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Anliegen des Projekts Haiku heute ist die Förderung des deutschsprachigen Kurzgedichts. Dieses Buch beschäftigt sich mit dem Jahr 2020. Drei Kapitel mit Haiku-Besprechungen zeigen die Grundlagen und das Potential von Haiku-Dichtung. Als gute Beispiele präsentieren sich 647 Haiku von 123 Autoren sowie neun Tan-Renga. Ein Kapitel gibt Auskunft über den Stand des Haiku in den deutschsprachigen Ländern. Viele dieser Texte wurden 2020 in den verschiedenen Publikationsmöglichkeiten zum Haiku veröffentlicht, viele erblicken mit dem Aufschlagen dieses Buchs erstmals das Licht der Öffentlichkeit.
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Haiku heute
Nebelland
Haiku-Jahrbuch 2020
Volker Friebel
Edition Blaue Felder, Tübingen
Haiku heute ist ein Projekt zur Förderung des deutschsprachigen Kurzgedichts. Die Netzpräsenz www.Haiku-heute.de erstellt aus den dort eingereichten Texten Monatsauswahlen. Die Jahrbücher versammeln davon die interessantesten Haiku jedes Jahres, ergänzt durch nur für das Jahrbuch eingereichte Haiku und weitere Texte.
Edition Blaue Felder, Volker Friebel,
Denzenbergstraße 29, 72074 Tübingen (Deutschland)
www.Volker-Friebel.de
Redaktion, Gestaltung, Foto: Volker Friebel
Veröffentlichung: Juni 2021
Das Titel-Foto zeigt Windmühlen am Rand der Lasithi-Hochebene auf Kreta.
Alle Rechte liegen bei den Autoren.
Merkmale von Haiku1
Kürze: Haiku werden meist in drei Zeilen gesetzt.
Gegenwärtigkeit: Haiku sind in der Gegenwart. Wenn andere Zeiten vorkommen, dann sind es Erinnerungen oder Zukunftsfantasien, die jemand in der Gegenwart hat.
Konkretheit: Haiku stellen Sachverhalte oder Erlebtes konkret dar, sinnlich miterlebbar.
Externe Orientierung: Haiku beschäftigen sich fast immer mit der äußeren Welt, weniger mit den Vorstellungen des Dichters.
Offenheit: Nach dem Lesen sollte ein Nachhall, etwas Ungesagtes, offen Gelassenes bleiben.
Endreime und Überschriften gibt es nicht.
Inhalt
Vorwort
Haiku-Verständnis
Nebeneinander
Griff nach dem Wind
Durch den Spiegel
Haiku
Tan-Renga
Das Haiku-Jahr
Bücher
Das Netz
Nachbemerkung
Autoren
Edition Blaue Felder
Seit etwa hundert Jahren werden in den deutschsprachigen Ländern und in vielen anderen Sprachen der Welt Haiku geschrieben, Kurzgedichte einer besonderen Art. Nach unsicheren Anfängen hat das Haiku auch bei uns seinen Platz in der Dichtung gefunden.
Schon in Japan, seinem Ursprungsland, erlebte das Haiku über die Jahrhunderte immer wieder Phasen des Aufbruchs und der Stagnation, auch des Niedergangs und erneuten Aufbruchs. Die Art in der Welt zu sein, verändert sich über die Zeit – und sie unterscheidet sich zwischen den Menschen und Kulturen. Dichtung folgt diesen Veränderungen und Unterschieden, beeinflusst sie vielleicht sogar ein wenig, und zeigt darunter die Grundtöne auf, die alle Menschen und Kulturen verbinden und die eine Verständigung zwischen ihnen überhaupt erst möglich machen.
Nach einer starken Orientierung an japanischer Ästhetik, vor allem einer Orientierung an einzelnen Regeln der Form, des Jahreszeitenworts und der allerdings missverstandenen 17 Silben, arbeiten viele deutschsprachige Haiku-Dichter auch mit Herangehensweisen moderner europäischer Lyrik. Ob es gelingt, den dichterischen Kern des Haiku dadurch zu bereichern oder ob die Aufnahme europäischer Dichtprinzipien das Haiku verwässert, wird sich zeigen.
