Virus - Marion Wiesler - E-Book

Virus E-Book

Marion Wiesler

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Beschreibung

Der ERSTE deutschsprachige Roman zum Thema Corona, geschrieben und veröffentlicht im Februar 2020, kurz bevor Covid19 Europa überrollte. Ein spekulativer und auch hoffnungsvoller Episodenroman, basierend auf dem Wissen, das zu jener Zeit aus China erhältlich war. Streiflichter einer besonderen Zeit Eine globale Krise. Ein neuer Alltag? Ein Wiener Lebenskünstler, eine steirische Apfelbäuerin, ein Londoner Schauspieler, ein Fabriksarbeiter aus New York, eine Sanitäterin aus Los Angeles und ein japanischer Kampfkünstler. Wer findet Wege, die Krise in eine Chance zu verwandeln?

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Seitenzahl: 227

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1.073.741.824

4.490.810.176

Anfang Februar 2020, als dieses Buch

geschrieben wurde, noch Fiktion.

Inhaltsverzeichnis

Wien

Ost-Steiermark

London

New york state / pennsylvania

Los angeles

Tokyo

Wien

Ost-steiermark

London

New york state / pennsylvania

Los angeles

Tokyo

Wien

Ost-steiermark

Southampton

New york state

Los angeles

Tokyo

Wien

Ost-steiermark

Southampton

New york state

Los angeles

Tokyo

Im hafen von auckland

Ein wort danach

Gute Geschichten sind Küsse für die Seele!

Marion wiesler

WIEN

„Wo ist mein Schnuffl?”, kreischt das kleine Mädchen.

Die Mutter beugt sich über ihre Tochter, zieht einen abgeliebten Stoffhasen aus ihrem kleinen Rucksack.

„Hier ist er, Süße.”

Das Mädchen drückt ihr Schmusetier fest an sich, schaut sich auf dem großen Flughafen um. Ihre Augen sind eine Misching aus Begeisterung und Verunsicherung. Der Träger ihrer Latzhose ist über die Schulter gerutscht, die offene Jacke hängt irgendwo auf Ellbogenhöhe.

Er beobachtet Mutter und Tochter. Die Mutter ist angespannt, nervös. Nun, niemand zwingt sie, nach Neuseeland zu reisen. Selbstfindung … wenn sie meint. Ihm soll es recht sein.

„Papa, wo ist eigentlich dein Koffer?”

Er beugt sich zu dem kleinen Mädchen hinab, bemüht um ein geduldiges Lächeln. „Lola, das hab ich dir doch schon erklärt, dass ich nicht mitkommen kann. Das ist eine Reise nur für deine Mama und dich.”

Die Kleine nimmt ihn an der Hand.

Warme, schwitzige Finger.

„Aber du kannst doch nachkommen. Mit dem Bus.”

Er muss laut auflachen. Lolas Mama schaut ihn mit einem bösen Blick an.

„Lola, bis ich mit dem VW Bus in Neuseeland bin, da seid ihr schon längst wieder zurück.”

Das kleine Mädchen kaut auf der Lippe herum, offenbar gar nicht zufrieden mit der Situation.

Er wirft einen Blick auf Lolas Mutter. Sie ist eine hübsche Frau, er hat immer hübsche Frauen gehabt. Selbst jetzt, wo sie angespannt wirkt, kommt er nicht umhin, sie hübsch zu finden. Diese langen Haare, in jahrelanger Arbeit zu Rastalocken gestylt. Die indischen Tattoos, die ihre schlanken Arme zieren, Erinnerungen an Reisen und Erlebnisse. Er sieht sie immer noch gerne an, trotz allem.

Dabei weiß er, dass dies wohl ein Abschied auf immer ist. Man kann nur so und so lange nebeneinander her leben, ehe es einem von beiden reicht.

„Du wirst sehen, Lolly -”

Er fand es immer schon idiotisch, wenn sie ihre Tochter Lolly nannte, als wäre sie Süßkram zum Lutschen.

„- wir werden so viele tolle Sachen erleben, es wird echt super werden!”

„Ja”, stimmt er zu. „Du wirst viel Spaß haben. Und wir können ja telefonieren. Oder Skypen, dann sehen wir uns.”

Lola nickt ernsthaft. „Wie mit Oma.”

„Genau. Wie mit Oma.”

Sie schweigen.

