen) und der zweiten (französischen) Fassung besonders ins Auge:

„Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich [self evident], dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass zu diesen Rechten Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“12 (In Congress, July 4, 1776).

„Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein.“13 (Déclaration des droits de l'homme et du citoyen 1789).

Was für die amerikanische Aufklärung als „self evident“ galt und keines weiteren Beweises bedurfte, wird in der französischen Erklärung der Menschenrechte nicht einmal erwähnt. Jeder Bezug zum Schöpfer fehlt – woher werden dann die Rechte abgeleitet? Worauf gründet dann noch die Menschenwürde? Einzig und allein auf der sich immer irrenden (Lessing) Vernunft des Menschen, der sein eigener Herr ist. Noch etwas fällt auf: In der französischen Fassung hat nur der geborene Mensch Rechte, die Ungeborenen sind gar nicht im Blick, während die Erschaffung des Menschen mit der Empfängnis beginnt. Wie ist der Stand heute?

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“14 (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948).

Wurde es mit der Aufklärung besser? Mitnichten. Anstelle der Religion traten die Ideologien, und diese gingen vom Beginn der Revolution an mit äußerster Brutalität gegen Andersdenkende vor (Jakobiner, Guillotine). Anstelle der (theoretisch) die Völker verbindenden Einheit der Kirche trat der Nationalismus als neues Fundament der Identität des Einzelnen. Im Versuch, die Welt neu und „wissenschaftlich“ auf materialistischer Basis zu erklären, gewann die Evolutionstheorie an Bedeutung, die den Menschen zu einem Tier erklärte. Auf Basis dieser wurde die Rassentheorie entwickelt, der „Sozialdarwinismus“ legitimiert, und ernsthafte Wissenschaftler setzten alles daran, die Menschheit durch Euthanasieprogramme von unwertem Leben zu reinigen und zu vervollkommnen. Die Kriege wurden brutaler und totaler. Die Philosophie glitt mehr und mehr vom Humanismus in den Nihilismus ab – es fehlt jede Grundlage, um irgendeinen Wert zu begründen, da die Existenz einer absoluten Wahrheit, die dafür unerlässlich ist, bestritten wird. Der in den Menschenrechten postulierten Freiheit wird keinerlei Grenze mehr gesetzt.

Der Mensch ist nicht nur auf sich zurückgeworfen, sondern auch hilflos allein den Menschen ausgeliefert. In allen tieferen Fragen des Seins herrscht ratloses Schweigen, der Mensch ist Gott, der Natur und sich selbst entfremdet. Er kann nicht mehr sagen, was er eigentlich ist. Die Menschenwürde ist zu einer leeren Worthülse geworden. Es gibt keine gemeinsamen, verbindenden Werte mehr neben dem Relativismus, dem Pluralismus und dem Individualismus. Der Toleranzbegriff wurde so zu einer Farce, da Toleranz stets die erlaubte Abweichung von einer Norm bedeutet. Wo es aber keine Normen gibt, wird die Toleranz zur Akzeptanz und Billigung von jedem denkbaren Lebensentwurf. Die Ideologien, die in dieses Vakuum eindrangen, haben die Gesellschaften noch mehr gespalten. Wer Spiritualität sucht, findet sich in der Esoterik wieder. Die alten Götter und ihre Dämonen feiern eine Renaissance.

Ein Stachel im Fleisch dieses Zeitgeistes sind und bleiben die wenigen Menschen, die einen traditionellen, schriftgegründeten Glauben vertreten.

8https://www.studysmarter.de/studium/rechtswissenschaften/oeffentliches-recht/menschenwuerde/

9 Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, 1784

10 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797. Zweiter Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre

11 Lessing, G. E., Fragmentenstreit. Eine Duplik [gegen Goeze, 1777].

12https://www.archives.gov/founding-docs/declaration-transcript

13https://www.studysmarter.de/schule/geschichte/nationalstaatsbildung-frankreich/erklaerung-der-menschen-und-buergerrechte/

14https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine_Erkl%C3%A4rung_der_Menschenrechte

Das Problem einer entwürdigten Menschheit

„Diese aber lästern alles, was sie nicht verstehen; was sie aber von

Natur wie die unvernünftigen Tiere wissen, darin verderben sie

sich.“ (Judas 1,10).

Dieses Zitat sagt alles: Wer die Würde verloren hat, verliert den Respekt vor sich selbst und allem anderen. Er sinkt herab auf die Ebene eines unvernünftigen Tieres, das von Trieben und Instinkten gesteuert wird, und das Höchste in solch einer Existenzform ist die Paarung. Darum ist Sex zum letzten Antrieb und einzigen Glück einer entwürdigten Menschheit geworden. Der Gott dieser Welt sitzt im Schritt.

Um eines klar zu machen: Es geht mir nicht um die klassische Kritik an der jungen Generation, wie sie etwa in diesen Worten zum Ausdruck kommt:

„Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte“ (ca. 3000 v. Chr., Tontafel der Sumerer).15

Solche Wahrnehmungen sind ein alter Hut, so alt wie die Menschheit. Darum geht es mir nicht, denn hier wird nur die junge Generation von der alten beargwöhnt. Das ist ein viel zu kurzer Zeithorizont. Es geht mir um eine gut 250-jährige Entwicklung, die mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert begonnen hat und das Ende des „christlichen Abendlandes“ eingeläutet hat.