Voraussichtlich wird beides geschehen, wie immer vieles gleichzeitig und nebeneinander geschieht, und es wird an uns selbst liegen, welche Strömung wir unterstützen, wo wir zu Hause sein wollen.
Dieses Jahrbuch möchte dokumentieren. Kriterium für die Aufnahme von Haiku aus den vielen tausend erschienenen und eingereichten Texten ist also weder das Erfüllen noch das Brechen von einzelnen Regeln der Form, sondern alleine die literarische Qualität – soweit sie denn ein Herausgeber zu erkennen vermag.
Drei Haiku-Besprechungen eröffnen das Jahrbuch. Sie wollen für diese Gedichtform und ihre besonderen Anforderungen und Möglichkeiten sensibilisieren. In ihnen wird auch auf die Regeln der Haiku-Dichtung eingegangen2 .
Über Regeln lässt sich streiten. Für jede Form von Literatur aber gilt: Ein Text muss seine Leser berühren können. Als gute Beispiele dafür präsentieren sich nach den Besprechungen 637 Haiku von 123 Autoren sowie neun Tan-Renga (zweigliedrige Kettengedichte).
Viele dieser Texte wurden 2020 in den verschiedenen Publikationsmöglichkeiten zum Haiku veröffentlicht (siehe Kapitel „Das Haiku-Jahr“), viele erblicken mit diesem Buch erstmals das Licht der Öffentlichkeit.
Alle Texte wurden durch Volker Friebel ausgewählt, kritisch unterstützt durch Elisabeth Menrad. Alle Prosa ohne Verfasserangabe stammt von Volker Friebel.
Das Haiku-Jahrbuch erscheint seit 2003. Die Zahl der Haiku und ihrer Autoren ist in dieser Zeit deutlich gewachsen3 . Das lässt hoffen, dass das Haiku, dass Lyrik überhaupt, doch nicht so unzeitgemäß ist, wie man manchmal unken könnte. Vielleicht weil die Beschäftigung mit Dichtung hinter allen Börsen und Bilanzen das Herz nährt.
Die Merkmale von Haiku sind Kürze, Gegenwärtigkeit, Konkretheit, externe Orientierung, Offenheit (siehe Seite 2). Sie erschließen sich am besten durch gute Beispiele. Die folgenden Besprechungen gelungener Haiku stellen einiges von dem heraus, worauf es beim Haiku ankommt – und was sich aus Regeln und dem Spiel mit ihnen machen lässt.
waldwiese
lausche mit einem käfer
dem mond4
Das Haiku von Michaela Kiock gliedert sich klar in zwei Teile, „waldwiese“ gibt Ort und Grundstimmung vor, „lausche mit einem käfer dem mond“ konkretisiert die Situation durch die Einführung von zwei Subjekten, die Lauschende und den Käfer, und taucht das Bild in den Zauber des Mondlichts.
An diesem Text lässt sich gut wahrnehmen, wie wichtig es bei solch einem kurzem Gedicht wie dem Haiku ist, nicht nur eine Situation zu beschreiben, sondern in etwas davon sehr konkret und vielleicht auch ungewöhnlich zu werden.
„waldwiese / ich lausche dem mond“ wäre durchaus bereits ein Haiku, und es hätte auch etwas Besonderes, durch die Setzung von „lausche“ statt „betrachte“, wie es eigentlich zu erwarten wäre. Wir hören das Licht des Mondes nicht. Oder wir hören es, aber nicht mit den Ohren. Es entsteht in uns beim Lesen des Wortes „lausche“, wenn wir unwillkürlich selbst stiller werden. Wir hören die kleinen Geräusche der Stille. Und es entsteht etwas in uns, wir imaginieren die Atmosphäre dieser silberüberfluteten Waldwiese, so dass das Wort „lausche“ tatsächlich angebrachter als unser übliches Sehen ist, da lauschen eher mit Aufmerksamkeit und mit Stille assoziiert wird.
