Quarantäne unter Sternen - Volker Friebel - E-Book

Quarantäne unter Sternen E-Book

Volker Friebel

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Beschreibung

Anliegen des Projekts Haiku heute ist die Förderung des deutschsprachigen Kurzgedichts. Dieses Buch beschäftigt sich mit dem Jahr 2021. Die Einführung stellt das Buch sowie die Grundlagen und das Potential von Haiku-Dichtung vor. Als gute Beispiele präsentieren sich 598 Haiku von 129 Autoren sowie sechs Tan-Renga. Ein Kapitel gibt Auskunft über den Stand des Haiku in den deutschsprachigen Ländern. Viele der Texte wurden 2021 in den verschiedenen Organen der Haikuliteratur veröffentlicht, manche erblicken hier erstmals das Licht der Öffentlichkeit.

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Haiku heute

 

Quarantäne unter Sternen

Haiku-Jahrbuch 2021

 

Volker Friebel

 

Edition Blaue Felder, Tübingen

 

Merkmale von Haiku1  

 

Kürze: Haiku werden meist in drei Zeilen gesetzt. 

Gegenwärtigkeit: Haiku sind in der Gegenwart. Wenn andere Zeiten vorkommen, dann sind es Erinnerungen oder Zukunftsfantasien, die jemand in der Gegenwart hat. 

Konkretheit: Haiku stellen Sachverhalte oder Erlebtes konkret dar, sinnlich miterlebbar. 

Externe Orientierung: Haiku beschäftigen sich fast immer mit der äußeren Welt, weniger mit den Vorstellungen des Dichters. 

Offenheit: Nach dem Lesen sollte ein Nachhall, etwas Ungesagtes, offen Gelassenes bleiben. 

Endreime und Überschriften gibt es nicht. 

 

Haiku heute ist ein Projekt zur Förderung des deutschsprachigen Kurzgedichts. Die Netzpräsenz www.Haiku-heute.deerstellt aus den dort eingereichten Texten Monatsauswahlen. Die Jahrbücher versammeln davon die interessantesten Haiku jedes Jahres, ergänzt durch nur für das Jahrbuch eingereichte Haiku und weitere Texte. 

 

Die Mehrzahlbildung folgt der Muttersprache aller Menschen, Bären und Schmetterlinge.

 

Edition Blaue Felder, Volker Friebel,

Denzenbergstraße 29, 72074 Tübingen (Deutschland)

www.Volker-Friebel.de 

 

Redaktion, Gestaltung, Foto: Volker Friebel

Veröffentlichung: März 2022

 

Alle Rechte liegen bei den Autoren.

 

 

 

 

 

 

Inhalt

Einführung  

Zusammen  

Natur und Kultur  

Der Atem des Rehs  

Haiku  

Tagträume  

Tan-Renga  

Das Haiku-Jahr  

Bücher  

Das Netz  

Autoren  

Edition Blaue Felder  

 

 

Einführung

 

Seit dem Jahr 2003 begleitet unser Jahrbuch die Entwicklung des Haiku deutscher Sprache.2 Das ursprünglich aus Japan stammende Gedicht ist in den Literaturen der Welt heimisch geworden.

In dieser 19. Ausgabe finden sich 598 Haiku von 129 Autoren sowie sechs Tan-Renga (zweigliedrige Kettengedichte), die im Jahre 2021 geschrieben oder erstmals veröffentlicht wurden. Sie stehen als gute Beispiele für das gegenwärtige deutschsprachige Haiku. Ob klassisch oder avantgardistisch orientiert – die ganze Spanne der gegenwärtig vorhandenen Stile ist vertreten.

 

In dieser Einführung werden Eigenarten des Haiku an ausgewählten Texten beleuchtet.3 Das soll auch für das Lesen von Haiku sensibilisieren. Eine so konzentrierte Form will auch in der Tiefe gelesen werden. 

Der folgende Hauptteil des Buchs enthält die aufgenommenen Texte, aufgeführt unter den alphabetisch gesetzten Autorennamen. Die Texte stammen vor allem aus der Netzpräsenz Haiku heute, die monatlich eine Auswahl der besten eingereichten Texte erstellt, sowie aus den Publikationen der Deutschen Haiku-Gesellschaft (Zeitschrift Sommergras), der Netzpräsenz Chrysanthemum, die halbjährlich eine zweisprachige Auswahl anbietet, aus weiteren Quellen sowie von direkt für dieses Jahrbuch eingereichten Texten.

Nach dieser großen Haiku-Sammlung folgen als Sonderbeiträge eine Sammlung Kurzgedichte von Hubertus Thum sowie sechs Tan-Renga.