Die Aufklärung führte zu einer erneuten und vertieften Entfremdung von Gott und setzte den Menschen zum Maß aller Dinge. In der französischen Revolution wurde das Christentum durch die quasireligiöse Verehrung der Vernunft ersetzt. Der Optimismus bezüglich der moralisch-intellektuellen Fähigkeiten der Menschen war schier grenzenlos. Das kommt in den Äußerungen Kants und Lessings, sowie aller anderen Aufklärungsphilosophen mehr als deutlich zum Ausdruck.

Nun benötigte man aber eine alternative Erklärung für das „Phänomen“ der uns umgebenden Natur. Schöpfung wollte man nicht mehr sagen, weil man ja den Schöpfer in das Reich der Mythen verbannt hat. Die Wissenschaft wurde zur Grundlage aller Welterklärung – wiederum war man überaus optimistisch, was deren Leistungsfähigkeit betrifft. Kein Wunder, dass Darwins Buch „Über die Entstehung der Arten“ (1859) begeistert angenommen wurde, ungeachtet der vielen offenen Fragen, die weder er noch seine Nachfolger zufriedenstellend beantworten, geschweige denn belegen konnten.

Weil kein Gemeinwesen, keine Gesellschaft ohne gemeinsame Wertebasis bestehen kann, traten an die Stelle der christlichen Überzeugungen die verschiedenen Ideologien; allen voran der Humanismus mit seinen Menschenrechten und deren Umsetzung in den ersten Revolutionen (USA, Frankreich). Infolge der napoleonischen Kriege entstand der Nationalismus, der den einzelnen Völkern und Nationen eine „mythische“ Identität aufgrund einer idealisierten Vorstellung ihrer Herkunft geben sollte. Besonders nachhaltig war hier die Romantisierung der Germanen, welche den Zusammenschluss der deutschen Kleinstaaten zum Kaiserreich beflügelte. Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ schuf die begeisternde Begleitmusik dazu, die Fraktur- und Kurrentschrift wurde als „deutsche“ Schrift instrumentalisiert. Rassendünkel kamen auf.

Die Vorstellung der Überlegenheit einer Rasse gegenüber anderen, ging direkt und unmittelbar auf Charles Darwin zurück, der in seinem Folgeband „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ (1871) schrieb:16

„Der Mensch kann in vielen Beziehungen mit denjenigen Thieren verglichen werden, welche schon seit langer Zeit domesticirt worden sind, und eine grosse Menge von Belegen kann zu Gunsten der Pallas’schen Theorie vorgebracht werden, dass die Domestication die Unfruchtbarkeit, welche ein so allgemeines Resultat der Kreuzung von Species im Naturzustände ist, zu eliminiren strebt. Nach diesen verschiedenen Betrachtungen kann man mit Recht betonen, dass die vollkommene Fruchtbarkeit der mit einander gekreuzten Rassen des Menschen, wenn sie festgestellt wäre, uns nicht absolut daran hindern könnte, sie als distincte Species aufzuführen.“ (S 225/226)

Der Mensch wird ausdrücklich auf die Ebene eines Tieres reduziert, und die Unterschiede zwischen den Menschen werden im Sinne der unterschiedlichen Rassen innerhalb einer Tiergattung erklärt. Er geht sehr ins Detail, was die Unterschiede zwischen den Rassen ausmache, und warum die „civilisirten“ Rassen den „Wilden“ überlegen seien. Auch wenn Darwin selbst jetzt kein Rassist im radikalen Sinne war, ist nachvollziehbar, dass die Rassenideologie seine Erörterungen begeistert aufnahm.

Wenn der Mensch aber seine gottgegebene Würde verliert, reduziert sich sein Lebenszweck einzig auf den biologischen Fortbestand und die Höherentwicklung. Die Idee vom „Survival of the Fittest“ führte dazu, alle Elemente der Bevölkerung, die diese Entwicklung hemmen könnten, zu eliminieren. Man fragt sich oft, wie hochintelligente Wissenschaftler sich in den Euthanasieprogrammen engagieren konnten, doch die Antwort ist klar: Wir sind ja nur Tiere, nur ein Zwischenschritt im Evolutionsprozess, und daher fühlten sich viele Wissenschaftler verpflichtet, diesen Prozess zu fördern. Rückblickend erschauern wir angesichts der verübten Gräuel!

„Ernst Haeckel (1834–1919) wandte Darwins Theorie auch auf den sozio-kulturellen Bereich an und formulierte eine „Einheitstheorie“ des Lebens, die er Monismus nannte. Er war der Auffassung, dass eine „künstliche“ Züchtung durchaus positive Folgen haben könne, und verwies in diesem Zusammenhang auf die Tötung behinderter Kinder im antiken Sparta und bei Indianern Nordamerikas. In seinem Werk Die Lebenswunder trat er explizit für eine „Euthanasie“ im Sinne einer gezielten Auslese bei Kindern ein.“17

Haeckel behauptete auch, dass das ungeborene Kind in seiner Entwicklung die Evolutionsgeschichte des Menschen „wiederhole“, indem er etwa die Beugefalten des Embryos als Kiemen deutete. Dazu fertigte er Zeichnungen an, die (was er auch zugab) mehr seiner Fantasie als der Wirklichkeit entsprachen. Obwohl Haeckel seit Jahrzehnten widerlegt ist, geistert seine Idee (das „biogenetische Grundgesetz“) nach wie vor in der Diskussion um Schwangerschaftsabbrüche herum. Ich habe es im Biologieunterricht der Schule selbst noch gelernt.

