Schläft ein Bild in allen Dingen - Marion Wiesler - E-Book

Schläft ein Bild in allen Dingen E-Book

Marion Wiesler

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Beschreibung

Die Hand (lat./med. manus) ist ein Greiforgan und hat mit ihrem opponierbaren Daumen den Siegeszug der Primaten und Menschen eingeleitet. Und meinen Untergang. Denn meine Hand sieht. Egal, ob ich will oder nicht. Und damit ruiniert sie mir gerade mein Leben. Mike ist Masseur in einem Wellnesshotel in der Nähe von Wien, als seine Hand plötzlich bei jeder Berührung Bilder sieht. Ein Desaster für ihn und seinen geliebten Beruf. Auf der Suche nach Heilung begibt er sich nach Orcas Island. Doch die Dinge werden dort nicht besser. Unter lauter Hippies und Künstlern versucht er, nicht verrückt zu werden. Und auf keinen Fall jene geheimnistragende Frau zu berühren, in die er sich verliebt.

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Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen, fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort. (Joseph von Eichendorff)

In Erinnerung an meinen Vater,

der mich einst auf diese wunderbare Insel mitnahm,

und an Tomi, wo auch immer du nun bist.

Der Roman spielt 2006, dem Zeitpunkt meiner letzten Erinnerungen an diese Insel.

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Erstes Kapitel

"Das sind ein paar großartige Knoten, die Sie da haben, wunderbar!"

Ich meinte es nicht einmal zynisch.

Frau Murner auf der Massageliege ließ ein leises Grunzen hören, ob als Antwort auf die Bemerkung oder wegen des Drucks meiner Finger war nicht erkennbar.

Meine Daumen schoben sich langsam und stetig die Muskelverspannung entlang. Dick und warm war der Strang des Schulterhebers, ein glatter, herausfordernder Widerstand. Ich erhöhte den Druck, presste die Fingerkuppen genau an den Punkt, der meine Aufmerksamkeit zu verlangen schien wie ein kleines Kind.

"Sie sagen's, wenn's zu viel ist."

Ein automatischer Satz, tausend Mal gesprochen und fast schon unbewusst.

Frau Murner grunzte erneut. Langsam und zögerlich gab der Muskel nach, löste sich. Die Welle der Entspannung lief von meinen Fingerspitzen aus durch meinen ganzen Körper, als stiege ich in eine warme Badewanne. Ich strich den Strang entlang, eine fast lobende Bewegung, wandte mich dem nächsten Knoten zu. Meine Finger versenkten sich in das Gewebe, doch nicht nur die Finger. Mein ganzes Sein verlor sich in den Muskelsträngen. Ich liebte es, die Verhärtungen zu fühlen, die Verschiedenartigkeit der Gewebestrukturen. Ob tief unter blassen Fettschichten oder knapp unter solariumgebräunter Haut, hier konnte ich die Welt vergessen. Hier konnte ich auch den Traum vergessen, der mich in letzter Zeit jede Nacht heimsuchte. Hier bestand ich aus Fingern, Kraft und meiner Fähigkeit, Verspannungen zu lösen.

Ich verabschiedete mich von Frau Murner. Sie drückte mir einen 5-Euro Schein in die Hand, unauffällig, so wie es nur Damen eines bestimmten Alters taten. Über ihre Wange zog sich eine tiefe Falte, verursacht von dem Handtuch, auf dem sie gelegen hatte. Ich sagte nichts. Bis sie auf ihrem Zimmer war, wäre der Abdruck verschwunden. Ich wollte ihr momentanes Wohlbefinden nicht mit so einer Bemerkung trüben.

"Danke vielmals", murmelte sie, "Ich fühle mich wie neugeboren." Sie zog ihren flauschigen Bademantel über dem Busen zurecht, ließ ein entspanntes Seufzen hören. "Schade, dass ich morgen schon wieder abreisen muss."

Ich lächelte pflichtschuldig. Der Geldschein wanderte in die Tasche meiner weißen Hose, ich legte das Leintuch zusammen, das die Massageliege bedeckte. Antwortete nicht. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass eine beiläufige Bemerkung nun zu einem längeren Gespräch führen würde, und ich hatte – im Gegensatz zu dem frisch entspannten Hotelgast – kein Bedürfnis nach Smalltalk.

Ein wenig zögerlich verabschiedete sich meine Klientin, ließ die Tür des kleinen Zimmers offen, als hoffe sie, ich würde ihr doch noch ein Ja, das ist schade nachrufen.

Und ja, ich fand es schade. Sie war eine äußerst angenehme Kundin, kam alle paar Monate auf ein Wochenende ins KaiserSpa. Redete nie viel, hatte wunderbare Verspannungen, Muskelstränge hart wie Drahtseile. Eine Herausforderung, ein kleiner Triumph, wenn die Verhärtungen unter meinen Fingern nachgaben, sich auflösten.

Und nun Dienstschluss.

Tanja an der Rezeption des Wellnessbereichs blickte von ihrem Buch auf, als ich auf sie zukam.

"Fertig, Mike? Morgen um acht?"

Ich schüttelte den Kopf, legte den Schlüssel des Behandlungszimmers auf die Theke.

"Nope."

"Stimmt. Voll ungewohnt. Und, wie war die Madame? Die hat ja einen ziemlichen Parfum-Dunst verbreitet, jedes Mal mehr."

"Echt? Ich find sie super. Genau, wie ich sie mag. Schweigsam und verspannt."

"Aber das ist doch voll fad, wenn sie nix reden. Das Nette sind doch die Gespräche. Schlägt sich auch im Trinkgeld nieder, Susanne hat gestern glatt einen Zwanziger gekriegt, weil es der Kundin so gut tat, Susannes – wie sagte sie – Körper- und Seelentherapie."