Das ganz Besondere dieses Haiku aber ist der Käfer, der zwischen diesen wenigen Worten, zwischen Waldwiese und Mond, ganz groß wird. Die Autorin setzt sich im Text nicht über, sondern neben ihn, das macht ihn größer und sie selbst kleiner – verstärkt noch durch Weglassen des Wortes „ich“.
Weglassen von selbstverständlichen Wörtern wie hier „ich“, ist im Haiku eine kitzlige Angelegenheit. Einerseits sollen die Worte sparsam gesetzt sein. Lassen wir zu viel weg, weil der Leser sie ergänzen kann, führt das aber oft zu einem wenig poetischen Telegramm-Stil.
So viel wie möglich streichen, ja – aber sehr genau achtgeben, was eine Streichung nicht nur mit dem Inhalt, sondern auch mit der Atmosphäre und der Sprache des Haiku macht. Und das heißt dann oft, lieber nicht so viel streichen wie möglich wäre.
Hier allerdings passt die Streichung des „ich“ gut zur Zurücknahme der eigenen Person durch den auf gleicher Höhe mit der Autorin gesetzten Käfer.
Lauschen Käfer dem Mond? Die Welt, in der wir leben, in der wir denken, fühlen, handeln, zu Hause sind, ist nicht die physikalische Welt, sondern eine von uns imaginierte – die allerdings physikalische Grundlagen hat. In der physikalischen Welt gibt es keine Geräusche, da gibt es Schallwellen. Die Sinneszellen unseres Ohres setzen diese in elektrische Impulse um, die Nervenzellen unseres Gehirns imaginieren aus diesen elektrischen Impulsen Töne.
In unserer imaginierten Welt lauscht ein Käfer dem Mond, wenn wir ihn im Mondlicht sehen, das Köpfchen leicht erhoben, regungslos still, bis auf die feinen Bewegungen seiner Fühler. Er lauscht, wenn wir es uns vorstellen. Wir selbst lauschen dem Mondlicht, wenn wir den lauschenden Käfer sehen oder ihn uns im Mondlicht der Waldwiese vorstellen.
Der Mond, der sich mir zeigt, wenn nichts anderes geschrieben steht, ist der Vollmond. Das Runde ist ein Symbol für Vollkommenheit. Das Haiku richtet sich über den Käfer an uns Menschen, es bringt uns in seine Position und macht uns die Welt dadurch groß und vollkommen.
sturmnacht
der griff des säuglings
nach dem wind5
Das Haiku von Tobias Krissel gibt mit „sturmnacht“ zuerst Situation und Atmosphäre vor, die Verse 2 und 3 lassen den Text dann mit dem Griff des Säuglings nach dem Wind konkret und lebendig werden.
Das Bild ist sehr anschaulich und eindrücklich – ein ganz junges Kind, auf dem Rücken liegend, eine kleine Hand, die nach oben greift, wo nichts ist, was man festhalten kann, wie wir Erwachsenen wissen, wo das Kind aber etwas spürt, das seine Haut und seine Haare berührt, auf das es neugierig ist, mit dem es spielen möchte, das es jedenfalls noch deutlicher spüren will, mit dem es interagieren will.
Erst beim erneuten Lesen des Haiku frage ich mich, wo das Kind sein mag, dass es den Wind einer Sturmnacht spürt. Vielleicht liegt es doch nicht auf dem Rücken, sondern die Eltern sind auf den Balkon oder auf die Veranda getreten, mit dem Kind im Arm, um den Sturm in den Bäumen zu betrachten – als ihnen ihr Kind auffällt, wie es lacht und den unbekannten Freund zu greifen versucht.
Man kann darüber nachdenken, wie es kommt, dass im Deutschen die vorhandenen eigenen Wörter für Kleinkinder kaum mehr verwendet werden und fast ganz durch „Baby“ ersetzt wurden, als seien in unserer Kultur Kinder so fremd geworden, dass ein Fremdwort für sie tatsächlich besser passt. Ersetze ich in diesem Text allerdings „Säugling“ durch „Baby“, verliert das Haiku für mich. Umgekehrt gesagt: Ersetze ich das gewohnte „Baby“ durch „Säugling“, gewinnt es.