Es ist nicht mein Ziel, hier ins Detail zu gehen. Es geht mir um den Verlust der Menschenwürde und ihrer Konsequenzen, und die sind erschütternd. Dies stürzte den Menschen in eine tiefe Sinnkrise, da ein rein materialistisches Selbstbild in einem tiefen existenziellen Widerspruch zu unserer spirituellen Seite steht. Der Wegfall christlicher Glaubensüberzeugungen führte in unserer Gesellschaft und der Seele des Einzelnen zu einem Vakuum, das mit einer Vielzahl anderer geistiger Vorstellungen gefüllt wird.

Parallel zum Nationalismus und der Wiederentdeckung bzw. Mythifizierung unserer germanischen oder keltischen Ahnen kam es in den letzten 150 Jahren zu einem Wiederaufleben alter heidnischer Vorstellungen. Im Gegensatz zum materialistischen, ja geradezu fanatisch-atheistischen Weltbild des Marxismus, suchte der Nationalsozialismus im „Ahnenerbe“ eine esoterische Spiritualität zu erwecken. Aber auch andere Kulte entstanden: Die Theosophie von Helena Blavatsky (1831-1891) fand viele Anhänger, und davon ausgehend wurden viele okkulte Zirkel gegründet.

„Ihre Theosophie war eine Reaktion auf den Siegeszug der Naturwissenschaften, der Evolutionstheorie Darwins und der damit verbundenen Diskreditierung des christlichen Glaubens im 19. Jahrhundert. Außerdem knüpfte Blavatsky in der Geheimlehre an damals moderne westliche Vorstellungen, nämlich den Fortschrittsgedanken und die Rassenlehre an. Sie erhob darin den Anspruch, eine wissenschaftlich begründete Religion zu verkünden.

Nach Einschätzung des Historikers Goodrick-Clarke gab sie dem Menschen die Würde und Bedeutung, die ihm die jüdisch-christliche Schöpfungslehre zugeschrieben hatte und die im naturwissenschaftlichen Weltbild keine Rolle mehr spielten, zurück, indem sie ihn in eine Kosmologie einbettete, welche traditionelle Vorstellungen der westlichen Esoterik mit Elementen östlicher Religionen verband und auch Konzepte der zeitgenössischen Naturwissenschaften aufnahm. Dem Christentum, insbesondere der katholischen Kirche und dem Protestantismus, stand Blavatsky zeitlebens kritisch gegenüber.“18

Die neugnostische Anthroposophie von Rudolph Steiner (1861-1925) ist hier ebenfalls zu nennen.

„Die Anthroposophie versucht, Elemente des deutschen Idealismus, der Weltanschauung Goethes, der Gnosis, christlicher Mystik, fernöstlicher Lehren sowie der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu Steiners Zeit miteinander zu verbinden. Eine Hauptquelle der anthroposophischen Lehre bildet die okkulte „Geheimwissenschaft“, die Rudolf Steiner nach eigenen Aussagen aus Erforschungen einer für ihn bestehenden geistigen Welt, mit Hilfe von „Hellseherorganen“, erlangt habe.

Ein zentraler Aspekt war und ist eine Anwendung des Evolutionsgedankens auf die spirituelle Entwicklung. Dabei verarbeitete Steiner evolutionäre Ansätze sowohl des Darwinisten Ernst Haeckel als auch der modernen Theosophie, wie sie Helena Petrovna Blavatsky vertrat. Die Anthroposophie sucht – im Gegensatz zu Vertretern eines rein säkular naturwissenschaftlich orientierten Fortschrittsgedankens – die Menschheit und ihre Entwicklung spirituell und übersinnlich zu verstehen, setzt sich dabei aber von der Theosophie und ihrer Orientierung an der östlichen Religiosität ab. Die Einbeziehung und Neuinterpretation der Evolution führte ebenso wie bei Haeckel und anderen Zeitgenossen Steiners zu Kontroversen um mögliche sozialdarwinistische und rassistische Aspekte.“19

Der Spiritismus und die Faszination des Paranormalen verbanden sich in diesem Vakuum mit der Faszination fernöstlicher Spiritualität zu oft recht eigenwilligen Mischformen wie etwa das „Mazdaznan“ von Erich Otto Haenisch (1856-1936), dem auch der bekannte Bauhauskünstler Johannes Itten (1888-1967) angehörte. Wie skurril das anmutet, zeigt folgendes Zitat:

„Als Mazdaznan … wird eine religiöse Lehre bezeichnet, die nach eigenem Verständnis auf einem reformierten Zarathustrismus basiert. Es handelt sich um eine Mischreligion mit zarathustrischen, christlichen und einigen hinduistischen/tantrischen Elementen.