Ein letztes Kapitel, „Das Haiku-Jahr“, bietet eine Kurzfassung davon, was sich 2021 im deutschsprachigen Kurzgedicht getan hat. Am Schluss steht das Autorenverzeichnis.

Alle Texte wurden durch Volker Friebel ausgewählt, kritisch unterstützt durch Elisabeth Menrad. Alle Prosa ohne Verfasserangabe stammt von Volker Friebel.

 

Die Merkmale von Haiku sind Kürze, Gegenwärtigkeit, Konkretheit, externe Orientierung, Offenheit (siehe Seite 2). Sie erschließen sich am besten durch gute Beispiele. Die folgenden Besprechungen stellen einiges von dem heraus, worauf es beim Haiku ankommt – und was sich aus Regeln und dem Spiel mit ihnen machen lässt.

 

 

Zusammen

 

Großmutter liest vor 

die Kinder mucksmäuschenstill 

auch der Hund 

 

Ein klassisch anmutendes Haiku von Friedrich Winzer. Einfache, verständliche Sprache, Kürze im natürlichen Sprachfluss, Bildhaftigkeit, eine klar erkennbare Situation. Wohl jeder wird sofort ein entsprechendes Bild vor dem inneren Auge entstehen sehen. 

Zwar fehlt ein Wort, das die Zeit fixiert, japanisch: ein Jahreszeitenwort. Aber wir werden, wenn wir es ganz klassisch haben möchten, das Vorlesen durch die Großmutter sofort in einen langen Winterabend verlegen können, wenn es draußen dunkel ist und die Kinder ins Haus müssen, aber noch nicht müde sind. 

Das Besondere, das Berührende an diesen Versen ist der Schluss. Auch wenn, so wie es gegenwärtig die meisten Autoren handhaben, keine Satzzeichen verwendet werden, verlangt er doch eine deutliche Sprechpause nach den beiden ersten Versen. Diese letzte Zeile ist auch kürzer als die beiden Zeilen davor: drei Silben nur. Diese Kürze verstärkt das Überraschende der Aussage noch. 

Die großen Augen der Kinder – die großen Augen des Hundes, der die Schnauze vielleicht auf seine ausgestreckten Pfoten gelegt hat und der Stimme der Großmutter lauscht, den Blick auch mal zu einem der Kinder schweifen lässt, und der allen zeigt, dass das, was sich ereignet, wenn wir zusammen sind, nicht bloß eine Sache der Sprache und des Intellekts ist, sondern des Gefühls. Des Gefühls, das keine Sprache und keine blitzende Intelligenz braucht, und doch zum Wesentlichsten zählt, was uns als Menschen ausmacht. Der Hund wird ganz selbstverständlich miteinbezogen, als einer der Lauschenden – auch wenn er vermutlich kein Wort versteht. 

Noch wichtiger als das Kennenlernen der alten Märchen und Mythen des Menschen, vom Prinzen, vom Lebkuchenhaus, von den zertanzten Schuhen, vom Aschenbrödel, von Frau Holle, von Liebe, von Streit, von Reichtum und Glück, ist das Miteinander, das im Lauschen erlebt wird, in dem alle Unterschiede zwischen Kindern und Hunden und großen Menschen verschwimmen in dem, was uns alle verbindet. 

Dichtung kann vieles, und alles kann zu seiner Zeit seine Berechtigung haben, die Harmonisierung der Gesellschaft wie auch der Aufruf zum Kampf, das Aufzeigen des Hässlichen wie des Schönen, die Sensibilisierung für das Kleine, Unscheinbare wie die Beschäftigung mit den großen Worten von Himmel und Erde. Wenn sich darunter nur immer wieder auch Texte finden, die das betonen, was uns alle verbindet und die zeigen, dass wir trotz aller großen Unterschiede so verschieden nicht sind. 

 

Natur und Kultur

 

Wegwartenblau.

Ein Acker liegt gepflügt

in der Stille.

 

In einer Stille, die nicht gestört wird vom Tuckern des Traktors und nicht vom gelegentlichen Laut eines Vogels, nicht einmal vom Grollen eines Flugzeugs, im Himmel, diesem anderen Blau.

Ich habe diesen Text und Texte dieser Art durch die Jahrzehnte schon zu Hunderten und Tausenden geschrieben. Darf das nicht immer wieder sein? In die Natur gehen wir auch immer wieder, ohne dass jemand an den Wiesen und Bächen „schon bekannt“ seufzt und nach neuen Arten von Gewässern und Landschaften ruft.

Aber genau das weist vielleicht auf einen Unterschied zwischen der Natur und der Welt des Menschen, unserer Welt, hin.

