Lass uns träumen fort und fort - Marion Wiesler - E-Book

Lass uns träumen fort und fort E-Book

Marion Wiesler

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Beschreibung

Meine Hand sieht Erinnerungen. Das ist verrückt. Und anstrengend. Nicht nur für mich. Ein Blick in die Zukunft wäre mir wesentlich lieber. Mike, dessen Hand ihn bei jeder Berührung mit Bildern überschwemmt, kehrt nach Orcas Island zurück. Er mag sein Problem inzwischen ein wenig in den Griff bekommen haben, aber die Frau seines Lebens nicht ...

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Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen, fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort. (Joseph von Eichendorff)

Marion Wiesler

Lass uns träumen fort und fort

Ein Orcas Island Roman Band zwei

In Erinnerung an meinen Vater, der mich einst auf diese wunderbare Insel mitnahm, und für meine Mutter, ohne die ich heute nicht wäre, wo ich bin.

Der Roman spielt 2006, dem Zeitpunkt meiner letzten Erinnerungen an diese Insel.

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Tagebucheintrag

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Tagebucheintrag

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Tagebucheintrag

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Tagebucheintrag

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Tagebucheintrag

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Tagebucheintrag

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Tagebucheintrag

Neunzehntes Kapitel

Tagebucheintrag

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Tagebucheintrag

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Tagebucheintrag

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Tagebucheintrag

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Einundreißigstes Kapitel

Tagebucheintrag

Zweiunddreißigstes Kapitel

Dreiunddreißigstes Kapitel

Vierunddreißigstes Kapitel

Fünfunddreißigstes Kapitel

Sechsunddreißigstes Kapitel

Siebenunddreißigstes Kapitel

Achtunddreißigstes Kapitel

Erstes Kapitel

Ich war verrückt.

Das war aufregend. Aber völlig verrückt.

In Sichtweite vor mir die große Schiebetüre, der ich mich mit meinem Gepäckwagen näherte. Auf ihm all mein Hab und Gut: zwei Koffer und eine Reisetasche.

Verrückt. Herrlich verrückt.

Ich hielt inne, ließ die anderen Passagiere an mir vorbei, die nach dem langen Flug ebenso übermüdet und klimaanlagengeschädigt wirkten wie ich. Noch einen Moment hier am Rande der Halle stehen und durchatmen.

Meine linke Hand juckte unerträglich. Ich befreite sie von ihrem Handschuh, den ich nach der Landung übergezogen hatte, um mich beim Hantieren mit Koffern und Gepäckwagen und bei den langwierigen Einreiseformalitäten in die USA geschützt zu fühlen. Die zweite Einreise innerhalb von zwei Monaten, und doch war alles anders. Damals war ich vor mir selbst davongelaufen, diesmal lief ich auf etwas zu.

Ich atmete noch einmal tief durch, als gäbe es jetzt noch etwas zu entscheiden, als gäbe es jetzt noch ein Zurück.

Nein, da war kein Hauch eines Zweifels.

Ich wollte nur meine Nerven beruhigen, die flatterten, wie vor meinem ersten Sprung vom Zehnmeterbrett.

Einhändig schob ich den Gepäckwagen auf die Schiebetüre zu. Wie im Sommer. Doch diesmal würde Mia dahinter warten, jene Frau, die ich heiraten würde, obwohl wir einander erst vor zwei Monaten begegnet waren.

Meine Mia, die verrückteste und stärkste Frau, die ich kannte.

Die Türe öffnete sich und ein Schallteppich aus Begrüßungen, Handyläuten und Aufzugmusik schwappte mir entgegen. Gelangweilte Taxifahrer, die halbherzig Namensschilder hochhielten, kleine Kinder, die aufgeregt hüpften und sich die Hälse verrenkten, um bei den Schiebetüren hineinzusehen, Menschen, die einander glückselig in den Armen lagen.

Und mir gegenüber, ganz vorne in dieser Menge, sie.

Diese strahlenden Augen, die ich die letzten sechs Wochen täglich bei unseren Skype-Gesprächen nur bildschirmgefiltert hatte betrachten können. Ich meinte, mein Lächeln müsste mir das Gesicht zerreißen, so sehr freute ich mich, sie zu sehen.

Ich stellte meinen Gepäckwagen neben ihrem Rollstuhl ab, einen kurzen Augenblick verharrten wir nervös voreinander.

„Hallo Einarm.“

„Hallo Rollbein.“

„Lange nicht gesehen.“

„Viel zu lange.“

Ich legte meine rechte Hand in ihren Nacken, beugte mich vor und küsste sie. Wie vertraut waren wir einander die letzten Wochen via Skype geworden, wie nahe war sie mir da am anderen Ende der Welt gewesen, und nun, in dieser halben Umarmung, wie fremd schien sie mir. Wie sehnte ich mich danach, sie an mich zu drücken, doch der Rollstuhl machte es nicht einfach, zwang uns zu einer unbequemen Distanz.

Jemand stieß gegen meine linke Hand, die ich sicherheitshalber etwas von mir gestreckt hatte. Sie sollte Mia in dieser ersten Begrüßung nicht berühren, und nun wurde sie berührt. Idiot, was hatte ich meine Hand nicht in meine Jackentasche gesteckt, dann hätte ich mir diesen schmerzhaften Blitz und die Welle an Bildern eines frustrierten Geschäftsmanns erspart.

Mia hatte mein Zucken bemerkt, sie löste sich und blickte dem fremden Passagier nach, der sich suchend umsah.

Ich verzog leicht den Mund.

„Selbst schuld.“

Und steckte meine Linke endlich in die sichere Jackentasche.

Ein verlegenes Lachen, mein Bauch war so voller Gefühle, das Herz wollte mir schier übergehen, voller Liebe und Aufregung.

„Du bist tatsächlich da. Ich habe mich bis jetzt nicht getraut, es zu glauben.“

Ihre Hände legten sich an meine Wangen, das Leder ihrer fingerlosen Handschuhe war weich und warm, sie zog mich zu sich hinunter für einen weiteren Kuss.

Ich verlor ein wenig das Gleichgewicht, musste mich an der Rückenlehne ihres Rollstuhls abstützen und brachte uns beinahe zum Umkippen.

Wir grinsten einander an.

„Ich glaub, die Hollywood-Happyend-Begrüßung müssen wir uns für daheim aufheben.“

Ich hatte daheim gesagt und ihr Haus gemeint. Ja, es war wirklich verrückt.

Sie nickte und wendete den Rollstuhl dem Ausgang zu. „Dann lass uns losfahren, Mike. Je früher, desto besser.“

Sie rollte ein Stück vor meinem Gepäckwagen her, automatisch machten die Leute in der Halle ihr Platz. Jedes Mal, wenn ihre Hände den Reifen Schwung gaben, sah ich ihre Nackenmuskeln über dem Jackenkragen sich anspannen. Diese herrlich verspannte Nackenmuskulatur war das Erste gewesen, das mich an ihr gereizt hatte, mich, den Masseur. Und nun war ich tatsächlich hier und würde sie massieren können. Ja, auch wenn ich wegen meiner Hand meinen Beruf aufgegeben hatte, Mia würde ich massieren. Darauf hatte ich mich die letzten Wochen jeden Tag vorbereitet. Allein die Hoffnung, meine Finger in diesen wunderbaren Muskeln zu vergraben, hatte mir so viel Motivation gegeben, dass die Abartigkeit meiner Hand inzwischen für mich kontrollierbar war. Halbwegs. Meistens. Zumindest dann, wenn ich mich bewusst auf eine Berührung einstellen konnte, versank ich nicht mehr in furchtbaren emotionalen Strudeln und auch mein Magen hatte gelernt, an seinem rechtmäßigen Platz zu bleiben.

Endlich hatten wir die Stadt hinter uns gelassen. Mia entspannte sich, ihre verkrampfte Kiefermuskulatur löste sich. Ich hätte ihr ja gerne angeboten, für sie aus Seattle hinauszufahren – offenbar empfand sie das Fahren in der Stadt als stressiger als ich – doch ihr Wagen war behindertengerecht umgebaut und es war wohl nicht ideal, mit Handgas und -bremse gleich als Erstes in einer Großstadt zu beginnen. Lernen wollte ich es auf alle Fälle. Ein zweites Fahrzeug konnten wir uns nicht leisten. Ich beobachtete neugierig Mias Hände. Sie warf mir einen kurzen Blick zu, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte.

„Wenn ich gewusst hätte, dass ich mein Auto je mit jemandem teilen würde, hätte ich die Pedale nicht abmontieren lassen. Aber es war sicherer, mit den Zuckungen in meinen Beinen …“

„Was wäre das Leben ohne Herausforderungen.“

Sie überholte einen Lastwagen, lächelte mich an, als sie sich wieder in die rechte Spur eingliederte.

„Ich hatte bis zuletzt Sorge, dass du es dir anders überlegst.“

„Ich auch.“ Ich grinste. „Du hättest meine Freunde hören sollen. Es ist ja auch verrückt.“

„Ja, das ist es, Mike.“ Sie strahlte über das ganze Gesicht.

„Für dich ist Verrücktheit nichts Neues.“

Wieder traf mich ihr Blick, einen Moment ängstlich, dann lachend. „Nein, es ist nichts Neues. Für dich?“

Ich dachte nach. „Schon. Irgendwie. Andererseits, hält man sich selbst nicht immer für normal?“

Sie gluckste. „Für normal hab ich dich vom ersten Moment an nicht gehalten.“

„Naja, da war ich es ja auch nicht mehr. Seit das da –“ Ich hob meine linke Hand „– im Sommer begonnen hat, habe ich der Normalität adieu gesagt.“

„Find ich super.“

Wir schwiegen. Es tat gut, einfach schweigen zu können. Am Telefon hatten wir beide immer das Gefühl gehabt, dauernd reden zu müssen. Dabei war es das Schweigen, das ich von Anfang an mit ihr so genossen hatte.

Ich betrachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie fuhr nun zügig und sicher. Es war so schön, sie nicht nur auf dem Bildschirm zu sehen, sondern neben ihr zu sitzen und den zarten Orangenduft ihres Parfums zu riechen, zu spüren, dass es so genau richtig war – sie an meiner Seite und ich an ihrer.

Da konnten die anderen reden, was sie wollten, was wussten die schon.

Wir waren rechtzeitig bei der Fähre, eines der wenigen Fahrzeuge, die um diese Jahreszeit unter der Woche zu den Inseln fuhren. Routiniert manövrierte Mia ihren Wagen über die Rampe, ließ sich einwinken. Weit vorne standen wir, unter freiem Himmel. Kaum hatte sie die Handbremse angezogen, schickte ich mich an, auszusteigen. Mia lächelte entschuldigend.

„Ich bleib hier.“

Natürlich. Vom Parkdeck führten nur schmale, steile Stufen nach oben. Und obwohl ich schon gesehen hatte, wie Mia sich nur mit den Armen samt Rollstuhl kurze Treppen hochzog – „Ich war immer schon sportlich“, hatte sie achselzuckend gesagt – für den Rolli waren diese Treppen zu eng.

„Dann hol ich uns einen Kaffee.“

Mia lächelte. „Ich wusste doch, warum ich dich mitnehme.“

Die Fähre tuckerte bereits los, als ich die metallene Treppe hinaufstieg. Es ruckelte, der Geruch von Treibstoff lag in der Luft und das rhythmische Schlagen des Motors dröhnte im engen Stiegenaufgang.

Kurz darauf kehrte ich mit einem Tablett mit Kaffee und Bagels zum Wagen zurück. Inzwischen war ich wirklich geschickt darin geworden, einhändig durchs Leben zu gehen. Einen Moment blieb ich stehen, genoss den Fahrtwind und den salzigen Duft des Meeres. Kein Vergleich zu dem stickigen Mief im Flugzeug. Ich füllte meine Lungen mit der kühlen Luft und mir wurde bewusst, dass dies von nun an der Duft meines Alltags wäre.

Mia hatte mich wohl im Rückspiegel gesehen, sie beugte sich zur Beifahrerseite und öffnete mir die Türe. Die Nachmittagssonne schien zur Windschutzscheibe herein und die wundersame Welt des Puget Sound zog an uns vorüber, während wir uns von der Fähre sanft schaukeln ließen.

Dieses Blau … es öffnete meine Seele so weit, dass ich endlich wagte, ganz ohne Nervosität das Glück zu fühlen, wieder hier zu sein. Zwischen unzähligen kleinen Inseln, auf denen Nadelbäume sich in den Fels krallten, wie ein verbindendes Ornament zwischen Meer und Himmel. Ich war erst zum zweiten Mal hier und doch übermannte mich ein Gefühl des Heimkommens. All die Anspannung, die Sorgen und die Müdigkeit fielen von mir ab und ich konnte nur dasitzen, meinen heißen Kaffee in der Hand, ein großes Abenteuer vor mir, und von Ohr zu Ohr lächelnd.

Mia sah zu mir herüber, nippte an ihrem Becher.