Das liegt nicht an einer japanischen Regel, die besagt, dass in Haiku nur japanische Wörter, keine chinesischen, verwendet werden sollen, übertragen auf uns also: keine Fremdwörter. Der Grund dieser Regel dürfte darin liegen, dass Sprache fast immer lebendiger und konkreter wirkt, wenn statt Fremdwörtern gewachsene Sprache zum Einsatz kommt (die auch fremdsprachliche Wurzeln haben kann). Manchmal, wenn kein sinneshaft-konkreter, sondern ein intellektueller Eindruck erzielt werden soll, ist eben doch die Verwendung von Fremdwörtern günstiger.
In diesem Haiku allerdings nicht. Vielleicht weil der Begriff Säugling etwas Urtümliches der Beziehung zwischen Mutter und Kind betont und damit weit besser mit der „Sturmnacht“ korrespondiert, als das etwas blassere Wort „Baby“.
Eine weitere Regel beim Haiku möchte, dass keine doppelten oder zu ähnlichen Begriffe vorkommen. Hier haben wir „Sturm“ und „Wind“. Vielleicht tobt ringsum Sturm, hörbar oben, in den Wipfeln der Bäume. Und das Setzen von „Wind“ weist darauf hin, dass sich der Säugling in einem geschützten Bereich befindet, wo er zwar etwas vom Aufruhr des Himmels mitbekommt, aber nur noch als Wind. So macht die Abstufung der Wörter Sinn.
Das Haiku fasziniert mich aber nicht nur durch die sensibel eingesetzte Sprache, sondern weil es eine Seinsauffassung zeigt, die nicht die unsere ist, aber doch auch unsere war, aus der wir herausgewachsen sind, durch Erfahrung, durch viele leere Griffe in den Wind, eine Seinsauffassung, in der die ganze Welt lebendig ist und wir wie mit Freunden auch mit den Tieren sein können, den Pflanzen, dem Wasser, den Bergen, den Wolken, dem Wind.
Das ist sehr fern unserer Welt der Verschmutzungsrechte und Schadstoffbepreisungen, die vorgibt, Natur schützen zu wollen, aber zunächst noch ein weiteres Geschäft mit ihr machen will, zu ihrem Besten natürlich, und uns damit noch weiter von ihr entfernt.
Das Haiku löst in mir eine Wehmut aus, weil wir aus unserer vernünftigen Welt der Börsen und Bilanzen nicht in die Natur zurück können, jedenfalls nicht so, wie dieses Kind dort ist, auch wenn unsere Weltanschauung in manchen existenziellen Punkten unter die Weltsicht eines Säuglings zurückfällt.
Das Haiku erinnert uns daran, dass eine andere Weltsicht möglich ist, indem es zeigt, dass sie existiert. Das ist Kunst. Zu entwickeln, wie wir unsere Sicht der Welt verändern sollten, um in ihr dauerhaft leben zu können, wäre Aufgabe der Wissenschaft. Aber ich habe den Eindruck, dass Wissenschaft stattdessen fast ganz mit der Optimierung des Bestehenden beschäftigt und zufrieden ist.
Weshalb lese ich Lyrik? Um mich anzuregen, um neue Sichtweisen kennenzulernen, um das Bekannte unter anderen Aspekten neu zu erleben, um die selbstverständlich gewordene Schönheit und Tiefe der Welt neu zu erfahren. Wenn ein Haiku das leistet, ist es gelungen.
Durch den Spiegel
schaut sie ihn an
den Pfleger der sie wäscht6
Dieses Haiku von Marianne Kunz enthält kein Jahreszeitenwort, es bietet nur ein einziges Bild, nicht zwei Bilder mit einem Spannungsverhältnis wie die meisten gelungenen Haiku, es ist sprachlich nicht besonders elegant oder geschmeidig formuliert. Dennoch halte ich den Text für ein außerordentlich gelungenes Haiku.