Wenn sich die Blätter färben, geschieht das ohne Rückgriff auf ein schon Erlebtes, schon Formuliertes, in die Welt schon Hineingebrachtes. Es ist ganz neu, jedes Jahr wieder ganz neu, weil es unmittelbar aus den Quellen geschieht.

Anders die Kultur. Sie bezieht sich nicht nur unmittelbar auf ein Ursprüngliches, sondern auch auf das, was ihr selbst jeweils vorausläuft. Sie hat eine Geschichte.

Die Natur dagegen, obgleich auch sie sich verändert, obwohl selbst die Linien der Berge sich bewegen, obwohl Meere austrocknen und die Gewalt der Kontinentaldrift versteinerte Muschelschalen hoch in den Himmel hebt, ereignet sie sich im Blühen der Blumen, im Fließen der Bäche, im Ruhen der Seen  immer geschichtslos und unmittelbar neu.

Ist nicht die Lyrik ein Kind beider Welten? Sollte sie nicht auch aus den Quellen stammen und nicht nur ein geschichtlicher Augenblick im Strömen einer Kultur sein?

Vermutlich. Vermutlich liegt das Problem der Wiederholung und des Seufzens wegen der Wiederholung gar nicht beim Dichter, sondern beim Leser. Denn noch nicht unbedingt beim Dichten, aber beim Lesen, wird Dichtung Kultur, wird damit Geschichte und unterliegt dann den Regeln dieser Kultur.

 

Ein weiteres Problem: Der Wegwarten-Text ist ein bloßes Naturbild. Auch wenn ein Acker streng genommen Kultur ist und „Stille“ ein abstraktes Wort, jedenfalls hier.

Es ist ein Haiku über Natur, in seinen konkreten Begriffen, dem Blau der Wegwarten und dem gepflügten Acker, der von Menschen bestellt worden ist, nun aber einfach nur noch er selbst ist und seine Möglichkeiten in seinem gegebenen Raum ganz ausschöpft. Menschen kommen nicht vor. Und ein Bezug des Textes zum Menschen ist nur schwer herstellbar.

Weshalb sollten Leser Texte lesen, die sie nichts angehen? Wegen der Sprache vielleicht oder wegen der harmonisierenden Wirkung von Natur. Weshalb wir zu den Sternen schauen, die, unerreichbar fern, uns auch nichts angehen und trotzdem oder gerade deswegen etwas mit uns zu machen vermögen.

Wohl alle Haiku, von denen wir uns angesprochen fühlen, haben allerdings mit uns, haben mit Menschen zu tun. Der Mensch ist deshalb auch in den meisten gern gelesenen Haiku direktes Thema. Oder die Natur wird in der Art einer Parabel benutzt, um etwas über den Menschen auszusagen.

Haiku ohne einen solchen Bezug zum Menschen sind möglich. Dass sie Leser ansprechen, ist allerdings weniger wahrscheinlich.

Es reicht deshalb nur selten aus, einfach eine Beobachtung in der Natur hinzustellen. Wenn so etwas geschieht, stellen sich Fragen: Ist der Text offen für den Leser, für unsere Menschlichkeit? Lässt er den Leser sich selbst erkennen oder etwas von ihm?

Einfach objektiv hingesetzte Natur lässt das kaum zu. Die Natur kennt den Menschen nicht.

Die „Moral von der Geschicht“ an den Schluss zu stellen oder überhaupt irgendwie direkt anzusprechen, wirkt allerdings plump. Ein Raum aber sollte da sein, sollte irgendwie angestoßen, zum Schwingen gebracht worden sein, in dem der Leser den Text zu seinem eigenen machen kann, in dem er selbst diese Beziehung zu sich und seinen persönlichen Themen herstellen kann.

 

Natürlich wird nicht jedes Haiku, das einen Menschen anspricht, auch von allen anderen Menschen entsprechend aufgenommen. Das Haiku ist dasselbe, aber die Leser sind verschieden, haben unterschiedliche Vorerfahrungen, Vorlieben, eine etwas anders geartete Sensibilität, sind in mehr oder weniger verschiedenen Kulturen aufgewachsen und von denen unterschiedlich gefärbt worden.

Eigentlich ist es ein kleines Wunder, wenn zwei Menschen bei der Beurteilung eines Textes übereinstimmen. Dass es häufig dennoch geschieht, in der Zustimmung wie in der Ablehnung, ist das, womit der Autor arbeiten kann.

 

 

Der Atem des Rehs

 

Friedwald

im Lauschen des Rehs

unser Atem

 

Im Haiku von Petra Fischer fällt die Sparsamkeit auf. Es sind keine auffälligen Kontraste gesetzt. Einer schon, aber er wirkt zunächst eher verhalten: „Friedwald“ und „Atem“.

---ENDE DER LESEPROBE---