Begründet wurde sie von Otoman Zar-Adusht Ha’nish, auch Otoman Zar Adusht Hanish …, bürgerlich Erich Otto Haenisch, der selbst angab, am 19. Dezember 1844 in Teheran geboren worden zu sein. Tatsächlich wurde er als Sohn des Viktualienhändlers Heinrich Ernst Haenisch und seiner Frau Anna Dorothea geborene Schmidt am 19. Dezember 1856 in Posen geboren und am 28. Dezember 1856 evangelisch getauft. Er starb am 29. Februar 1936 in Los Angeles. In zeitgenössischen Zeitungsberichten ist wiederholt von einem Sonnenkult die Rede.

Die Anhänger sind Vegetarier, befolgen eine eigene Ernährungslehre, legen großen Wert auf tägliche Atem- und auf Meditationsübungen, darunter einige tantrische Übungen. Eine organisierte Anhängerschaft existiert in Deutschland und Ungarn; Anhänger gibt es in Frankreich und den USA, dem einstigen Schwerpunkt und Hauptquartier.

Im Lexikon neureligiöser Bewegungen und Weltanschauungen wird die Mazdaznan-Lehre als „Ausdruck der westlichen Rezeption asiatischer Heilsvorstellungen und -praktiken“ beschrieben. Die Lehre variierte die Rassenlehre der damals erfolgreichen neureligiösen indisch-arischen Theosophie von Helena Blavatsky und übernahm Elemente des Yoga in den Atemübungen.“20

Wie verzweifelt muss man sein, sich solch einer Religion anzuschließen? Rückblickend erkennt man, wie hier auf pseudospirituelle Weise so ziemlich alles „zusammengepanscht“ wurde, was gerade modern war. Bedenklich ist auch hier der Zusammenhang zwischen Darwinismus und Rassismus, der damals vielen als nur folgerichtig erschien und den Weg für Hitler bereitete.

Das Christentum wurde nicht nur abgeschafft; was davon übrigblieb, hat tatsächlich jegliche Strahlkraft verloren, da viele maßgebliche Theologen, um den Anschluss an die neue Zeit nicht zu verpassen, sich völlig der Aufklärung verschrieben und jeden Anspruch auf die Wahrheit biblischer Offenbarung aufgegeben hatten.

Lessing, der gerade diese Offenbarungswahrheit ablehnte und im aufklärerischen Optimismus glaubte, durch aufrichtiges Bemühen, Versuch und Irrtum, irgendwann zur Wahrheit zu finden, wurde nicht bestätigt. Im Widerstreit der Ideologien und Weltanschauung entwickelte sich vielmehr eine „dialektische“ Philosophie, wo aus These und Antithese stets neue Synthesen gebildet wurden, welche selbst zur These wurden und neue Antithesen auf den Plan riefen.

„Dialektik ist ein Begriff der westlichen Philosophie. Das Wort Dialektik ist von altgriechisch διαλεκτική (τέχνη) dialektiké (téchne) „(Kunst der) Unterredung“, gleichbedeutend mit lateinisch (ars) dialectica „(Kunst der) Gesprächsführung“, abgeleitet (vergleiche auch Dialog).

Aus dem Altertum bekannt ist Dialektik als Instrument der Rhetorik und als Mittel zur methodischen Wahrheitsfindung.

Ende des 18. Jahrhunderts wird die dialektische Aufhebung zum zentralen Begriff der Philosophie Hegels. Vereinfachend kann der Begriff Dialektik dieser Zeit als eine Form des Diskurses beschrieben werden. Im dialektischen Diskurs wird einer These von der erkannten Realität eine Antithese als Konstrukt von Problemen und Widersprüchen gegenübergestellt, woraus ein neues Konstrukt als Synthese hervorgebracht wird. Bei Hegel ist Dialektik die der Metaphysik entgegengesetzte Methode der Erkenntnis und das Prinzip der Dinge, das Prinzip der Selbstbewegung des Denkens und der Selbstbewegung der Wirklichkeit. Dialektik wird zur Lehre von den Gegensätzen in den Dingen und Begriffen sowie zur Aufhebung der Gegensätze, was später wichtig wird für Friedrich Engels und Karl Marx.

Ab dem 19. Jahrhundert wird Dialektik zum Dialektischen Materialismus des Marxismus, zur Geisteswissenschaft von den allgemeinsten Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Gesellschaft und des Denkens. Hiermit wird versucht, die gesellschaftliche Entwicklung hin zum Kommunismus und eine sozialistische Politik philosophisch zu begründen.“21

Die Philosophie begann, sich im Kreis zu drehen. Die Hoffnung, je die „absolute Wahrheit“ herausfinden zu können, schwand. Mit der Aufhebung von Gegensätzen wird Wahrheit zwangsläufig relativ. Aus dem Entweder- Oder wird ein Sowohl-als-Auch. So gehen mit der Würde des Menschen auch die Werte verloren, da Werte auf allgemein anerkannter Wahrheit beruhen müssen, um allgemein angenommen werden zu können. In der Rechtsphilosophie fand ein weiterer folgenschwerer Wandel statt: Vom christlichen Weltbild ausgehend, waren die Gebote Gottes die erste Grundlage unseres Rechtssystems; mit der Abkehr von Christentum hielt man immerhin noch am Konzept des „Naturrechts“ fest. Doch auch davon kam man ab; heute gilt der „Rechtspositivismus“.