„Du siehst glücklich aus.“

„Ich bin glücklich.“

Ich schob meine linke Hand in die Jackentasche, damit sie mir ja nicht in die Quere kam, und beugte mich zu Mia hinüber, prostete ihr mit dem Kaffeebecher zu.

„Auf uns und unser Leben hier!“

„Wenn der Weg schön ist, lass uns nicht fragen, wohin er führt.“

„Das auch.“ Ich hatte ihre Sprüche vermisst.

Ich küsste sie sanft, sie erwiderte den Kuss und einzig der Fährenarbeiter, der vor unserem Wagen stand und mit verschränkten Armen seinen Blick über die Fahrzeuge und die Landschaft gleiten ließ, hinderte uns an stürmischeren Liebesbekundungen. Und die vollen Kaffeebecher in unseren Händen, die auf dem träge schaukelnden Schiff gefährlich schwappten.

Als wir nach mehr als einer Stunde auf Orcas Island ankamen und über den ratternden Anlegesteg gerumpelt waren, konnte ich nicht anders. Ich ließ die Fensterscheibe hinunter und streckte den Kopf weit hinaus. Mia lachte. Der Fahrtwind brachte all die Gerüche der Insel zu mir, als wir durch Felder und Wiesen Richtung Eastsound fuhren.

Ich winkte einem Radfahrer zu, den Mia überholte, und schrie: „Ich bin wieder da!“

Mia kicherte immer noch, als ich endlich das Fenster schloss.

„Du bist wirklich ein Labrador, fehlen nur die flatternden Ohren.“

Wir durchquerten Eastsound, und so sehr ich mich schon darauf freute, den Ort wieder zu begrüßen, noch mehr freute ich mich nun auf das kleine Haus, in dem Mia lebte. Ich freute mich und war doch auch ein wenig nervös. Ihr Haus, voll mit ihren Erinnerungen. Würde all das Üben der letzten Wochen reichen, um uns ein normales Zusammenleben zu ermöglichen? Ach was, normal war doch soundso gar nichts an uns. Eine Ex-Soldatin im Rollstuhl, ein Mann, dessen linke Hand Erinnerungen sehen konnte, ein Pärchen, das nach nur zwei Wochen beschlossen hatte, zu heiraten. Um normal brauchte ich mir wirklich keine Gedanken zu machen.

Tagebucheintrag

Er ist wieder hier, hier bei mir, ich kann es noch gar nicht glauben, nach Wochen des Skypens ihn nun tatsächlich leibhaftig vor mir haben, ich war so nervös, als er ankam, ich bin es immer noch, es ist so verrückt das Ganze, wir kennen uns kaum, sagen alle, dabei haben sie doch keine Ahnung, Mike kennt mein Innerstes, hat mit nur einer Berührung mein halbes Leben gesehen, und dann haben wir ja jeden Tag miteinander gesprochen, und er hat mir so viel von sich erzählt, also ich bin sicher, wir wissen mehr übereinander als andere Pärchen nach acht Wochen, und er riecht so gut, und nun steht er in der Küche und wäscht noch ab, und es fühlt sich an wie früher daheim, geborgen und schön, und doch auch aufregend, ein wenig die alte Mia, die verrückte Dinge tat, was kann verrückter sein, als einen Mann nach zwei Wochen Bekanntschaft zu fragen, ob er einen heiraten will … nun, den Antrag anzunehmen ist wohl noch verrückter, und natürlich, bräuchte er nicht eine Aufenthaltsbewilligung, um bleiben zu können, dann gingen wir es wohl nicht so rasant an, so von wegen gut Ding braucht Weile und drum prüfe, wer sich ewig bindet und so, verrückt ist es schon, nicht wegen dem kaum Kennen, sondern wegen seiner Hand und meinen Beinen, langsam wollen wir es angehen, Körperlichkeit wird bei uns keine "gemähte Wiese" sein, wie Mike es nennt, es ist so lustig, wenn er solche Ausdrücke verwendet, die man wohl in Wien sagt, Gott, ist das schön, dass er hier ist, noch weiß es keiner, ich hatte viel zu viel Angst, es wem zu erzählen, falls er doch nicht kommt, aber morgen, das wird ein Ding, Elli hat mich zum Brunch eingeladen, die werden Augen machen …

Zweites Kapitel

Ich war so müde und so aufgeregt! Dies war die erste Nacht, die wir richtig miteinander verbrachten. Nicht völlig durcheinander Pläne schmiedend, nicht nur auf einem Bildschirm, Tausende Kilometer voneinander getrennt. Sondern in ihrem Schlafzimmer.

Ein paar Mal waren unsere Telefonate und Skype-Gespräche in den letzten Wochen vor Sehnsucht in heftige Erotik übergegangen, wahrscheinlich sehr zum Vergnügen irgendwelcher Geheimdienste, die sämtliche Kommunikation über den Atlantik hinweg mitverfolgen. Doch erstmals würde ich sie berühren, sie angreifen können, sie streicheln können.

Sie war ins Bad gegangen – ja, gegangen, auf ihren Krücken, und diesmal war mir bewusst, dass dies ein Vertrauensbeweis war, dass sie sich mir so zeigte – und ich wusch noch das Geschirr. Es war prickelnd zu wissen, dass sie hinter dieser Wand war, nackt, in der Dusche, in der ich vor dem Essen den Schweiß des Fluges abgespült hatte. Mias Dusche, mit dem Klappsitz, barrierefrei … Sie mir dort vorzustellen, lenkte mich von den Bildern ab, die ihr Geschirr mir verpasste, so sehr ich mich auch bemühte, meine Linke aus dem Spiel zu lassen. Wie ein verbotener Blick durchs Schlüsselloch. Dieser Teller, von dem sie gegessen hatte, als sie den Anruf bekam, dass sie ihr erstes Bild verkauft hatte. Jenes Glas trug so viel Angst in sich, so viel Furcht vor der langen, dunklen Nacht, vor der Einsamkeit, es krampfte sich mir das Herz zusammen.

Unser Zusammenleben in diesem Haus würde noch einiges an Gewöhnung brauchen … Aber ich mochte dieses Haus, es hatte mir schon im Sommer so gut gefallen, dass ich es gezeichnet hatte. Das warme Holz, die hellen Farben. Die kleine Kochecke mit dem Esstisch davor, an dem nur ein Stuhl stand. Die freistehende Couch, auf der wir meine letzte Nacht auf der Insel gesessen waren, Pläne schmiedend. Die Staffeleien, der Schreibtisch mit dem Ladenkasten voller Zeichnungen. Und über allem der Duft nach Orangen, Mias wunderbarer Duft.

Ich hörte sie im Schlafzimmer rumoren, beschloss, das Geschirr Geschirr sein zu lassen. Ich drehte das Licht im Wohnzimmer ab und ging zu ihr.

Sie lag bereits im Bett, saß mehr, unter der Bettdecke zuckten ihre Beine. Ihr Lächeln war ängstlich.

Ich schlüpfte aus Schuhen und Sweatshirt, sie kicherte ein wenig nervös, als ich die Hose auszog.

„Ist verdammt lange her, dass sich ein Mann vor mir ausgezogen hat.“

„Da bin ich aber froh.“ Ich setzte mich zu ihr an die Bettkante, nur in Boxershorts und T-Shirt.

„Genaugenommen bist du der erste Mann, der seit meinem Unfall in der Unterwäsche neben mir sitzt.“

„Dann passt es ja gut. Du bist die erste Frau, die seit der Sache mit meiner Hand vor mir im Bett liegt.“

Du meine Güte, ich war so nervös! Sanft strich ich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Ihre Augen blickten ernst. „Ich ...“ Sie blies die Luft aus. "Um den Hals fallen könnt ich dir. Oder davonrennen, so aufgeregt bin ich."

„Wir haben Zeit, alle Zeit der Welt. Wir müssen es nicht so rasant angehen wie nach Ellis Tropfen.“

„Oh mein Gott, ja!“ Sie lachte.

Wie rasch wir einander am Telefon keuchend am Hörer gelegen waren, nur weil Elli aphrodisierende Tropfen in die Getränke gemischt hatte … Wie lange schien das her …

Aber wie sie nun so vor mir lag, erwachte plötzlich eine neue Sorge in mir. Was, wenn eine Berührung von mir in ihr die verdrängte Erinnerung an jene schreckliche Nacht in Las Vegas weckte? Sie wusste nicht, was damals mit ihr geschehen war, aber es könnte doch sehr wohl sein, dass Sex – echter Sex, nicht Telefonsex – den Damm ihres Unterbewusstseins sprengte und alles zurückkam. All das, das ich ihr verschwiegen hatte, um sie zu schützen. Nicht zum ersten Mal hasste ich es, dass ich durch meine Hand Dinge wusste, die ich gar nicht wissen wollte.

Ich schluckte trocken. „Darf ich dich einfach ansehen?“

Sie errötete ein wenig. „Aber du kennst mich doch, du hast mich in den letzten Wochen oft gesehen.“

„Aber nur über den Bildschirm. Unscharf, nur 2D. Jetzt hab ich dich in 3D vor mir …“

Meine Rechte strich langsam ihr Gesicht entlang, ihren Hals hinab, zog vorsichtig die Bettdecke weg. Plötzlich war da keine Schüchternheit mehr bei ihr zu spüren. Ihre Linke glitt hinter ihren Kopf, ihre Rückenmuskulatur spannte sich an, sodass sich ihre Brüste mir entgegen hoben, ihr Blick bekam die vertraute Tiefe.

„Du darfst schauen. Aber nicht angreifen.“

Der angespannte Strang des Sternocleidomastoideus, der ihren Hals entlanglief und im Takt ihres Pulsschlags pochte. Ihre wunderschönen Brüste, blass und aufgerichtet, die linke etwas emporgezogen durch den gehobenen Arm, der wohldefinierte Bizeps. Der Bogen ihrer neunten und zehnten Rippen, der auf der rechten Seite eine leichte Verdickung besaß, wo die Rippen gebrochen gewesen waren. Der Rectus Abdominis, der einem Sixpack sehr nahe kam, von jahrelangem harten Training zeugte.

Meine rechte Hand stützte sich knapp neben ihrer Taille auf das Bett, ich wollte sie nicht streicheln, nur ansehen, wie sie es gesagt hatte. Doch, ich wollte nichts mehr, als sie zu streicheln, und gleichzeitig genoss ich die Qual, es – noch – nicht zu tun.

Die Linke hatte ich hinter meinem Rücken verborgen, sie durfte sich heute wirklich nicht einmischen. Einen Handschuh wollte ich nicht anziehen, meine Hand war soundso schon voller juckender Pusteln, weil ich sie für die Einreiseformalitäten behandschuht hatte. Ich wollte über Mia erfahren, was ich erfahren konnte wie jeder normale Mann, durch meine Augen, meine Finger und meine Zunge, aber ohne unerklärlich erzeugte Bilder und Gefühle.

Mia lächelte, ihr Atem ging rascher als zuvor. Leichte Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus.

„Ist dir kalt?“

„Oh nein!“ Ihre Stimme war heiser. „Es ist – wie du mich ansiehst … ich fühle mich schön.“

„Du bist schön.“

Oh ja, das war sie. Auch wenn ihre Beine zu dünn waren und in einem eigenartigen Winkel auf dem Bett lagen. Ihre Augen folgten meinem Blick und sie klang bedrückt.

„Wie zwei zu weich gekochte Spagetti, nicht?“

Ich schüttelte den Kopf. „Wie zwei Zeugen dafür, was für eine unglaubliche Frau du bist.“

Ich beugte mich vor und küsste sie sanft. Ihre Finger vergruben sich in meinem Haar, sie drängte sich mir entgegen, zog mich zu sich. Ich verlor ein wenig das Gleichgewicht, musste mich auch mit der Linken abstützen, berührte sie beinahe. Mein inneres Alarmsystem schlug an, ich richtete mich hastig auf.

„Vorsicht …“

Mia seufzte, irgendwo zwischen erregt und ungeduldig.

„Wart, ich leg mich zu dir.“

Ich schlüpfte aus meinem T-Shirt und legte mich neben sie. Die dünnen weißen Narben auf ihren Oberarmen glänzten im Licht der Nachttischlampe. Ein Muster wie eine Landkarte.

So fühlte ich mich sicherer, auf der linken Seite liegend, den Kopf in meine sehende Hand gestützt – an meine eigenen Schläfe gepresst, war sie sicher vor Berührung.

Doch nun wanderten Mias Finger in mein Gesicht, fuhren meine Lippen entlang, die Kante meiner Nase. Ich wurde steif – nur leider nicht dort, wo ich es gerne geworden wäre, sondern aus Nervosität, weil ihre Finger sich meiner gerade in Sicherheit gebrachten Linken näherten.

Ich zog ihre Hand sanft aus meinem Gesicht, legte sie lächelnd auf mein Brustbein. Mias Augen zuckten einen Moment, dann schien sie zu verstehen.

Sie flüsterte: „Das ist auch gut … ich mag Männer mit wenig Brusthaaren.“

Du meine Güte. Ihre Bemerkung erregte mich nun nicht gerade, aber die Berührung ihrer Finger sandte einen prickelnden Schauer meinen Körper entlang. Ich beugte mich vor, küsste sanft ihre Brust. Sie seufzte wohlig und im selben Moment zuckte ihr Knie und traf mich zwischen den Beinen.

Ich stöhnte vor Schmerz.

„Oh nein! Oh, das tut mir so leid! Mike, das wollte ich nicht, wirklich!“

Sie hatte sich aufgesetzt, war dabei auch noch an meiner linken Hand angekommen, sodass der Schmerz zwischen meinen Beinen noch mit einem schneidenden Blitz in meinem Kopf und einem Bild von Mia in der Reha ergänzt wurde.

„Schon okay“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Schon okay.“

„Verdammte Spasmen … Bist du sicher okay?“

„Ja, so heftig war es auch nicht.“

Ich lächelte, ein wenig gequält.

Mias Gesicht verwandelte sich in ein schelmisches Grinsen.

„Nun …“, sagte sie und rutschte ein wenig dem Fußteil des Bettes zu, „... meine Mama hat immer gesagt, ein Küsschen macht alles wieder gut.“

Sie schob meine Boxershort hinab und küsste mein armes, getretenes Körperteil. Die Wirkung war – nun, äußerst wohltuend. Mia zog sich mit den Armen wieder auf Augenhöhe, die Lippen leicht geöffnet, presste sich an mich, küsste mich.

„Ich will dich in mir spüren. Nach all den Wochen …“

Ich löste mich ein wenig von ihr. „Wart, ich muss … ich hab die Kondome im Rucksack …“

Sie zog mich wieder zu sich, ihre Hand fest um mein Hinterteil gelegt.

„Lass nur. Ich hab mit der Pille begonnen.“

Sie hatte … Ich schüttelte lächelnd den Kopf, wissend, welch Liebesbeweis das war, denn sie hatte mir von ihrer Abneigung gegen alles Tablettenartige erzählt.

„Ich hätte kein Problem mit Kondomen.“

„Aber ich.“ Ihr Atem war tief. „Ich will dich richtig in mir spüren, ohne Plastik dazwischen. Ich konnte es kaum erwarten, ich hätte nie gedacht, dass ich je wieder …“

Ich küsste sie und schob mich über sie, drängte ihre Beine auseinander, wollte endlich, endlich sie um mich spüren, doch als ich in sie eindringen wollte, schoss erneut die Angst in mein Hirn: Was, wenn sie sich dadurch an Las Vegas erinnert?

Meine Erektion verabschiedete sich wieder.

Mias Blick glitt im ersten Moment zu meiner linken Hand neben ihrer Schulter, als ich mit einem frustrierten Seufzen sie nur küsste, statt mich mit ihr zu vereinen.

„Bin ich schon wieder angekommen?“

Ich schüttelte den Kopf, legte mich neben sie, ihr spastisches Knie traf meinen Oberschenkel, ich zuckte zusammen. Verdammt, per Skype und Telefon war das so viel leichter gewesen!

„Ich – ich glaub, ich bin einfach zu nervös und zu müde …“

Sie küsste mich auf die Nasenspitze. „Schon okay. Ich bin auch nervös. Wir haben alle Zeit der Welt … Lass uns ein wenig schlafen.“

Ich gab ihr einen sanften Kuss auf ihren Scheitel, drückte sie an mich. „Ja. Gute Idee.“

Ich schloss die Augen, genoss es, ihren Körper an meinem zu spüren, und schlief ein.

Irgendwann tauchte ich aus den Tiefen des Schlafes auf, ich hatte wunderbar geträumt, von Mia, von ihrer Hand an meinem Penis, von ihren Küssen. Ich träumte immer noch, nein, sie war wirklich neben mir, auch sie im Halbschlaf, ihre Hand tatsächlich um meinen Penis, ihre Lippen an meiner Schulter. Wir vereinigten uns, zart, langsam, halb schlafend.

Drittes Kapitel

Ich erwachte sehr zeitig. Mia schlief tief und fest. Das Bett war nicht allzu breit, ich war bei jeder ihrer Bewegungen in der Nacht aufgewacht, vor Sorge, sie könnte meine Hand unerwartet berühren. Nun, wir würden eine Lösung finden oder uns daran gewöhnen. Ein breiteres Bett war keine Option, denn Platz war nicht allzu viel in ihrem Schlafzimmer, wenn man den nötigen Bewegungsraum für den Rollstuhl einrechnete.

Mein Blick schweifte im Halbdunkel durch das Zimmer. Die Hanteln und elastischen Bänder im Regal neben der Badezimmertüre … ich würde mich wohl anstrengen müssen, wollte ich mit Mias Fitness mithalten. Mein Oberkörper konnte keinen Sixpack-Ansatz vorweisen … Und mein Bizeps war auch nicht so wohldefiniert wie ihrer. Tja, ich war eben mehr der sehnige Typ. Oder einfach in letzter Zeit faul gewesen.

Mia reckte sich. „Morgen.“

„Morgen.“

„Es ist ja fast noch dunkel …“

„Jetlag. Für mich ist schon Mittag.“

„Hmh.“ Sie kuschelte sich an mich. „Ich hab grad so schön geträumt … von dir und mir …“

„Dann schlaf doch noch ein wenig.“

„Nein. Geht nicht. Muss noch meine Übungen machen und dann nach Eastsound, hab Elli versprochen, dass ich Zitronen mitbringe zu ihrem Brunch …“ Sie gähnte.

„Ich kann doch nach Eastsound fahren und das erledigen. Ich möcht sowieso noch was besorgen.“

Mia richtete sich halb auf, sah mir ins Gesicht.

„Ehrlich? Das wäre toll … meinst du, du kommst mit dem Wagen zurecht?“

„Aber ja. Kein Problem.“

Verdammt, das war gar nicht so einfach, mit diesem Handgas und Handbremse. Vielleicht hätte ich doch öfter Autorennen am Computer spielen sollen … Automatisch zuckte mein Fuß zum nicht vorhandenen Bremspedal, wenn es knifflig wurde. Was für ein Glück nur, dass der Weg nach Eastsound kurz und wenig befahren war.

Die Bäume am Straßenrand leuchteten in den herrlichsten Farben, rot und gelb und braun, was gäbe ich nun dafür, auf meinem Motorrad die kurvigen Wege entlangzuschweben. Ein Seufzer entfuhr mir, als ich erneut im ersten Moment den Fuß statt der Hand bewegte. Noch dazu das Ganze mit einem Lederhandschuh, meinem Notfallschutz, denn einhändig war dieses Fahrzeug nicht zu lenken und dann säße ich völlig fest.

Es gefiel meiner Hand nicht; wie zickig sie doch war, wenn es darum ging, eingebunden oder in Handschuhe gesteckt zu werden, das wurde immer schlimmer statt besser. Bereits nach der kurzen Fahrt nach Eastsound juckte sie zusätzlich zum gewohnten Kribbeln. Das hieß also, mein Bewegungsradius beschränkte sich auf Kurzfahrten oder auf die Abhängigkeit, nur Beifahrer zu sein. Aber was soll’s, das würde schon werden. Wenn ich oft genug übte, würde der Wagen meiner Hand schon irgendwann langweilig werden.

Ich hielt vor dem großen Supermarkt, jenem Ort, wo ich damals Elli kennengelernt hatte. Eigentlich verdankte ich ihr das alles. Hätte sie sich nicht des eigenartigen Urlaubers angenommen …

Offenbar stand ich schon ein paar Minuten neben Mias Auto und starrte in Gedanken versunken den Supermarkt an, denn jemand rempelte mich sanft in die Seite.

„Hi, Mike, schläfst du?“

Ich fuhr herum. Eine junge Frau mit einem dunklen Lidstrich um die Augen, wie immer mit leicht gerundetem Rücken, leicht hochgezogenen Schultern.

„Hi, Jenny.“

„Bist du also wieder hier.“

Ihre Finger nestelten an dem langen Schal herum, den sie um den Hals geschlungen hatte. Der Wind pfiff schneidend auf dem ungeschützten Parkplatz.

„Sieht ganz so aus. Was macht dein Deutschkurs?“

Wir spazierten gemeinsam dem Eingang des Supermarkts zu.

„Geht so. Diese ganzen verschiedenen Artikel sind voll furchtbar. Muss man wirklich jedes Mal einen anderen verwenden? Wir im Englischen kommen doch auch mit einem einzigen aus und jeder versteht, was gemeint ist. Das erklär mir mal wer, warum ein Tisch männlich und eine Tür weiblich ist.“

Ich zog den verhassten Lederhandschuh aus und schob meine Linke in die Jackentasche. Jennys Augen folgten der Bewegung.

„Hast du das immer noch?“

Ich nickte.

„Ich find’s immer noch cool.“

„Wie geht es deinem Deutschlehrer?“

Als Jenny durch Zufall von der Fähigkeit meiner Hand erfahren hatte, wollte sie unbedingt, dass ich den Lehrer ihres Deutsch-Abendkurses berühre, damit sie weiß, ob er Single ist. Prompt wurde sie rot.

„Er ist verheiratet. Hat er uns selbst erzählt.“

„Na schau.“

Wir standen ein wenig unschlüssig in der Obstabteilung herum. Ich packte ein paar Zitronen in einen Plastikbeutel.

„Ich muss dann mal …“ Ich deutete vage nach rechts.

Jenny nickte. „Ich auch.“

Ihr Kopf zuckte in die entgegengesetzte Richtung, aber sie rührte sich nicht vom Fleck.

Ein kurzes, unentschlossenes Schweigen.

„Achja, falls du etwas hörst, kommen ja doch viele Leute zu euch ins Café: Ich suche einen Job.“

Sie hob die Schultern. „Kann mich mal umhören.“ Ein Grinsen schlich sich in ihr Gesicht. „Präsident der Vereinigten Staaten … der mächtigste Mann der Welt …“ Sie kicherte.

Ja, so hatte sie sich das damals vorgestellt, dass ich das Wissen, das ich mit meiner Hand gewinnen könnte, zu einer politischen Karriere nütze.

Ich grinste schief.

„Ja, so in etwa …“

„Man sieht sich.“

Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange. Ihr Parfum roch nach Veilchen. Ich wunderte mich einen Moment, dass sie um diese Jahreszeit nicht auf der Uni war, hatte angenommen, dass sie nur während der Ferien ihren Eltern im Café half. Aber es war nett, gleich beim ersten Einkauf einem vertrauten Gesicht zu begegnen.

Es war überhaupt schön, wieder hier zu sein. Kalt und windig zwar, aber der Duft nach Meer, das Kreischen der Möwen, ich hatte es in den letzten Wochen vermisst. Sehr. Mehr, als ich gedacht hätte.

Viertes Kapitel

Mia hatte mir den Vortritt gelassen, um an Ellis Türe zu klopfen. Drinnen konnte man Stimmen und Gelächter hören. Den Autos nach, die neben dem Schotterweg parkten, waren Luana und Pete da. Und Sam, sein dröhnendes Lachen war nicht zu überhören. Zwei von Ellis Hühnern saßen neben der Terrasse und beobachteten uns neugierig, der Pfau ließ seinen Schweif vom Zaun herabhängen. Von der Weide meckerten die Ziegen herüber.

Ellis Gesichtsausdruck, als sie die Türe öffnete und mich sah, wäre wert gewesen, gezeichnet zu werden. Der Blick auf Bauchhöhe, weil sie Mia erwartete, dann riss sie die Augen auf, starrte mich an.

„Mike! Was machst du denn hier?!“

„Ich war gerade in der Gegend, da dachte ich …“

Ehe ich noch weiterreden konnte, hatte Elli mich an sich gedrückt. Ihre langen grauen Haare kitzelten mich im Gesicht. Wie immer roch sie nach Kräutern und Hanf und Erde. Ich erwiderte ihre Umarmung, fühlte mich unendlich willkommen. Über Ellis Schulter sah ich die anderen sich vom Esstisch erheben. Luana eilte auf uns zu, in einem ähnlich wallenden Kleid wie Elli, nur dünner.

„Mike! Du hast gar nichts gesagt, wir haben doch erst vor ein paar Tagen …“

„Tja, Überraschung!“

Da Elli mich ein wenig frei gab, um mich zu betrachten, umarmte ich Luana. Ich hatte nur zwei Wochen mit diesen beiden Frauen verbracht, aber was für zwei Wochen …

Auch Sam war aufgestanden und kam zu uns, klopfte mir mit seiner riesigen Pranke auf die Schulter.

„Schön, dich wiederzusehen.“

„Schön, euch alle wiederzusehen.“

Nur Pete war sitzen geblieben, lächelte aber.

Sie drängten mich zum Tisch, eilig holte Elli noch einen Sessel aus dem Nebenzimmer.

Pete streckte mir nun die Hand entgegen, zog mich zu sich in eine unbequeme Umarmung. „Du entschuldigst, aber ich habe mir den Rücken verrissen.“

„Schön, dich wiederzusehen.“ Auch wenn ich das Zeichnen in den letzten Wochen aufgegeben hatte, gehörte Pete eindeutig zu den für mich wichtigen Menschen hier. Ohne seine Malstunden hätte ich nie Mia kennengelernt. Sie wussten es noch nicht, aber Mia und ich hatten vor, ihn und Elli als die „Schuldigen“ an unserer Beziehung zu unseren Trauzeugen zu machen.

Seine Hand ruhte noch immer auf meiner Schulter. „Da kann ich ja Hoffnung auf eine Massage haben, wenn du nun wieder da bist.“

Seine Finger glitten meinen Arm hinab, blieben knapp über dem Handgelenk liegen, drückten leicht zu. Ich zuckte weg, das war zu nahe, ein paar Zentimeter noch und er wäre in dem Bereich, wo ich seine Erinnerungen sehen könnte. Ich hatte wirklich keine Lust, mich von Bilderwellen ertränken zu lassen.

Die Bemerkung über das Massieren ignorierte ich, das war ein Thema, dem ich lieber auswich. Pete war der einzige in dieser Runde, der nichts von der Fähigkeit meiner Hand wusste.

„Das Bärtchen steht dir gut“, sagte ich stattdessen.

Geschmeichelt fuhr Pete sich über den kleinen Ziegenbart, den er sich wachsen ließ.

„Mal was anderes, nicht?“

„Lange hast du es in Wien nicht ausgehalten“, lachte Sam, als ich mich neben Mia an den Tisch setzte. Elli hatte inzwischen auch noch einen Teller und Besteck für mich geholt, sah mich immer wieder kopfschüttelnd an.

Luana zu meiner Linken lächelte unter ihren grauen Stirnfransen hervor, drückte meinen Oberarm. „Ich wusste, dass du wiederkommst. Wen die Insel einmal gepackt hat, den lässt sie nicht mehr los.“

Elli lachte ihr tiefes Hundegebell-Lachen. „Luana, ich glaub, das hat nicht unbedingt mit der Insel zu tun.“

Mia griff nach meiner Rechten, lächelte. Ich sah am Glitzern in ihren Augen, wie sehr ihr die ganze Situation gefiel.

In der Küche pfiff der Teekessel, Elli sprang auf. „Ach du meine Güte, vor lauter Überraschung habe ich ganz vergessen, den Tee zu machen. Bitte, holt euch was zu essen.“

Auf der freistehenden Arbeitsfläche war ein Buffet aufgebaut. Ellis altbekannter Porridge in einer großen Schüssel, eine Platte mit Käse, Obst und Gemüse, Kuchen und Muffins, Brot, ein Krug mit Milch, bestimmt Ziegenmilch …

„Wer mag Eier?“, fragte Elli, während sie mit der Teekanne hantierte.

Für eine kurze Weile beschäftigten sich alle damit, ihre Teller zu füllen und ich hatte Zeit, meinen Blick über diese wunderbaren Menschen gleiten zu lassen.

Die schmale Luana neben ihrem bärengroßen Mann, Elli mit ihrem wilden Lachen. Pete, der von seinem Platz aus Wünsche äußerte, was Luana für ihn auf den Teller packen sollte. Und natürlich Mia. Ich hatte nie viel Familie gehabt, nur meine Mutter und Tante Paula, und empfand hier nun, wie sich eine herzliche Großfamilie wohl anfühlen konnte. Es gefiel mir.

Als alle mit vollen Tellern wieder am Tisch saßen – einem Tisch, den ich bis jetzt nur vollgetürmt mit Zeitungen, Büchern und anderem Zeug erlebt hatte – klopfte Elli mit ihrem Messer gegen ihre Teetasse, sodass alle erwartungsvoll zu ihr blickten.

„Auf Mike. Willkommen zurück!“

Mir wurde ganz warm in der Brust vor Rührung, als sie alle ihre Tassen hoben und mir zuprosteten.

„Also, Mike, was bringt dich wieder zu uns?“ Pete strich sich etwas Butter auf eine dicke Scheibe Brot. Butter, die so gelb war, dass sie bestimmt vom Bauernmarkt kam. Oder gar von Ellis eigenen Ziegen.

„Na was wohl!“, antwortete Elli statt mir. „Mach die Augen auf, Pete, schau sie dir an, die beiden.“

Mia und ich wurden beide etwas rot.

Petes Mund verzog sich zu einem verkrampften Lächeln. „Tja, wer hätte das gedacht.“

Sam mischte sich ein: „Habt ihr schon Pläne? Wie lange bleibst du?“

Mia strahlte über das ganze Gesicht, als sie „Für immer“ sagte. Die überraschten Gesichter der anderen ließen mich lachen, dass ich mich fast an meinem Tee verschluckte.

Sie redeten alle durcheinander.

„Was?“ – „Das ist ja großartig!“ – „Wusst ich’s doch!“

Elli sah mich kopfschüttelnd an, eine Träne glitzerte in ihrem Augenwinkel. „Hach, ist das romantisch!“

„Und das alles nur, weil du mich damals zu Pete in die Malstunde mitgenommen hast …“

Ich meinte, ein leises, missmutiges Grunzen von Pete zu hören. Sein Rücken schien ihn wirklich zu plagen.

Luana hatte die Hände vor den Mund geschlagen.

„Wer hätte das gedacht! Ach, ich freu mich so für euch!“

„Und, wann heiratet ihr?“

Sam hatte sich zurückgelehnt, verschränkte die Arme, aber sein Gesicht hatte das übliche gutmütige Bärenlächeln.

„Heiraten?“ Petes Stimme kletterte eine halbe Oktave höher. „Wieso müssen sie denn gleich heiraten? Ehen werden weit überschätzt.“

Ich dachte an Sarah, die sich ihm gegenüber manchmal benahm, als wäre er nicht ihr Ehemann, sondern ein Schoßhündchen.

Sam lachte. „Wenn man die Richtige gefunden hat, kann man die Ehe nicht hoch genug schätzen.“

Er lächelte Luana an. Sie kicherte auf eine Weise, die ich entzückend fand für ein Ehepaar, das seit vielen Jahren zusammen war.

Sam fuhr fort: „Und wenn Mike für immer hierbleiben soll, dann müssen sie heiraten. Wegen der Aufenthaltsbewilligung.“

„Eine Hochzeit! Wundervoll! Wir könnten die Feier hier auf meinem Hof machen. Oder habt ihr schon etwas im Auge?“

Mias Wangen waren von einem leichten Rot überzogen. Sie griff nach einer Karotte, biss ab. Das war wohl das Zeichen, dass ich reden sollte.

„Danke für das Angebot, Elli. Und ja, Sam, du hast recht, wir planen zu heiraten …“

Pete unterbrach mich. „Aber das ist doch verrückt. Ihr kennt euch keinen Monat lang, da heiratet man doch nicht gleich.“

Wie oft hatte ich dieses Argument die letzten Wochen über gehört. Wie sollten andere auch verstehen, dass unsere Beziehung anders war … Ich seufzte.

„Besondere Umstände verlangen besondere Maßnahmen“, sagte Mia nun lächelnd.

„Besondere Umstände? Du bist doch nicht etwa schwanger?“ Pete sah entsetzt aus, seine dunklen Locken schienen sich aufzurichten.

Mia brach in schallendes Gelächter aus. „Das wäre tatsächlich ein Wunder! Die erste Befruchtung per Telefonleitung!“

„Oh – ohlala!“ Elli zog wissend die Augenbrauen hoch, stimmte in Mias Lachen ein, nur das ihres ein wenig verrucht klang.

„Hauptsache, du konzentrierst dich trotz allem auf deine Karriere … nun, vielleicht lässt sich das ja sogar nützen …“

Oh ja, ich konnte die Schlagzeile sehen, die sich in Petes Kopf bildete. Vom Schicksal geschlagene gelähmte Malerin findet endlich das Glück ihres Lebens.

„Wisst ihr schon, wann ihr heiraten werdet?“, fragte Luana leise.

„Innerhalb der nächsten neunzig Tage. So verlangt es das K1-Visum.“ Ich hätte nie gedacht, dass ich auf ein Visum einmal so stolz wäre.

Elli starrte mich an. „Du hast ein Verlobten-Visum? So rasch? Ich dachte, sowas dauert Monate und man muss beweisen, wie gut man den anderen kennt …“

Mia zuckte lächelnd die Schultern. „Ich glaub, der zuständige Beamte hatte Mitleid. Irak-Veteranin im Rollstuhl … der gönnt man doch die große Liebe, oder?“

„Also, wegen der Hochzeit … Wenn du möchtest …“

Luana war nun völlig rot im Gesicht, ihre langen Finger zuckten nervös.

„Ja, Luana, gerne. Ich bin sicher, dass du den idealen Tag für uns herausfinden kannst und wäre dir sehr dankbar dafür.“

Mia warf mir einen Seitenblick zu. Ich wusste, sie hatte es nicht so mit allem, was esoterisch angehaucht war, aber ich verdankte Luana so viel, dass ich ihr gerne diese Freude machte. Mir war es egal, wann unser Hochzeitstag war, warum also nicht einer, den Luana in den Sternen als gut befand?

„Und wovon hast du vor, hier zu leben? Machst du einen Massagesalon auf?“

Ich konnte Petes Tonfall nicht ganz einordnen. Hoffnungsvoll? Säuerlich?

„Nein, mit der Massiererei habe ich aufgehört.“

Aufhören müssen, seit meine linke Hand mir bei jeder Berührung Erinnerungen der berührten Person oder des berührten Objekts in mein Hirn spülte, als würde ich es gerade selbst erleben. Aber das würde ich Pete nicht auf die Nase binden.

„Aber wieso denn? Du hättest gewiss einen Haufen Kunden, mich eingeschlossen.“ Pete sah drein wie ein bettelnder Dackel.

Elli, die ja von den ganzen Qualen mit meiner Hand ebenso wusste wie die anderen am Tisch – außer Pete – sprang mir bei.

„Ach was, man muss sich weiterentwickeln! Mike hat viel mehr drauf, als verspannte Touristen durchzukneten …“

„Ich könnte Mias Manager werden. Laut dir soll sie ja bald eine berühmte Künstlerin werden.“

Pete lächelte gequält. „Das überlass nur mir. Ich habe schließlich die nötigen Kontakte in die Kunstszene. Aber soweit ich weiß, suchen sie gerade in der Bibliothek Hilfe.“ Er streichelte sein Bärtchen. „Ist zwar ehrenamtlich, aber vielleicht eine gute Gelegenheit, Leute kennenzulernen. Allzu viel Hoffnungen würde ich mir aber nicht machen, um diese Jahreszeit einen Job zu finden. Ist alles sehr saisonal hier bei uns.“

„Da hat Pete recht“, sagte Sam.

„Ach was, Mike findet schon etwas.“ Mia lächelte mich aufmunternd an.

Elli nutzte den Moment, als Pete sich am Buffet noch einen Nachschlag holte. Er war wirklich bedient mit seinem Rücken, ich sah ihm fasziniert nach, wie er leicht schief zur Küche schlurfte und schätzte ab, welche Muskeln er sich verrissen hatte.

„Du hast geübt, oder?“, sagte Elli leise. „Keine Schlinge, keine Hand in der Hosentasche, und dennoch wirkst du entspannt.“

Ich nickte Elli zu. „Ja, habe ich. Wir haben uns ein wenig angefreundet, meine Hand und ich, ich passe nun schon ganz automatisch auf, nirgends anzukommen.“ Mein Blick glitt zu Luana. „Und Luana war eine tolle Lehrmeisterin, wir hatten regelrechte Übungsstunden per Skype.“

Luana machte eine wegwerfende Handbewegung. „Waren doch nur ein paar Atemübungen …“

„Ach, war sie das“, sagte Elli gleichzeitig, mit angespannten Augen.

War sie etwa eifersüchtig auf ihre Freundin?

Fünftes Kapitel

Vollgegessen und bester Laune hatten wir uns nach dem Brunch ein wenig hingelegt. Ich war eingeschlafen, und als ich aufwachte, lag ich alleine im Bett.

Ich ging ins Wohnzimmer und war erstaunt, Mia nicht an ihrer Staffelei zu finden. Auf der nicht einmal ein Papier eingespannt war. Sie saß am Esstisch, zuckte zusammen, als sie mich in ihrem Rücken bemerkte.

„Gott, bist du leise! Daran muss ich mich echt erst gewöhnen, dass da noch wer ist.“

Fast beschämt schob sie ihren Arm über das Blatt Papier. Mir fiel auf, dass ein Aquarellmalkasten dastand, nicht ihre üblichen Kreiden.

„Neue Technik?“

Ich küsste sie in den Nacken, auf diese geliebten verspannten Muskeln.