Ich zuckte die Schultern. Ich war nicht Masseur geworden, um Seelentherapie zu betreiben. Sondern weil Muskeln mich faszinierten und es mir ungeheuren Spaß machte, Verspannungen aufzulösen. Dass an den Verspannungen Menschen hingen, voller Probleme und Sorgen, das war der große Nachteil meines Jobs. Im Lauf der Jahre hatte ich Routine darin entwickelt, Plaudertaschen mit Hm, mhm abzuspeisen, während ich meine Ohren auf Durchzug stellte.

"Und danke für die Kekse, die du mitgebracht hast!" Tanja hielt eine leere Packung in die Höhe – ihr Tag war wohl langweilig gewesen.

Susanne näherte sich von hinten und Tanja erhob sich, wissend, dass nun alle fertig waren.

"Na, dann genieß deinen freien Tag mal schön. Hast es eh nötig, dass du mal wieder rauskommst, man hätte schon meinen können, du lebst in deinem Kämmerchen", zwinkerte sie mir zu.

"Mist, ich bin entdeckt." Ich grinste. "Ja, das werd ich. Dann bis Dienstag."

"Bis Dienstag?" Susanne sah mich erstaunt an. "Du hast dir freigenommen?"

Meine Güte, das war doch nicht so eine Sensation. Ich nickte.

"Und, schon Pläne oder wirst du einfach faulenzen?"

"Ich mach eine Motorradtour. Raus aufs Land. Treff mich mit ein paar Freunden morgen in Oberösterreich."

"Oh, das sollte ich auch mal wieder machen! Vor lauter Arbeit kommen wir ja zu gar nichts, vor allem mit den Bauarbeiten daheim … Ich sag dir, ich hätte nicht gedacht, dass sich das so lange zieht", seufzte Susanne und legte ihren Schlüssel auf die Theke, Tanja hängte ihn an das Brett.

"Habt ihr das Problem mit dem Wasseranschluss schon gelöst?"

Ich lächelte den beiden zu, winkte. "Ich geh dann. Bis Dienstag!"

Als ich mich umdrehte, stand die Chefin vor mir. Aufrecht, als hätte sie einen Besenstiel verschluckt, immer so verspannt, dass sie keine besondere Werbung für unser Hotel abgab.

"Wie gut, dass ich Sie alle hier noch antreffe!"

Wir drei warfen einander einen kurzen Blick zu. Gut war es nie, wenn die Chefin auftauchte.

"Ich habe soeben die letzten Abrechnungen gesehen. Die Verkaufszahlen unserer Kosmetikprodukte sind eklatant gesunken, seit Ihre Kollegin Brigitte nicht mehr bei uns ist. Es scheint, dass Sie nicht so viel Bemühung zeigen, unsere Produktserie den Kundinnen positiv zu vermitteln."

Susannes Schultern spannten sich an. "Es ist doch eigentlich logisch, oder, wenn wir eine Masseurin weniger sind, dass auch weniger verkauft wird."

"Das habe ich einkalkuliert", sagte die Chefin mit spitzen Lippen. "Es muss also eine Sache Ihrer Motivation sein."

Ihr Blick glitt herablassend über uns drei. Ich lächelte: "Das wird wohl an mir liegen. Es tut mir leid, aber es fällt mir als Mann doch etwas schwer, glaubwürdig Kosmetikprodukte für die reife Frau anzupreisen."

"Bemühen Sie sich einfach etwas mehr, Michael. Sie schaffen das schon. Und nun entschuldigen Sie mich, ich muss nach oben."

Oben – das war die Lobby, jener bibliotheks-leise Bereich, wo die Hotelgäste in den gepolsterten Ohrensesseln ihren Cognac nippten, wo die warme, feuchte Luft des Wellnessbereichs nur eine zarte Ahnung war und von Frühherbst bis Frühsommer ein Feuer im Kamin knisterte. Jener Bereich, in dem wir Angestellte nichts verloren hatten.

Die Chefin schwebte davon, unser krampfhaftes Lächeln entspannte sich.

"Vielleicht verkaufen sich diese Cremchen ja nicht, weil sich inzwischen rumgesprochen hat, wie rasch sie ranzig werden", feixte Tanja.

"Ich erwähn sie schon ewig nicht", gab Susanne zu.

Tanja und ich nickten.

"Aber danke, Mike, auf mich hat sie eh einen Pick."

"Gern geschehen."

"Wollen wir noch gemeinsam auf ein Bier gehen?" Susanne sah fragend in die Runde. "Ich hab so null Motivation, auf meine Baustelle heimzukommen."

"Jaja, die fehlende Motivation, das ist es … Bin dabei." Tanja klappte das große Terminbuch zu.

"Heute nicht, Mädels. Ein andermal."

"Na dann. Bis Dienstag!" Susanne winkte mir zu, ehe sie in die Garderobe ging, um in ihre Privatsachen zu schlüpfen.

Ich mochte Tanja und Susanne, und oft setzten wir uns abends auch noch auf ein Gläschen zusammen, wenn Ruhe im Wellnessbereich einkehrte. Aber morgen hatte ich frei. Und ich wollte heute noch bis nach Wels fahren, bei Tageslicht.

Tagebucheintrag

Was für ein herrlicher Tag heute, stundenlang bin ich auf der Terrasse gesessen und habe in die Ferne geschaut, einfach nichts tun, NICHTS, manchmal braucht man das, und sie war auch sehr schauenswert, die Ferne, ganz sonnendurchflutet bin ich jetzt.