„Positives Recht oder gesatztes Recht ist das „vom Menschen gesetzte Recht“. Der Gegenbegriff ist das überpositive Recht oder Naturrecht. Anschaulich erklärt ist positives Recht das Recht, das vom Menschen erschaffen wird, während Naturrecht vom Menschen bloß entdeckt wird.“22

Daher kommt, dass Recht und Unrecht, wahr und falsch heute als gesellschaftliche Übereinkunft verstanden werden. Es gibt keine objektive Wahrheit, kein objektives Recht, lediglich das, worauf wir uns demokratisch und ideologisch geeinigt haben. Dass dies in den Nihilismus münden würde, ist nachvollziehbar:

„Nihilismus (lateinisch nihil ‚nichts‘) bezeichnet einerseits allgemein eine Weltsicht, die die Gültigkeit jeglicher Seins-, Erkenntnis-, Wert- und Gesellschaftsordnung verneint. Andererseits ist Nihilismus in der Philosophie ein Terminus mit teilweise sehr tiefgründiger Bedeutung, so etwa bei Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger. Der Ausdruck wurde auch polemisch verwendet, so für Kritiker kirchlicher, religiöser oder politischer Ordnungen. Umgangssprachlich bezeichnet Nihilismus eine Verneinung aller positiven (seltener auch der negativen) Ansätze.“23

„Der Nihilismus ist für Nietzsche Ergebnis der Überzeugung, dass es keine absoluten Wahrheiten und Werte gibt. Hieraus ergibt sich ein „Glauben an die absolute Wertlosigkeit, das heißt Sinnlosigkeit.“ (KSA XII, 513)

„Denken wir den Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: »die ewige Wiederkehr«. Das ist die extreme Form des Nihilismus: das Nichts (das »Sinnlose«) ewig!“ – KSA XII, 213

Der Philosoph Wilhelm Weischedel unterscheidet beim Nihilismus Nietzsches drei wesentliche Bausteine:

Das Zerbrechen des Glaubens an Wahrheit und Wissenschaft, sowie die Ablehnung einer absoluten Wahrheit

Ablehnung der Moral, die als leere Hülle bestehender Sitten als wertlos und sinnlos wahrgenommen wird und hinterfragt werden sollte

Ablehnung von Religion, wobei der Gottesglaube als Lüge und Mittel zum Zweck beschrieben wird, um furchtsame, folgsame Menschen hervorzubringen

Nietzsche betrachtete den Nihilismus genealogisch als Ergebnis eines historischen Prozesses, der vom antiken Griechenland bis hin in das Christentum reicht. Der Verlust des Glaubens an einen Gott, wie er in der Antike bei Sokrates und Platon, im Judentum und dann im Christentum gelehrt wurde, führt zu einer Destruktion der überkommenen Weltauffassung und damit einer Entwertung aller bisherigen Werte.“24

Das fasst meine Gedankengänge treffend zusammen und bestätigt diese. Was aber folgt daraus? Was bedeutet es für uns praktisch, wenn alles aufgelöst worden ist? Trostlosigkeit, Bedeutungslosigkeit, Wertlosigkeit. Einzig der Sarkasmus bleibt, die bissige Ironie, das Lästern und Spotten, ein morbider Humor, der mit verstecktem Neid auf die herabblickt, welche in einem stabilen, gegründeten Glauben an Gott Frieden gefunden haben.

Ungestraft kann man etwa als „Aktionskunst“ ein Huhn kreuzigen, um Christus lächerlich zu machen, wie das vor einigen Jahren noch ein wenig Aufsehen erregt hat. Das Fastentuch, welches Gottfried Helnwein heuer (2024) für den Hochaltar des Stephansdoms entworfen hatte, sorgte für kontroverse Diskussionen, doch allgemein hielt sich die Empörung in Grenzen. Überkommene Werte und Glaubensvorstellungen sind entwertet und der Lächerlichkeit preisgegeben.

Tatsächlich ist die Gesellschaft zerrissen. Jedoch nicht zwischen links und rechts, wie viele meinen, sondern zwischen konservativ und progressiv. Während Progressiven (vereinfacht gesagt) nichts mehr heilig ist und sie bestehende Grenzen stets neu hinterfragen, ausdehnen oder abbrechen („überwinden“), fordern Konservative, dass irgendwann und irgendwo auch einmal Schluss sein muss mit der andauernden Relativierung und Abschaffung von Werten und Konsens. Jetzt, wo es verpönt ist, sogar Tatsachen des biologischen Geschlechts festzuhalten, haben sich die Fronten bereits sehr verhärtet. In Deutschland trat jüngst ein Gesetz in Kraft, welches es unter Strafe stellt, jemanden gegen seinen Willen und seine Selbstwahrnehmung aufgrund seiner biologischen Tatsächlichkeit anzusprechen:

„§ 14 Bußgeldvorschriften

(1) Ordnungswidrig handelt, wer entgegen § 13 Absatz 1 die Geschlechtszugehörigkeit oder einen Vornamen offenbart und dadurch die betroffene Person absichtlich schädigt.