Denn Dichtung besteht nicht einfach darin, Regeln zu erfüllen und abzuhaken. Dichtung will Augen öffnen, will dem, der sich in sie hineinbegibt, erst dem Autor, dann dem Leser, die bekannte Welt neu zeigen. Wo Dichtung das schafft, ist sie gelungen, auch wenn sie Regeln bricht und Erwartungen nicht erfüllt. Wo sie das nicht schafft, wo sie in konventionellen Sichtweisen bleibt, sollte sie allerdings Regeln der Form und Erwartungen des Lesers an Ästhetik erfüllen, um wenigstens darin erfreuen zu können.
Das Haiku von Marianne Kunz ist keine leichte Unterhaltung. Sein Blick in den Spiegel zeigt eine Situation, die niemand gern sehen möchte: eine Frau, die von einem Pfleger gewaschen wird.
Das Haiku bleibt bei der bloßen Beobachtung. Die Vorerfahrungen und Vorstellungen des Lesers malen am Text. Die typische Situation, die sich bei mir sofort einstellt, ist das Altersheim. Die Frau ist alt, der Pfleger jung. Das steht nicht im Text, der Text bleibt dafür offen. Typische Situationen müssen im Haiku, müssen generell in der Dichtung, nicht in Einzelheiten gezeichnet werden, ganz wenige Pinselstriche genügen, der Leser ergänzt.
Trotz des Klischees, das dabei entsteht, ist das Haiku alles andere als klischeehaft, denn in diesem Blick, der durch die Worte „Spiegel“ und „schaut“ aus der Situation stark herausgehoben wird, liegt eine ganze Welt des Erlebens. Der Versuch, die Situation genau zu schildern, würde das Haiku schwächen. Die Autorin setzt den Rohbau, das Ergänzen und Erleben überlässt sie dem Leser. Das ist die Offenheit von Haiku, die aber nicht einfach Beliebigkeit der Deutung eines Textes meint. Ein guter Text ist offen, aber keineswegs vage oder vieldeutig, nicht in seinem Gehalt.
Ich spüre die Scham der alten Frau in ihrem Blick, spüre ihre Verzweiflung darüber, wie ihr nach und nach das Leben entgleitet, nun sogar schon der eigene Körper, für den sie nicht mehr selbst sorgen kann, dessen Pflege sie anderen überlassen muss – und wem, sie, die alte Frau? Einem Mann, einem jungen Mann.
Der Pfleger wäscht die Frau vor dem Spiegel. Die Situation ist intim – aber die Frau kommt in ihrem Empfinden als das, was sie ein Leben lang war, eben als Frau, für diesen Mann nicht in Betracht. Vielleicht ekelt er sich sogar vor ihr, ihrem Alter, der faltigen Haut, ihrem Unvermögen zur Hygiene, ihrem Geruch – aber das Verlangen der Frau ist immer noch da, es betrachtet den Pfleger in diesem Spiegel.
Das Haiku gibt all diese Betrachtungen her. Sie stehen nicht drin. Sie sind im Text lediglich angelegt. Mehr muss nicht sein. Mehr sollte nicht sein. Jemand anders, mit anderen Vorerfahrungen und Grundeinstellungen als ich, wird mit den gesetzten Wörtern anderes assoziieren.
Die Kunst dieses Textes besteht in der hohen Sensibilität seiner Wahrnehmung, die sich genau auf das beschränkt, was nötig ist, und damit eine Welt eröffnet, die niemand sehen will, die aber zu unserer gemeinsamen Welt gehört. Was genau wir daraus machen, hängt eben von uns selbst ab. Wir erst, die Leser, erkunden mit unseren verschiedenen Vorerfahrungen und Assoziationen die Möglichkeiten, die ein Text eröffnet.
Dichtung muss sich nicht immer mit den Abgründen beschäftigen oder gesellschaftliche Themen aufgreifen. Dichtung kann auch einfach schön sein, erfreuen, ein gutes Gefühl erzeugen, indem sie Harmonie herstellt und uns mit der Welt freundlich verbindet. Das ist ein starkes Bedürfnis des Menschen und eines, das nicht nur in unserer Zeit viel zu wenig erfüllt wird. Die Welt schöner zu machen heißt auch, die Welt besser zu machen.
Auch Schönheit ist wahr, und wir sind ein Teil von ihr. Wahr sind die Blüten im Mai – und wahr ist das Blütenblatt im Wind. Wahr ist der Kuss, und wahr ist der Tod. Alles kann und sollte Thema von Dichtung sein. Alles zusammen bildet unsere Welt. Jedes einzelne schöne Haiku kann wahr sein und schön. Aber eine Sammlung, in der nur schöne Haiku stehen, ist nicht wahr, sondern schlecht.
Die Situation im Haiku von Marianne Kunz ist zeitlos. Dass ein Jahreszeitenwort fehlt, weist hart darauf hin. Man könnte durchaus eines setzen, eine Vase mit Frühlingsblumen böte sich an oder ein Blütenblatt im Haar des Pflegers.
Wie gut, dass es fehlt! Der Blick in den Spiegel bleibt ohne es unverstellt.
Iwa Antonow
Ähren lesen,
den ganzen Sommer
im strohblonden Haar
Kreistanz –
unsere weit geöffneten Arme.
Die Streife auf Abstand.
Sonnenbaden.
Das Guckloch im Zaun
zwinkert.
Marita Bagdahn
Kontaktverbote
er tanzt
mit dem Staubsauger
Mittagshitze
in die trägen Gedanken
taumelt ein Falter
Christa Beau
Kontaktsperre
nur der Frühlingswind
berührt mich
Ausgangssperre
der Versuch mit Tusche
Stille zu malen
nach dem Arztgespräch
die Gartenblumen
ohne Duft
Sommernacht
das leere Bett neben mir
voll Mondlicht
noch frisch das Grab
auf den Wangen
Wimperntusche
am Grab
zwischen duftende Rosen
fallen Kastanien
erster Schnee
das Glitzern der kalten Sterne
auf dem Grab
Winfried Benkel
Geburtstag
das Gewicht
der fehlenden Worte
Silke Berke
Rendezvous im Herbst
Jahrmarkt der Eitelkeiten
Auf Blumen schießen
Martin Berner
Grasmückenlied
sie stellt
die Rollstuhlbremsen fest
Todesnachricht
der Star in der Felsenbirne
sieht ihn lange an
aus dem letzten Brief
der Freundin
eine Schwalbe falten
Schach
die Enkelin bedroht den König
mit der Burg
zweiter Schultag
sie steckt ein Bild ein für Can
der so böse schaut
Kunst des Alterns
im Schaufenster
grantelnd schleckt er sein Eis
sie kämmt sich
mit Sorgfalt
heute kommt Bofrost
Zoom-Chorprobe
wie viele Bücher
alle haben
Advent
sie wählt Sympathy for the devil
als Klingelton
Spätwintersonne
er verbrennt
die angefangenen Briefe
Wolfgang Beutke
Landregen ...
das Prasseln der Eicheln
noch im Traum
Lidwina Bilgerig
Nebeltag
nur das Krächzen
der Krähen
Ahornblätter
welch ein Tanzen
im Fallen
am Grab
hockt eine Amsel auf
wir vermissen dich
Ich komme in den Garten
und schon bin ich
verloren
Christof Blumentrath
Gazzetta del Sud
ein Wind vom nahen Meer
blättert zum Sportteil
am Krankenbett
Großmutter operiert
den alten Teddy
Schwarzwälder Kirsch
wie sie tratschen
die kleinen Spatzen
im Opernglas
die feuchte Zungenspitze
der ersten Geige
Cello Suite
mit der linken Hand spielt
ein Sonnenstrahl
auch fünfzig ist nur eine Zahl rote Rosen
klackende Jetons
im Gewitter der Farben
ein blasses Gesicht
B2, Innere
allein – mit dem Muster
des Linoleums
tanzender Staub
die Stille des alten
Bandoneons