Zweites Kapitel

Laut grölend sang ich vor mich hin. Ich war kein begnadeter Sänger, gewiss nicht, aber auf dem Motorrad war das egal. Hier konnte ich mich nicht einmal selbst hören, bei dem Geknatter des Motors und dem Fahrtwind, der in mein offenes Visier blies, aber das tat meiner guten Laune keinen Abbruch. Auf dem Soziussitz die Tasche mit Zelt und Schlafsack, ein lauer Abend, ein freier Tag vor mir – das Leben war herrlich. Tanja hatte recht gehabt. Ich war tatsächlich schon fast mehr in meinem Kämmerchen gewesen als sonst wo.

Nicht, dass es mich störte, ich liebte meinen Job. Es war Tag für Tag faszinierend, wie unterschiedlich Körper gebaut waren und wie großartig verhärtet sie sein konnten. Ich liebte den dezenten Geruch nach Chlor, der durch den Wellnessbereich des KaiserSpa zog, die warme, leicht feuchte Luft in den Gängen. Die gedämpften Geräusche, die Theke mit all den verschiedenen Teesorten und dem brummenden Samowar – allein das glucksende Geräusch, wenn das heiße Wasser in meine persönliche Tasse sprudelte, hatte meinen Teekonsum um ein Vielfaches gesteigert.

Aber in der Blase des Hotellebens hatte ich ganz vergessen, wie großartig es sich anfühlte, sich auf meiner BMW geschmeidig in Kurven zu legen und einfach ins Blaue zu fahren. Der tägliche Autobahnstau von Wien in die Arbeit in Baden kam da einfach nicht ran. Ich fuhr gegen Westen, über durch Dörfer schlängelnde Bundesstraßen, und als die Sonne sich tiefrot dem Horizont näherte, konnte ich nicht anders, als "I'm a poor lonesome Cowboy!" zu schreien. Lucky Mike, das war ich. Der Mann, der schneller massierte als sein Schatten. Und meine BMW mein Eisenross Jolly Bumper. Heute Nacht würde ich gut schlafen und nicht vom Fallen träumen.

Das Gasthaus Gruber, vor dem ich anhielt, war ein wenig düster und schäbig, doch das störte mich nicht. Ich wollte einfach ein Bier trinken, ein paar Bissen essen, und fragen, ob es ein freies Zimmer gab. Es sah nach Regen aus, und irgendwie nahm mir das die Lust auf eine Nacht im Zelt. Ich wurde alt. Alt und verweichlicht von dem Luxusleben im Hotel.

Der Rauchgeruch in der Gaststube war gewiss schon historisch und mischte sich harmonisch mit dem Geruch nach alten Bratfett. Der Gastgarten hinter dem Haus jedoch war perfekt passend zu meinem freien Tag. Ein großer alter Kastanienbaum, darunter die typischen Gasthausstühle aus Metall und Plastik, karierte Tischdecke. Die Kellnerin wogte an mich heran, ihre Brüste und Hüften schwappten bei jedem Schritt wie Wellen am Strand. Eine ungeheure Rückenmuskulatur musste unter den Fleischmassen stecken, um den Vorbau zu halten. Die Schultern leicht hochgezogen, wohl auch Schmerzen im Lendenwirbelbereich.

Sie legte eine Speisekarte vor mich auf den Tisch, dunkelbraune Plastikhülle, jede Seite einfoliert. Das Menü bestimmt seit Jahren das gleiche.

"Der Schweinsbraten ist aus. Tagessuppe sind Frittaten, aber Leberknödel haben wir auch. Was darf's zum Trinken sein?", ratschte die Kellnerin herunter.

Ich bestellte ein Krügerl und nach einem raschen Blick in die Karte Leberknödelsuppe und gebackene Champignons. Erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich war. Wahrscheinlich hatte mein Magen mich dazu gebracht, hier anzuhalten, bei diesem wunderbar heruntergekommenen Gasthaus.

Ein Pärchen betrat den Gastgarten, beide mit Motorradhelmen am Arm und in der typischen schwarzen Lederkombi. Ich schob den Sessel, auf dem mein Helm lag, näher an den Tisch, doch die beiden hatten ihn schon gesehen, nickten lächelnd, wie unter Bikern üblich. Kamen auf mich zu.

Ich seufzte. War wohl mein Pech, dass an den anderen Tischen die Sesseln schon rangekippt waren. War ja auch schon spät. Also eigentlich nicht, aber hier am Land …

"Tagchen. Stört's, wenn wir uns dazusetzen?"

Ich bemühte mich um ein Lächeln. "Aber nein. Gerne."

"Schöne Gegend hier, nicht?" Der Mann war wohl an die fünfzig, leichter Spitzbauch. Steifer Gang, hochgezogene Brust. Probleme im rechten Knie. Seine Frau – Freundin – was auch immer, war ja egal – dafür um vieles jünger als er, mit federnden Schritten, kaum Verspannungen erkennbar auf den ersten Blick. Machte vielleicht Yoga. Nein, dem Typ nach eher Zumba. Sie ließen sich auf den freien Sesseln nieder, griffen nach der Karte, die die Kellnerin am Tisch hatte liegen lassen.

"Wir sind das erste Mal hier in der Gegend", meinte die Frau lächelnd. "Gefällt mir gut. Schöne Gegend, wirklich. Sehr schön. Die Gegend."

"Und so viel davon!", fügte der Mann lachend hinzu.

"Schweinsbraten ist dafür aus", sagte ich.

"Ist so zu schwer, am Abend. Sind Sie von da, aus der Gegend?" Die Frau sah kurz von der Karte auf.

"Aus Wien."

"Soll'n ja nett sein, die Wiener. Schöne Stadt, Wien, oder?"

"Ja, sehr schöne Stadt. Und gibt auch viel davon, wie hier von der Gegend."

Sie sah mich ein wenig verblüfft an, senkte den Blick wieder in die Karte. War ich unhöflich gewesen? Irgendetwas hatten Deutsche an sich, wenn sie in Österreich waren, das aufreizend wirkte. Die gemeinsame Sprache war trennend.

Gerade als der Mann mit mir ein Gespräch beginnen wollte, kam die Kellnerin mit meinem Bier und der Suppe. Die beiden Deutschen bestellten und der Mann sah der Kellnerin hinterher, als sie davonwogte. Ein Blick unter Männern zu mir hin. Ich lächelte höflich.

"Wir sind aus Duisburg", begann die Frau. "Machen Urlaub. Und Sie?"

"Aus Wien."

"Ach ja, sagten Sie ja schon. Gehört Ihnen die rote BMW vor dem Lokal?", bohrte sie weiter.

"Ja."

Der Mann schnalzte lobend mit der Zunge. "Schönes Teil. Wir fahren ja eine Goldwing. Aber die Bayern, die verstehn schon was von Motorrädern, nicht? Für die Frau ist die Goldwing halt bequemer auf der langen Strecke. Man muss Abstriche machen, wenn man verheiratet ist." Er grinste, zwinkerte mir zu.

"Sind Sie verheiratet?", fragte seine Frau.

Ich schüttelte den Kopf, löffelte meine Suppe. Sie war nur lauwarm, der Leberknödel scharf gewürzt.

Die Frau strahlte. "Wir auch erst seit Kurzem. Sind also quasi unsere Flitterwochen, was, Bärli?"

"Ja, Puppi. Wir hätten ja auch nach Wien fliegen können – meine Frau will so gerne in die Staatsoper gehen und das ganze Wiener Flair. Aber so eine Tour auf der Maschine, das verbindet. Da kann man die Fahrt viel mehr auskosten."

"Der Bärli hat Flugangst, müssen Sie wissen."

"Gar nicht wahr. Ich fahr halt gern Motorrad. Ist ein Ausgleich zum Beruf."

"Was sind Sie denn von Beruf?", fragte die Frau, als die Kellnerin ihre Getränke und meine Champignons vor uns abstellte.

Die Einheimische sah verdutzt auf die Deutsche. "Kellnerin bin i. Was glaubst, Fernsehansagerin?" Kopfschüttelnd ging sie zurück ins Haus.

Der Mann lachte, ich mit ihm. Mit rotem Gesicht sagte die Frau: "Ich habe Sie gemeint. Nicht die Kellnerin …"

"Ich bin Masseur."

Die Augenbrauen des Mannes fuhren in die Höhe, fast schien er ein wenig von mir abzurücken.

"Ach."

Dieser schwebende Ton. Ehrlich, musste das sein? Die beiden Eheleute warfen einander einen Blick zu. Sahen auf den Motorradhelm, der sie plötzlich zu irritieren schien. Ich wusste, was sie dachten. Schwul. Oder Callboy.

Ich war nicht der Sportmasseurtyp, diese 100 Kilo Kerle, die Fußballspielern die Waden durchkneteten, dass es krachte. Ich war schlank, meine Hände keine Pranken. So musste es Masseurinnen gehen, die man sogleich als Masseuse abstempelte. Susanne jammerte öfter über die Blicke der Männer, die sofort an schwedische Masseusen dachten, an alte Pornofilme und Rotlichtmilieu. Mich traf eher das Klischee schwul. Zumindest bei einer bestimmten Alters- und Sozialgruppe. Dass Menschen sich immer sofort ein Bild von ihrem Gegenüber machen mussten. Konnte einem doch egal sein. Ich fragte ja auch nicht, warum der Deutschen so eine junge Frau hatte oder was er beruflich machte. Ich seufzte innerlich, widmete mich meinem Essen.

Die Frau lächelte mich bemüht freundlich an. "Und da machen Sie wohl Hausbesuche?"

Fast verschluckte ich mich.

Zum Glück kam die Kellnerin mit den Speisen der beiden.

Der Mann hatte bereits die Geldbörse aus seiner Lederjacke gezogen, legte ein paar Scheine auf den Tisch.

"Ich zahl dann mal gleich. Das waren 3,50 für mein Bier, 2,90 für das meiner Frau, 8,90 für das Schnitzel und 7,40 für die Gemüseplatte, macht 22,70 dann noch 5,40 für zwei schwarze Kaffee, die Sie uns nachher bringen und davon 10% Trinkgeld, macht 30,90, sagen wir 31,00 Euro."

Die Kellnerin starrte auf die Geldscheine.

"Jo mei, da muss i erst nachrechnen geh'n. Bei uns zahlt ma nach dem Kaffee." Ohne das Geld anzunehmen, trottete sie in die Wirtsstube zurück.

Das Lächeln der Frau wurde stolz. Oder verlegen? "Der Bärli liebt Zahlen, alles, was mit Mathematik zu tun hat."

Ihr Mann strich ihr über den Oberschenkel. "Deshalb hab ich ja auch eine Buchhalterin geheiratet … aber sagen Sie selbst, Sie Wiener, Zahlen sind doch etwas Wunderbares. So verlässlich. Da weiß man immer, woran man ist. Die Mathematik gibt einem Halt, wenn man sich an Zahlen hält, dann kann man nie in eine Krise geraten, nicht?"

Ein eigenartiges Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Auch ich hatte in der Schule Mathematik geliebt. Aber dennoch, das Wort Krise … Irgendetwas lauerte da in meinem Bauch, und es war nicht das Essen. Oder doch?

Das Gespräch drehte sich knirschend wie ein altes Karussell um die Gegend und Motorräder.

Ich zahlte, sobald ich mit dem Essen fertig war.

Der Wirt drinnen gab mir auf meine Frage den Schlüssel zu einem Zimmer im ersten Stock, lachte und meinte etwas davon, dass da heute wohl ein Bikertreffen wäre. Ich zahlte, dem Beispiel des Deutschen folgend, gleich.

Das Zimmer war so, wie die Gaststube vermuten ließ. Ein schmales Bett, ein hellbrauner Tisch mit zwei ebensolchen Sesseln, darüber ein Bild von Maria mit dem Jesukindlein. Beige Vorhänge mit rot bestickten Bändern, die sie zur Seite rafften. Dusche und Klo waren am Gang, fast wie bei einer Zeitreise ins vorige Jahrhundert. Jahrtausend. Der Kasten, der trotz Pressspanplatte auf Vollholz machte, knarrte, als ich seine Türe öffnete. Ein Geruch nach Mottenpulver, wie im Haus meiner Großmutter einst. Fast fühlte ich mich zu meinem letzten Besuch bei ihr zurückversetzt, als Teenager noch, eine Ewigkeit her. Ich stellte die Tasche mit Zelt und Schlafsack lieber in eine Ecke, als in diese Duftoase. Nun gut, mein freier Tag sollte ja ein Kontrast zu meiner Arbeit im KaiserSpa sein.

Irgendwie fühlte ich mich nicht mehr so euphorisch wie auf der Herfahrt. Die beiden Deutschen hatten meine Laune verdorben, mein Gewand stank nur von den beiden Malen, die ich die Gaststube durchquert hatte, nach Rauch, die Champignons hatten einen fettigen Nachgeschmack hinterlassen, den ich gerne mit noch einem Bier hinuntergespült hätte, aber dann hätte ich bei den beiden Quasi-Flitterwöchlern sitzen bleiben müssen.

Ich überlegte, doch ein kleines Waldstück zu suchen und dort mein Zelt aufzuschlagen. Da begann es zu regnen. Nun gut, ich hatte morgen noch den ganzen Tag, um meine Freiheit zu genießen.

Ich zog mich aus und warf mich auf das Bett – die Matratze so weich, dass sich mein Kreuz durchbog, im Gegensatz zu dem steifen Kruzifix, das über meinem Kopf an der Wand hing. Der Jesus darauf sah aus, als hätte er eine Magenverstimmung.

Es gab keinen Fernsehapparat.

Ich hatte nichts zum Lesen mit.

Es war wahrscheinlich gerade erst einmal neun Uhr, als ich vor Langeweile einschlief.

Um bald darauf wieder aufzuwachen.

Großartig, deutscher Blümchensex im Nebenzimmer. Piepsiges Keuchen gepaart mit tiefem Brummen.

Ich drehte mich zur Seite, steckte den Kopf unter das Kissen. Sonderbare Bilder formten sich im Halbschlaf in meinem Hirn. Der spitzbäuchige Deutsche, der seiner viel zu jungen Frau im Staccato Rhythmus seinen Schwanz in den Leib rammelte, das Schild des Gasthauses mit seinem abgeblätterten Schriftzug Gruber, der Kindheitsgeruch hier in dem Zimmer, das Kruzifix über meinem Kopf, all diese Eindrücke tauchten hinter meinen geschlossenen Augen auf, drohend und düster. Die Bilder hämmerten sich in meinen Kopf, dem Tempo des Keuchens aus dem Nebenzimmer folgend.

Ich schob das Kissen von mir. Luft. Wieso war es so stickig hier? Wie zäher Schleim. Aufstehen, ehe die dicke Luft mich niederpresste. Meine Füße berührten den Boden, doch alles schwankte, drehte sich, ich erhob mich, unsicher. Trugen meine Beine mich?

Atemlos. Ich hörte mich selbst keuchen, wie nach einer Verfolgungsjagd. Jeder Atemzug brannte und stach. War das ein Albtraum? Das konnte doch nicht real sein. So eng die Lunge. Als würde sich eine Boa Constrictor um mich schlingen. Solche Schmerzen, jeder Atemzug, eiserne Klammern im Rücken. Mein Zwerchfell schien sich gegen die Schlüsselbeine drängen zu wollen, so wenig Platz für Luft in der Lunge. Hatte ich einen Herzinfarkt? Dazu war ich doch viel zu jung! Die Panik machte alles noch enger, ruhig bleiben, ganz ruhig.

Der Mund trocken. So finster hier. Wo war die verdammte Nachttischlampe? Meine Hände tasteten erfolglos umher, fanden den Schalter nicht. Und immer noch dieses Geräusch, Keuchen, war das der Deutsche? War das ich? Gas. Da musste wo ein Gasleck sein. Ich würde ersticken. Kohlenmonoxidvergiftung. Als ob es am Land Gasheizungen gäbe. Solche Kopfschmerzen, zum Explodieren, was war nur los? Jedes Geräusch aus dem Nebenzimmer ein Schlag eines Presslufthammers. Ich taumelte zum Fenster. Riss die Augen auf und sah doch nur diese Horror-Collage – das Kruzifix, das Gasthausschild, das weiche Einzelbett, die grinsende Maria mit ihrem Jesukind am Schoß, die Rechnung voller Zahlen und Rechenzeichen, Zahlen, an die ich mich zu klammern versuchte und doch abstürzte in bodenlose Schwärze.

Meine Hände ertasteten den Fenstergriff, rüttelten panisch, bis es sich öffnete. Kühle Luft. Atmen. Endlich wieder tiefe Atemzüge. Ich füllte meine Lunge mit der herrlichen Frische, trank sie wie ein Verdurstender. Die Bilder verloren an Farbe, während die Geräusche im Nebenzimmer ein Crescendo männlichen Gestöhns erreichten.

Ich zitterte am ganzen Körper.

Eine ungeheure Müdigkeit nebelte mich ein.

Irgendetwas lauerte da in meinem Kopf, wollte heraus. Ich konnte es nicht greifen. Musste doch ein Albtraum gewesen sein. Kein Wunder bei dem fettigen Essen.

Ich zerrte die Decke vom Bett, rollte mich damit auf dem harten Filzbelag vor dem Heizkörper zusammen, ließ das Fenster geöffnet. Schlief erschöpft ein, während draußen ein Vogel schrie.

Tagebucheintrag

Ich starre die leere Seite an, ein Traumtagebuch soll ich führen, hat es damals geheißen, jeden Tag in der Früh aufschreiben, was ich träumte, jeden Abend aufschreiben, was ich am Tag erlebte, einfach schreiben, ohne viel zu denken, ich bin recht brav am Abend, aber in der Früh, keine Ahnung, was ich geträumt habe, ich habe geträumt, das weiß ich, es war ein schöner Traum heute, meistens nicht, doch kann ich mich nicht erinnern, so, wie ich mich auch an andere Dinge nicht erinnern kann, nicht erinnern will, wozu also in der Früh immer dieses Zeug aufschreiben, wenn ich die Seiten durchblättere, steht fast jeden Tag, ich habe geträumt, ich kann mich nicht erinnern, und das ist gut so, ich mag es, mich nicht erinnern zu können, es ist herrlich, ich brauch mich nicht mit Gedanken quälen, was das alles zu bedeuten hätte, was mir das alles sagen soll, ich kann mein Frühstück genießen, Kaffee trinken, und dann hinaus, hinaus, mit dem Blick auf die Landschaft und malen, das ist mir lieber, als Träume zu haben.

Drittes Kapitel

Ich lebte noch. Langsam nahm die Welt rund um mich wieder Gestalt an. Die mehrfach übermalten Lamellen des Heizkörpers. Der graue Filzbelag am Boden, der unter der Heizung frischer aussah als daneben. Als ich wieder erwachte, war es zeitiger Morgen. Der Frühverkehr, der die Dorfbewohner in den nächsten größeren Ort brachte, staute hinter einem Traktor an meinem Fenster vorbei. Ich fühlte mich, als hätte ich den Großglockner im Handstand bestiegen. Alles tat weh. Beim Aufsetzen merkte ich, dass meine linke Hand hinter dem Heizkörper feststeckte, als hätte ich in der Nacht versucht, mich durch diesen schmalen Spalt ins Freie zu retten. Beim Herausziehen meiner Hand fügte ich mir ein paar Abschürfungen zu.

Ich saß da und versuchte Kraft zu sammeln, um aufzustehen. Nun wären eine Sauna und eine Massage durchaus angenehm. Was war das nur gewesen? Hatte jemand etwas in mein Bier getan? Vielleicht einfach altes Frittierfett, das mir solch einen Albtraum beschert hatte. Oder da war ein Fliegenpilz in den Champignons gewesen … Andere ziehen sich sowas absichtlich rein … Ich lachte, mehr, um mir Mut zu machen.

Und ich wollte nichts anderes, als hier weg. Nicht einmal ins Bad ging ich mehr, verschwitzt und zerzaust taumelte ich die Treppe hinunter, packte meine Tasche auf mein Motorrad. Eine Weile brauchte ich dennoch, bis ich mich fähig fühlte, auf meine Maschine zu steigen. Starrte das Schild über der Gasthaustüre an, das mir im Traum so bedrohlich erschienen war. Ein altes, abgeblättertes Schild.

Die linke Hand tat weh, wahrscheinlich eine überreizte Sehne oder ein eingeklemmter Nerv. Ich bewegte sie vorsichtig, sie kribbelte. Aber schlimmer war der Nebel, der sich in meinem Kopf ausgebreitet hatte.

Nach ein paar Metern hielt ich an, nutzte ein Maisfeld, um meine Blase zu erleichtern. Immer noch fühlte ich mich zittrig und mein Magen flatterte. Verdammte Champignons. Die Lust, ins Blaue zu fahren, hatte mich verlassen. Ich wollte nur noch in ein Bett – in mein Bett – und schlafen. Nicht mal anrufen wollte ich meine Freunde, schrieb ihnen nur eine SMS, dass ich nicht käme. Auf der Heimfahrt hielt ich nirgends an, fiel daheim auf meine Couch, hatte es gerade noch geschafft, meine Lederhose auszuziehen. Ich schlief bis zum Nachmittag.

Am nächsten Morgen fühlte ich mich besser. Es hatte gut getan, den Abend einfach daheim auf der Couch zu liegen und alte Serien anzusehen. Die Heimfahrt hatte mich genug Kraft gekostet. Das war zwar nicht das gewesen, was ich mit meinem freien Tag vorgehabt hatte, aber mein Körper hatte wohl danach verlangt. Die linke Hand tat weh, mehr noch als der Rest des Körpers, der sich langsam nach Muskelkater anfühlte. Die Abschürfungen, die ich mir zugezogen hatte, als ich die Hand hinter dem Heizkörper hervorgezerrt hatte, waren leicht geschwollen. Wie war meine Hand überhaupt in den Spalt hineingekommen? Ein vages Bild, dass ich versucht hatte, jemanden zurückzuhalten. Wovon? Egal. Nie wieder gebackene Champignons. Von dem einen Bier konnte ich ja nicht so einen Kater haben. Da ging an den Abenden mit den Freunden im Irish Pub einiges mehr. Meine Träume vom Fallen in den letzten Tagen kamen mir plötzlich sehnenswert idyllisch vor.

Ich fühlte mich immer noch wie in Watte gepackt. Vielleicht wurde ich ja krank. Das wäre zwar das erste Mal in vielen Jahren, aber warum nicht. Irgendetwas war einfach nicht in Ordnung. Bestimmt harmlos, ein Virus. Oder eine Magenverstimmung, irgend so etwas.

Meine Linke war taub, wie eingeschlafen.