(2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu zehntausend Euro geahndet werden.“25

Ich will in diese fruchtlose Diskussion hier nicht einsteigen, aber hervorheben, wohin es geführt hat, dass man alles Natürliche als „gesellschaftliche Konstruktion“ interpretiert. Der Relativismus ging so zur Leugnung über, und alles, was „dekonstruiert“ werden kann, wird auseinandergenommen.

„Mit ihrem Werk Gender Trouble (1990), worin mittels der Unterscheidung sex und gender zwischen biologischem Geschlecht und soziokulturell geprägter Geschlechtsrolle die Identitätskategorie Frau („… das Geschlecht als zwingende ständige Wiederholung kultureller Konventionen am Körper, die man niemals gewählt hat“) kritisiert wird, gilt Judith Butler als wichtigste Theoretikerin des diskursanalytischen Dekonstruktivismus. Dieser dient Doing Gender und den Gender Studies als theoretische Grundlage.

Die Queer Theory und die feministische Theorie von Judith Butler stellen Teile sozialwissenschaftlicher Theorien dar, die sich mit Identitäten oder Identifizierungen und Machtverhältnissen beschäftigen. Nach Butler geht es um die Aufdeckung von bestehenden Herrschafts- und Machtverhältnissen, die „Zwangsheterosexualität“ und Formen der Kleinfamilie auf Basis der Gebärfähigkeit der Frau etablierten. Die Entselbstverständlichung von Körper, Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität als Naturtatsachen falle nicht mit Verneinung zusammen, sondern diene der Aufdeckung der Festigung und Verschleierung von Autoritäten.

In dekonstruktiven Kulturtheorien wird die Entstehung vermeintlicher Wesenheiten und Identitäten aus einer machtkritischen Perspektive untersucht und außerdem werden politische Alternativen vorgeschlagen. So wurden z. B. die internationalen Sportorganisationen lange vor den Korruptionsskandalen als Wirtschaftsunternehmen gekennzeichnet, von denen demokratische Strukturen zu erwarten naiv sei.

Dekonstruktion kann als Methode auf Texte oder philosophische Theorien angewendet werden oder aber auch als künstlerische Praxis in der bildenden Kunst, der Mode, der Musik, der Architektur oder im Film. Die Architektur wurde im Beson-

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deren vom Ansatz der Dekonstruktion beeinflusst, wodurch die Stilrichtung Dekonstruktivismus entstand.“26

Dieser letzte Absatz würde bereits zum nächsten Kapitel überleiten, wo es um den Stil als Ausdrucksform unserer (vorhandenen oder verlorenen) Würde geht. Bevor ich darauf zu schreiben komme, will ich jedoch noch anmerken, dass wohl den meisten gar nicht bewusst ist, auf welchen „Werten“ unsere Gesellschaft beruht. Ich kann mir vorstellen, dass der eine oder andere Leser über all das ungläubig den Kopf schüttelt – und doch prägt diese Philosophie uns alle.

Als Lehrer bin ich dem Schulorganisationsgesetz verpflichtet. Dort heißt es im sogenannten „Zielparagraph“ (§2 SchOG) im ersten Absatz:

„Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken. Sie hat die Jugend mit dem für das Leben und den künftigen Beruf erforderlichen Wissen und Können auszustatten und zum selbsttätigen Bildungserwerb zu erziehen.

Die jungen Menschen sollen zu gesunden und gesundheitsbewussten, arbeitstüchtigen, pflichttreuen und verantwortungsbewussten Gliedern der Gesellschaft und Bürgern der demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich herangebildet werden. Sie sollen zu selbständigem Urteil, sozialem Verständnis und sportlich aktiver Lebensweise geführt, dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sein sowie befähigt werden, am Wirtschafts- und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil zu nehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken.“27

In der pädagogischen Ausbildung konnte man den Professoren ihr Unbehagen mit diesem Paragraphen, diesem Gesetzestext, der irgendwann in den 1950er Jahren formuliert wurde, anmerken. Wie soll man den Schülern die Werte des „Guten, Wahren und Schönen“ nahebringen, wenn man selbst völlig davon entkoppelt ist? Wie soll man nach sittlichen und religiösen Grundsätzen erziehen, wenn man selbst gar keinen Bezug mehr dazu hat? Wie kann man anderen Weltanschauungen gegenüber offen sein, wenn man selbst über keine verfügt? Dieser Paragraph ist ein Stachel im Fleisch meiner postmodernen Kollegen. Sie haben keine Antworten darauf. Sie können den Schülern keine Werte mehr vermitteln, da es keine allgemeinverbindlichen, objektiv begründeten Werte mehr gibt. Die Dekonstruktion kann diese wohl zerstören, aber keine mehr begründen. Im selben Dilemma finden sich die Eltern meiner Schüler heute wieder, denen all das auch nicht mehr vermittelt wurde.