Um sie Gemurmel, Durchsagen, das Quietschen von den Rädern eines Gepäckwagens, der eine andere Richtung anstrebt als sein Besitzer.

Er sieht Lolas Mama an. Sie erwidert den Blick, ein verkrampftes Lächeln.

„Na dann!”

Lola schaut von einem zum anderen, als warte sie, was nun geschieht. Er weiß es selbst nicht. Er ist Birgit nicht böse. Er mag sie irgendwie immer noch. Es gibt ja auch keinen Grund, sich nicht mehr zu mögen. Außer, dass es halt nicht mehr passt. Dass die Zeit, wo sie gemeinsam in dem VW Bus durch die Welt gereist sind, einfach vorbei ist. Das gemeinsam zumindest. Der letzte Versuch ist ein totales Desaster gewesen.

Er liebt das Reisen. Es ist schließlich sein Job, Reiseblogger zu sein. Er liebt die Freiheit, die Ungezwungenheit, das Schlafen wann man will und abends mit fremden neuen Freunden am Strand sitzen und ein paar Bierchen trinken.

Das mag Birgit schließlich auch. Deshalb waren sie ja unterwegs. Und dann kam Lola. Sowas passiert eben, und es kam ihm ja auch wunderbar und idyllisch vor.

Bis Lola dann wirklich auf der Welt war und das Reisen lange nicht mehr so frei und ungezwungen …

Außerdem hat Birgit sich verändert, nicht er. Er ist noch der selbe Mann wie vor Lola. Aber sie … eine richtige Glucke ist sie geworden. Und plötzlich dieser Gesundheitstrip … Yoga und Vegan und Klangschalen …

Richtig ausgerastet ist sie, als er Lola mal einen Schokoriegel gab.

Birgit steht da und mustert ihn. Sie will nichts in ihrem Leben bereuen, aber manches bereut man eben doch. Sie weiß, dass er weiß, dass sie nach den drei Monaten nicht zurückkommen wird. Zumindest nicht zurück zu ihm. Für Lola tut es ihr leid, sie hängt an ihrem Papa, egal wie kindisch er ist. Oder weil er so kindisch ist, mehr ein großer Bruder für das kleine Mädchen als ein Vater. Aber wie kommt sie dazu, sich um zwei Kindsköpfe kümmern zu müssen? Naja, vielleicht wird er ja eines Tages erwachsen, bis dahin … Lola ist noch jung, sie wird sich rasch daran gewöhnen. Deshalb ja auch die Reise ans andere Ende der Welt, um Abstand zu gewinnen. Für Lola hätte Italien wahrscheinlich auch genügt, aber bei Alex weiß man ja nie, wenn er es sich in den Kopf setzt, steigt er in den Bus und steht plötzlich vor ihnen …

Sie schweigen, schauen sich immer noch nachdenklich an.

„Mama, Schnuffl hat Hunger!”

Birgit reißt sich von ihren Gedanken los, kramt eine Reiswaffel aus ihrem Rucksack. Lola nimmt sie, füttert den Stoffhasen damit und redet beruhigend auf ihn ein.

„Du wirst sehen, Schnuffl, das wird ganz toll. Wir fliegen gaaaaanz hoch. Über den Wolken! Und Mama sagt, im Flugzeug gibt’s Kino.”

Alex beugt sich ein wenig zu Birgit vor, sagt leise: „Das war's dann wohl?”

Birgit nickt, sie kann es nicht verhindern, nun drücken sie doch die Tränen in den Augen. Es ist ja schön gewesen, am Anfang. Aber Alex ist einfach nicht der Mann, mit dem man ein Kind hat. Sie muss auch an sich denken. Und Neuseeland, das war immer schon ihr Traum.

Alex geht in die Hocke, drückt Lola an sich. „Mach's gut, meine Große. Wir sehen uns.”

Lola schmiegt sich an ihn. „Mach dir keine Sorgen, Papa, ich bin bald wieder hier.”

Ihre kleinen Hände zwirbeln eine seiner dunkelbraunen Locken, wie sie es schon als kleines Baby gemacht hat, wenn sie zwischen ihnen auf der Matratze lag. Er mag das Gezupfe an seinem Haar immer noch nicht.

Es drückt Alex ein wenig in der Brust, als er aufsteht. Aber er wird sich hüten, das Lola sehen zu lassen.