Dennoch, ich musste in die Arbeit. Einer der wenigen Tage, an dem ich ein Auto für die halbstündige Fahrt bevorzugt hätte. Ich merkte selbst, wie unkonzentriert ich mich durch den Morgenverkehr schlängelte, konnte es dem Lastwagenfahrer nicht einmal übelnehmen, der mich anhupte.

Auf dem Mitarbeiterparkplatz des KaiserSpa blieb ich noch einen Moment neben meinem Motorrad stehen. In der Ferne war das leise Brummen der Autobahn zu hören. Alles brummte. Mein Kopf. Und vor allem meine Hand.

Tanja und Susanne standen an der Rezeption, plauderten.

"Also ich sag dir, diese Baustelle treibt mich noch in den Wahnsinn. Jetzt haben die Idioten doch glatt den Wasserzähler in die Dusche eingebaut. Frag mich nicht, warum."

"Also so was hab ich auch noch nie gehört."

War ich überhaupt weg gewesen? Bei genau so einem Gespräch hatte ich die beiden doch vorgestern verlassen. Oder war ich in einer Zeitschleife gefangen? Und täglich grüßt das Murmeltier?

"Morgen Mike! Na, schönen freien Tag gehabt?" Tanja reichte mir den Schlüssel vom Brett.

"Geht so." Ich drehte das Terminbuch zu mir her, warf einen Blick auf die Liste.

"Wirklich erholt schaust du nicht aus."

"Passt schon. Der Erste da, war der schon mal hier?" Ich deutete auf den Namen in der Liste.

"Nein. Drüben ist mal wieder irgendein Kongress, Homöopathie in der Geriatrie oder so. Sind einige Kapazunder aus Deutschland da, die Chefin ist ganz aufgeregt. Wieso?"

"Nix, mir kam nur der Name bekannt vor." Natürlich kam er mir bekannt vor. Da stand Graber. Fast wie das Gasthaus. So ein Zufall. "Ist ja richtig wenig los heute."

"Ja, ich sag's ja, Kongress. Das Hotel ausgebucht und die Leute voll beschäftigt mit Vorträgen, grad zwischendurch mal paar Termine. Ich schätz, am Abend wird dafür die Sauna übergehen."

"Ist mir nur recht heute, fühl mich nicht so gut."

Ich nahm meinen Schlüssel und ging zur Garderobe, mich umkleiden. Die linke Hand war wirklich lästig, kribbelte und schmerzte, so was Blödes. Und das Hirn wie in Watte gepackt, klebrige Zuckerwatte statt zündende Synapsen. Konnte man von einer Abschürfung irgendwelche Krankheiten kriegen? Tollwut? Ich musste lachen. Klar, die berühmte Heizkörpertollwut. Ich war wirklich daneben heute.

Auch wenn mein erster Klient fast wie das grauenvolle Gasthaus hieß, so wirkte er freundlich und schweigsam, und seiner Körperhaltung nach hatte er keine gröberen Probleme.

Fast entschuldigend sagte er: "Wenn wir schon in diesem wunderbaren Hotel sind, dann muss man das nützen, nicht? Die Vorträge sind anstrengend genug, da kann so ein wenig Entspannung am Morgen nichts schaden."

"Ganz recht. Was für ein Öl darf ich denn verwenden? Ich würde zu einem belebenden Orangen-Zitronenöl raten. Ist eine Spezialmischung unseres Hotels, das hält Sie den ganzen Tag munter." Wie hohl meine Stimme klang. Wie ein Typ aus der Fernsehwerbung, richtig peinlich. Redete ich immer so?

"Gerne." Mit einem Seufzer legte sich der Mann auf die Liege, ließ sich von mir mit einem Leintuch zudecken. Ich verteilte Öl in meinen Händen, darauf bedacht, die aufgeschürften Stellen auf meiner Linken davon zu verschonen. Einmal Entspannung, da konnte ich meine Gedanken schweifen lassen. Ausnahmsweise war mir gar nicht danach, mich der Herausforderung harter Knoten zu stellen. Dieser problemlose Mann kam meinem wattigen Gefühl sehr entgegen.

Ich schlug das Leintuch ein wenig zurück, betrachtete die Schulterregion. Wenig Muskulatur, wenig Fett. Typ Marathonläufer, zumindest in der Jugend mal gewesen, dynamischer Mensch.

Behutsam legte ich meine Hände auf die Schulterblätter.

Ein greller Blitz fuhr mir in den Kopf. Ein Ledergürtel, der knallend auf meine Schultern niederfuhr. Schmerz, dass ich mich krümmte. Zorn. Eine junge Frau, deren hassblitzende Augen mir bis ins Fleisch schnitten. Der Blick von einer hohen Brücke, ewiger Abgrund in eisigem Wind, Verzweiflung, die mein Herz umklammerte, dass ich springen wollte.

Ich starrte meine Hände an, riss sie empor. Keuchte. Starrte den Mann auf der Liege an. Übelkeit wallte in mir hoch, ich konnte noch die Hand vor den Mund pressen und hinausrennen, den Gang hinunter, die Toilettentüre aufreißen, ehe ich mich übergab.

Eine Weile saß ich auf der Klobrille, starrte meine Hände an.

Muskeln speicherten Energie. Speicherten Zucker. Aber doch keine Erinnerungen. Die saßen im Hirn. Waren das überhaupt Erinnerungen gewesen? Oder war ich vorgestern in dem Gasthaus wahnsinnig geworden?

Ich sollte zurückgehen. Man ließ einen Klienten nicht einfach alleine auf der Liege zurück. Ich musste verrückt geworden sein. Halluzinationen. Doch Pilze. Mit verdammt langer Wirkung.

Ich wusch mir die Hände, das Wasser brannte in den Abschürfungen. Ich starrte in den Spiegel über dem Waschbecken. In meinen Augen meinte ich immer noch die Spiegelung des eisigen Wassers tief unter der Brücke zu sehen.

Ich zwang mich, tief zu atmen. Reiß dich zusammen, Mike. Das bist du. Das ist dein Körper. Da sind keine Striemen eines Gürtels auf deinen Schultern, nur der weiche Stoff deines weißen T-Shirts. Siehst du die Stickerei auf deiner Brusttasche? Michael Kranzmayer.

Je länger ich meinen Namen anstarrte, umso mehr beruhigte sich mein Magen und ich spürte mich wieder. Das kalte Wasser auf meinen Händen. Meine Füße in den Clogs, die Position meiner Wirbelsäule, die Grenzen meiner Haut.

Mein Klient lag immer noch auf der Liege, den Kopf der Türe zugewandt.

"Verzeihung. Aber … mir ist … nicht gut. Es tut mir leid."

Ich konnte dem Hotelgast nicht ins Gesicht sehen. Was, wenn das stimmte? Wenn ich nicht halluziniert hatte? Dann hatte ich sein Innerstes gesehen, Dinge, die mich wirklich nichts angingen. Und die ich wirklich nicht wissen wollte.

"Ich … ich werde schaun, ob eine Kollegin ..."

Ich wankte aus dem Kämmerchen wieder hinaus zu Tanja an die Rezeption.

"Kannst du … mir ist schlecht. Und der Kerl liegt noch auf meiner Liege …"

Tanja sah von ihrem Buch auf. "Bist du krank?" Besorgt griff sie nach mir, berührte meine linke Hand, mit deren Unterarm ich mich an der Theke aufstützte.

Wieder fuhr es wie ein Blitz in meinen Kopf. Das Röhrchen eines Schwangerschaftstests, negativ. Ein ganzer Haufen an Schwangerschaftsteströhrchen, alle negativ. Das unsägliche Gefühl des Versagens.

Ich riss meine Hand weg. Stürmte erneut zum Klo. Meine Antiperistaltik versuchte, letzte Reste der Magensäure hochzuwürgen. Ich spuckte etwas bitteren Speichel.

Es dauerte, bis ich mich wieder herauswagte. Erst als Tanja vor der Türe stand und nicht aufhörte, anzuklopfen.

"Soll ich den Arzt rufen? Lebst noch?"

Ich kam heraus, lehnte mich an die Wand neben der Türe. Ich musste wissen, ob ich verrückt war.

Tanja legte mir ungewollt die Rutsche, als sie sagte: "Wenn du eine Frau wärst, tät ich fragen, ob du schwanger bist."

"Ich sicher nicht. Du?"

Tanjas Blick veränderte sich, wurde unsagbar traurig, tränenfeucht. Mist. Ich war tatsächlich nicht verrückt. Was war nur mit mir geschehen?

Viertes Kapitel

Ich saß daheim, auf meiner Couch, starrte aus dem Fenster. Himmel war keiner zu sehen, nur das Grau des Hauses gegenüber. Der Fernseher lief. Die Nachmittagstalkshow hielt die Panik in meinem Inneren in Schranken. Die Chefin hatte mich heimgeschickt. Alle glaubten, ich hatte eine Magenverstimmung. Gescherzt hatte die Chefin, das kommt davon, wenn ich Ihnen einen freien Tag gebe, schon sind Sie krank.

Ja, ich war krank. Oder doch verrückt. Normal und gesund auf alle Fälle nicht. Ich musste zum Arzt, für eine Krankschreibung. Heute noch.

Meine Linke kribbelte nach wie vor. Ich starrte sie an. Es hatte mit der Hand zu tun. Mit den Schürfwunden vielleicht. Mit dem Anfall in der Nacht.

Aussehen tat die Hand normal, abgesehen von den nach wie vor leicht geröteten Abschürfungen. Sonst keine Schwellungen. Vorsichtig bewegte ich jeden einzelnen Finger. Alle ein wenig unwillig, müde Muskeln, aber vollständige Beweglichkeit in allen Gelenken. Ich schüttelte die Hand aus, den ganzen Arm. Das leichte Kribbeln blieb. Vielleicht ein eingeklemmter Nerv? Seit wann führte ein eingeklemmter Nerv zu Halluzinationen. Die noch dazu offenbar stimmten. Waren das dann überhaupt Halluzinationen, wenn sie wahr waren?

Ich hasste es, zum Arzt zu gehen, aber es musste wohl sein. Wahrscheinlich würde der mich zu einem Neurologen schicken, Blutbild, EEG, was auch immer. Oder auf die Psychiatrie.

Ich stützte mich auf den Couchtisch, als ich aufstand. Ein greller Blitz schnitt in meinen Kopf wie ein Messer. Ein klappriges Auto, zwei sich streitende Leute, die auf Fahrer- und Beifahrersitz saßen. Ein Schachspiel. Dasselbe Pärchen, ein wenig resigniert, Bemerkungen darüber, was für eine Schande es wäre, mit so einem Hallodri, die eigene Tochter. Waren das Oma und Opa, in jüngeren Jahren?

Ich riss die Hand hoch. Mein Magen fuhr Achterbahn. Das war ein Tisch. Ein lebloses, hölzernes Ding. Wo kamen die Bilder her? Sie mussten aus mir selbst heraus kommen. Doch Fantasien, und bei Tanja hatte ich nur zufällig deren wunden Punkt erraten. Ich war überarbeitet. Das war es wohl. Überarbeitung. Und meine Hand machte mir klar, dass ich ein wenig Pause brauchte. Aber ich wollte keine Pause. Wollte in meinem Kämmerchen stehen, Tee aus dem Samowar trinken und meine Hände in den muskulären Tiefen fremder Menschen vergraben.

Dr. Schmölzer konnte mir gewiss helfen. Ein paar Tabletten und ging schon.