Um es in einem Bild zu beschreiben: Mein Sohn hat zu Weihnachten einmal eine prächtige Legoburg geschenkt bekommen. Die Bausteine waren fein sortiert, und mithilfe der Anleitung konnte er sie zusammensetzen. Es ist schon lange her, ich denke, dass ich ihm dabei etwas helfen durfte. Lange Zeit stand die Burg in seinem Zimmer, fallweise spielte er damit, meistens sammelte sie Staub. Irgendwann zerlegte er sie wieder – er „dekonstruierte“ sie. Allerdings war die Bauanleitung schon lange verschollen, und so war er nie wieder in der Lage, diese Burg zu bauen. Die Bausteine wurden unsortiert anderen dekonstruierten Bausätzen beigemischt – er baute wohl irgendetwas damit, er war durchaus kreativ, aber er hat nie wieder etwas gebaut, das so vollkommen aufeinander abgestimmt war und auch die besonderen Funktionen konnte er nie wieder nachbauen.

Wir haben alle christlichen Werte dekonstruiert, die Bauanleitung des Lebens (die Bibel) weggeworfen, und stehen vor einem Haufen zusammenhangsloser Trümmer und sind damit heillos überfordert. Wir schaffen es nicht, eine kohärente und überzeugende Alternative zu formulieren. Egal wie kreativ wir mit den Trümmern auch umgehen, sie kombinieren und rekombinieren, es steht uns nur noch deutlicher vor Augen, dass all das unsere eigene Konstruktion ist, die keinerlei Gültigkeit beanspruchen kann. Wir dekonstruieren also weiter, nicht nur unsere Werte und Traditionen, unsere Herkunft und Geschichte, sondern uns selbst, bis nichts mehr von uns übrigbleibt als ein Trümmerhaufen.

Das ist das Drama der Postmoderne, der Totpunkt, vor dem die Generation Z steht. Und sie schreit verzweifelt nach Orientierung und Klarheit.

15https://bildungswissenschaftler.de/5000-jahre-kritik-an-jugendlichen-eine-sichere-konstante-in-der-gesellschaft-und-arbeitswelt/

16https://de.wikisource.org/wiki/Die_Abstammung_des_Menschen_und_die_geschlechtliche_Zuchtwahl_I/Siebentes_Capitel

17https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Euthanasie#19._und_20._Jahrhundert

18https://de.wikipedia.org/wiki/Helena_Petrovna_Blavatsky

19https://de.wikipedia.org/wiki/Anthroposophie

20https://de.wikipedia.org/wiki/Mazdaznan

21https://de.wikipedia.org/wiki/Dialektik

22https://de.wikipedia.org/wiki/Positives_Recht

23https://de.wikipedia.org/wiki/Nihilismus

24 Ebda.

25 Das Gesetz wurde am 12.04.2024 vom Bundestag in 2. und 3. Lesung beschlossen. Das Gesetz soll größtenteils am 01.11.2024 in Kraft treten. https://www.bmj.de/DE/themen/gesellschaft_familie/queeres_leben/selbstbestimmung/selbstbestimmung_node.html

https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetzgebung/RefE/RefE_Selbstbestimmung

26https://de.wikipedia.org/wiki/Dekonstruktion

27https://www.jusline.at/gesetz/schog/paragraf/2

Antihierarchische Stilformen

„Stil ist eine Art zu zeigen wer du bist – ohne sprechen zu müssen.“

(Rachel Zoe Rosenzweig, *1971, US-Amerikanische Stylistin)28

Unsere Lebenseinstellung ist sichtbar. Wie wir von uns denken, welchen Selbstwert wir uns zuschreiben, zeigt sich in der Art, wie wir sprechen, uns kleiden, womit wir uns beschäftigen, wofür wir uns einsetzen, wie wir wohnen, welchen Lebensstandard wir für angemessen halten, wie wir miteinander umgehen, welche Leidensbereitschaft wir aufbringen, wem wir Vertrauen schenken, was wir träumen und hoffen, wie wir empfinden, wofür wir sterben würden, u.v.a.m.

Solange die Menschenwürde objektiv bestimmt wurde und wir gesellschaftlich oder religiös vorgegebenen Werten „unterworfen“ waren, führte das zu relativ homogenen Gemeinschaften, in denen jeder wusste, was von ihm erwartet wird und was er erwarten dürfe; Gemeinschaften, die Geborgenheit und Orientierung boten. Dass all das notwendigerweise (!) mit Hierarchien und Autorität verbunden ist, empfanden die Aufklärer als Ärgernis. Bis heute wird es als unerträglich empfunden, dass jemand anders bestimmen sollte, wie ich im Sinne des großen Ganzen zu leben, zu denken, zu fühlen, zu funktionieren habe. Wir leben nun in der Vorstellung, all das überwunden zu haben und frei zu sein, unser Leben selbst zu bewerten und zu gestalten. Doch das ist eine Illusion, wie wir sehen werden.

Ein Beispiel mag das illustrieren. Aus einem mir nicht nachvollziehbaren Grund gelten zerrissene Hosen als schick und modern. Ich habe eine Gruppe Schülerinnen gefragt, warum sie sich so etwas Kaputtes anziehen. Die Antwort war einfach und ehrlich: „Mir gefällt das.“ Ich fragte weiter: „Wie kommt das, dass euch allen dasselbe gefällt?“ … nachdenkliches Schweigen, denn was gefällt uns denn wirklich? Wir wählen aus einem vorgegebenen Angebot, welches die Modeindustrie und die Werbung für uns zusammengestellt hat.