Anfangs dreht sie sich noch alle paar Schritte um und winkt ihm zu, doch je näher sie der Passkontrolle kommen, umso aufgeregter redet sie auf ihre Mutter ein, schielt an den Leuten in der Schlange vor ihr vorbei und scheint ihn bereits vergessen zu haben.

Er atmet aus. Merkt erst jetzt, dass er die Luft angehalten hat. Er hat Angst gehabt, dass Birgit es sich doch noch anders überlegt und der ganze Zirkus wieder von vorne losgeht.

Ein wenig streicht er am Abend um das Gartenhäuschen herum, in das er nun gezogen ist, wo Birgit ihre Wohnung vermietet hat. Und mit jeder Runde fühlt er sich freier. Eine Wohnung, das war sowas von nicht er. Wie ein Vogel im Käfig ist er gewesen.

Nachdem er all seine Sachen aus dem VW Bus in das Häuschen geräumt hat, dreht er den kleinen Elektroheizer auf höchste Stufe, breitet eine Weltkarte auf dem klapprigen Gartentisch aus, der ihm als Küche dient, und träumt von seiner nächsten Reise.

OST-STEIERMARK

Laut und durchdringend läuten die Glocken und die Menschen strömen in kleinen Gruppen aus der Kirche, hüllen sich in ihre Jacken und Mäntel und manche setzen ihre Hüte wieder auf. Wie einem einstudierten Ritual folgend, verteilen sich die Kirchgeher auf dem kleinen Vorplatz, bilden Grüppchen und versinken in vielstimmiges Gemurmel.

Da wird die Messe besprochen, doch nur kurz, denn die Messe, die kennen sie alle zur Genüge. Spannender ist, was man so an Gerüchten hört, von dem und von der, von diesem und jenem.

Die Kinder toben nach dem langen Stillsitzen um die Eltern herum, sie spielen Fangen oder Flugzeug, das ist nicht ganz klar ersichtlich. An der Kirchmauer, im Windschatten des ehrwürdigen Gebäudes, lehnen ein paar Teenager, die sich angestrengt bemühen, gelangweilt auszusehen. Wenn sie könnten, wie sie wollten, dann würden sie ja nicht den wertvollen freien Sonntag … aber noch kann man halt nicht so, wie man will, noch sind da die Eltern, die bestimmen … und der Pfarrer, der einen sonst beim Firmunterricht wieder böse ansieht.

Die Sonne hat sich nun auch bequemt, den Sonntag zu verschönern, für Januar scheint sie bereits erstaunlich warm. Es ist eine ungewöhnliche Warmfront, ein beliebtes Thema unter den anwesenden Bauern. Und auch unter den Nicht-Bauern.

„So ein verrücktes Wetter. Vierzehn Grad im Januar, wer braucht denn des. Der Boden muss ordentlich durchfrieren, sonst wird es schwer mit dem Ungeziefer heuer.”

Ein Bauer in Lodenmantel nickt. „Regen wär gut, Schnee besser. Man möcht ja fast schon beregnen, wenn es so weitergeht ...”

Nun kommt auch der Pfarrer aus der Kirche, noch in seiner Soutane, und sogleich steuern ein paar ältere Frauen auf ihn zu, um sich für den schönen Gottestdienst zu bedanken.

Michael, der seine Jacke aufknöpft und sich der Sonne entgegen dreht, meint lächelnd: „Man könnte meinen, er ist ein Rockstar und die alten Frauen sind seine ...”

„Er ist ein guter Pfarrer”, erwidert seine Frau Andrea. Und wenn das wer weiß, dann sie. Seit Jahren ist sie in der Kirche aktiv, hat schon als junges Mädchen in ihrer Heimatgemeinde begonnen, damals als Ministrantin, inzwischen ist sie eine unverzichtbare Stütze in der örtlichen Pfarre.

Der Huabnbauer tritt an die beiden heran, seinen Bauch vor sich hertragend wie andere eine Kiste Bier. „War eine schöne Messe, ned?”

Andrea nickt. Ihre Augen schweifen kontrollierend über den Pfarrhof, beruhigt wendet sie sich wieder dem Gespräch zu. Lukas und Sofie spielen unter dem Lindenbaum mit ein paar Schulfreunden.

„Kommst gut voran?”, fragt der Huabnbauer gerade den Michael.

„Prachtwetter zum Schneiden, nicht?”

Michael mag die Zeit des Baumschnitts, die Ruhe in der Apfelplantage – er hat selten das Radio laufen, wie die anderen – das leise Surren der pneumatischen Schere, der warme Akku am Rücken in der Schnittjacke.

Verwöhnte Waschlappen, hat der Vater damals gemeint, würden sie werden. Wer braucht schon eine Akku-Schere zum Baumschneiden?, hat der Vater weiter geschimpft, als der Michael gleich vier Stück geordert hat. Der Michael hat nur auf die knorrigen Finger vom Vater geschaut, und die Andrea hat ganz unschuldig gesagt: „Ich hab dir deine Salbe wieder angemischt.”

Sie sind andere Bauern als ihre Eltern früher. Das müssen einem die Eltern doch zugestehen, wer gibt sich denn heute noch freiwillig her, einen Obsthof zu übernehmen? Michael blickt sich um. Viele sind sie nicht mehr, die Vollerwerbsbauern sind, die meisten schleppen ihren Körper erst müde auf den Traktor, wenn sie von acht Stunden Schichtarbeit heimkommen. Da ist eine Akku-Schere ja wohl wirklich kein Luxus …

Andrea stößt ihn in die Seite. Sie hat ihren Schal enger um die Schultern gezogen, so im Stehen wird es dann doch kühl.

„Ich schau noch rüber zum Keipner.”

Michael nickt ihr nach, wie sie jeden grüßend den Pfarrplatz eilig überquert. Sie hatte immer was Wichtiges mit dem Pfarrer zu besprechen, wenn er es nicht besser wüsste, könnt er fast eifersüchtig werden. Er muss selbst lachen. Seine Andrea und der alte Keipner! Dem geht ja schon beim Predigen die Luft aus!

„Kommt ihr noch rüber auf einen Glühwein?” Der Huabnbauer deutet mit seinem runden Kopf zum Dorfgasthaus.

„Mal schauen, Ich weiß nicht, was die Andrea noch vorhat.”

„Na, du weißt ja, wo du uns findest.”

Michael schlendert zur Kirchenmauer, wo Lukas nun mit zwei Freunden lehnt. Offenbar stört er sie in einem wichtigen Gespräch, sie verstummen, schieben ihre Hände tief in die Hosentaschen.

„Gehen wir endlich nach Hause?”

Der erste Hauch einen Bartes schimmert in Lukas' Gesicht. Früh ist er dran, der Bub, denkt Michael, fast ein wenig neidisch, denn sein Bart hat furchtbar spät erst zu wachsen begonnen und ist immer noch zu spärlich für einen prächtigen Vollbart.

„Die Mama redet noch mit dem Pfarrer.”

Lukas verdreht die Augen. „Das dauert wieder ewig!”

„Kannst ja vorgehen.”

„Haha.”

Demonstrativ wendet Lukas sich ab, seinen Freunden zu.

Michael ertappt sich dabei, dass er „verwöhnter Waschlappen” denkt und muss lachen. Eines Tages wird er wohl so ein schrumpeliges Männlein sein wie sein Vater, auf der Ofenbank sitzend und über Gott und die Welt und die Jugend von heute schimpfend.

Langsam verlaufen sich die Kirchgänger, die einen zieht es ins Gasthaus, die anderen wohl nach Hause. Nur der Peter, sein Nachbar, lehnt beim Treppenabgang und raucht genüsslich eine Zigarette. Jeder weiß, wie sehr Peters Frau immer schimpft mit ihm, wegen des Rauchens. Wahrscheinlich ist sie schon nach Hause gefahren, das Sonntagsessen vorbereiten.

„Grüß dich.”

„Servus.”

Sie lehnen eine Weile nebeneinander, schweigend. Wenn man sich so lange kennt, muss man nicht immer viel reden. Sie beobachten Sofie und deren Freundin, die ein undurchschaubares Spiel spielen, bei dem man nach unerklärlichen Regeln vorwärts oder rückwärts hüpfen muss. Sofie ist immer gut darin, Spiele zu erfinden.

„Sind in eurer Klasse auch so viele krank?”, fragt Peter.

„Da musst die Andrea fragen, mit der Schule hab ich nichts am Hut.”

„Das hast auch als Bub nie gehabt”, feixt Peter. „Beim Tobi ist die Hälfte der Kinder krank, alles mögliche. Grippe, Durchfall, ich glaub, die Schafblattern auch.”

Michael zuckt die Schultern. „Jedes Jahr dasselbe im Winter, oder?”

Peter nimmt einen tiefen Zug. „Eh. Können uns nicht beschweren. Hast gehört, drüben in Asien, da grassiert ja auch wieder was Neues.”

„Na super.”

Michael knöpft seine Jacke zu, die Sonne hat sich hinter einer Wolke versteckt, da merkt man sogleich, dass es doch Winter ist.

„Da werden uns die Affen wieder drangsalieren mit lauter neuen Bestimmungen. Was ist es diesmal, müssen wir die Hühner wieder monatelang einsperren? Oder erwischt es diesmal die Saubauern? Schweinegrippe, dass ich nicht lache! Ich wart ja nur drauf, dass die Apfelgrippe kommt und wir unsere Äpfel nicht im Freien halten dürfen.”

„Wäre nicht viel anders als unterm Hagelnetz.” Er hat keine Lust auf das Gespräch. Sie schweigen einen Moment.

„Was für einen Preis hast du denn fürs Kilo heuer bekommen?”, fragt Peter nach einem Zug an seiner Zigarette.

„Geh, hör auf zum Jammern. Die Weinbauern waren dazwischen auch am Boden und jetzt schau dir an, was die für Preise verlangen. Marketing ist alles.”

Michael ist froh, als er Andrea entdeckt, die auf ihn zueilt, mit ihrem typischen resoluten Schritt.

„Ich hab Hunger, fahren wir heim?”

Sie tut ja gerade so, als hätte sie auf ihn gewartet.

Michael pfeift, zuerst kommt Sofie angerannt, wie ein wohldressierter Hund. Lukas schlendert betont langsam daher, dabei weiß Michael, wie gerne der Bub schon heim will.

Irgendwann wird es Lukas auch verstehen, denkt Michael. Dass diese Gespräche nach der Kirche wichtig sind, dass das den Zusammenhalt, die Gemeinschaft des Orts stärkt.

„Die Mankertschen haben sich übrigens das Maul über dich zerrissen”, sagt Andrea. „Dass es eine Schande ist, wie unaufgeräumt unser Wald ist, eine Sünde regelrecht. Und der Binder ist bös auf den Kreuzner, weil du angeblich dem Kreuzner was erzählt hast, was der Binder nicht wollt.”

Michael lacht so schallend, dass Andrea ihn nur verwundert anblicken kann.

LONDON

Zum hundertsten Mal zupft er seine Haare zurecht. Wie er das hasst. In seinem Alter sollte er wirklich nicht mehr … normale Leute gehen bereits in Pension, also, es ist wirklich ganz grauenvoll, dass er es immer noch notwendig hat. Er seufzt, wirft einen Blick in den halbblinden Spiegel in der engen Toilette. Nicht einmal ein passables Licht haben sie hier, wenn er das gewusst hätte, hätte er noch daheim etwas Makeup aufgelegt. Bestimmt drehen sie auch nur die Probenbeleuchtung auf, was kann man schon erwarten.

Sein Spiegelbild versucht ein gewinnendes Lächeln.

In seinem Bauch fährt das London Eye in Rekordtempo im Kreis, seine Hände sind schweißnass. Es ist das erste Vorsprechen seit Langem, bei dem er wirklich nervös ist. Zu lange hat er nun in kleinen off-off Shows dahingetingelt, dieser Anruf seines Agenten, ach, allein wenn er dessen Stimme hört, dann wird ihm schon ganz kribbelig. Und dann auch noch das Duchess Theatre, knapp fünfhundert Sitzplätze, wie soll man da um Himmels Willen nicht aufgeregt sein? Seit Tagen hat er kaum geschlafen. Stunden hat er damit verbracht, aus seinem alten Vorsprechrepertoire Passendes herauszusuchen. Eine Komödie. Sie sagen, er kann sehr lustig sein.

Er seufzt. Ja, lustig. Jahrelang den Clown auf Kindergeburtstagen geben, ach, so knapp war er davor gewesen, vor dem großen Ruhm … damals, Zweitbesetzung an der Royal Shakespeare Company, blutjung, hochmotiviert … und dann, dann wird diese unmögliche Erstbesetzung – bei Gott, was wäre er besser gewesen, als dieser Lackaffe, Talent hatte der doch keinen Fingerhut voll, aber man weiß ja, Beziehungen, Beziehungen … Er hat ja immer schon gewusst, auch die RSC ist nicht das Gelbe vom Ei. Aber seine Chance wäre das gewesen, damals. Und dann wird der Lackaffe einfach nicht krank, monatelang.

Er fährt sich erneut durch die Haare. Diese Locke, die sitzt wirklich nicht gut, das macht ihn älter. Er hätte nicht zum Friseur gehen sollen, so kurz vor einem Vorsprechen, er weiß doch, wie lange er braucht, um sich an eine neue Frisur zu gewöhnen. Auf alle Fälle, der Lackaffe … heute noch wird ihm heiß, wenn er daran denkt, dabei ist das doch alles Schnee von gestern, von vorgestern. Aber so ist es halt, wenn man jung und hochmotiviert ist, dass man dann ein wenig nachhilft, nicht wahr? Harmlos, das Ganze, ein paar Tropfen Abführmittel … bis heute versteht er nicht, wieso die Tropfen dann auch in seinem Glas waren, das konnte doch kein Zufall sein. Immerhin, er hat es damit in die Zeitung geschafft. Erst- und Zweitbesetzung beide ans Klo gefesselt, Vorstellung entfällt. Wie peinlich, warum denkt er jetzt daran, jetzt, wo er doch all seine Nerven braucht?

Er zupft an seinem Hemd herum. Vielleicht hätte er doch besser das fliederfarbene genommen, das sieht im kalten Probenlicht schmeichelhafter aus als dieses Türkis, darin wirkt er sicher blass.

Jemand klopft an die Türe. Ein letzter Blick in den Spiegel, er tritt auf den Gang hinaus, nickt bemüht huldvoll dem jungen Mann zu, der in der Toilette verschwindet. Er weiß nicht, ob er sich geschmeichelt fühlen soll, dass er und so ein Junger für die selbe Rolle vorsprechen. Oder besetzen die heute mehrere Rollen? Ach, wenn dieser Agent doch etwas genauere Angaben machen würde …

Ein Kollege, den er von manch anderem Vorsprechen kennt, murmelt leise vor sich hin, während seine Hände betonte Gesten machen. Ein Zeichen von Schwäche, jetzt noch so offensichtlich den Text durchzugehen, als hätte man sich nicht gut genug vorbereitet. Er spitzt seine Ohren, es ist schließlich immer von enormen Vorteil, wenn man weiß, was die Konkurrenz vorspricht. Shakespeare, ach, wie einfallslos.

Dennoch, er wird noch unruhiger. Vielleicht hat er ja die falsche Wahl getroffen? Nicht nur mit der Farbe seines Hemds. Nein, nein, beruhigt er sich. Oscar Wilde ist immer gut, die Leute lieben Oscar Wilde.

Er zieht sich ans andere Ende des langen Gangs zurück, wendet seinen Rücken der Welt zu, tut so, als lese er den Text auf dem Plakat, das da ausgebleicht und eingerissen hängt. Atmen, tief ins Becken atmen, ach, was gäbe er dafür, nun tönen zu können, diese vermaledeite U-Bahnfahrt hierher, so lange dauert das immer, da ist das ganze Aufwärmen daheim ja schon wieder für die Katz bis man hier ist und bis man dran ist erst recht …

Sein Spiegelbild geht ihm nicht aus dem Kopf. Wie alt er in diesem Spiegel aussah, das kann doch nicht sein. Das muss am Licht liegen, richtig hager sah er dort aus, dabei hat er doch extra ein wenig Rouge aufgelegt, nicht zu viel, nur einen Hauch, er kennt sich ja, wie blass er wird, wenn er nervös ist.

Er fühlt ein Vibrieren in seiner Umhängetasche. Ehe er sein Handy herauszieht, wirft er einen prüfenden Blick auf seine Umgebung. Nun denn, niemand beachtet ihn, er will ja nicht ungehörig wirken, schließlich ist es nicht das beste Benehmen, in so einer Situation zu telefonieren, das gehört sich nicht.

Seine sorgfältig manükierten Finger schließen sich um das pulsierende Gerät. Er ist sich sicher, dass es Leon ist, der sich entschuldigen will. Ach, er hat ihm doch längst verziehen, was war das nur für ein lächerlicher Streit gestern, daran waren nur seine Nerven schuld. Das muss Leon doch verstehen, dass es völlig unpassend war, ihm am Abend vor einem wichtigen Vorsprechen vorzuwerfen, dass er zu wenig liebevoll sei. Er! Er war die Liebe in Person. Romeo, eine Paraderolle, damals, in Bath …

Er drückt die Taste, mit einem Seufzen.

„Jaaa.”

„Oh, Lieber, gehst du endlich ran, man könnte ja meinen, das Klingeln geht zu Fuß nach London!”

Der Kollege, gerade eben noch versunken in seinem Text, schaut mit verächtlich geschürzten Lippen herüber.

„Mutter!”, zischt er. „Ich kann jetzt nicht!”

„Was gehst dann ran?!”, brüllt sie, als wolle sie die Distanz von Reading bis hier durch Schreien überbrücken.

„Ich ruf dich später an.”

Er legt hastig auf, schiebt das Handy in die Tasche zurück, mit einem gequälten Lächeln. Wenn es wenigstens sein Agent gewesen wäre, dann würde er wichtig wirken …

Der junge Mann kommt bei der Toilettentüre heraus, redet ein paar Worte mit dem Älteren. Aber nicht mit ihm. Egal, er muss sich nun konzentrieren …

Hng, hng, hng, die Zunge gut wölben, die Stimme schweben lassen, zumindest in Gedanken. Ein Saal für 500 Leute, hng, hng, hnnnng, das ist etwas anderes, als die Kellerbühnen der letzten Zeit … hnnng …

Die Tür zur Hinterbühne öffnet sich, er hört das übliche „Wir melden uns”, ehe sie wieder zufällt. Der junge Mann eilt dem Schauspieler entgegen, der soeben den Gang betreten hat.

„Wie war es?”

„Ach, ganz gut, denke ich. Du weiß ja ...”

Ehe er weiterspricht, öffnet sich die Tür zur Hinterbühne erneut, eine junge Frau mit einem Klemmbrett im Arm sieht heraus.

„Mr. Browning? James Browning?”

Er strafft sich. Nun ist sein Moment. Er wird sie umwerfen.

Den Kopf hoch erhoben schreitet er zur Bühne.

Er liebt diese großen, leeren Bühnen. Den Geruch nach Sperrholz und Schweiß und aus irgendeinem Grund Kreide. Er fühlt die Wichtigkeit des Augenblicks, die Exklusivität, die man diesem Vorsprechen schenkt, auf einer leeren Bühne, deren Atmosphäre nicht von der Dekoration des Abendstückes verbogen wird. Die Assistentin nimmt gleich neben der Türe auf einem Sessel Platz.

James spürt, wie seine Finger zittern. Das Probenlicht ist blass, aber dennoch fällt es ihm schwer, etwas im Publikum zu erkennen. Ja, da, ein kleines Lämpchen, ein auf den Stuhlreihen befestigtes Pult, dahinter ahnt er zwei Männer.

Nun ganz natürlich wirken, freundlich, gewinnend. Der erste Eindruck zählt, sie vorbereiten auf die furiose Darbietung, die er ihnen liefern wird.

„Einen wunderschönen guten Tag”, grüßt er mit seiner besten Bühnenstimme ins Dunkel, mit großen Schritten zur Bühnenmitte schreitend.

Makellos, die Haare sitzen, das Hemd passt.

Makellos, bis auf den offenen Schnürsenkel.

Er findet sich flach auf dem Boden wieder, würde am liebsten in selbem versinken.

Dröhnendes Gelächter aus dem Publikum.

Noch ehe er sich aufrappeln kann, ertönt eine sonore Stimme: „Sie haben den Job.”

NEW YORK STATE / PENNSYLVANIA

Die Sirene echot gegen die Wände der Fabrikshallen. Der bullige Mann, der wahrscheinlich jünger ist, als er aussieht, tritt in den verschneiten Innenhof, um die Pause mit einer wohlverdienten Zigarette zu genießen. Sein Arbeitsoverall ist mit Ölflecken übersät, beinahe so schwarz wie seine Finger, in deren Rillen das ölige Metall, mit dem er arbeitet, Muster wie in einer Verbrecherkartei hinterlassen hat.

„Scheißwetter”, flucht er und schlägt den Kragen seiner Jacke hoch. Hinter ihm strömen seine Kollegen ins Freie, ebenso verärgert über den Schnee wie er.

„Was glauben die denn, dass wir zaubern können?”

„Schneller, schneller”, äfft ein Kollege den Vorarbeiter nach, die anderen lachen.

„Der bleibt nicht lange, der Neue. Der hat nicht die Eier für den Job.”

Der bullige Mann, sein Name ist Hank, grunzt zufrieden. Es gefällt ihm, dass die anderen seine Meinung teilen. Ist doch immer dasselbe mit den studierten Schnöseln, die sie ihnen vorsetzen, zwecks Produktionssteigerung. Damit ein paar Aktionäre am Ende vom Quartal ein paar Prozentpünktchen mehr abstauben. Sollen die sich doch mal ans Fließband stellen, statt in ihren Palästen zu hocken …

Hank macht ein paar Schritte zur Seite, nimmt einen tiefen Zug von der kalten, rußigen Luft. Wie gerne säße er jetzt in seiner Hütte im Wald. Dort ist die Luft so klar, so gesättigt vom Duft der Bäume. Irgendwann …

„Hank?”

„Was?”

„Kommst du heut Abend rüber, wir schauen Football.”

„Klar.”

Der Tag wird ja direkt noch gut, Football mit den Jungs, Bier und Chips und wenn er Glück hat, kocht Jacks Frau sogar was. Besser als der Dosenfraß.

Sein Handy läutet. Er zerrt es aus seiner Po-tasche, es ist ebenso schwarz und ölig wie er. Die anderen lassen ihre Telefone im Spind, aber er hat sich extra ein altes Tastenhandy besorgt, nachdem Sarah ihn verlassen hat. Nicht wegen Sarah, aber wegen Doug. Ein Sohn soll seinen Vater erreichen können, jederzeit, findet er. Der Junge hat es bei seiner Mutter zurzeit schwer genug, wo sie sich doch was mit so einem Barkeeper angefangen hat. Hat Doug ihm erzählt. Es ist also wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis Sarah um die Scheidung bittet.

Es ist nicht Doug, es ist Sarah. Er starrt das Display an mit den blassen, eckigen Buchstaben. Soll er überhaupt rangehen? Sie weiß doch, dass er in der Arbeit ist. Er ist immer in der Arbeit, jeden Tag, nie krank.

Eben. Sie weiß es, also vielleicht ist es wichtig, vielleicht ist was mit Doug.

„Was ist?”, bellt er in den Apparat.

„Ich freu mich auch, dich zu hören.”

Sie sitzt in ihrem alten Wagen vor Dougs Schule. Was für ein beschissener Tag. Dougs Lehrer hat sich über seine Disziplin beschwert, Disziplin, mein Arsch, echt? Was soll sie mehr tun, als sie schon tut? Sie hat keinen guten Job, der für Nachhilfestunden aufkommt oder dafür sorgt, dass sie daheim ihrem Sohn ein Essen kochen kann, wenn er von der Schule kommt. Sie hat nur einen Ehemann, der in einem anderen Bundesstaat hockt und immer zu wenig Geld überweist. Und sie hat … nein, sie hat eben nicht mehr, Scheißkerl.

„Was ist, Sarah? Ist was mit Doug?”

Klingt der Kerl etwa besorgt? Naja, Vater war er ja kein schlechter. Das muss sie ihm zugestehen. Besser als …

„Nix ist mit Doug. Sein Lehrer beschwert sich, Doug hat einen anderen Jungen verprügelt.”

Sie hört Hank lachen. Ja, das gefällt ihm, klar.

„Wenigstens ordentlich? So ein Rüffel vom Lehrer muss sich doch auszahlen.”

Sarah muss schmunzeln.

„Tut mir leid, es war nicht der Rede wert. Der kleine Pisser hat Doug beschimpft, dass er ein Loser ist, sich nicht mal coole Schuhe leisten kann ...”

Schweigen in der Leitung. Dann ein Seufzen.

Schuhe, das ist es also diesmal. Immer ist es irgendetwas, das sie ihm vorhält, was Doug nicht hat, Doug nicht mitmachen kann, Doug doch verdienen würde …

„Was ist mit dem Barkeeper? Soll der ihm doch coole Schuhe kaufen. Hier würde ihn keiner schief anschauen, und wenn er in Badeschlapfen daherkäme.”

Schweigen in der Leitung.

Sarah wischt sich mit den Fingern die Augenbrauen entlang. Weiß er also davon … hat Doug mal wieder nicht den Mund gehalten.