Die Auswahl ist also grundsätzlich stark eingeschränkt, und die Manipulation durch die „Trendsetter“ wird kaum als solche wahrgenommen. Also tragen sie die kaputten Hosen eigentlich nicht, weil sie ihnen wirklich gefallen, sondern weil sie „gleichgeschaltet“ worden sind. Das aber entspricht der Sehnsucht „dazuzugehören“. Ganz objektiv: ein elegant geschnittenes Kleid oder die traditionellen Trachten sind eindeutig schöner und drücken auch ein ganz anderes Selbstverständnis aus, welches der Menschenwürde viel mehr Ausdruck verleiht als „Fetzen“ und „Lumpen“.

Die zerrissenen Hosen und der destruktive Look kommen aus dem Punk, einer „Jugendkultur“ der 1970er Jahre.

„Der Punk stellt sich gegen alle Konventionen, gegen die Konsumgesellschaft und gegen das Bürgertum sowie gegen rechte Weltanschauungen. Und obwohl sich die meisten Punks mehr oder weniger links sehen, stellt er sich genauso gegen die politische Linke mit ihrem Etatismus. Dahinter steckt eine respektlose, resignierte bis aggressive Haltung gegenüber der Gesellschaft, eine Art rebellischer Nihilismus, und die Betonung der Freiheit des Individuums und des Nonkonformismus.

Der Punk bringt sich vor allem durch Musik zum Ausdruck, ferner durch Kleidung, Frisuren und vom Do-it-yourself-Gedanken geprägter Grafik (Collagen, Xerographien und Comic-Zeichnungen). Der Punk betont das Hässliche und will provozieren.“29

Im Grunde ist Punk die konsequenteste Darstellung des Totpunktes der Aufklärung: Nihilismus als Lebensstil. Die Auflösung aller Werte, die Ablehnung aller Autorität, aber auch der Verlust der Selbstachtung. Das neue Schön ist die Hässlichkeit. Ein Lebensgefühl unterschwelliger Frustration und Aggression, welches auch in der Punkmusik deutlich zu hören ist. Es ist eine destruktive Art der Freiheit, Ausdruck einer „No Future“-Perspektive. Dass Elemente dieser Subkultur nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, ist vielsagend. Was bei uns mittlerweile als normal hingenommen wird, sorgt im konservativen („nichtaufgeklärten“) Indien noch für Irritationen. In einem Artikel von Flora Mory aus „Der Standard“ (23. März 2021) heißt es:

„Bekannt wurden zerrissene Jeans durch die Punkbewegung. In Indien erleben die Löcher in der Hose ein Revival als gesellschaftskritisches Symbol und solches für die Frauenemanzipation.

"Wie du wieder aussiehst, Löcher in der Hose. (...) Was sollen die Nachbarn sagen?" – So ironisierte die deutsche Punkrockband Die Ärzte in den Nullerjahren die kleinbürgerliche Jammerei unter anderem über ein Kleidungsstück: die sogenannte Ripped Jeans, einst Symbol der Punkbewegung und ihrer Gesellschaftskritik.

Vielen Großeltern mag die zerschlissene Hose immer noch missfallen, die Ripped Jeans ist heute allerdings in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Sie wird von Modehäusern wie H&M und Diesel weltweit vertrieben und auch von Herzoginnen wie Meghan Markle getragen, und kann ziemlich teuer sein. Auch in Bollywood und bei jungen Inderinnen ist die Ripped Jeans sehr beliebt – zum Missfallen konservativer Politiker. Und genau deshalb gilt die zerrissene Hose dort neuerdings wieder als Ausdruck des politischen Dissenses.“30

Darum geht es nicht um kurzlebige Modeerscheinungen oder um jugendliche Flausen, sondern um eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung der vergangenen 250 Jahre, an deren – wie ich meine – Tiefpunkt wir angelangt zu sein scheinen.

Sind wir wirklich frei, uns selbst zu definieren und zu gestalten? Nein, wir sind bewusst oder (meist) unbewusst Trends ausgesetzt, die uns in dieselbe Richtung steuern. Damit wird durch dieses Symbol der zerrissenen Jeans, welche von so vielen gedankenlos getragen werden, die sich einreden, sie gefallen ihnen selbst, der Eindruck einer Lebenseinstellung vermittelt, der die ganze Gesellschaft durchdrungen hat.

Diese Wahrnehmung führt zu Unterstellungen, die wiederum empörte Reaktionen hervorrufen. Aus demselben Artikel:

„Tirath Singh Rawat, der Regierungschef des Bundesstaates Uttarakhand, kritisierte öffentlich eine Frau, der er kürzlich begegnet war. Er habe sie "von oben bis unten" angesehen und sei empört darüber, welche Werte sie ihren Kindern vermittle – wegen der Löcher auf Kniehöhe. Frauen in Ripped Jeans seien kein sicheres Umfeld für Kinder. Dieser Trend verwestlichter Eliten würde zu gesellschaftlichem Verfall und Drogenkonsum führen.“31

Warum das? Weil diese Mode einem Milieu entstammt, welches genau dafür berüchtigt war. Nur wissen das die wenigsten und finden es einfach nur „schick“ und „modern“: